W&F 2016/1

Wie weiter im Ukraine-Konflikt?

Einige Streiflichter und Anregungen zur Debatte

von Paul Schäfer

In den Medien ist die Ukraine in den Hintergrund gerückt, andere Schlagzeilen drängen sich auf die Titelseiten und in die Hauptnachrichten. Der Konflikt um die Zukunft des Landes, insbesondere um die östlichen Landesteile, ist aber keineswegs befriedet, sondern momentan nur nicht so »heiß« wie zuvor. Für Paul Schäfer sind die Vereinbarungen zur Verlängerung des Minsker Abkommens ein Hoffnungszeichen, und er nutzt dies als Ausgangspunkt für seine Überlegungen zu weiteren Schritten. Dabei setzt er sich auch mit den Thesen der jüngst erschienenen Streitschrift »Ukraine-Konflikt und Russlandpolitik«von Herwig Roggemann auseinander.

Der Schritt war unspektakulär und Zeitungen nur eine kurze Notiz wert: In einem Telefonat Ende Dezember vereinbarten die Staatschefs Russlands, der Ukraine, Frankreichs und Deutschlands die Fortdauer des Minsker Friedensabkommens (Minsk II) für das Jahr 2016. Mit dem Minsker Abkommen vom Februar 2015 sollten die Voraussetzungen für eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts geschaffen werden. Doch wichtige Kernelemente – der Waffenstillstand, der Abzug schwerer Waffen aus der Kampfregion, die Monitoring-Mission der OSZE – wurden immer wieder verletzt und mussten durch Nachverhandlungen wenigstens »im Großen und Ganzen« gesichert werden.

So auch im September 2015, als nach andauernden Kampfhandlungen der Waffenstillstand nur mit Mühe wieder hergestellt werden konnte. Vor den Weihnachtsfeiertagen musste erneut eine Ad-hoc-Vereinbarung über eine Waffenruhe her; auch dieses Agreement wurde gebrochen, und die OSZE-Beobachter, die die Umsetzung überwachen sollen, führten Klage, dass sie weiter an der Durchführung ihrer Arbeit gehindert würden. Berichte vor Ort über die Einnahme eines Vororts von Mariupol durch die Rebellenarmee und über die Befestigung ukrainischer Stellungen um die strategisch wichtige Hafenstadt am Schwarzen Meer lassen zudem nichts Gutes erhoffen. Die Bedenken richten sich darauf, was sein wird, wenn der Winter vorbei, die Regeneration der kämpfenden Einheiten erfolgt und die Neugruppierung der militärischen Kräfte abgeschlossen ist. Ist dann wieder mit dem Aufflammen des Krieges und weiterer militärischer Eskalation zu rechnen?

Andererseits ist die Verlängerung von Minsk II ein klarer Hinweis darauf, dass es zu diesem Abkommen gegenwärtig keine Alternative gibt. Die nächste Bewährungsprobe wird schon für Februar erwartet. Dann sollen in der Donbass-Region gesonderte Lokalwahlen durchgeführt werden. Sie wurden von den Verantwortlichen der so genannten Volksrepubliken Donezk und Lugansk ursprünglich auf Oktober/November 2015 terminiert, aber nicht zuletzt auf russischen Druck verschoben. Offen ist bei Abschluss dieses Artikels, ob diese Wahlen nach ukrainischem Wahlrecht erfolgen und ob eine ausreichende internationale Beobachtung des Wahlvorgangs möglich sein wird. Mit dieser Kommunalwahl soll ein weiterer Schritt der im Minsker Abkommen festgeschriebenen Dezentralisierung des Landes erfolgen, die allgemein als notwendige Bedingung einer Friedensordnung gilt. Die ukrainische Zentralregierung hat immerhin im Parlament gegen heftigen Widerstand ein Gesetz durchgebracht, das für den Donbass eine Sonderstellung vorsieht. Präsident Poroschenko und andere Regierungsverantwortliche gaben aber zu verstehen, dass diese Regelung nur eine Übergangslösung sei, um den Weg für die international geforderte Übereinkunft frei zu machen .

Stolpersteine und Hoffnungszeichen

Der Weg zu einer dauerhaften Friedenslösung ist also noch mit Stolpersteinen gepflastert. Die Dezentralisierung des Landes ist ja nur die eine Seite der Medaille, die andere ist und bleibt die Wiederherstellung der territorialen Souveränität der Ukraine, die wiederum die vollständige Kontrolle der ukrainischen Außengrenzen durch die Zentralregierung einschließt. Dieser Passus des Minsker Abkommens setzt de facto jedoch voraus, dass u.a. die (wirtschaftlichen) Sonderbeziehungen zwischen der Donbass-Region und der Russischen Föderation von der Regierung in Kiew anerkannt und toleriert werden, sonst ist ein Einlenken der von Russland gestützten separatistischen Bewegungen nicht vorstellbar. Aber wie weit soll diese Verklammerung gehen (gegenwärtig gilt in den »abtrünnigen Republiken« der Rubel als Hauptwährung), wie kann hier eine Normalisierung erreicht werden? Diese und andere Fragen sind in Minsk II keineswegs ausreichend geklärt.

Welches sind also die Perspektiven für 2016 und darüber hinaus? Gibt es Hoffnung oder droht eine weitere militärische Zuspitzung, die auch die auswärtigen Akteure, NATO vs. Russland, an den Rand eines Krieges führen könnte? Der Politikwissenschaftler und emeritierte Professor der Bundeswehr-Universität in Hamburg, August Pradetto, hält es für absehbar, dass sich aus dem Ukraine-Krieg ein »Frozen Conflict« herausbilden wird, da keine Seite von ihren Grundpositionen abrücken wolle, eine militärische Eskalation von den maßgeblichen Kräften aber auch nicht gewollt sei. Kiew hat wohl zumindest vorerst den Versuch aufgegeben, den Konflikt militärisch lösen zu wollen (Florian Niederndorfer 2015).

Auch macht Pradetto auf jüngere Entwicklungen aufmerksam, die das Gesamtszenario verändert hätten: die Fokussierung der EU auf die Flüchtlingsfrage, die Notwendigkeit der Kooperation mit Russland im Kampf gegen den IS in Nahost, aber auch die Machtkämpfe in der Ukraine selbst, die Kriegsmüdigkeit der Mehrheit der Menschen in der Region, die beträchtlichen Kosten des heißen und des kalten Krieges in Gestalt der Sanktionen für alle Seiten. Pradetto weist in diesem Kontext auf die überraschende Rede des US-Vizepräsident Jo Biden im Dezember 2015 vor dem ukrainischen Parlament hin, in der erstmals die andauernde Korruption, Oligarchenherrschaft und die unzureichenden Reformbemühungen der Jazenjuk-Regierung angeprangert werden. Dies sei als Zeichen dafür zu werten, dass die ukrainische Regierung nicht mehr mit bedingungsloser Unterstützung rechnen könne. Hinzuzufügen wäre, dass die internationale Position der polnischen Regierung, die neben den baltischen Staaten auf eine besonders harte Linie »des Westens« gegenüber Moskau drängt, durch den verschärft autoritären Kurs der neuen Regierung im Inneren beträchtlich geschwächt ist.

Mit dieser Einschätzung verbindet sich die Hoffnung, und auch dafür gibt es Anzeichen, dass sich relevante Akteure endlich mehr den sozialen und wirtschaftlichen Problemen des Landes zuwenden könnten, was aktuellen Meinungsumfragen zufolge von 80% der Bevölkerung befürwortet würde. Die Unzufriedenheit mit der Kiewer Regierung hat im Land offensichtlich ein beträchtliches Ausmaß erreicht. Aber nur wenn sich diese Stimmung auch politisch zu artikulieren vermag, wird die dominierende Stellung der herrschenden Oligarchen-Gruppen eingeschränkt werden können. Je länger die Waffen schweigen, je mehr die unmittelbare Konfrontation abgeschwächt wird und Fragen der inneren, gesellschaftlichen Entwicklung den Alltag bestimmen, desto eher wird es möglich sein, den militarisierten Verhältnissen und autoritären Machtstrukturen etwas entgegenzusetzen. Das dürfte insbesondere für die Donbass-»Republiken« gelten (siehe dazu Sengling 2016).

Vorbedingungen für Friedensabkommen

Im Themenschwerpunkt »Friedensverhandlungen« von W&F (Ausgabe 3-2015) wurden in einer Reihe von Beiträgen essentielle Bedingungen für einen tragfähigen Friedensschluss herausgearbeitet:

  • Internationale Vermittlung ist oft eine Vorbedingung, dass überhaupt Verhandlungen zustande kommen, eine Vereinbarung erreicht und deren Umsetzung garantiert werden kann. Allerdings kann es ohne den politischen Willen der Akteure vor Ort keinen Frieden geben. Ob dieser Wille in der Ukraine vorhanden ist, darf bezweifelt werden.
  • Ein Grundproblem gerade in innerstaatlichen Gewaltszenarien ist, dass sich die kämpfenden Seiten wechselseitig jegliche Legitimation absprechen. Das gilt auch in der Ukraine: Während die Kiewer Regierung die Aufständischen für Terroristen und Agenten Moskaus hält, vertreten die Rebellen die Auffassung, in Kiew herrsche eine demokratisch nicht legitimierte, von Faschisten dominierte Junta, die nicht befugt sei, für das Land zu sprechen. Diese vertrackte Konstellation hat bis dato verhindert, dass es überhaupt zu direkten Gesprächen zwischen den unmittelbaren Kontrahenten kam.
  • Die Übereinkunft sollte für die Kriegsparteien möglichst eine Win-win-Situation herstellen. Der zu erreichende Interessenausgleich muss beiden Seiten ausreichend Anreize bieten, damit sie vom absoluten Ziel des militärischen Sieges und damit von der Unterwerfung des Gegners unter den eigenen Willen abrücken. Das Minsk-II-Abkommen bietet für die Ukraine diesbezüglich einen Rahmen, der einigermaßen realistisch beschreibt, was den jeweiligen Kontrahenten abzuverlangen ist und was sie im Gegenzug zu gewinnen haben (beispielsweise einen Sonderstatus für den Donbass). Es hat sich allerdings gezeigt, dass die bisherigen Vertragsgrundlagen weder ausreichend noch konkret genug sind, um auf beiden Seiten das nötige Vertrauen (eine ebenfalls sehr wichtige Kategorie!) für eine dauerhafte Vereinbarung zu schaffen. Es muss also weiter verhandelt werden, und die internationale Diplomatie darf nicht in ihrem Bemühen nachlassen, auch wenn sich das Augenmerk der Medien zwischenzeitlich auf andere Weltgegenden richtet.
  • Ohne eine zivilgesellschaftliche Mobilisierung für einen friedlichen Ausgleich in den »Kriegsgesellschaften« selbst, ohne basisnahe Aussöhnungsprozesse bleiben Abkommen oft Stückwerk und fragil. Der Rückfall in die Gewalt ist dann häufig die Folge. Auch wenn es bescheidene Ansätze zu einer Zivilisierung des gesellschaftlichen Lebens in beiden Teilen der Ukraine gibt, kann von einer gesicherten Grundlage noch lange nicht die Rede sein. Solange die Heroisierung des Krieges anhält, die paramilitärischen Verbände über erheblichen politischen Einfluss verfügen und eine offene und demokratische Auseinandersetzungskultur (Handgreiflichkeiten im Parlament und das Werfen mit Wassergläsern gehören nicht dazu) fehlt, kann es nicht wirklich vorangehen.

Der Befund, dass die »inneren Reibungspunkte« nach wie vor enorm sind und kaum lösbar erscheinen, liegt also nahe. Überdies sind die Blockierungen nicht zuletzt der schon wieder festgefahrenen geopolitischen Konfrontation West (sprich: NATO und EU) versus Russland geschuldet. Und ohne einen Wandel dieses Spannungsverhältnisses ist auch kein Frieden in der Ukraine denkbar.

Streit über die Konfliktursachen

Da kommt eine Streitschrift gerade recht, die Antworten jenseits herrschender Meinungen sucht und ein politisches Programm für eine friedliche Lösung des Konflikts skizzieren will. Herwig Roggemann, ausgewiesener Kenner der Region, am Fachbereich Rechtswissenschaft und am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin als Hochschullehrer tätig gewesen, legt in »Ukraine-Konflikt und Russlandpolitik: Ein Diskussionsbeitrag zum Ukraine-Konflikt für eine neue deutsche und europäische Russlandpolitik« (Sept. 2015, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 106 S.) vierzehn Thesen vor, um den Konflikt auf den Punkt zu bringen und Vorschläge für dessen Lösung zu unterbreiten. Seine Hauptaussage: „Kern des gegenwärtigen Ukraine-Konflikts ist Russlands fehlender Platz in einer paneuropäischen Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur […].“

Die geopolitisch motivierte Erweiterung der westlichen Einflusssphären nach Osten und die Nichtberücksichtigung russischer Sicherheitsinteressen werden von Roggemann als Hauptgründe für die gewaltförmige Eskalation in der Ukraine herausgearbeitet. Die Schrift folgt in ihrem Grundtenor damit früheren Beiträgen von Reinhard Krumm (2014), August Pradetto (2014), Erhard Eppler (2015) und anderen Autoren.

Besonders verdienstvoll in der Streitschrift Roggemanns ist die Auseinandersetzung mit der Sanktions- und Embargopolitik der EU und der USA, deren rechtliche Grundlagen er kritisch prüft und deren politische Rationalität bzw. Irrationalität er ins Visier nimmt. Der dicht gedrängte Text, ergänzt um zahlreiche Literaturverweise, vermittelt hierdurch einen recht guten Überblick über die Debatten. Und es ist unumgänglich, sich mit seinen Argumentationsketten auseinanderzusetzen.

Widersprechen möchte ich ihm allerdings gleich an dieser Stelle in einem wichtigen Punkt: Roggemann bagatellisiert die auf der Krim von russischer Seite eingesetzte Gewalt; dadurch erscheint der Anschluss der Halbinsel an die Russische Föderation als ein Vorgang, der zwar etwas fragwürdig im Verfahren, aber in der Sache völlig berechtigt sei. So einfach liegen die Dinge aber nicht. Warum bezieht sich Roggemann an keiner Stelle auf das Budapester Memorandum von 1994, in dem die Rückgabe der ukrainischen Atomwaffen an Russland mit der Garantie der territorialen Unverletzlichkeit des Landes gerade durch Russland verknüpft wurde? Weiter: Die Maidan-Bewegung wird als unbotmäßige und auch von außen gesteuerte Revolte gefasst, in der es a priori nur um einen Austausch der politischen Elite und um die Durchsetzung einer pro-westlichen und antirussischen Politik gegangen sei. Eine solche pauschale Bewertung wird weder der Sachlage gerecht noch vermag sie zu erkennen, dass die durch den Maidan transportierte Idealisierung Europas (in Gestalt der EU) in der Tat eine nachvollziehbare Chiffre war (und ist), um den miserablen Verhältnissen zu entkommen und u.a. einen Wohlfahrtsstaat zu fordern. Und schließlich schlägt die scharfe Abgrenzung des Autors zur »westlichen« Politik immer wieder in eine Tendenz zur Schönfärberei der russischen Politik um, die der von Roggemann angestrebten öffentlichen Debatte über Friedenslösungen nicht förderlich sein kann. Dass die russische Wirtschaft erheblich schwächelt, hat gewiss mit den unsinnigen Sanktionen zu tun, mehr noch mit weltwirtschaftlichen Entwicklungen (z.B. dem für die Förderländer katastrophalen Sturz des Ölpreises), aber auch damit, dass sich Russland in der Ära Putin allzu sehr und schon allzu lange auf die Exporterlöse der fossilen Energiewirtschaft und der Rüstungsindustrie stützt. Bis heute ist jedenfalls kein strategischer Modernisierungspfad erkennbar, der – folgt man Roggemann – Putin vorrangig am Herzen liege.

Die Komplexität der Ukraine Krise

Der Grundthese Roggemanns zur Hauptursache des Konflikts kann aus meiner Sicht schwerlich widersprochen werden: Ohne die gravierenden Fehler in der Russland-Politik des Westens, ohne den fahrlässigen, weil übereilten und undurchdachten Versuch der »Einverleibung« des postsowjetischen Raums in den je eigenen Herrschaftsbereich (sowohl der NATO wie der EU) wäre es wahrscheinlich nicht zur bewaffneten Konfrontation in der Ukraine gekommen. Lag es doch auf der Hand, dass es Abwehrreaktionen der Russischen Föderation geben würde, die sich an die Wand gedrängt fühlte und nun ihren Platz behaupten will. Die Zeichen haben westliche Regierungen in ihrer Selbstgefälligkeit und Arroganz übersehen, oder sie meinten, sie ignorieren zu können.

Und dennoch kann die These »der Westen war’s« die Komplexität der Konfliktursachen in der Ukraine nicht wirklich erfassen. Felix Jaitner, Politikwissenschaftler an der Universität Wien, der sich in seiner Dissertation (2015a) eingehend mit der Entwicklung Russlands nach 1990/1991 beschäftigte (siehe dazu auch Jaitner 2015b), nimmt die sozialökonomischen und politischen Umwälzungen im gesamten postsowjetischen Raum in den Blick. Er gelangt so zu einer Einschätzung der Rolle, die die »neuen Eliten« in diesen Transformationsprozessen spielten und spielen. Ohne diesen »inneren« Faktor sind die Krisenvorgänge im postsowjetischen Raum – wir reden hier im Kern von zunehmender sozialer Ungleichheit und autoritärer politischer Herrschaft – nicht ausreichend erklärbar. Das hat grundlegend mit Kapitalismus zu tun, dessen Implementierung nicht nur von außen »aufgeherrscht«, sondern auch von inneren Interessengruppen vorangetrieben wurde und wird. In diesem Prozess entwickelten sich innerhalb der neuen nationalen Machteliten je eigene Weltbilder, Gesellschaftskonzepte und Ideosynkrasien (siehe auch die Entwicklung in Polen und Ungarn), die ihrerseits im internationalen Kontext konfliktverschärfend wirken (Hinweise dazu auch bei Tim Neshitov 2015).

Jaitner kommt zu folgendem Schluss: „Auch die Eskalation des Konflikts in der Ukraine resultiert wesentlich aus der spezifischen gesellschaftlichen Entwicklung, die das Land in den letzten 25 Jahren genommen hat. Ein nachhaltiger Friedensprozess in der Region müsste deshalb bei den postsowjetischen Krisenphänomenen ansetzen. Dazu gehört, dem Land eine langfristige Entwicklungsperspektive zu eröffnen, die über die Ausbeutung von Rohstoffen hinausweist. Sonst werden wir auch künftig immer wieder gewaltsame Konflikte zu erwarten haben“. (Jaitner 2015b)

Dieser Ansatz, der sich auch kritisch mit der (Geo-) Politik der Oligarchenherrschaft in Russland unter Putin auseinandersetzt, hat indes nichts mit der hierzulande gerne verbreiteten Vorstellung zu tun, die Krise verdanke sich ganz überwiegend einem neuen postsowjetischen Imperialismus. Schon gar nicht folgt daraus eine Politik der weiteren Isolation Russlands, die mit dem starren Festhalten an den Sanktionen und an neuerlicher militärischer Aufrüstung die Lage immer weiter verschärft. Hieran ändert auch wenig, dass manche Staaten, wie die Bundesrepublik in Gestalt ihres Außenministers, gleichzeitig auch um eine De-Eskalation und eine Friedenslösung bemüht sind.

Neue Russlandpolitik als Schlüssel

Es ist also eine Politik nötig, die kohärent und ernsthaft an einer Einbeziehung Russlands in eine neue Europäische Sicherheitsarchitektur arbeitet. In seiner letzten These entwickelt Roggemann dazu eine Reihe von Vorschlägen, die mir sehr plausibel und erweiterungsfähig erscheinen. Seine Vorschläge für einen Neuanlauf der deutschen und europäischen Russlandpolitik (S.84 ff.) beinhalten folgende Elemente:

  • „Aufhebung der beiderseitigen Sanktions- und Blockadepolitik“.
  • „Anerkennung der militärischen Sicherheitsinteressen Russlands“. Das müsste heißen: Neutralitätsstatus der Ukraine wiederherstellen, zumindest aber Verzicht auf einen NATO-Beitritt in absehbarer Zeit; Wiederbelebung des NATO-Russland-Rates; Wiederaufnahme des im Meseberg-Memorandum (2000) vorgesehenen Konzepts der Bildung eines institutionellen sicherheitspolitischen Rahmens zwischen EU und Russland (gemeinsamer Ausschuss). Dieser Vorschlag wäre noch erheblich auszuweiten: Über das immer noch in der Implementierung befindliche Raketenabwehrprogramm der USA und der NATO muss ebenso gesprochen werden wie über die Wiederbelebung und Weiterentwicklung des 1990 im Rahmen der KSZE angenommenen Wiener Dokuments über vertrauensbildende Maßnahmen (das seitdem mehrfach ergänzt und überarbeitet wurde – zuletzt 2011) und über einen neuen Vertrag über konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung (KSE III).
  • „Anerkennung der wirtschaftlichen Interessen der Ukraine und Russlands“. Roggemann schlägt die Aussetzung des Assoziierungsabkommens EU-Ukraine und eine Neuverhandlung unter Einbeziehung Russlands vor. Dies sei auch deshalb unabweisbar, weil die Assoziierung der Ukraine für die EU finanziell unverdaulich sei und zudem das Mandat der bisherigen EU-Verträge überschreite. An dieser Stelle ist jedoch anzumerken, dass eine solche Außerkraftsetzung des Abkommens angesichts der bereits erfolgten beiderseitigen Unterzeichnung wenig wahrscheinlich ist. Bei aller Kritik am Zustandekommen des Abkommens wäre auch zu bedenken, zu welch neuen Verwerfungen ein solcher Schritt in der Ukraine führen könnte. Auch scheint mir die Forderung, Russland an bilateralen Wirtschaftsverhandlungen zwischen der EU und der Ukraine unmittelbar zu beteiligen, über das Ziel hinauszuschießen; die Notwendigkeit, russische Wirtschaftsinteressen einzubeziehen, bleibt davon unberührt. Die von Roggemann formulierte These der grundsätzlichen (finanziellen) Überforderung der EU-Nachbarschaftspolitik (wo die EU doch schon bei der »Griechenland-Sanierung« am Rande ihrer Kapazität laviert habe) sollte ebenfalls hinterfragt werden. Dass die Finanzhilfen für den Wirtschaftsaufbau der Ukraine von beträchtlichem Umfang sein müssen, steht außer Frage. Das gilt aber ebenso für die von Roggemann zu Recht geforderte Weiterentwicklung der europäisch-russischen »Modernisierungspartnerschaft«. Die »Überforderung der EU« stellt sich als Problem vor allem dann, wenn man im Rahmen des gegenwärtigen neoliberal geprägten Integrationskonzepts der EU verharrt. Dann allerdings scheinen manche Probleme tatsächlich unlösbar. Stattdessen ist ein Nachdenken überfällig, wie man neue Potenziale ökonomischer Wiederbelebung erschließen kann. Dazu muss der stupide Austeritätskurs beendet werden, und es müssen mehr Ressourcen für eine zukunftsfähige Investitionspolitik mobilisiert werden. Durch eine solche, auf die ökologische Erneuerung und den Ausbau der Öffentlichen Daseinsvorsorge gerichtete Wirtschaftspolitik müssten schließlich auch die Finanzmittel generiert werden, die für die Hilfe des Wirtschaftsaus- und -umbaus in den Ländern des Ostens wie des Südens benötigt werden. Für diese Neugestaltung der Wirtschaftsbeziehungen zum beiderseitigen Vorteil werden dringend konkretere Konzepte gebraucht. Das konzeptionelle Nachdenken muss sich auch darauf erstrecken, wie das Spannungsverhältnis zwischen Europäischer Union, assoziierten Staaten und Eurasischer Wirtschaftsunion gelöst werden könnte. Aus diesen Elementen wäre dann ein Rahmen für die Neugestaltung der europäischen (und auch der russischen) »Nachbarschaftspolitik« zu zimmern.
  • „Krim-Vertrag und Donbass-Regelung“. Roggemann schlägt einen zwischen Russland und der Ukraine auszuhandelnden Krim-Vertrag vor, der neben der »Neuzuordnung« der Krim die Garantie von Minderheitenrechten, mögliche russische Kompensationszahlungen und die internationale Anerkennung des Beitritts zur Russischen Föderation beinhalten müsste. Doch einen solchen Vertrag wird es in absehbarer Zeit nicht geben. Also wird es zunächst darum gehen, diesen Streitpunkt bei kommenden Verhandlungen und Regelungen auszuklammern. Leider beschäftigt sich Roggemann nicht damit, wie die Rechtsbrüche bei diesem Anschlussvorgang im Nachhinein geheilt werden könnten, z.B. durch ein von der OSZE überwachtes, ordnungsgemäßes Referendum über die Zugehörigkeit der Krim, was folgerichtig wäre, sieht er den Anschluss doch als unabweisbar und gerechtfertigt an. Unbedingt unterstützenswert sind Roggemanns Überlegungen zu einer Entschärfung der Ukraine-Krise durch Übereinkünfte, in denen die speziellen Wirtschaftsverflechtungen zwischen der Donbass-Region und Russland berücksichtigt und Schritte zur Föderalisierung bzw. Dezentralisierung der Ukraine unter wirksamer internationaler Kontrolle festgelegt werden.
  • „Anerkennung der legitimen Sicherheitsinteressen der Ukraine und der anderen osteuropäischen und kaukasischen Anrainerstaaten [Russlands]“. Roggemann erläutert, es müsste in der Ukraine und den anderen Konfliktregionen ein langfristiges internationales Kontrollregime von OSZE und EU installiert werden, dem u.a. die Überwachung von Vereinbarungen über Gewaltverzicht, Unverletzlichkeit der Grenzen, Minderheitenrechte, Zusammenarbeit und regionale Konfliktregelung obliegen sollte. Das ist m.E. vom Grundsatz her richtig. Dabei sollte aber die größte Priorität auf die Revitalisierung der OSZE und ihre Weiterentwicklung als sicherheitspolitisches Kooperationsinstrument gelegt werden. Die OSZE sollte den künftigen friedenspolitischen Rahmen abgeben! Dabei haben wir es heute mit neuen, vertrackten Problemen zu tun, weshalb die einfache Bekräftigung der KSZE-Schlussakte von 1975 und der Charta von Paris 1991 nicht ausreicht: Was ist mit den Grenzen, die nach 1990/1991 »einseitig« und zum Teil gewaltsam verschoben wurden? Die Rede ist vom Kosovo, von Abchasien/Südossetien ebenso wie von der Krim. Ist eine pauschale Anerkennung des geänderten Status quo überhaupt vorstellbar? In naher Zukunft sicher nicht. Wie also könnten Hilfskonstruktionen aussehen, die neuerliche Gewalt ausschließen und einer gedeihlichen Kooperation zwischen den Staaten der Konfliktregion wenigstens den Weg bahnen?
  • „Die Wiederherstellung der Herrschaft des Rechts im Konfliktraum Ukraine“. Natürlich ist es wünschenswert, dass die Rechtsverletzungen und Gewalttaten während der »Revolte« und während des Bürgerkrieges rechtlich, insbesondere strafrechtlich, aufgearbeitet werden, auch wenn dies nicht einfach wird (was kann mit zeitlichem Abstand überhaupt noch ermittelt werden, was nicht). Dabei wird – wie immer bei schwierigen Versöhnungsprozessen – abzuwägen sein, welche Form der Aufarbeitung sich in diesem konkreten Fall eignet, um nicht das neue »Gleichgewicht des Friedens« zu gefährden (Bsp. Wahrheitskommissionen in Südafrika).

Sehr nützlich scheinen mir die Hinweise Roggemanns, was den verschiedenen Akteuren abverlangt werden muss, soll ein wirklicher Neuanfang gewagt werden:

  • Die EU müsse sich von der Vorstellung verabschieden, als Großmacht an geopolitischen Machtkämpfen beteiligt sein zu müssen; ein partnerschaftliches Verhältnis zur Russischen Föderation sei unumgänglich.
  • Die Regierung in Kiew brauche auf ihrem »Weg nach Europa« einen längeren Atem und müsse zum Kompromiss mit Russland bereit sein – auch um den Preis des Verzichts auf die Krim.
  • Die russische Regierung solle sich von überholten sowjetischen Großmachtansprüchen endlich lösen, die Souveränität ihrer Nachbarländer respektieren und internationale Kontrollregime im Rahmen der OSZE unterstützen.
  • Für die USA wäre es ratsam, so Roggemann, von Interventions- und Aufrüstungsambitionen abzulassen.

Diese Auflistung macht unverkennbar, wie weit wir von einer tragfähigen Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa entfernt sind. Aber vielleicht kann man aus der Prognose Pradettos bescheidene Hoffnung ziehen: Schon das Einfrieren des bewaffneten Konflikts und die zunehmende Orientierung der Akteure auf die Bearbeitung der sozialen, ökonomischen und ökologischen Probleme wäre ein großer Fortschritt, der zumindest mittelfristig die Tür zu einer Friedensordnung öffnen könnte.

Literatur

Erhard Eppler (2015): Demütigung als Gefahr. Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2015.

Felix Jaitner (2015a): Einführung des Kapitalismus in Russland – von Gorbatschow zu Putin. Hamburg: VSA.

Felix Jaitner (2015b): Ukraine als Exempel. Der Zerfall der postsowjetischen Gesellschaft. Blätter für deutsche und internationale Politik 10/2015.

Florian Niederndorfer (2015): Politologe – „In der Ukraine tobt ein Machtkampf“. Interview mit August Pradetto. Der Standard (Wien), 27.12.2015.

Reinhard Krumm (2014): Krimkrise – Die Schlafwandler des 21. Jahrhunderts. ipg-journal, 4.3.2014.

Tim Neshitov: Russland und Ukraine – Mythen und Propaganda. Le Monde diplomatique, September 2015.

August Pradetto (2014): Die Ukraine-Krise – Geopolitik und Identität im Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Die Friedenswarte 1-2/2014

Bettina Sengling (2016): Verloren im Niemandsland. STERN 1/2016, S. 48-60.

Paul Schäfer, Soziologe, Publizist, Mitglied der Redaktion von »Wissenschaft und Frieden«, ist seit langem – u.a. als Abgeordneter des Deutschen Bundestages (2005-2013) – mit europäischer Friedens- und Abrüstungspolitik befasst.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2016/1 Forschen für den Frieden, Seite 38–42