W&F 2002/4

Wie Bewegung in den Frieden kam

von Beate Zilversmidt

Nach Ausbruch der Al-Aqsa-Intifada wurde es sehr ruhig um »die Friedensbewegung« in Israel – zumindest, was deren Einfluss auf die öffentliche Meinung und deren Präsenz in den Medien, national wie international, betrifft. Beate Zilversmidt, eine der herausragenden Aktivistinnen von Gush-Shalom, beschreibt für Wissenschaft und Frieden detailliert eine Reihe von scheinbar zufälligen Ereignissen Anfang des Jahres 2002, die zusammenwirkten und deren Eigendynamik zu einer wichtigen Veränderung führte: Die Friedensbewegung wird wieder ernst genommen. Diese Entwicklung hat die Regierung von Scharon und die militärische Führung verunsichert. Das Ergebnis ist eine verstärkte öffentliche Debatte um das Thema Kriegsverbrechen – und eine mit aller Heftigkeit geführte Hetzkampagne gegen Gush-Shalom und seine Mitglieder.
Mehr als ein Jahr lang war die einzige kritische Reaktion auf die zunehmend brutale Unterdrückung der Palästinenser der Protest »radikaler Randgruppen«. Als für den 9. Januar 2002 in Tel Aviv im Saal des Tzavta Clubs eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema Kriegsverbrechen1 angesetzt war, hatten wir noch nicht die leiseste Ahnung, dass die Stimmung sich ändern würde. Etwa 250 Menschen füllten den von Gush-Shalom angemieteten Raum. Sechs Redner saßen gedrängt hinter dem Podiumstisch: Ein pensionierter Oberst der Luftwaffe, ein Ex-Minister, ein Philosophieprofessor, ein ehemaliger Brigadegeneral und jetziger Sozialwissenschaftler, ein Experte für Internationales Recht und ein Vertreter der PLO.

Yigal Shochat, ehem. Oberst der Luftwaffe, war eingeladen worden, weil er einige Monate vorher in einem Leserbrief, die Kampfpiloten aufgefordert hatte, Befehle zur Bombardierung ziviler Wohngebiete zu verweigern. Er hatte lange gezögert, bevor er zusagte auf das Podium zu gehen, doch sein Vortrag hinterlies einen ungeheueren Eindruck.

Der Jurist Eyal Gross forderte die »verweigernden Soldaten« – die nicht bereit sind mit Bulldozern palästinensische Häuser zu zerstören – auf, gegen eine Gefängnisstrafe anzugehen und ihren Fall vor ein reguläres Gericht zu bringen. Ein Anwalt, der sich auf die Einhaltung der Genfer Konventionen berufe – die Israel unterzeichnet hat – könne unter Umständen auch einen Freispruch erreichen.

Dov Tamari, Sozialwissenschaftler mit militärischem Background, hat bestimmt keinen besonders radikalen Ruf. Umso mehr überraschte seine Militärkritik. Die militärische Theorie ist für ihn im 19. Jahrhundert stehen geblieben, als es noch das Ideal des Krieges als Kampf zwischen zwei Armeen gab, in Unabhängigkeitskriegen sei der Kontext jedoch ein völlig anderer: „Es ist ein großer Fehler, alles was nicht in die überholte Militärtheorie passt, als Terrorismus zu bezeichnen.“

Michael Tarazi, der PLO-Vertreter, schilderte die schockierenden Erfahrungen der Palästinenser, sich während der Jahre des Oslo-Prozesses einem Verhandlungspartner ausgeliefert zu wissen, der sich nicht an internationale Gesetze gebunden fühlt. Er zitierte einen israelischen Militärsprecher mit den Worten: „Wir werden die Genfer Konvention nur einhalten, wenn wir dazu gezwungen werden.“

Professor Adi Ophir rief die Friedensbewegung auf, Beweise zu sammeln, die zukünftig vor einem internationalen Gerichtshof genutzt werden könnten. „Das wird unsere Isolation in der israelischen Gesellschaft vergrößern“ sagte er (und das dachten wir damals alle), „aber wir müssen uns alle fragen, ob die Zeit nicht reif ist, für dieses Vorgehen und auch dafür den Preis zu bezahlen.“

Shulamit Aloni sprach als letzte, die große alte Dame der Meretz-Partei und der Menschenrechtsbewegung, die der Regierung von Rabin angehört hatte. „Wir müssen den größten Teil der Arbeit selbst tun“, betonte sie. „Erwartet nicht viel von der internationalen Gemeinschaft. Viele Menschen dort haben zuviel Angst für Antisemiten gehalten zu werden. Es liegt an uns, mit den Tatsachen an die Öffentlichkeit zu gehen.“

In derselben Nacht, in der diese Diskussion stattfand, nahm die Armee Rache für einen früheren Guerillaangriff gegen einen isolierten Vorposten, dem vier Soldaten zum Opfer gefallen waren: Sie zerstörte 60 bis 70 Häuser im Flüchtlingslager Rafah, am südlichen Ende des Gaza-Streifens. Shulamit Aloni, die am folgenden Tag den belagerten Arafat in Ramallah besuchte, bezeichnete die Zerstörung der Häuser in einem Interview mit dem palästinensischen Fernsehen als Kriegsverbrechen. Vom israelischen Fernsehen ins Kreuzverhör genommen bestätigte sie später die Verwendung des Begriffs »Kriegsverbrechen« mit einem Hinweis auf ihr Auftreten im Tzavta Club.

Die massive Vergeltung, die Hunderte von unschuldigen Flüchtlingen wieder heimatlos machte und internationale Fernsehberichte über Kinder, die in den Trümmern nach ihren Spielsachen suchten, verursachten weltweiten Protest. Selbst Bush konnte dazu nicht schweigen und aus dem Weißen Haus gab es ein wenig Kritik.

Die Kritik von außen haben Sharon und die Armeeführung sicher vorhergesehen, womit sie wahrscheinlich nicht gerechnet hatten, das war der Protest in Israel; ein Protest, der nicht begrenzt war auf die »Übriggebliebenen« aus der alten Friedensbewegung. Die 150 Demonstranten, die spontan vor dem Verteidigungsministerium in Tel-Aviv auftauchten, waren nur der Anfang. Es folgte eine Welle kritischer Berichte und Leitartikel in der Presse und scharfer Protest von prominenten Akademikern. Die Möglichkeit, dass die Taten der Bulldozerfahrer als Kriegsverbrechen gelten könnten, und die Idee, dass jeder Soldat für seine Teilnahme an solchen Aktionen verantwortlich ist, wurden plötzlich zum öffentlichen Thema. Gush-Shalom stand völlig unerwartet eine Woche lang im Rampenlicht, weil es eine sehr vorsichtige öffentliche Diskussion initiiert hatte.

Tatsächlich waren bei der Diskussionsveranstaltung zum Thema Kriegsverbrechen keine Fernsehkameras präsent, nur ein einziger Rundfunkreporter hatte einige der Reden aufgezeichnet und Ausschnitte gesendet. Für den Justizminister Sheetrit immerhin Anlass zu fordern, dass „nicht unsere Soldaten zur Rechenschaft gezogen werden…, sondern diejenigen, die öffentliche Anschuldigungen gegen sie vorbringen.“ Aber die Versicherung des Ministers verhinderte nicht eine Verunsicherung im Offizierskörper. In der Folge berichteten die Medien über Berufsoffiziere, die sich um juristische Beratung bemühen, aus Angst vor der Möglichkeit bei Auslandsreisen verhaftet und wegen Kriegsverbrechen unter Anklage gestellt zu werden.

In dieser Atmosphäre trafen sich die Aktivisten verschiedener Gruppen (ICAHD2, Coalition of Women for Peace und die jüdisch-arabische Ta’ayush-Bewegung), um neben der humanitären Hilfe – dem Sammeln von Decken für die Opfer der Zerstörungen – den politischen Widerstand zu besprechen. In der West Bank hätte man einen Marsch mit Hunderten von Aktivisten organisieren können, die demonstrativ Decken übergeben – aber der Gaza-Streifen ist für Israelis (außer für Militär und Siedler) hermetisch abgeriegelt und Lieferungen sind nur heimlich und indirekt möglich. Hinzu kam, dass aufgrund des Versprechens der Regierung, zukünftig auf die Zerstörung von Häusern zu verzichten (ein Versprechen das – wie sich später herausstellte – nicht gehalten wurde), das Thema der Häuser von Rafah schnell aus den Medien verschwand. Um trotzdem ein klar sichtbares Zeichen gegen die Besatzung an sich zu setzen wurde eine Samstagabend-Massendemonstration in Tel-Aviv erwogen. Aber dies hielten die anwesenden kleineren Gruppen für nicht machbar, lediglich Peace Now traute man zu, so etwas auf die Beine zu stellen. Doch Peace Now war zu diesem Zeitpunkt gegen das Thema Kriegsverbrechen.

Inzwischen eskalierte die Gewaltspirale weiter – auch mit vielen israelischen Opfern – und so wurde am 23. Januar die Entscheidung getroffen, auch ohne die Teilnahme von Peace Now eine Demonstration »im Stil von Peace Now« zu veranstalten.

Das Geld sollte von den beteiligten Gruppen und Privatpersonen aufgebracht werden und es zeigte sich eine ungewöhnlich große Spendenbereitschaft – von Israelis, die eine solche Demonstration unbedingt wollten und von Sympathisanten aus dem Ausland (z.B. der niederländischen Gruppe »Eine andere jüdische Stimme«).

Am 25. Januar erschien dann die Erklärung von 56 Reserveoffizieren und Soldaten, alle aus Kampfeinheiten, die ankündigten, dass sie nicht länger bereit seien in den besetzten Gebieten ihren Militärdienst abzuleisten. Während der letzten 20 Jahre gab es immer wieder einzelne Reservisten, die sich der Verweigerergruppe Yesh Gvul mit ihren deutlichen politischen Positionen anschlossen. Yesh Gvul betrieb sehr aktive Aufklärungsarbeit bei den Soldaten, die sie über ihr Recht zur Verweigerung »offensichtlich illegaler Befehle« informierten. Aber es hatte nach dem Libanonkrieg keine weiteren Fälle massenhafter Verweigerung bei Reservisten oder Wehrpflichtigen gegeben.

Durch die Kriegsdienstverweigerer bekam die Diskussion um das Thema Kriegsverbrechen eine neue Dimension. Die Militärführung zeigte sich äußerst verunsichert und drohte mit harten Strafen. Das gesamte politische Establishment, einschließlich mehrerer Meretz-Abgeordneter, sprach sich gegen die Verweigerer aus. Doch Meinungsumfragen zeigten, dass sich 25%-30% der israelischen Bevölkerung mit ihnen identifizierten. Innerhalb weniger Wochen stieg – ständig in den Medien veröffentlicht – die Anzahl der Neuunterzeichner des umstrittenen Briefes der Soldaten auf über 300.

Die unterschiedliche Bewertung der »Verweigerer« verhinderte dann aber eine einheitliche Großdemonstration. Während die ursprünglichen Organisatoren – die sogenannten radikalen Gruppen (insgesamt 28 größere und kleinere Organisationen) – der Überzeugung waren, dass gerade den Verweigerern eine zentrale Rolle gegeben werden müsse, wollten die Sprecher von Peace Now mit den »Verweigerern« nicht auf ein Podium.

Im Ergebnis fanden schließlich zwei Massendemonstrationen innerhalb von acht Tagen statt: Am 9. Februar die Demonstration der 28 kleineren und mittleren Organisationen unter dem Motto »Die Besatzung tötet uns alle!«. Zum ersten Mal benannten 10.000 Teilnehmer die Besatzung als Ursache des gesamten Problems – und das zu einer Zeit, in der fast täglich Gewalttaten beider Seiten zu verzeichnen waren. Auf der Kundgebung traten neben bekannten Persönlichkeiten wie Shulamit Aloni und Uri Avnery auch mehrere arabische Redner und drei Vertreter der Verweigererorganisationen auf.

Als Peace Now eine Woche später noch fünfzig Prozent mehr Demonstranten auf dem gleichen Platz versammeln konnte, da war klar: Das Friedenslager ist aufgewacht.

Anmerkungen

1) Vgl.: http://www.gush-shalom.org/archives/forum_eng.html (Protokoll der Anhörung)

2) Israeli Committee Against House Demolition (http://www.icahd.org)

Beate Zilversmidt ist eine der zentralen Persönlichkeiten von Gush Shalom und Mitherausgeberin der Zeitschrift »The other Israel«.
Übersetzung: Claudia Haydt

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/4 Israel – kein Friede in Sicht, Seite