Wie »gewaltfrei« war die Free Gaza Flottille?
von Theodor Ebert
In einem Gastkommentar in Heft 3-2010 von W&F hat Matthias Jochheim als Teilnehmer an der Free Gaza Flottille von einer „so großartigen wie tragischen Reise“ gesprochen, dieses Unternehmen des „zivilen Ungehorsams“ aber trotz des Todes von neun Aktivisten als Erfolg gewertet. Theodor Ebert, der langjährige Herausgeber der Zeitschrift »Gewaltfreie Aktion«, widerspricht ihm und fragt nach der Verantwortung für dieses Unternehmen, das Menschenleben aufs Spiel setzte und nach seinem Dafürhalten die Bezeichnung »gewaltfrei« nicht verdient.
Bei dem Versuch, die israelische Blockade des Gaza-Streifens mit der Free Gaza Flottille zu überwinden, wurden am 31. Mai 2010 auf dem Passagierschiff Mavi Marmara neun Aktivisten von israelischen Militärs erschossen. Von den Betreibern der Aktion wurde darauf hingewiesen, dass es sich beim Kapern der Schiffe um eine völkerrechtswidrige Maßnahme gehandelt habe und dass der Einsatz von Schusswaffen gegen Zivilisten, die ihrerseits keine Waffen eingesetzt hätten, unverhältnismäßig gewesen sei. Auf dieser Linie lag auch der Gastkommentar von Matthias Jochheim, dem stellvertretenden Vorsitzenden der deutschen Sektion der IPPNW, in Wissenschaft und Frieden 3-2010. Begründet wurde das Vorgehen der Free Gaza Flottille mit der Notlage der 1,5 Millionen Palästinenser in Gaza. Mit dem Versuch, die Hilfsgüter auf dem Seeweg nach Gaza zu bringen, sollte auf das Unrecht der Blockade hingewiesen und deren Ende erreicht werden.
Man könnte meinen, dass die Free Gaza Flottille eine Strategie der gewaltfreien Aktion verfolgte, denn Martin Luther King hatte es als eine Aufgabe der gewaltfreien, direkten Aktion bezeichnet, „einen Konflikt so zu dramatisieren, dass er nicht länger ignoriert werden kann.“ Die Free Gaza Flottille hat tatsächlich internationales Aufsehen erregt, und Israel hat sich danach bereit erklärt, auf dem Landweg mehr Hilfsgüter als bisher nach Gaza zu lassen. Es ist jedoch problematisch, wie Jochheim von einem „Erfolg“ der Free Gaza Flottille zu sprechen angesichts von neun Toten und unveränderter Feindbilder.
Imagepflege im Vorfeld und im Nachgang
Speziell den deutschen Unterstützern der Free Gaza Flottille war bereits im Vorfeld wichtig, das Unternehmen als gewaltfrei darzustellen, und sie haben sich diese Absicht auch von Kennern der gewaltfreien Aktion auf ihrer Homepage www.freegaza.de bestätigen lassen. So reagierte Clemens Ronnefeldt, Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes, vor dem Start der Flottille auf die Bitte um eine Solidaritätsadresse mit dem Satz: „Alle Teilnehmer haben sich zu einem gewaltfreien Verhalten verpflichtet.“ Gemeint haben konnte er damit nur die deutschen und vielleicht auch die westeuropäischen Teilnehmer der Aktion. Was die Aktivisten der türkischen Organisation Insani Yardim Vakfi (IHH) auf der Mavi Marmara im Sinne hatten, konnte er nicht wissen. Dabei wäre es wahrscheinlich sinnvoll gewesen, sich genau darüber Gedanken zu machen und sich nicht auf das Image der IHH als wohltätiger Organisation zu verlassen.
Die deutschen Teilnehmer haben auch nach ihrer Rückkehr betont, dass ihre Aktion mit einer gewaltfreien Strategie übereinstimmt. So schrieb der Völkerrechtler Prof. Norman Paech: „Gleichgültig, ob Christen, Muslims, Buddhisten oder Atheisten, es waren Menschen aus über 30 Staaten auf den Schiffen, die einigen wenigen gemeinsamen Grundprinzipien verpflichtet waren: weder parteipolitische Ziele noch Missionierung, absolute Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit, Verzicht auf jegliche Waffen an Bord und Toleranz untereinander. Es gibt keine Anzeichen, dass diese Grundprinzipien nicht eingehalten wurden.“ Ganz ähnlich hat sich Matthias Jochheim geäußert: „Verzicht auf Menschen gravierend verletzende und erst recht auf tödliche Gewalt, dieses Prinzip der internationalen Free Gaza-Koalition wurde von Seiten unserer Mitreisenden nach allen meinen Beobachtungen auf der Mavi Marmara eingehalten.“
In der deutschen Friedensforschung gibt es seit vierzig Jahren entwickelte Vorstellungen von der Strategie und dem Verlauf gewaltfreier Aktionen und von dem Training dafür. Es gibt mit »Gewaltfreie Aktion« auch eine Fachzeitschrift, die sich speziell mit dieser Thematik befasst und sich bemüht, mit ihren Beiträgen die sozialen Bewegungen zu erreichen. In Deutschland gehört es mittlerweile zum Image einer Erfolg versprechenden Aktion, dass sie in der Öffentlichkeit als gewaltfrei wahrgenommen wird.
Vorbereitungen auf ein Handgemenge
Wenn nun aber der schludrige Gebrauch des Vokabulars der Friedens- und Konfliktforschung tödliche Auswirkungen hat, ist es an der Zeit, einiges klar zu stellen. Die neun Aktivisten, die auf der Mavi Marmara erschossen wurden, waren tapfere Männer, aber es waren keine gewaltfreien Akteure, und bei ihrem Vorgehen gegen die israelischen Soldaten, die sich aus Hubschraubern abseilten, war damit zu rechnen, dass diese von ihren Schusswaffen Gebrauch machen würden. Wer gewaltfreie Aktionen durchführt, muss mit dem Schlimmsten rechnen und schon im Vorfeld entsprechende Trainings durchführen und Bezugsgruppen bilden. Das ist gängige Praxis. Das lässt sich zum Beispiel jetzt wieder beim Widerstand gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 beobachten (www.bei-abriss-aufstand.de).
Aus den Eigendarstellungen der deutschen Beteiligten an der Free Gaza Flottille geht hervor, dass sich an Deck der Mavi Marmara zum Zeitpunkt der Landung der israelischen Militärs etwa 40 türkische Aktivisten befanden, welche unter Einsatz von Schlagstöcken aus Holz oder Eisen die israelischen Soldaten an der Kontrolle des Schiffs zu hindern suchten. Sie scheinen damit gewisse Überraschungserfolge erzielt zu haben. Jedenfalls berichten Paech und Jochheim, dass israelische Soldaten als Verwundete unter Deck gebracht und ärztlich versorgt wurden. Die israelische Leitung des Einsatzes ging wahrscheinlich davon aus, dass es sich um eine Gefangennahme handelt.
Ich interpretiere das Verhalten der türkischen Aktivisten als den Versuch, die Kontrolle des Schiffes durch das intervenierende israelische Militär mittels Einsatz physischer, wenn auch nicht tödlicher Gewalt zu verhindern. Die deutschen Teilnehmer haben dies zu legitimieren gesucht. Wie auch immer, gewaltfrei war das Verhalten der türkischen Aktivisten jedenfalls nicht. Die Schlagwerkzeuge waren vorbereitet, und man muss davon ausgehen, dass diejenigen, welche die Mavi Marmara kommandierten, damit einverstanden waren. Damit tragen sie auch eine Mitverantwortung für die tödlichen Folgen.
Hier muss der Name des Vorsitzenden der IHH, Bülent Yildirim, genannt werden. Dieser hat nach der Rückkehr in die Türkei angesichts der neun Toten nicht davon gesprochen, dass er mit dem Versuch, die Mavi Marmara gegen das israelische Militär zu verteidigen, einen Fehler gemacht habe. Vielmehr hat er die Toten als Märtyrer der islamischen Sache respektive der Menschenrechte gewürdigt. Das war auch nicht überraschend, den Yildirim hat sich am 7. Januar 2010 beim Fundraising für Free Gaza zusammen mit dem Hamas-Führer Ismail Haniyya gezeigt. Daraus ist zu schließen, dass zumindest Yildirim und mit ihm wohl auch die IHH in der Free Gaza Flottille eine Solidaritätsaktion für die Hamas sahen.
Man vergleiche den Traum Kings mit der Charta der Hamas
Man kann den Standpunkt vertreten, dass man die Hamas nicht isolieren, sondern mit ihr reden sollte; zu einer gewaltfreien Aktion gehört aber, dass die sie tragende Zukunftsvision mittel- und langfristig eine gewaltfreie ist. In dieser Hinsicht kann man sich mit der Hamas genau so wenig solidarisieren wie mit der Besatzungs- und Siedlungspolitik der israelischen Regierung.
Als Martin Luther King 1963 vor dem Lincoln Memorial von seinem Traum für Amerika und die Welt sprach, konnten sich die meisten Amerikaner und Deutschen die Zielvorstellung Kings zu Eigen machen. Eine gewaltfreie Aktion muss auch ein gewaltfreies Ziel haben. Das ist bei Bülent Yildirim und der IHH im Blick auf Gaza zumindest im Moment nicht zu erkennen – trotz der wohltätigen Aktivitäten, welche die IHH an anderen Stellen entfaltet. Wer die Charta der Hamas aus dem Jahre 1988 als Dokument ihrer Zielvorstellungen beachtet und berücksichtigt, dass sie immer noch Terroranschläge durchführt, kann sich mit ihr im Rahmen einer gewaltfreien Aktion nicht solidarisieren, wie dies Bülent Yildirim und mit ihm die IHH tun.
Wir stehen als Friedens- und Konfliktforscher vor der Frage, was im Blick auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern denn eine gewaltfreie Strategie und ihr entsprechende Aktionen wären. Wir sind dieser Frage bisher in Erinnerung an die Shoa aus dem Wege gegangen und haben gehofft, dass gewaltfreie Aktivisten anderer Nationen sich darum kümmern. Befriedigende Ansätze sind aber nicht zu erkennen.
Was gehört zu einer gewaltfreien Strategie?
Grundsätzlich gilt die Regel, dass die Teilnehmer an einer gewaltfreien Aktion die gewaltfreie Strategie selbst entwickeln müssten. Es gibt genuin gewaltfreie Protestaktionen von israelischer und palästinensischer Seite, und bei Protestaktionen gegen die Mauer und den Siedlungsbau agieren Israelis und Palästinenser auch gemeinsam, aber es ist nicht klar, was mittel- und langfristig das Ziel ist. Es gibt innerisraelische Kritik an der Vorstellung eines seine jüdischen Bürger privilegierenden und die Nichtjuden diskriminierenden Staates. Die Konsequenz aus dieser Kritik wäre ein säkularer Staat, in dem es nur israelische Bürger ohne Ansehen ihrer Religion oder ethnischen Herkunft gibt. Dasselbe Konzept würde auch für die Palästinenser (und die jüdischen Siedler) in der Westbank und in Gaza gelten. Gewaltfreie Aktionen würden sich dann über ihr jeweiliges Nahziel – also z. B. die Hilfe für Gaza – hinaus an einer solchen gewaltfreien, säkularen Vision orientieren, wobei offen bleiben könnte, ob es unbedingt zweier Staaten bedarf. Gewaltfreie Aktionen müssten also von einem Geist getragen sein, der die Sicherheitsbedürfnisse der Juden und die territoriale Verwurzelung der Palästinenser berücksichtigt und dieser Vision des friedlichen Zusammenlebens schrittweise näher kommt.
Wenn man mit dieser Perspektive auf die Free Gaza Flottille zurückblickt, dann war sie kein Meisterstück. Die Hilfe für die Bevölkerung in Gaza hätte so auf den Weg gebracht werden müssen, dass sie auch der Verständigung zwischen den Kontrahenten gedient hätte. Es ist schlimm genug, dass neun Menschen gestorben sind. Aus Respekt vor ihrem Einsatz und auch im Gedenken an diejenigen, die sich ihrer Tötung schuldig gemacht haben, sollten wir uns bemühen, an einer gewaltfreien Strategie zu arbeiten, welche diese Bezeichnung auch wirklich verdient.
Theodor Ebert, geb. 1937, ist Gründungsmitglied der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK) und lehrte bis 2002 an der Freien Universität Berlin Politische Wissenschaft. Sein bekanntestes Werk ist »Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum Bürgerkrieg«.