W&F 1983/1

Wie friedlich ist die Soziologie? (1)

Die militärische Indienstnahme der Soziologie in den USA zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnamkrieg (1945-1965)

von Heinrich W. Ahlemeyer

Vorbemerkung

In der Titelfrage klingt bereits durch, daß die Soziologie womöglich nicht nur eine Friedenswissenschaft ist, als die sie hier und da wahrgenommen werden mag, eher vielleicht von ihrer Geschichte und Funktion her eine Befriedungswissenschaft entstanden im 19. Jahrhundert zur Befriedung des immer selbstbewußter und auch politisch immer einflußreicher werdenden Industrieproletariats für das Bürgertum.
Aber eine direkt militärisch-aggressive Ausprägung der Soziologie, eine kriegerische Soziologie gar - ist die vorstellbar? Hat es die gegeben? Und gibt es sie?

Ich möchte heute am Beispiel der amerikanischen Soziologie für den Zeitraum zwischen Zweitem Weltkrieg und Vietnamkrieg nicht nur nachweisen, daß es eine solche unfriedliche Soziologie gegeben hat und gibt, sondern zugleich auch eine Anschauung davon vermitteln, wie diese Soziologie militärisch vernutzt worden ist, worin ihre zum Teil verzichtbaren Funktionen für das Militär bestanden und bestehen. Zugleich möchte ich wenigstens andeutend skizzieren, welche Konsequenzen die militärische Indienstnahme für Selbstverständnis und Beschaffenheit der Disziplin hatte.

Was ist Friedlichkeit?

Welche Kriterien werden zugrunde gelegt, um Aussagen über die Friedlichkeit oder Unfriedlichkeit eines Tuns oder einer Institution zu machen? Kann nicht auch die Mitarbeit im militärischen System friedensstiftend sein? Und dienen nicht auch die Bundeswehr und die neuen Erstschlagwaffen Pershing II und Cruise Missile ausschließlich der Friedenserhaltung?

Nein. Diese Verdrehung der Wirklichkeit dürfen wir nicht mitmachen. Dieses Auf-den-Kopf-Stellen der Wahrheit. Für mich jedenfalls ist das Militär wesensmäßig ein Gewaltmittel, das für den Frieden so funktional ist wie Schnaps gegen Alkoholismus. Das Militär als die Organisation von gezielter Gewalt gegen Menschen ist eine Absage an alle nicht-gewaltsamen, friedlichen Konfliktlösungen qua Diskussion, Verhandlungen, Ausgleich und Kompromiß.

Deshalb rechtfertigt für mich die Mitwirkung an der Planung, Androhung, Optimierung und dem Einsatz von militärischer Gewalt das Urteil der Unfriedlichkeit.

Freilich stößt das Unterfangen, die militärische Indienstnahme der Soziologie zu untersuchen, rasch auf Schwierigkeiten. Sie sind im Gegenstand selbst begründet. Natürlich stellt sich die Zuarbeit von Soziologen für das Militär nur zum geringsten Teil in frei zugänglicher Literatur dar. Der größte Teil der Quellen, die hier aussagekräftig wären, entsteht und verbleibt im militärischen System als interne Dienstvorlage, geheimes Memorandum oder klassifiziertes Briefing-Papier. Einem Soziologen außerhalb des militärischen Systems ist es so gut wie unmöglich, solche Dokumente einzusehen, die strikten Zugangs- und Geheimhaltungsregeln unterliegen. Darüber hinaus schlägt sich nur ein sehr kleiner Teil der Zusammenarbeit zwischen Militärs und Soziologen schriftlich nieder. Die folgenden Anmerkungen stehen folglich unter der klaren Einschränkung, daß sie nur auf öffentlich zugängliche Quellen zurückgreifen konnten und daher nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes erfassen.

Institutionelle Voraussetzungen

Zu Beginn einen kurzen Blick auf die institutionellen Voraussetzungen für die Durchführung soziologischer Forschungen im militärischen Bereich.

Durch den National Security Act wurde 1947 beim Departement of Defense (DOD) das Research and Development Board geschaffen, das ein Committee on Human Resources beinhaltete, welches sich den vier Feldern Psychophysiology and Human Engineering, Personnel and Training, Manpower und Human Relations and Morale widmete. Für die Soziologie wurde insbesondere der vierte Arbeitsbereich von Bedeutung.

Wie nun haben die einzelnen Teilstreitkräfte auf die zunehmenden Anforderungen einer Verwissenschaftlichung reagiert? Die Air Force gründete 1949 drei Forschungszentren für Verhaltenswissenschaften, nämlich:

  • das Human Resources Research Center (HRRC) des Air Training Command an der Lackland Air Force Base in Texas - das Human Resources Research Institute (HRRI) an der Maxwell Air Force Base in Alabama, dem Raymond L. Bowers als Soziologe vorstand - das Human Resources Research Laboratory (HRRL) des Headquaters Command, Bolling Air Force Base, D.C. Zusätzlich standen der Air Force an sozialwissenschaftlichen Einrichtungen zur Verfügung die
  • RAND Corporation in Santa Monica (LA), dessen social science department der Soziologe Hans Speier als Direktor vorstand, und das
  • Air Force Office of Scientific Research (AFOSR), dessen Behavioral Sciences Division der Soziologe Charles E. Hutchinson leitete.

(Am Rande sei noch erwähnt, das die Nachfolge des HRRI 1958 das Office for Social Science Programs, Randolph, AFB Texas angetreten hat.)

Die Armee gründete nicht wie die Air Force eigene sozialwissenschaftliche Forschungsinstitute, sondern schloß Vertragsbeziehungen mit universitären Institutionen ab. So etwa mit dem

  • Human Resources Research Office der George Washington University in Washington
  • Operations Research Office der John Hopkins University in Washington
  • Special Operations Research Office der American University in Washington.

Zusätzlich stand der Armee das Army Research Office at Army Headquarters zur Verfügung, in dem Kenneth E. Karcher als Soziologe die sozialwissenschaftliche Abteilung leitete.

Endlich sei noch erwähnt, daß auch der Navy mit dem Office of Naval Research und dem Bureau of Navy Personnel zwei entsprechende Einrichtungen zur Verfügung standen.

Zusammengefaßt läßt sich also sagen, daß seit dem Ende der 40er Jahre es institutionalisierte und zentralisierte Forschungsorganisationen innerhalb der Streitkräfte zur Planung, Durchführung und Bewertung sozialwissenschaftlicher Forschung für das Militär bestanden.

Welche Funktionen realisierte die Soziologie vermittels dieser Institutionen für das Militär?

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (1): Die Analyse von Feindesmoral

Im Zweiten Weltkrieg wuchs im amerikanischen Militär die Erkenntnis, daß es mehr verläßliches Wissen über Feindländer brauchte. Vor allem ging es um ein breiteres Wissensspektrum, das über die traditionellen militärischen und politischen Informationen hinausging. Das Militär wollte insbesondere mehr über die sozialen und psychologischen Schwachstellen anderer Völker erfahren.

Militärische Institutionen zur Beschaffung solcher Informationen waren etwa (während des Krieges) die Foreign Morale Analysis Division beim Military Intelligence Service und die Moral Divisions beim U.S. Strategie Bombing Survey (USSBS). Beide Einrichtungen hatten die Aufgabe, die Wirkungen von Bombardierungen auf die Zivilbevölkerung in Deutschland und Japan zu untersuchen. Soziologen spielten hier ein herausragende Rolle. Die Abschlußberichte des USSBS - Effects of Strategie Bombing on German Moral, 2 vols., Washington 1946/47 sowie Effects of Strategic Bombings on Japanese Moral -, an denen u.a. die Soziologen Burton Fisher, Clifford Kirckpatrick, William H. Sewell sowie Raymond L. Bowers beteiligt waren, hatten eine große Wirkung. Sie beeinflußten nicht nur den weiteren Ausbau des strategischen Bombardierungspotentials der USA nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern wirkten innermilitärisch und -wissenschaftlich über eine Reihe von Nachfolgestudien weiter (u.a. Irving L. Janis, Air War and Emotional Stress: Psychological Studies and Civilian Defense, New York 19 5 1, sowie Fred C. Ikle, The Social Impact of Bomb Destruction, Norman 1958).

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (II): Die Analyse fremder Sozialsysteme

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wurde amerikanischen Politikern und Militärs mit den zunehmenden Spannungen zwischen Ost und West und der einhergehenden Abkapselung des sozialistischen Blocks die großen Informations- und Wissenslücken bewußt, die sie von potentiellen militärischen Gegnern hatten.

Deshalb wurde die Kenntnis des sowjetischen Systems eine der vordringlichsten Forschungsprioritäten in der Nachkriegszeit. 1950 initiierte das HRRI ein großes Forschungsprogramm, indem es einen entsprechenden Vertrag mit dem Russian Research Center der Universität Harvard abschloß und Clyde Kluckholm zum Forschungsdirektor bestimmte. An diesem vierjährigen Forschungsprojekt nahmen immer mehr als wenigstens ein Dutzend Soziologen und soziologischer Doktoranden teil. Ziel des Forschungsprojektes war es

  1. grundlegendes Wissen darüber zu produzieren, wie ein relativ unzugängliches fremdes Sozialsystem wie das sowjetische sich von innen ausnimmt, und
  2. Vorhersagen darüber zu machen, wie dieses Sozialsystem auf unterschiedlichste Belastungen reagieren würde. Insbesondere, wie sich angesichts solcher Streßfaktoren das Verhältnis zwischen unterschiedlichen Institutionen wie Verwaltung, Militärpolitik und zwischen unterschiedlichen ethnischen und sozialen Gruppen verändern wurde.

Neben frei zugänglichen Quellen wurden als empirische Basis hier Alltagseindrücke und Alltagseinschätzungen von Tausenden von emigrierten Sowjet-Bürgern herangezogen, die in ausführlichen Einzelinterviews und mehr als 12000 Fragebögen erhoben wurden.

Die Ergebnisse wurden der sozialwissenschaftlichen Community in 35 Zeitschriftenartikeln vorgestellt und den Streitkräften darüber hinaus in 18 speziellen Geheimberichten zugänglich gemacht.

Eine Zusammenfassung (Raymond A. Bauer, Alex Inkeles und Clyde Kluckholm) erschien 1956 in der Harvard Univ. Press unter dem Titel „How the Soviet System Works“ (Cambridge 1956); ein späterer Band von Alex Inkeles und Raymond A. Bauer „The Soviet Citizen. Daily Life in a Totalitarian State“ (Cambridge 1959), machte vor allem die statistischen Daten aus Interviews und Fragebögen zugänglich. Zu den Mitarbeitern gehörte u.a. auch der hierzulande bekannte Barrington Moore, Jr.

In mindestens vier Aspekten stellte sich der Nutzen dieser Rußland-Forschung für das Militär her.

  1. Den strategischen Forschungsabteilungen von Air Force und Generalstab wurden durch die Untersuchungen einzelner Aspekte der sowjetischen Gesellschaft Daten und Vorhersagen zugänglich, über die sie bis dahin nicht verfügt hatten.
  2. Über eine Reihe von Jahren wurde der Abschlußbericht zur Pflichtlektüre an den Generalstabsakademien und War Colleges der Streitkräfte.
  3. Die Interviews und Fragebögen wurden gebunden, kopiert und den Geheimdiensten in Washington zugänglich gemacht als Datengrundlage für die aktuell zu erstellenden Geheimdienststudien.
  4. Die Interviewerfahrung des Forschungsteams wurde in einem wiederum klassifizierten Handbuch für Interviews mit sowjetischen Flüchtlingen zusammengefaßt, das die militärischen Geheimdienste als Rüstzeug bekamen.

Als potentieller Feind war für das amerikanische Militär jedoch nicht nur die Sowjetunion von Interesse, sondern auch viele andere Gesellschaften, vor allem in der Dritten Welt. Als prinzipielles Instrument zur Sicherung der Ausbeutung über die Länder der Dritten Welt durch die kapitalistischen Länder sah sich das amerikanische Militär dabei zunehmend counterinsurgency operations, also Operationen zur Bekämpfung von Befreiungs- und Revolutionsbewegungen, Militärhilfe und zivilen Aktionsprogrammen ausgesetzt. Diese, wie es im soziologisch unterkühlten Jargon heißt, „Interaktion mit fremden Gesellschaften“ setzten ein gründliches Wissen über die Lebensweise dieser Völker voraus, das in der gewünschten Breite und Tiefe nicht zur Verfügung stand. Diese Lücke zu fällen wurde bis 1956 die Human Area Files (HRAF) an der Yale University beauftragt. Nach 1957 dann erachtete die Army diese Erfordernisse für so wichtig, daß sie speziell dafür eine neue Forschungsorganisation gründete, die sich ausschließlich darum kümmern sollte: das Special Operation Research Office an der American University in Washington.

Dort wurden in den folgenden Jahren insgesamt 50 Handbücher zu jeweils einzelnen Ländern produziert, die die Grundstrukturen der soziologischen, politischen, ökonomischen und militärischen Institutionen sowie bedeutsame Einzelheiten der Denk- und Handlungsweisen der einzelnen Gesellschaften vorstellten.

Die Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung (III): Atomkriegsplanung und target selection

Wir kommen jetzt zur dritten Funktion innerhalb der Indienstnahme der Soziologie für strategische Planung, der Mitwirkung bei Atomkriegsplanung und target selection. Mit der Atombombe und der Bereitschaft, ihre Anwendung anzudrohen oder gar faktisch vorzunehmen, sah sich das amerikanische Militär neuen Anforderungen ausgesetzt, die mit den bis dahin existierenden Wissens- und Methodenbestand der Wissenschaften und der Nachrichtendienste so nicht zu erfüllen war. Nach Einschätzung des Generalstabs galt es, die alte militärische Frage: „Was ist notwendig, um den Kampfeswillen des Feindes zu brechen“ im Kontext des Atomkriegs neu zu stellen, nämlich in der Form, wieviel von einer Nation und welche ihrer Teile und Regionen zerstört werden müssen, um dieses Land militärisch niederzuzwingen. Und man sah, daß man, um diese Frage beantworten zu können, vor allem auch Informationen über die Strukturen und Funktion einzelner Städte und Regionen sowie über die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen einzelnen Regionen benötigte, also Wissen über die Zielgebiete als ökologische und soziale Systeme. Versuche, solches Wissen von den Wissenschaften produzieren zu lassen, setzten in den frühen 50er Jahren ein und die Soziologie spielte in diesen Forschungen eine herausragende Rolle. Hier sollen nur zwei dieser Projekte beispielhaft Erwähnung finden.

  1. Im Jahr 1951 schloß das HRRI mit dem Büro für angewandte Sozialforschung der Columbia University einen Vertrag ab, demzufolge das Büro unter der Leitung von Kingsley Davis einen Index erarbeiten sollte, der für alle größeren Städte der Welt grundlegende Informationen bereitstellen sollte. Diese Daten, so heißt es in einem internen Papier, sollten militärische Analytiker in die Lage versetzen, durch vergleichende Studien urbaner und regionaler Strukturen verläßlicherer Methoden für Air target selection zu entwickeln, also die Auswahl von Zielen für atomare Bombardierung.
  2. Ein anderes soziologisches Forschungsprojekt, das die Zielbestimmung für atomare und konventionelle Bombardierung unterstützen sollte, wurde am HRRI von dem Soziologen Norman E. Green und seinem Team durchgeführt. Green wollte über sein intelligence research program vor allem Techniken entwickeln, um grundlegende sozialstrukturelle Informationen aus Luftaufnahmen ableiten zu können. Anhand von Studien ausgewählter amerikanischer Städte suchte Green nach Korrelationen zwischen physischen Strukturen auf den Luftaufnahmen und sozialwissenschaftlichen Informationen, die aus zugänglichen Datenbeständen abgeleitet werden konnten.

Welchen Zwecken diese Forschungen dienten, darüber kann kein Zweifel bestehen. In einem Aufsatz über Luftfotographie und menschliche Ökologie der Stadt heißt es: „Die fotographische Interpretation ist ein wesentlicher Ansatz zur sozialwissenschaftlichen Analyse von urbanen Zonen. In vielen Situationen kann sie sogar die einzige Informationsquelle für bestimmte Daten sein.“ Und „Es ist wünschbar, vor allem die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Regionen außerhalb der USA zu überprüfen.“ Auch wenn dieses Projekt letztlich nicht abgeschlossen wurde, so hat es doch eine Reihe von Aufsätzen in Veröffentlichungen der Air Force gegeben und andere Soziologen wurden von der Luftwaffe ständig als Berater für strategische Planung hinzugezogen.

Wie friedlich ist die Soziologie?

Steht derjenige, der Städte und Regionen. aufgrund bestimmter Merkmale zur atomaren Vernichtung aussucht und wissenschaftliche Kriterien für Zerstörungsmaximierung erarbeitet, denjenigen an kriegerischer Aggressivität nach, die den Einsatz dann de facto fliegen und die Bomben aus den Schächten ausklinken? (Forts. folgt)

Heinrich W. Ahlemeyer ist Soziologe in Münster

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1983/1 1983-1, Seite 1–3