Wie ein Brennglas …
von Tim Bausch
Es gibt Sätze, die wiegen trotz aller inhaltlichen Leere besonders schwer. So urteilte im April 2020 Bundespräsident Frank Walter Steinmeier: „Die Welt danach wird eine andere sein.“ Er bezog sich dabei auf jene von SARS-CoV-2 ausgelöste Infektionswelle, die schon sehr bald eine weltweite Dimension annehmen sollte.
Auch im Feuilleton und in den Kommentarspalten diverser Tageszeitungen war dieser Satz in ähnlicher Form zu lesen. Herr Steinmeier räumte im weiteren Verlauf seiner Ansprache ein, es könne niemand sagen, wie denn diese veränderte Welt im »Danach« konkret aussehen werde. Schließlich liege die Welt nun in unserer Hand, wir alle seien in der Pflicht.
Zweifellos ist die Welt morgen schon eine andere als heute. Dieses Prinzip gilt immer. Was Herr Steinmeier und andere Beobachter mit diesem Satz ansprechen, sind natürlich nicht die kleinen, unvermeidlichen, tagtäglichen Veränderungen, die zwangsläufig mit jedem gesellschaftlichen Leben einhergehen. Vielmehr wird hier eine Weltwende adressiert, eine fundamentale Veränderung.
In diesem Sinne sind Krisen auch politisches Kapital, da mit krisenhaften Dynamiken Ermöglichungsräume für politische Ideen einhergehen. Doch für richtungsweisende »Weltreformen« braucht es auch ordentliche Analysen, schließlich muss das Krisen- und Konfliktmanagement der Sachlage angemessen sein. In Bezug auf COVID-19 ergibt sich dabei eine äußerst komplexe Gemengelage. In Krisen werden aus bestehenden Strohfeuern schnell große Buschbrände.
Die Pandemie sorgte auch in der W&F-Redaktion für Gesprächsbedarf. Es liegt in der Natur der Sache, dass Metaphern helfen, die Welt einzuordnen und greifbar zu machen (siehe Marcel Vondermaßen in dieser Ausgabe). Die Metapher des »Brennglases« tauchte bei den Diskussionen, die in der W&F-Redaktion geführt wurden, immer wieder auf. Das »Brennglas« hat uns so gut gefallen, weil damit eine gewisse Evidenz zusammenhängt. Die Pandemie verstärkt längst bestehende Krisen und bündelt diese – ob mangelnden Arbeitsschutz, Flucht und Migration oder ökologische Probleme. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Titel dieser Ausgabe: »Der kranke Planet«. Mit dieser Betitelung verbindet sich unter anderem die Idee, Querverbindungen zwischen den Brandherden und Konfliktfeldern sichtbar zu machen. Darüber hinaus sollen Ursachen und weniger beachtete Begleiterscheinungen der COVID-19-Pandemie erkennbar werden. Welche Pfade führten zu der Pandemie? Welche vorgelagerten Krisen wirken katalysatorisch, und wo sind Interdependenzen zu beobachten?
Zunächst zeigt Jürgen Scheffran in seinem Beitrag auf, wie eine beschleunigte Globalisierung mit ihren klassischen Begleiterscheinungen, wie etwa der neoliberalen und kapitalistischen Grundierung unserer Zeit, zu verschiedenen Krisensymptomen führt(e), die wiederum die aktuelle Pandemie begünstigen und das Krisenmanagement erschweren. So wird die aktuelle Situation in einen breiteren Kontext eingeordnet. Der darauffolgende Beitrag dokumentiert einen Auszug aus dem »Global Peace Index«, der jährlich vom Institute for Economics & Peace herausgegeben wird. Die Auswirkungen der Pandemie auf den globalen Frieden werden hier herausgearbeitet. Der Beitrag von Stefan Peters und Emily Ritzel knüpft thematisch an diese Dokumentation an und stellt die Auswirkungen der Pandemie auf Krisengebiete im Globalen Süden in den Mittelpunkt. Stella Kneifel und ich öffnen in unserem Beitrag Fenster in den Libanon, auf die griechischen Inseln und nach Indien: Aktivist*innen berichten von ihren Erfahrungen vor Ort und den Problemen, die sich aktuell stellen. Katrin Vogler thematisiert den Aspekt der Ressourcenverteilung in der Pandemie und spricht dabei insbesondere die damit verbundenen Asymmetrien an. Wie die Bundewehr zum Akteur des Krisenmanagements wird und wie dabei zivile Akteure in den toten Winkel geraten, wird von Martin Kirch erörtert. Anna Holzscheiter widmet sich in ihrem Beitrag der Weltgesundheitsorganisation, greift dabei aktuelle gesellschaftspolitische Diskurse auf und untermauert argumentativ die Bedeutsamkeit dieser internationalen Organisation. Marcel Vondermaßen nimmt die Verwendung von Kriegsmetaphern und die daraus resultierenden gesellschaftlichen Folgen in den Blick.
Die Ausgabe »Der kranke Planet« bündelt also ganz unterschiedliche Perspektiven. Und in der Tat, die Welt ist und war schon immer veränderlich. In Krisen wächst lediglich das Bewusstsein dafür, und es springen neue Möglichkeiten ins Auge. Bei der Lektüre der vorliegenden Ausgabe treten überdies verschiedene Stellschrauben zutage. Offensichtlich gibt es einiges zu tun. Zu diesem Urteil kommt auch Jürgen Scheffran in seinem Beitrag: „Dazu gehört die Immunisierung gegen globale Erkrankungen durch vier Therapien: ökologischer Fußabdruck in planetarischen Grenzen, erneuerbare Energien für alle, sauberer Wohlstand für alle und Kohabitation der Nationalstaaten (Knies 2017).“ Klar dürfte auch sein, dass bei dieser Therapierung ganz unterschiedliche Akteure gefragt sind. Wie treffend, dass sich die Leser*innenschaft von W&F sowohl aus der Wissenschaft und der Friedenspolitik als auch aus einer kritischen Öffentlichkeit speist.
Ihr Tim Bausch