W&F 1992/4

Wider die Entwertung des Gewaltbegriffs

von Albert Fuchs

Im »deutschen Herbst« '92 – angesichts in Flammen aufgehender Asylbewerberunterkünfte und hundertfacher anderer Angriffe auf die physische und psychische Integrität ausländischer Mitbürger, angesichts der von der politischen Klasse losgetretenen unsäglichen Asyldebatte, angesichts unbeschwerter Waffenlieferungen in Krisengebiete (Türkei, Indonesien) und einer immer schonungsloser betriebenen Remilitarisierung der Republik – in diesem neudeutschen Herbst muß Streit um den Gewaltbegriff auf den ersten Blick reichlich »akademisch« erscheinen. Ich möchte diesen Streit trotzdem führen.

Wenn sich dieser Vorwurf nämlich eher aus einem drängenden Engagement für eine Verhinderung und Verminderung gewaltförmiger Auseinandersetzungen zwischen Individuen, Gruppen, Ethnien und Staaten durch koordinierte Anstrengungen der Gutwilligen speist, muß er auf einen zweiten Blick wieder zurückgenommen werden. Denn eine Koordinierung der Anstrengungen der Gutwilligen setzt eine Verständigung bezüglich der Handlungssituationen und der Ziele und Mittel der erforderlichen Anstrengungen voraus und damit eine gemeinsame Sprache, eine geteilte Begrifflichkeit und insbesondere eine Einigung bezüglich des Gewaltbegriffs.

Die anhaltende Auseinandersetzungen um diesen Begriff (vgl. Neidhardt, 1986) drehen sich um die Begriffsextension, d.h. um die Frage, welche Erfahrungskonstellationen bzw. welche Situations-Handlungs-Komplexe darunter zu subsumieren sind, und einschlußweise um eine entsprechende Selektion und Akzentuierung konstitutiver Merkmale. Ich möchte ein kräftiges Fragezeichen hinter die allenthalben zu beobachtende – auch in Beiträgen zu diesem Heft exemplarisch dokumentierte – Tendenz setzen, den Gewaltbegriff zu einer wertgeladenen sozialmetaphysischen Kategorie aufzublähen und dadurch seines deskriptiven Gehaltes zu berauben.

Begriffserweiterungsstrategien

Von sozialwissenschaftlicher Seite hat als einer der ersten Friedens- und Konfliktforscher Johann Galtung (1975) mit ungefähr folgendem, durchaus noch nachvollziehbarem Rationale eine vieldiskutierte Begriffserweiterung vorgeschlagen. Wird als fraglos unterstellt – so Galtung –, daß Frieden die Abwesenheit von Gewalt beinhaltet, und versteht man unter Gewalt nur direkte, personale Destruktionshandlungen, läuft Frieden auf die bloße Abwesenheit von personaler Gewalt bzw. auf Nicht-Krieg hinaus, ist also negativ bestimmt. Friedensforschung als Disziplin aber erfordert eine positive Gegenstandsbestimmung. Daher sind unter dem Gewaltbegriff Unrechtsverhältnisse politisch-sozialer Art zu subsumieren, so daß Frieden über Nicht-Krieg hinaus auch politisch-soziale Gerechtigkeit als positive Zielkategorie und Gegensatz zu dieser »strukturellen Gewalt« umfaßt. Allgemein liegt Galtung zufolge „Gewalt … dann vor, wenn Menschen so beeinflußt werde, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (a.a.O., S.9).

Die entscheidende Frage zur Differenzierung von personaler und struktureller Gewalt lautet: Gibt es in dem Einflußverhältnis, das Gewalt für Galtung abstrakt gesprochen immer darstellt, ein handelndes Subjekt, einen Akteur, oder nicht? Im ersten Fall liegt personale oder direkte Gewalt vor, im zweiten Fall strukturelle oder indirekte Gewalt. In beiden Fällen können Menschen verletzt oder getötet oder sonstwie geschädigt werden. Während bei personaler Gewalt jedoch immer konkrete Personen als verantwortliche Akteure identifizierbar sind, kann im Falle struktureller Gewalt lediglich auf anonyme Strukturen verwiesen werden (Galtung, a.a.O., S.12). Damit ist die Bindung des Gewaltbegriffs an eine Subjekt-Objektbeziehung aufgehoben; im Vordergrund stehen die (destruktiven) Auswirkungen auf die Opfer der Gewalt.

Abgesehen von der m.E. im Ansatz problematischen Ableitung des Friedensbegriffs aus dem Gewaltbegriff, enthält Galtungs Konzeption bereits alle wesentlichen Schwierigkeiten, denen sich auch andere Erweiterungsversuche aussetzen und die unten im einzelen zur Sprache kommen sollen. Zur Illustration der Multifunktionalität von Erweiterungsstrategien ist jedoch noch das Bemühen der (alt-)bundesdeutschen Strafgerichtsbarkeit und Rechtswissenschaft zu skizzieren, den strafrechtlich besonders relevanten Begriff der sogenannten dynamischen Gewalt zu präzisieren.

Eine Differenzierung von statischer und dynamischer Gewalt kann man ohne Schwierigkeiten bis in das römische Rechtssystem zurückverfolgen (vgl. Hofmann, 1985). Statische Gewalt – als »Staatsgewalt« oder »öffentliche Gewalt« weitgehend mit legitimer Machtausübung identiiziert – wird insbesondere im Staatsrecht thematisiert; dynamische Gewalt – als illegitime, direkt oder indirekt gegen die verfaßte staatliche Ordnung gerichtete »Gewalttaten« dieser Ordnung Unterworfener – ist eher strafrechtlich von Interesse. Obwohl die Beschreibung des statischen Moments im allgemeinen die Charakterisierung des dynamischen Moments, d.h. von machtbegründenden und -stabilisierenden gewaltsamen Interaktionsprozessen als notwendige Bedingungen einschließt (vgl. Müller-Dietz, 1974, S.36), ist im vorliegenden Zusammenhang primär die strafrechtliche Diskussion von Belang.

Seit der Einführung des Strafgesetzbuches im Jahre 1871 gilt nach Hofmann (1985) für die strafrechtliche Dogmatik „die zur Überwindung eines Widerstandes entfaltete physische Kraft“ gegen Personen oder auch gegen Sachen (Hofmann 1985, S.261) als kleinster gemeinsamer Nenner einer Definition der dynamischen Gewalt. Unter Rekurs auf das römische Strafrecht unterscheidet man die Schaffung eines unüberwindlichen Hindernisses für die Willensentschließung oder -betätigung des Opfers, d.h. deren Verunmöglichung beispielsweise durch Betäuben, Fesseln, Einschließen usw. (vis absoluta) und die Setzung von zwar nicht unwiderstehlichen, aber doch »mürbemachenden« Einflüssen, z.B. durch Prügeln (vis compulsiva).

Diese Differenzierung führt allerdings erst weiter, wenn man berücksichtigt, wie beide Formen von dynamischer Gewalt in der Rechtsprechung – insbesondere zum »Nötigungsparagraphen« 240 StGB – inhaltlich bestimmt werden im Hinblick auf die begriffskonstitutive, qualifizierte Kennzeichnung des Mittels und des Ergebnisses einer kritischen Einwirkung. Die einschlägige Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs wird vielfach idealtypisierend als Entwicklung in drei Phasen rekonstruiert (z.B. Krey, 1974; 1986). Danach galt unter dem Aspekt des Mittels zunächst die täterseitige Entfaltung körperlicher Kraft als entscheidendes Kriterium für die Anwendbarkeit des Begriffs (im Sinne der vis absoluta). Daneben gibt es aber auch bereits einige Urteile des Reichsgerichts, die zwar an dieser Formel festhielten, sie aber der Sache nach preisgaben bzw. auf das Erfordernis einer körperlichen Handlung reduzierten und das physische Moment auf die Einwirkung auf das Opfer verlagerten (im Sinne des vis compulsiva). Vor allem aber hielt der Bundesgerichtshof schon in einem frühen Urteil die Einwirkung auf den Körper des Opfers für entscheidend.

In der dritten Phase trat der Mittelaspekt weitgehend in den Hintergrund; der Bundesgerichtshof stellte jetzt allgemein auf eine die Freiheit der Willensentschließung oder -betätigung beeinträchtigende Zwangswirkung ab. Am weitesten wurde diese »Entmaterialisierung« oder »Vergeistigung« des Gewaltbegriffs in dem sog. Laepple-Urteil aus dem Jahre 1969 getrieben, in dem es um den Protest gegen Fahrpreiserhöhungen durch Sitzen auf Straßenbahnschienen ging. Sowohl das Erfordernis der täterseitigen Aufwendung körperlicher Kraft als auch das der physischen Einwirkung auf das Opfer verloren ihre kritische Bedeutung; es genüge, daß der Täter mit nur geringem Kraftaufwand einen lediglich psychisch determinierten Prozeß in Gang setze und dadurch einen »unwiderstehlichen Zwang« auf den Genötigten ausübe, um den Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB zur Anwendung kommen zu lassen.

Wie immer man diese auch vom Bundesverfassungsgericht (1986) übernommene Rekonstruktion der Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs beurteilt – kritisch beispielsweise Starck (1987) –, klar dürfte sein, daß sich je nach Kriterienbestimmung und -gewichtung ein ganz unterschiedlicher Begriffsumfang und damit ein ganz unterschiedliches Potential für justitiell gerechtfertigte »Gegengewalt« in Form von Strafmaßnahmen aufgrund etwa des »Nötigungsparagraphen« ergibt.

Erweiterungsstrategien sind Entwertungsstrategien

Die Galtungsche Begriffserweiterung setzt im wesentlichen bei der Komponente Akteur an, die justitielle beim Handlungsmittel. Entsprechend unterschiedlich sind die Ergebnisse: bei Galtung geht es um die Skandalisierung herrschender Verhältnisse, Diskreditierung ihrer Repräsentanten und Agenten und Rechtfertigung von Widerstand gegen diese Verhältnisse; bei den Erweiterungsstrategen unter den Strafrechtlern und Rechtswissenschaftlern wiederum um Einschränkung des auf Veränderung herrschender Verhältnisse gerichteten Handlungspotentials der diesen Verhältnisse Unterworfenen, Kriminalisierung der Träger der Veränderungsdynamik und Rechtfertigung von staatlicher Repressionsgewalt. Damit wird ein Grundproblem jeder Erweiterungsstrategie offensichtlich: Der (extrem negative) evaluative Gehalt des Gewaltbegriffs (vgl. Blumenthal, Kahn, Andrews u. Head, 1972, S.76-84; Kaase u. Neidhardt, 1990, S.41-45) gewinnt Vorrang vor dem deskriptiven. Um entscheiden zu können, wann dieser Begriff adäquat zu verwenden ist, benötigt man folglich eine normative Theorie, die einem sagt, was man zu tun und zu lassen hat bzw. was sein soll und was nicht. Ich bezweifele, daß man auf diesem Weg in absehbarer Zeit zu einer konsensualen Verwendung des Gewaltbegriffs kommen kann.

Was jedoch schwerer wiegt: Soweit die zwischenzeitliche Orientierung an partikularen Interessen und Prinzipien bei Anwendung des Gewaltbegriffs einhergeht mit einer fast durchgängigen Orientierung an Grundsätzen einer Vergeltungsmoral bei aktueller Verwicklung in soziale Konflikte, droht jede Erweiterungsstrategie geradezu kontraproduktiv, d.h. gewaltstimulierend oder -eskalierend, zu wirken. Eine systematische Perspektivendivergenz der Gewaltzuschreibung ist empirisch gut belegt. Einschlägigen Untersuchungen zufolge neigen Teilnehmer an gewaltverdächtigen Auseinandersetzungen – bzw. den Konfliktparteien unterschiedlich nahe stehende Beobachter – dazu, die Gewalthaftigkeit des eigenen Handelns systematisch zu untertreiben, die Gewalthaftigkeit des gegnerischen Handelns jedoch ebenso systematisch zu übertreiben (vgl. Blumenthal et al., 1972; Duncan, 1976; Fuchs u. Maihöfer, 1992; Kaase u. Neidhardt, 1990; Mummendey, Linneweber u. Löschper, 1984; Mummendey u. Otten, 1989). Andererseits scheint sich die »lex talionis«, das Prinzip der Vergeltung des »Gleichen mit Gleichem«, in unserer Gesellschaft gerade im Problemfeld Gewalt praktisch unbeschränkter Herrschaft zu erfreuen (vgl. Blumenthal et al., 1972; Gouldner, 1960).1

Neben diesen substantiellen Bedenken sprechen m.E. auch zwei gewichtige metawissenschaftliche Gesichtspunkte, die sich wechselseitig bedingen, gegen eine anscheinend bedenkenlose Ausweitung des Gewaltbegriffs. Der erste ist das Operationalisierungsproblem. Um empirisch gehaltvolle Hypothesen über Gewaltphänomene als Voraussetzung rationaler Interventionsstrategien entwickeln und prüfen zu können, müssen diese Phänomene objektiv beobachtbar sein. Ich denke, das ist unstrittig. Wie aber konstatiert man oder mißt man gar z.B. daß „Menschen so beeinflußt werden, daß ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potentielle Verwirklichung“ (Galtung, 1975, S.9)?

Analogen Frage muß sich jede Begriffserweiterungsstrategie stellen. Galtung gibt immerhin Hinweise zur Beantwortung solcher Fragen. Kriterium der potentiellen Verwirklichung ist für ihn, was „mit einem gegebenen Maß an Einsicht und Hilfsmitteln“ möglich ist (a.a.O., S.10). Werden Einsicht und/oder Hilfsmittel von einer Gruppe oder Klasse innerhalb eines Systems monopolisiert oder zweckentfremdet gebraucht, liegt das Maß der aktuellen unter dem der potentiellen Verwirklichung, und in dem System ist Gewalt präsent (ebd.). In späteren Arbeiten (Galtung, 1978; 1986) hat er sein Gewaltkonzept unter Rückgriff auf eine vier Bereiche umfassende Liste von materiellen und nicht-materiellen Grundbedürfnissen, denen bei Nichtbefriedigung vier Typen von Gewalt entsprechen sollen, spezifiziert. »Klassische«, d.h. direkte, dem menschlichen Körper zugefügte Gewalt umfaßt alle Formen der körperlichen Verletzung und Destruktion seitens eines Täters. Gewalt kann dem menschlichen Körper aber auch auf andere Weise, in Form strukturell bedingter Armut, d.h. durch Entzug des Lebensnotwendigen, zugefügt werden. Die dritte Kategorie erschließt sich, wenn man davon ausgeht, daß auch die menschliche Psyche oder der Geist in Form strukturell bedingter Unterdrückung, d.h. durch Entzug des Funktionsnotwendigen (bspw. von Meinungsfreiheit oder Arbeitsmöglichkeit) geschädigt werden kann. Schließlich können geistige Schädigungen auch mit nicht-repressiven Regierungsformen in Form von strukturell bedingter Entfremdung bei Entzug höherer Erfordernisse der Selbstverwirklichung einhergehen. Bezogen auf die ursprüngliche zentrale Differenzierung, stellt der erste Typ personale Gewalt dar, die Typen zwei bis vier strukturelle Gewalt. In der Arbeit von 1986 wird der dritte Typ allerdings als Variante direkter Gewalt klassifiziert, und als Grundbedürfnisse figurieren Überleben, Wohlstand, Freiheit und Identität (a.a.O., S.8).

Solche Hinweise mögen in Richtung einer Lösung des Operationalisierungsproblems zeigen, stellen aber beileibe noch keine Lösung dar. Die zuletzt erwähnte Klassifikationsunsicherheit bringt die Kehrseite der Medaille in den Blick: Der Operationalisierungsproblematik liegt eine unbefriedigende konzeptuell-phänomenologische Analyse des Problemfeldes zugrunde. Einerseits wird zu differenzieren versucht, was kaum zu differenzieren ist, und andererseits werden konzeptuell und wohl auch theoretisch und empirisch zu differenzierende Phänomenkomplexe nicht hinreichend differenziert.

Was zunächst das erste Moment betrifft, so ist beispielsweise Galtungs grundlegende Unterscheidung von personaler und struktureller Gewalt kaum tragfähig, da Strukturen letztendlich immer nur wirksam werden durch Handlungen oder Unterlassungen von individuellen oder kollektiven Akteuren, diese Handlungen und Unterlassungen aber auch kaum zerlegbar sind in persönliche und gesellschaftliche Elemente. Ob man dieser Schwierigkeit mit der Annahme eines Kontinuums zwischen überwiegend personalen und überwiegend strukturellen Elementen beikommen kann (vgl. Roth, 1988, S.59f.), mag dahingestellt bleiben. Einen präziseren und konsistenteren Begriffsgebrauch – und größere empirisch-theoretische Fruchtbarkeit – dürfte die Ersetzung der Galtungschen Dichotomie durch das Gegensatzpaar Protestgewalt (»Gewalt von unten«) – Repressionsgewalt (»Gewalt von oben«), das offensichtlich mitgemeint ist, garantieren.2

Was das zweite Moment betrifft, so bringt es Galtung wiederum fertig, Gewalt sozusagen im gleichen Atemzug als Diskrepanz von aktueller und potentieller Verwirklichung zu definieren und als „Ursache für den Unterschied zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen“ zu erläutern, als „das, was den Abstand zwischen dem Potentiellen und dem Aktuellen vergrößert oder die Verringerung dieses Abstandes erschwert“ (Galtung 1975, S.9). Entweder wird damit Gewalt zur »causa sui« mystifiziert, oder es ist von begriffslogisch, empirisch und theoretisch zu trennenden Phänomenen die Rede. Warum aber dann keine entsprechend differenzierende Terminologie? Welchen Erkenntnisgewinn soll es bringen, wenn man ein Phänomen und seine Ursache(n) mit demselben Etikett versieht? Bestenfalls dient hier die typisch reziproke Determiniertheit wohl der meisten personalen Gewaltprozesse – Stichwort »lex talionis« – als Erklärungsmodell für Gewalt überhaupt. Aber weder wird man durch eine derartige Konfusion dem zirkulären Charakter personaler Gewaltprozesse gerecht, noch läßt sich dieses Modell unbesehen auf alle Gewaltvorkommnisse bzw. auf alle Erklärungsniveaus übertragen. In analoge Schwierigkeiten geraten abermals die Begriffserweiterungsstrategen unter den Juristen, wenn sie die Gewaltalternative des »Nötigungsparagraphen« 240 StGB von der Drohungsalternative und beide Alternativen von Zwang oder Nötigung allgemein abgrenzen wollen (vgl. Callies, 1974).

Die Verschränkung von Operationalisierungsproblematik und Problemen der begrifflich-theoretischen Klärung des Gegenstandbereichs läßt eine befriedigende Lösung dieser Probleme nur mittelfristig, im Laufe eines längeren Prozesses kumulativer Forschung, erreichbar erscheinen. Forschungsstrategisch am zweckmäßigsten dürfte aber sein, diesen Prozeß mit der Festlegung auf einen möglichst präzisen und konsistenten Gewaltbegriff zu verankern. Doch woran soll man sich dabei orientieren?

Therapievorschlag: den Leuten aufs Maul schauen

Um auch Rechtswissenschaftler in den Gewaltdiskurs der Sozialwissenschaftler einzubeziehen, ist eine Orientierung an der Alltagssprache indiziert. Durch das Bestimmtheitsgebot und Analogieverbot des Art. 103(2) GG sehen sich Juristen an den vorgegebenen, der Manipulation nicht unmittelbar zugänglichen Alltagssprachgebrauch gleichsam als »höhere Instanz« verwiesen. Er ist maßgeblich für den möglichen Wortsinn eines Gesetzes, der seinerseits die Grenze kennzeichnet zwischen zulässiger richterlicher Gesetzesauslegung und unzulässiger Rechtsfortbildung (vgl. Krey, 1986, S.19).

Unabhängig von dieser Rücksichtnahme auf rechtswissenschaftliche »Sachzwänge« gibt es gute Gründe im Zusammenhang der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Gewaltproblematik dem empirischen Gehalt des Ausdrucks »Gewalt« besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Zum einen müssen in alltagssprachliche Begriffe gefaßte „naive Verhaltenstheorien“ (Laucken, 1974) und die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (Berger u. Luckmann, 1969) zur Erklärung von sozialem Handeln in Rechnung gestellt werden. Das besagt aber, daß diese subjektiven Theorien und ihre Begrifflichkeit als solche zu klären und ihre Beziehungen zu wissenschaftlichen Theorien zu explizieren sind. Zumindest im Falle einer Prüfung durch Befragung kommen wissenschaftliche Theorien in direkten Kontakt mit subjektiven Theorien. Womöglich noch wichtiger ist, daß sozialwissenschaftliche Theorien und Analysen eingebettet sind in einen größeren lebenspraktischen Zusammenhang; sie sollen Antwort geben auf vor- und außerwissenschaftliche gesellschaftliche Fragen und rationale Problemlösungen ermöglichen. Dazu aber müssen sie kommunikativ rückgebunden bleiben an diesen größeren Zusammenhang.

Zu diesen allgemeinen Gründen kommt beim Gewaltbegriff die bereits erörterte spezifische Be- bzw. Verurteilungsdynamik hinzu, so daß die Verwendung dieses Begriffs i.d.R. selbst eine wesentliche Rolle in dem betreffenden sozialen Prozeß spielt. Die strafrechtliche »Bewältigung« bestimmter Formen des friedensbewegten Widerstands gegen die »Nachrüstung« als »verwerfliche Gewalt« ist ein klares Beispiel für diese Verzahnung von Sprachverwendung und sozialem Prozeß.3 Diese Dynamik ist aber auch generell als motivationale Grundlage der skizzierten Erweiterungsstategien zu vermuten. Dagegen könnte gerade die sorgfältige Analyse des Alltagssprachgebrauchs einen Einstieg eröffnen zu ihrer Überwindung in dem unterstellten allseitigen Interesse an der Reduzierung von Gewalt.

Im deutschsprachigen Raum haben Kaase u. Neidhardt (1990) im Rahmen der Arbeit der »Unabhängigen Regierungskommission zur Verhinderung und Bekämpfung von Gewalt (Gewaltkommission)« im (alten) Bundesgebiet auch zum Gewaltverständnis Bevölkerungsbefragungen durchgeführt. U.a. ließ man die Befragten zu 13 Kennzeichnungen gewaltverdächtiger Situations-Handlungs-Komplexe angeben, in welchem Fall sie von Gewalt oder Gewaltanwendung sprechen würden. Die Hauptergebnisse: Quasi-Kontinuität des Etikettierungsprofils der zu beurteilenden 13 Ereignisse (mit einem Anteil von 17% im Falle von Behinderungsaktionen von »Greenpeace gegen Giftmüllfrachter«; bis 81% im Falle der Abwehr von Übergriffen der Polizei – „mit Latten und Steinen“ – durch Demonstranten) und Differenzierbarkeit des Etikettierungsprofils nach der selbsteingestuften politischen Grundorientierung der Befragten. Und zwar wurden Protestaktivitäten von rechts orientierten Beurteilern durchgehend eher als Gewalt angesehen als von links orientierten; genau umgekehrt verhielt es sich bei Repressionsmaßnahmen (Kaase u. Neidhardt, 1990, Standardtab. 5, S. 229-236).4 Die Anwendung eindeutig physischer Durchsetzungsmittel führte allerdings mit hoher Wahrscheinlichkeit und nahezu orientierungsunabhängigem Konsens zur Gewaltzuschreibung.

Fuchs u. Maihöfer (1992) wiesen gezielt nach, daß die statusmäßige Beziehung der Beurteiler (Mitglieder links-alternativer Gruppierungen und Auszubildende der Bereitschaftspolizei) zu den Positionshaltern in konflikthaften Interaktionen (Protestaktivitäten und Repressionsmaßnahmen, die das gesamte Typikalitätskontinuum gewaltverdächtiger Zwangsmaßnahmen repräsentierten) ein wesentlicher Bestimmungsfaktor der Gewaltzuschreibung darstellt. Diese Perspektivendivergenz trat umso markanter hervor, je mehrdeutiger die Szene bzw. je heterogener ihre Beurteilung war, während in den Extrembereichen kein nennenswerter Unterschied zwischen den beiden Informantengruppen bestand. Dieser Befund stellt in der Interpretation der Autoren ein beachtliches Indiz für einen einheitlichen Gewaltbegriff der, dessen Kern eine (direkte oder indirekte, versuchte oder erfolgreiche) absichtliche Schädigung physischer Natur bzw. mit physischen Mitteln zu bilden scheint. Demgegenüber lege das Phänomen der Perspektivendivergenz lediglich gruppenspezifische (partikularinteressengeleitete) Identifikationsroutinen nahe.

Die geschilderten Untersuchungen stehen im Kontext der Auseinandersetzung mit der rechtswissenschaftlich-justitiellen Begriffserweiterungsstrategie. Nichts spricht dagegen, einiges dafür das Galtungsche Konzept – und an Galtung orientierte Begriffserweiterungen – in ähnlicher Weise unter die Lupe zu nehmen und dazu zunächt einmal Galtungs opferzentriertes Vorverständnis mitzuvollziehen. Ob sich dieses Vorverständnis bewährt, wäre der vorgeschlagenen Therapie zufolge nach dem Muster der referierten Arbeiten empirisch zu prüfen. Solche Untersuchungen zum Status des Galtungschen Gewaltbegriffs im Lichte des Alltagssprachgebrauchs sind im Interesse eines konsensualen Gewaltbegriffs als Voraussetzung eines rationalen Umgangs mit der Gewaltproblematik m.E. überfällig.

Literatur

Berger, P.L. u. Luckmann, T. (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt/M.: Fischer.

Blumenthal, M.D., Kahn, R.L., Andrews, F.M. u. Head, K.B. (1972): Justifying violence. Attitutes of American men. Ann Arbor: Institute for Social Research.

Bundesgerichtshof (BGH) (1988): Beschluß vom 5. Mai 1988 – 1 StR 5/88. Karlsruhe: Pressestelle des BGH (O-Urteil).

Bundesverfassungsgericht (BVerfG) (1986): Urteil des Ersten Senats vom 11. November 1986 – 1 BvR 713/83 u.a. Karlsruhe: Pressestelle des BverfG (O-Urteil).

Callies, R.-P. (1974): Der Begriff der Gewalt im Systemzusammenhang der Straftatbestände. Tübingen: Mohr.

Duncan, B.L. (1976): Differential social perception and attribution of intergroup violence: Testing the lower limits of stereotyping of blacks. Journal of Personality and Social Psychology, 34, S. 590-598.

Fuchs, A. u. Maihöfer, J. (1992): Gewalttätig sind vor allem die anderen. Perspektivendivergenz der Gewaltzuschreibung als Problem einer empirischen Bestimmung des Gewaltbegriffs. In: Präsidentin der Humboldt-Universität zu Berlin (Hrsg.): Friedenspsychologie im Spannungsfeld zwischen Psychologie und Politischer Wissenschaft (S. 17-26). Berlin: Humboldt-Universität.

Galtung, J. (1975): Gewalt, Frieden und Friedensforschung, In: J. Galtung, Strukturelle Gewalt. (S. 7-36). Reinbek: Rowohlt.

Galtung, J. (1978): Der besondere Beitrag der Friedensforschung zum Studium der Gewalt: Typologien. In: K. Röttgers u. H. Saner (Hrsg.): Gewalt. Grundlagenproblematik in der Diskussion der Gewaltphänomene. (S. 9-32). Basel: Schwabe.

Galtung, J. (1986): 25 Jahre Friedensforschung – Zehn Herausforderungen und einige Erwiderungen. AFB-Texte, Bonn: Arbeitsstelle Friedensforschung.

Gouldner, A.W. (1960): The norm of reciprocity: A preliminary statement. American Sociological Review, 25, S. 161-178.

Hennig, E. (1989): Was leistet das Konzept der »strukturellen Gewalt«? In: W. Heitmeyer, K. Möller u. H. Sünker (Hrsg.): Jugend – Staat – Gewalt (S. 57-79). Weinheim/München: Juventa.

Hofmann, A. (1985): Anmerkungen zur begriffsgeschichtlichen Entwicklung des Gewaltbegriffs. In: A. Schöpf (Hrsg.): Aggression und Gewalt (S. 259-272). Würzburg: Königshausen & Neumann.

Kaase, M. u. Neidhardt, F. (Hrsg.) (1990): Politische Gewalt und Repression: Ergebnisse von Bevölkerungsumfragen. Berlin: Duncker & Humblot.

Krey, V. (1974): Probleme der Nötigung mit Gewalt – dargelegt am Beispiel des Fluglotsenstreiks, Juristische Schulung, 14, S. 418-424.

Krey, V. (1986): Zum Gewaltbegriff im Strafrecht. In: Bundeskriminalamt (BKA) (Hrsg.): Was ist Gewalt? Auseinandersetzungen mit einem Begriff (S. 11-103). Wiesbaden: BKA.

Laucken, U. (1974): Naive Verhaltenstheorie. Stuttgart: Klett.

Mummendey, A., Linneweber, V. u. Löschper, G (1984): Actor or Victim of Aggression: Divergent Perspectives – Divergent Evaluations. European Journal of Social Psychology, 14, S. 297-311.

Mummendey, A. u. Otten S. (1989): Perspective-specific differences in the segmentation and evaluation of aggressive interaction sequences. European Journal of Social Psychology, 19, S. 23-40.

Müller-Dietz, H. (1974): Zur Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs. Goltdammer's Archiv für Strafrecht, 121, S. 33-51.

Neidhardt, F. (1986): Gewalt. Soziale Bedeutungen und sozialwissenschaftliche Bestimmungen des Begriffs. In: Bundeskriminalamt (Hrsg.) Was ist Gewalt? (S. 109-147). Wiesbaden: BKA.

Roth, M. (1978): Strukturelle und personale Gewalt. Probleme der Operationalisierung des Gewaltbegriffs von Johan Galtung. HSFK-Forschungsbericht, 1/1988. Frankfurt/M.: Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.

Starck, C. (1987): Anmerkungen zum BVerfG-Urteil vom 11.11.1986. Juristenzeitung, 42, S. 145-148.

Wassermann, R. (1989): Staatliches Gewaltverständnis: Garant oder Hindernis für die Weiterentwicklung der demokratischen Gesellschaft. In: W. Heitmeyer, K. Möller u. H. Sünker (Hrsg.): Jugend – Staat – Gewalt (S. 81-93). Weinheim/München: Juventa.

Anmerkungen

1) Der von konservativer Seite allenthalben erhobene Vorwurf, Galtungs Gewaltkonzeption diene „auch dazu, private Gewalttätigkeit mit Gloriole der Rechtfertigung zu versehen“ (Wassermann, 1989, S.83; für weitere Belege s. Hennig, 1989) ist m.E. eine infame Unterstellung, sofern Galtung Friedensforschung erklärtermaßen nicht nur als „Studium von Gewalt, sondern auch (als) das der Möglichkeiten“ versteht, „Gewalt mit nicht-gewaltsamen Mitteln zu überwinden, z.B. durch nicht-militärische Verteidigung und nicht-gewaltförmige Revolution“ (Galtung, 1978, S.29). Bestenfalls handelt es sich um eine Wirkungszuschreibung, die m.W. bisher empirisch nicht belegt wurde. Sollte sie aber empirisch zu belegen sein, würde das die hier vorgebrachten eigenen Vorbehalte stützen. Zurück

2) Eine solche Substitution scheint mir »unter der Hand« bspw. E. Hennig (1988, S. 69-73) in Anwendung der Galtungschen Begrifflichkeit zur Analyse jugendgeprägter Subkulturen zu vollziehen. Zurück

3) Nach §240 (2) StGB ist zwar grundsätzlich zwischen Tatbestandsfeststellung und Rechtswidrigkeitsurteil zu unterscheiden. Spätestens mit dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 5. Mai 1988, wonach die sog. politischen Fernziele der Akteure „nicht bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der Nötigung, sondern ausschließlich bei der Strafzumessung zu berücksichtigen“ sind (Bundesgerichtshof, 1988, Leitsatz), wurden faktisch jedoch alle Weichen in Richtung auf Konfundierung beider Aspekte gestellt. Zurück

4) Ähnlich unterschiedliche Profilverläufe erhält man, wenn man die Parteipräferenz der Befragten zum Differenzierungskriterium macht; vor allem CDU/CSU-Anhänger einerseits und Anhänger der GRÜNEN andererseits urteilten tendenziell gegenläufig. Zurück

Albert Fuchs ist Psychologe, Professurvertreter in Erfurt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/4 Facetten der Gewalt, Seite