W&F 1989/3

Wider die Offensive

Vorschläge für eine defensive Sicherheitsstruktur in Europa erforderlich wäre

von Bjørn Møller

Bis vor kurzem galten die Ideen einer »strukturellen Angriffsunfähigkeit« (StrunA) vielleicht als utopisch; aber sie sind jetzt im Begriff, in der amtlichen Politik mehrerer NATO-Länder akzeptiert zu werden. Obzwar das Bündnis sich diese Ideen noch nicht ganz zu eigen gemacht hat, scheint es allmählich der Annahme einiger der zentralen Konzepte nahezukommen. Außerdem hat sich die UdSSR amtlich dazu verpflichtet, die offensiven Elemente ihrer Strategie zu beseitigen oder jedenfalls abzubauen; und sie hat Konzepte westlichen Ursprungs wie »gemeinsame Sicherheit«, »vernünftige Hinlänglichkeit« usw. in ihrer amtlichen Politik übernommen. Die Frage der defensiven bzw. offensiven Streitkräfte wird also ein äußerst zentrales Thema werden, sowohl was den informellen Ost-West-Dialog betrifft als auch hinsichtlich der Verhandlungen über konventionelle Stabilität in Europa, die in Wien am 6. März 1988 anfingen. Was eine Umstellung auf strukturelle Angriffsunfähigkeit für die beiden Bündnisse bedeuten würde, soll nachfolgend diskutiert werden.

I. Was die NATO ändern müßte

Daß die NATO sich noch nicht bereit gezeigt hat, sich die StrunA-Ideen zu eigen zu machen, muß eigentlich verwundern, da StrunA für das NATO-Konzept genau passen würde: Erstens ist die NATO sowohl in der Tat als auch nach eigenem Selbstverständnis ein strikt defensives Bündnis. Zweitens würde selbst in dem Falle, daß einzelne Bündnismitglieder geheime Angriffspläne hegen sollten, die derzeitige Bündnisstruktur weitgehend die Verwirklichung solcher Pläne vereiteln. Drittens ist bereits heute die Gesamtstruktur wenigstens der Landstreitkräfte vorwiegend defensiv. Obgleich die See- und Luftstreitkräfte der NATO demgegenüber viel offensiver sind, sind echte (d.h. raumgreifende) Offensiven ausgeschlossen.

Die anfängliche Skepsis des westlichen Bündnisses gegenüber StrunA scheint jedoch allmählich zu schwinden: Erstens hat die NATO es als ihre Zielsetzung proklamiert, vor allem Fähigkeiten zu Überraschungsangriffen und zur Einleitung von großräumigen offensiven Aktionen zu beseitigen. Obzwar diese Konzepte anfänglich nur auf die Streitkräftestruktur des Warschauer Paktes (WVO) bezogen wurden, was auf eine Forderung nach einseitigen WVO-Abrüstungsschritten hinauslief, hat sich die NATO-Position jüngst aufgelockert: In ihrer Erklärung zum konventionellen Streitkräfteabbau, die durch die Ministertagung im Dezember 1988 verabschiedet wurde, hat das Bündnis die Absicht geäußert, anfänglichen »asymmetrischen« WVO-Reduktionen sollten weitere Maßnahmen folgen, wie z.B. „eine Umstrukturierung der Streitkräfte in Richtung auf eine Erhöhung der defensiven und eine weitere Verminderung der offensiven Fähigkeiten“. Wenn dies aufrichtig gemeint war, scheint die NATO indirekt eingeräumt zu haben, daß auch sie ihre Strategie und Streitkräftestruktur durchleuchten müsse und daß eine solche Analyse offensive Elemente, die beseitigt werden sollten, an den Tag bringen könnte. Nachfolgend werde ich einige Vorschläge dazu machen, worin diese Elemente bestehen.

Offensive Elemente in der NATO-Strategie

Die heutige Strategie für die NATO-Landstreitkräfte ist vorwiegend defensiv: Seit den 1950er Jahren, als eine ursprünglich manöverorientierte Strategie der »Vorwärtsverteidigung« durch eine defensive, grundsätzlich positionale und abnutzungs-orientierte Strategie der »Vorneverteidigung« ersetzt wurde, hat die NATO bloß beabsichtigt, die vordere Linie zu halten, jedoch keine Einfälle ins WVO-Gebiet zu unternehmen. In politischer Hinsicht machten außerdem die Ostverträge und die Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte von 1975 klar, daß kein Mitgliedsland der NATO, also auch nicht die Bundesrepublik , länger Ansprüche auf WVO-Gebiet erhebt. Letztlich verhindert eine weitgehende Integration der Streitkräfte großräumige Offensiven seitens einzelner Mitgliedsländer.

Trotzdem beinhalten die strategischen Konzepte gewisser Mitgliedsstaaten eine Reihe von offensiven Elementen. Die heutige aus dem Jahre 1982 stammende »Air-Land-Battle«-Doktrin der US-Army, sowie in noch höherem Maße deren Langzeitpläne wie z.B. »Airland Battle 2000« und das Nachfolgekonzept »Army 21« geben das bisherige Konzept einer Positionskriegsführung zugunsten eines Manöverkriegsführungskonzepts auf; letzteres aber sieht (gegen-)offensive Operationen in das WVO-Gebiet (auf Korps-Ebene) ausdrücklich vor. Obzwar andere Mitgliedsländer defensiver bleiben, scheinen die neuerdings überarbeitete Heeresdoktrin der NATO (aus dem Jahre 1983), aber auch das neue NORTHAG-Konzept Schritte in Richtung auf eine größere Betonung von weiträumigen Manövern zu sein.

Waffen, die für die Offensive taugen

Außerdem umfassen die Streitkräfte fast aller NATO-Länder eine ganze Reihe von Waffensystemen, die zu offensiven Militärdoktrinen tauglich sind, z.B. die Kampfpanzer (besonders der M-1 und der Leopard 2), die qualitativ den meisten sowjetischen Panzern überlegen sind; weiterhin die Schützenpanzer (wie z.B. Bradley IFVs), Mehrfachraketenwerfer (u.a. vom Typ MARS/MLRS), taktische Raketen (Lance), usw.. Obgleich dieses Gerät die NATO nicht in die Lage versetzt, großräumige Offensiven zu unternehmen, könnte trotzdem das Bündnis im Stande sein, kleinräumige Überraschungseinfälle ins WVO-Gebiet, z.B. in Krisenperioden, zu machen. Jedenfalls begünstigt diese Struktur den Ersteinsatz, wo es in Krisen eher darum gehen sollte, Abwarten zu begünstigen.

Wir müssen jedoch andere potentielle »Kriegsdimensionen« berücksichtigen, um die eigentlichen Offensivfähigkeiten der NATO kenntlich zu machen:

Die taktischen Fliegerkräfte der NATO sind vorwiegend offensiv ausgelegt, mit einer ziemlich großen Reichweite und mit einer klaren Bevorzugung für Jagdbomber gegenüber Abfangjägern. Dieser Trend zur Offensive ist durch die jüngste Betonung von »tiefer Interdiktion« noch gesteigert worden. Im Rahmen der »FOFA« (Follow-on Forces Attack)-Doktrin werden z.B. tiefe Schläge gegen die Streitkräfte und festen Anlagen der »Zweiten Staffel« der WVO, vor allem in der DDR und Polen, geplant. Hierzu kommen verschiedene nationale Pläne, wie z.B. die amerikanische »Counter Air 90«, »Airforce 21« usw., die alle tiefe Schläge gegen die Flugplätze der WVO vorsehen. Diese OCA (Offensive Counter Air) Form der Luftverteidigung steht im direkten Widerspruch zum Geist von StrunA, weil sie den Ersteinsatz begünstigt und den jeweiligen Gegner dazu reizt, selbst durch vorwegnehmende Schläge dem Ersteinsatz der Gegenseite zuvorzukommen. Sie ist deshalb aus einer Perspektive von Krisenstabilität als höchst problematisch zu bewerten.

Die »Maritime Strategy«

Im Bereich der Flottenstrategien ist die »Maritime Strategy« der U.S. Navy aus dem Jahre 1982 eine äußerst offensive Strategie, obzwar selbstverständlich bloß um der abschreckenden Wirkung willen. In der Tat stellt sie ein Gemisch von verschiedenen strategischen Optionen dar, wie z.B. den folgenden:

  • Strategische U-Boot-Abwehr, die z.B. Pläne für die Jagd auf sowjetische Nuklear-U-Boote unter Anwendung von SSNs (nuclear-powered attack submarines) umfaßt, Operationen, mit denen bereits in der konventionellen Phase eines künftigen Krieges begonnen werden soll. Hierdurch wird z.B. beabsichtigt, die sowjetischen zur Nordflotte gehörenden »general-purpose« Streitkräfte im Umkreis ihrer Stationierung zu binden, um auf diese Weise die Seeverbindungswege weiter südlich zu schützen. Sie beabsichtigt jedoch auch eine Veränderung des nuklearen Gleichgewichts durch das Ausschalten sowjetischer Trägersysteme, u.a. um der folgenden Ziele willen:
  • Nukleare Kriegsführung (oder »counterforce coercion«), unter Anwendung z.B. des erhöhten counterforce-Potentials der Trident-II SLBM (submarine-launched ballistic missile) und der Tomahawk SLCMs (sea-launched cruise missile).
  • 'Direkte militärische Einwirkung' seegestützter Streitkräfte auf das Landgefecht, mit Hilfe u.a. des Marine Corps, der trägergestützten Fliegerkräfte und der seegestützten Marschflugkörper, die gegenwärtig sowohl auf Überwasser- als auch in der U-Bootflotte disloziert werden.
  • Horizontale Eskalation, d.h. die absichtliche Erweiterung eines anfänglich ortsgebundenen Konflikts durch »Vergeltung« anderswo in der Welt.

Obgleich die Maritime Strategie im formalen Sinne noch keine NATO-Strategie darstellt, ist sie für NATO-Zwecke bestimmt (oder wird jedenfalls mit Hinweis auf sie gerechtfertigt), und sie verlangt eine Zusammenarbeit der Verbündeten. Die neuen Flottenkonzepte der NATO wurden demgemäß allmählich modifiziert, um zu einer Übereinstimmung mit der amerikanischen Strategie zu kommen.

Trotz dieser bedeutenden Offensivfähigkeiten auf der konventionellen Ebene, hat sich die NATO traditionell (jedenfalls seit Mitte der fünfziger Jahre) auf die erweiterte Abschreckung durch die USA als dem Hauptpfeiler ihrer »Verteidigung« verlassen. Diese setzt eine Strategie des atomaren Ersteinsatzes voraus. Seit die UdSSR ein atomares Gleichgewicht erreicht hat, hat sich die NATO jedoch gezwungen gesehen, die schwindende Glaubwürdigkeit dieser erweiterten Abschreckung durch sich immer mehr an Kriegsführung und »counterforce« orientierenden Strategien und Streitkräftestrukturen wettzumachen. Die »Schlesinger-Doktrin« der Nixon- und Ford-Regierungen, die »countervailing strategy« der Carter-Regierung als auch deren heutige Ausgabe, die »discriminate deterrence«-Doktrin, sind bloß hervorgehobene Beispiele für diese Tendenz.

Einbeziehung der Atomwaffen und der Seestreitkräfte in die Verhandlungen

Es gibt also tatsächlich eine Reihe von offensiven Elementen in der Strategie und der Streitkräftestruktur der NATO, die aufgegeben werden müßten, wenn glaubhaft defensive Strukturen verwirklicht werden sollen.

Solange die Ost-West-Verhandlungen die See-, Luft- und atomaren Streitkräfte ausklammern, wird sich die NATO zwar fein heraus fühlen. Langfristig jedoch wird die NATO nicht im Stande sein, ihre eigenen offensiven Stärken von den Wiener Verhandlungen auszuklammern.

Besonders die Aussicht auf eine Einbeziehung der Atomwaffen in die Abrüstungsverhandlungen weckt in der NATO Sorgen, weil hierin die Gefahr der Abkoppelung von den USA steckt, und damit die langfristige Perspektive, daß Europa auf eigenen Füssen stehen und die damit verbundenen Kosten aufbringen müsse. Weil es aber höchst unwahrscheinlich ist, daß die NATO im Stande sein wird, die Mittel für mehr als marginale Erhöhungen der Verteidigungshaushalte zu finden, ist »neues Denken« dringend nötig. Wenn ein solches Umdenken nicht zustande kommt, werden wir vielleicht in einer »Kompensations-Hochrüstung« stecken bleiben; d.h. es werden dann alle in Folge des INF-Abkommens entstandene Lücken mit modernisiertem oder neuem Gerät zu füllen versucht. Weil dies ohne Zweifel die jetzt schlummernden Friedensbewegungen erneut zum Leben erwecken würde, steht das westliche Bündnis vor einer schwierigen Lage, wenn es sich außer Stande sieht, sich auf die neue Wirklichkeit einzustellen. Diese aber bietet ihrerseits ganz einmalige Möglichkeiten für die Schaffung von Stabilität auf der konventionellen Ebene.

II. Was die WVO ändern müßte

Die UdSSR und die WVO haben die Idee nicht provozierende Verteidigung (NOD) als ein Kernelement ihres »neues Denkens« über Sicherheitspolitik angenommen: Seit dem Anfang, der durch einige etwas mehrdeutige Bemerkungen seitens Michail Gorbatschows auf dem Parteitag im Februar 1986 gekennzeichnet war, ist inzwischen die Befürwortung unzweideutig. Sie ist eng mit dem Begriff der Gemeinsamen Sicherheit verbunden, den sich die sowjetische Führung nach einer langen Periode dogmatischen Widerstandes zu eigen gemacht hat. Darüberhinaus ist sie mit dem Konzept der »vernünftigen Hinlänglichkeit« verbunden, das Gorbatschow in einem Artikel (Prawda und Iswestija, 17. September 1987) als „eine Struktur der Streitkräfte, die für die Verhinderung möglicher Angriffe genügt, für Angriffe aber nicht ausreicht“, definierte.

Andererseits hat sich diese neue politische Orientierung im gesamten Warschauer Pakt ausgebreitet, wie es vorauszusehen war: In ihrem »Budapester Appell« schlug das Politische Konsultative Komitee der WVO am 11. Juni 1986 tiefe Einschnitte in den konventionellen Streitkräften in der Höhe von 100.000 bis 150.000 Truppen vor. Als ein Weg zur Stärkung der militärischen Stabilität wurde außerdem gefordert, daß die militärischen Konzepte und Doktrinen auf defensive Grundsätze umzuorientieren seien. Ein Jahr später, am 28.-29. Mai 1987, verabschiedete die WVO auf ihrer Tagung in Berlin ein Dokument „Über die Militärdoktrin der Mitgliedsstaaten der Warschauer Vertragsorganisation“, worin ausdrücklich gesagt wurde, daß die WVO sich an einem Militäraufwand, der zur Verteidigung und zur Zurückweisung jeglicher Aggression genügt, zu halten beabsichtige. Die Schaffung von „Zonen verdünnter Waffenkonzentration“ wurde als ein erster Schritt in Richtung einer Rückkehr der Streitkräfte in ihre Heimatländer befürwortet. Letztlich forderte die WVO die NATO zu „Konsultationen“ über eine Analyse und einen Vergleich der militärischen Doktrinen der beiden Blöcke auf.

In manchen dieser Aussagen liegt eine gewisse Zweideutigkeit: Erstens erlaubt die Terminologie Mißverständnisse, weil der sowjetische Gebrauch des Begriffs »Doktrin« mit dem westlichen nicht übereinstimmt, sondern eher das bedeutet, was wir als »grand strategy« bezeichnen würden. Zweitens ist nicht ganz klar, ob die WVO versucht, den Westen davon zu überzeugen, daß ihre Militärdoktrin in jeder Hinsicht bereits defensiv ist, oder ob sie die Bereitschaft signalisiert, sie strikt defensiv zu machen. Während Aussagen der politischen Führung und Veröffentlichungen der unabhängigen »Think-Tanks« in der UdSSR (wie z.B. des IMEMO) die letzterwähnte Interpretation erlauben, scheint das Militär die ersterwähnte Bedeutung zu bevorzugen. Zum Teil wegen dieser Zweideutigkeit herrscht im Westen eine gewisse Uneinigkeit darüber, ob man die WVO-Aussagen ernst nehmen oder ob man sie als Propaganda abtun sollte. Es lassen sich jedoch sowjetische Überlegungen rekonstruieren, die eine defensivere Struktur auch des eigenen Militärs befürworten. Jedenfalls hat eine wachsende Zahl westlicher Analytiker und Politiker inzwischen einen solchen Eindruck gewonnen.

UdSSR: Umstellung auf defensivere Strukturen hat begonnen

Diese Ansicht wurde dadurch bestärkt, daß die UdSSR neuerdings ihre Befürwortung einer vertraglich geregelten Umstellung auf defensivere Strukturen mit einer Reihe von bedeutenden einseitigen Schritten verbunden hat. Der wichtigste und überzeugendste hierunter war selbstverständlich die Ankündigung eines einseitigen Abbaus der sowjetischen Streitkräfte durch Gorbatschow in der UNO im Dezember 1988. Er kündigte den Abbau von einer halben Million Soldaten an, verbunden mit der Zurücknahme von sechs vorne dislozierten Divisionen aus Osteuropa, weiterhin eine Änderung des Waffenprofils der verbleibenden Streitkräfte durch Verminderung von Brückenbaugeräten, von Panzern und Kampfflugzeugen, usw. Solche Vorleistungen tragen selbstverständlich zur Glaubwürdigkeit der sowjetischen Vorschläge bei. Ja, selbst für den Fall, daß es sich um schlaue Propaganda handeln sollte, müßte der Westen solche »Propagandamaßnahmen« wegen ihrer substantiellen Bedeutung willkommen heißen.

Man sollte jedoch aus »Entspannungseuphorie« nie vergessen, daß es tatsächlich einen dringenden Bedarf an Umstellungen der WVO-, und besonders der sowjetischen Streitkräfte, gibt, wie aus der nachstehenden Liste offensiver und bedrohlicher Elemente hervorgeht:

  • Die aus dem Jahre 1968 stammende sogenannte »Breshnew-Doktrin« der begrenzten Souveränität der WVO-Mitgliedsstaaten und die hierdurch gerechtfertigten Militäreinsätze innerhalb des eigenen Bündnisses. Obzwar diese Doktrin jetzt amtlich aufgegeben ist, schwebt die Gefahr ihrer Wiederbelebung noch über den Beziehungen zwischen der Sowjetunion und ihren osteuropäischen Verbündeten; sie wird weiterhin durch den Westen als eine mögliche Gefahr wahrgenommen.
  • Die enge sowjetische Kontrolle über die WVO-Streitkräfte, die eine »Bündniskriegsführung« praktisch zu einer »verstärkten sowjetischen Kriegsführung« macht. Wenngleich die Zuverlässigkeit der nicht-sowjetischen Pakt-Streitkräfte in einer durch einen WVO-Angriff auf die NATO ausgelöste Kampagne sehr zweifelhaft ist, stellt die Multinationalität der WVO trotzdem keine so verlässliche Verhinderung der Aggression dar wie ihr Gegenstück, die NATO.
  • Die militärische Intervention in Afghanistan, die zwar tatsächlich durch defensive Sorgen motiviert gewesen sein mag und die gewiß keinen sowjetischen »Meisterplan« widerspiegelt. Trotzdem fürchtet der Westen, daß hierdurch ein Präzendenzfall für Interventionen außerhalb der herkömmlichen Einflußsphären gegeben sein könnte, eine Furcht, die auch durch den eben abgeschlossenen sowjetischen Rückzug nicht ganz beseitigt ist.

Die sowjetische Militärwissenschaft: auf Offensive ausgerichtet

Je weiter wir uns nach »unten« in der theoretischen Hierarchie der sowjetischen Militärwissenschaft von der Ebene der Politik und der »Doktrin« zur Strategie, der operativen Kunst und der Taktik bewegen, je offensiver erscheinen die UdSSR und die WVO. Wenngleich einige Waffengattungen innerhalb des sowjetischen Militärapparates von alters her defensive Kampfformen betont haben, wie z.B. die Flotte und die Luftabwehr, wird durch die führende Waffengattung, das Rote Heer, die Offensive stark betont, wie aus den nachfolgenden Beispielen ihrer strategischen Konzeptionen hervorgehen wird:

  • Die am weitesten verbreiteten sowjetischen Lehrbücher im Bereich der militärischen Strategie zeigen eine unmißverständliche Vorliebe für die Offensive auf. Obgleich manche von ihnen vielleicht heute als veraltet gelten, sind die Folgebände jedoch noch nicht geschrieben. Im übrigen muß man mit einem mehrjährigen Lernprozeß rechnen, während dessen da sowjetische Offizierskorps sich mit den neuen Konzeptionen vertraut macht.
  • Jedenfalls bis vor kurzem hat die UdSSR an einer »Blitzkrieg«-Strategie festgehalten, was vielleicht im Lichte ihrer Schwächen bei der Mobilisierung industrieller und anderer Ressourcen verständlich ist, jedoch trotzdem die NATO mit dem am meisten gefürchteten schnellen fait accompli konfrontiert.
  • Hohes Gewicht wird, sowohl im Bereich der Taktik als auch in der operativen Kunst, auf hohe Mobilität und ein hohes Tempo der Gefechtsoperationen gelegt. Deshalb die gestaffelte Strukturierung des Militärapparates, aber auch die Betonung der quantitativen Größenordnung der Rüstung.
  • Das Überraschungsmoment im Kriege ist immer betont worden. Dies sei zu erreichen durch einen umfassenden Gebrauch von Tarnungsmaßnahmen sowie durch den allgemeinen Grundsatz des frühen vorwegnehmenden Schlags (Präemption). Weil dieselben Grundsätze auf der strategischen Ebene angewandt werden könnten, fürchtet der Westen verständlicherweise, daß die UdSSR in Übereinstimmung mit ihrer Betonung der Präemption während eines bereits im Gang befindlichen Krieges, auch den Krieg selbst präemptiv auslösen könnte.
  • Seit den späten siebziger und frühen achtziger Jahren werden »tiefe Operationen«, die die Anfänge der sowjetischen operativen Kunst kennzeichnen, wieder betont. Die Planungen schreiben vor, solche tiefen Operationen unter Anwendung von OMGs (operationelle Manövergruppen) sowie mit Luftsturmbrigaden (air assault brigades) und vergleichbare Spezialtruppen (»speznaz«) usw. zu unternehmen.

Offensive Elemente in der Streitkräftestruktur

Zu diesen offensiven Elementen der Militärwissenschaft kommen noch eine Reihe von offensiven Elementen der sowjetischen Streitkräftestruktur, wie z.B.:

  • Das Vorhandensein überall in den sowjetischen Streitkräften von großen Mengen von Waffensystemen, die zu Offensivoperationen äußerst geeignet wären, wie z.B. Kampfpanzer, Schützenpanzer, schwere Selbstfahr-Artillerie, »operativ-taktische« Raketen, Jagdbomber und Hubschrauber, nukleare und chemische Munition, aber auch auf Offensive ausgelegte Logistikkomponenten, wie z.B. Brückenbaugerät. Die sowjetische Bekanntmachung, daß sie einseitig ihr chemisches Arsenal vernichten werde, ist jedoch ein sehr bedeutsamer Schritt in die richtige Richtung.
  • Die Vornedislozierung in Osteuropa von vielen offensiv-tauglichen Divisionen in einem hohen Bereitschaftsstand, die nach westlichen »worst-case Analysen« der UdSSR die Option eines Angriffs aus dem Stand auf die Bundesrepublik geben. Das Hauptproblem in dieser Hinsicht sind natürlich die 19 Divisionen (mitsamt den kleineren Verbänden) der GSFG (Gruppe sowjetischer Streitkräfte in Deutschland), die fast ausschließlich zu den »Kategorie A«-Divisionen gehören, und die mit ungefähr 90 Prozent ihres Personals undf mit den obenerwähnten Waffensystemen fast kampfbereit dastehen. Die sowjetische Bekanntgabe, daß sie sechs vorne dislozierte Divisionen aus Osteuropa zurückzunehmen beabsichtige, sollte durch den Westen als ein bedeutsamer Schritt in die richtige Richtung bewertet werden, wenngleich auch nach dem Vollzug dieses Schrittes allzu viele Divisionen noch übrigbleiben.

Ungeachtet, daß die UdSSR die Unmöglichkeit, einen Atomkrieg zu gewinnen, anerkannt und sich zum Nichtersteinsatz (NFU) ihrer Atomwaffen einseitig verpflichtet hat, als auch im Rahmen des INF-Abkommens in ihrem Arsenal zu tiefen asymmetrischen Einschnitten bereit war, enthält die sowjetische Streitkräftestruktur trotzdem immer noch eine breite Palette von Gefechtsfeld- und kurzreichenden Atomwaffen, die mit ihrer NFU-Politik unvereinbar sind und die eher die Betonung von Nuklearwaffen in der Vergangenheit widerspiegeln.

Glasnost im Militärbereich

Eine der wichtigsten Voraussetzungen einer glaubwürdigen Annahme des Konzepts nichtoffensiver Verteidigung durch die UdSSR wäre eine größere militärische Offenheit. Die Sowjetunion scheint auf dem richtigen Gleis sich zu befinden, sowohl mit ihrer allgemeinen Glasnost-Politik als auch mit ihrer veränderten Einstellung gegenüber Vor-Ort-Inspektionen im Rahmen von Rüstungskontrollabkommen, und mit den Versprechungen einer Veröffentlichung von glaubwürdigen und detailliert ausgebreiteten Daten über die sowjetische Streitkräftestruktur und Rüstung.

Wandel der Bündnisbeziehungen im Warschauer Pakt

Eine weitere Voraussetzung wäre ein (gänzlicher oder teilweiser) Rückzug aus Osteuropa und ein Wandel der Bündnisbeziehungen innerhalb der WVO: In dem Maße, in dem die osteuropäischen Länder eine größere Eigenständigkeit erreichten oderr anders ausgedrückt: in dem Maße, in dem das östliche Bündnis sich in eine integrierte Koalition von Gleichen umwandelte, würde die Offensivfähigkeit verringert werden. Einerseits könnte eine Rollendifferenzierung hierzu beitragen: Wenn die sowjetischen Streitkräfte, die noch in der DDR verbleiben, von der Unterstützung durch die Nationale Volksarmee oder anderer Bündnispartner abhängig gemacht würden, würde dies ihre eigenständigen Offensivoptionen beschränken. Andererseits würde eine solche Entwicklung jedoch die Alternative ausschließen, eigenständige defensive Raumverteidigungskonzepte in den einzelnen osteuropäischen Staaten zu entwickeln, was ebenfalls Offensivoptionen (jedenfalls vom Ost-West-Typus) begrenzen könnte.

Bei diesen beiden Optionen gibt es offensichtlich Vor- und Nachteile, die jede Wahl erschweren. Die letzterwähnte Möglichkeit würde die größte Herausforderung an die UdSSR darstellen, weil eine Einführung von Raumverteidigungsstrukturen durch ihre Verbündeten die Möglichkeiten sowjetischer Interventionen ernsthaft gefährden würde und deshalb ihren Rang als Hegemonialmacht sogar in Frage stellen könnte. Ein weiteres ernstes, obgleich bisher fast unbemerktes Problem könnte die Gefahr einer Eskalation von »kleinen« nationalen Konflikten innerhalb Osteuropas sein. Der heutige ungarisch-rumänische Streit ist nur einer unter vielen bisher latenten Streitigkeiten, die unter der Oberfläche schlummern, jedoch bisher durch den Ost-West-Konflikt, als auch durch die sowjetische Hegemonie überlagert wurden. Aus westlicher Sicht könnten beide Optionen aus sicherheitspolitischen Gesichtspunkten annehmbar sein, wenngleich die letzterwähnte zu bevorzugen wäre. Selbstverständlich muß jedoch die schwierige Wahl zwischen den Optionen durch die betroffenen Länder in Übereinstimmung mit den allgemeinen Grundsätzen der Demokratie und des nationalen Selbstbestimmungsrechtes getroffen werden.

Bjørn Møller arbeitet am Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung an der Universität zu Kopenhagen.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1989/3 1989-3, Seite