Wider das Vergessen
Liest man den Titel unserer Ausgabe, denken vermutlich viele an die aktuellen politischen Dynamiken in Deutschland und Österreich. Ein Bröckeln oder gar Niederreißen der vielzitierten »Brandmauer«, die Gefahr einer diskursiven Normalisierung nationalistischer und menschenfeindlicher Positionen und − wie im Fall von Österreich – die kurzfristige Aussicht auf eine Kanzlerschaft rechter Kräfte. Das alles in Ländern, die aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Verantwortung für das »Nicht-Vergessen« der Gräuel des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts tragen.
»Wider das Vergessen« soll in diesem Heft jedoch zunächst auf das Vergessenwerden und Vergessenmachen von Konflikten allgemein hinweisen. Denn trotz eines global anhaltend hohen Konflikt- und Kriegsgeschehens ist die mediale und öffentliche, aber auch wissenschaftliche »Sichtbarkeit« von Konflikten sehr ungleich verteilt – nicht nur in der deutschsprachigen Friedensarbeits-Community.
Für diese Ausgabe von W&F haben wir uns gefragt, wessen Konflikt- und Gewalterfahrungen gehört, anerkannt und sichtbar werden und wessen nicht. Natürlich folgt darauf sofort die Frage nach dem »Warum« und konkret, warum welche Konflikte als Untersuchungsgegenstand im »Sichtfeld« der Forschung sind und welche nicht. Es geht uns in diesem Heft aber nicht nur um vermeintlich feststehende Konflikte, vielmehr erweitern wir die Fragestellung auf eine Kritik der Kategorisierungen, analytischen Zugänge und Wahrnehmungen, die ein »Vergessen« und eine »Unsichtbarmachung« mitgestalten. Damit stellen wir die Frage auch nach unserer eigenen (Mit-)Verantwortung und systematischen Verzerrungen sowie den Folgen der Nichtbeachtung.
Als Redaktion sind wir ebenso nicht von möglichen Verzerrungen ausgenommen. Wir haben uns daher entschieden, die Frage nach dem »Vergessen« über einen Call breit über die disziplinären Grenzen hinaus zu streuen. Die vielfältigen Perspektiven, die daraufhin bei uns eingelangt sind, entfalten sich auf den kommenden Seiten.
Die ersten Beiträge verdeutlichen anhand von Fallbeispielen, wie oftmals koloniale Kontinuitäten, (externe) politische und ökonomischen Interessen die Sichtbarkeit von Konflikten strukturieren. Asymmetrische Machtverhältnisse und mangelnde Interessenbetroffenheit werden ebenfalls herausgearbeitet. Das Fallbeispiel der indigenen Papua in Westpapua (Koordinationsstelle des Westpapua-Netzwerk) veranschaulicht zudem die akute Dringlichkeit des »Nicht-Vergessens« – hier ist die Frage nach Sichtbarkeit zugleich eine Frage des Überlebens.
Und gerade hier – mit Blick auf historische Bezüge wie koloniale Kontinuitäten und Nationalismus – zeigen sich Parallelen mit dem zu Beginn aufgeworfenen »Vergessen« und unserer (Mit-)Verantwortung. Die Texte bieten anschauliche Beispiele dafür, wozu die Ausblendung von Konflikten führen kann.
Wenn die Unsichtbarkeit das Problem darstellt, wie lassen sich Konflikte dann sichtbar(-er) machen? Madalena Asshauer diskutiert am Fallbeispiel der êzîdischen Gemeinschaft, inwiefern das Völkerstrafrecht ein Potenzial dafür bietet, marginalisierten und vulnerablen Kollektiven den Weg zu Sichtbarkeit und daraus auch abgeleitet zu Sicherheit zu ebnen. Eine Möglichkeit, das »Schweigen zu durchbrechen«, sieht Dorothea Günther in einer mutigeren deutschen Medienberichterstattung und stellt dabei klar die Hebel heraus, die eindeutig zu mehr Aufmerksamkeit beitragen. Lena Runge und Vanessa Gottwick erläutern Verbesserungsmöglichkeiten der quantitativen Krisenfrüherkennung, die zu rechtzeitigem Bewusstsein über eskalierende Konflikte beitragen könnte.
Konzeptionell fragen Dominik Juling und Felix Burckhardt, wie nationalstaatliche Grenzen zu einem Vergessen von Konflikten beitragen können und verdeutlichen dies an einer Studie zur Grenzregion zwischen Bangladesch, Indien und Myanmar. Sie kritisieren den »methodologischen Nationalismus«, den sie auch in der Methodik von Konflikt- und Kriegsdatenbanken verorten, und dessen Einfluss auf Konfliktsichtbarkeit und -wahrnehmung.
Auf »Grenzen« anderer Art macht Saskia Jaschek in ihrem Essay aufmerksam. Sie widmet sich dem Thema »Affektivität« und richtet den Blick auf uns Konfliktforschende selbst: Warum bewegen auch uns manche Kriege mehr als andere?
Mit Verantwortungsübernahme sowie Positionierung der Friedens- und Konfliktforschung beschäftigt sich auch der zweite Schwerpunkt dieses Heftes. Anlässlich des unzeitigen Todes von Michael Berndt baten David Scheuing und Sabine Jaberg Weggefährt*innen um ihre Einordnung der sogenannten »Wannsee-Erklärung« der Kritischen Friedensforschung, deren Gegenwartsrelevanz Berndt bis zuletzt stark beschäftigte. So sucht der Schwerpunkt diese Ursprünge der Kritischen Friedensforschung zu aktualisieren – und dem Vergessen zu entreißen.
Wenngleich auch dieses Heft nur einen kleinen Ausschnitt an »vergessenen Konflikten« betrachten kann, hoffen wir, zur Sichtbarkeit einiger Konflikte beizutragen sowie analytische und affektive Perspektiven »wider das Vergessen« zu schärfen.
Eine anregende Literatur wünscht Ihnen
Ihre Melanie Hussak