Wiederaufbau in Haiti
Von außen oder von unten?
von Alexander King
Verfluchtes Land, ewiger Bittsteller, Fass ohne Boden – so kennen wir Haiti von jeher aus der Berichterstattung. Das Erdbeben, das am 12. Januar 2010 die haitianische Hauptstadt Port-au-Prince und umliegende Städte zerstörte, hat dieses Bild geradezu grotesk zugespitzt. Haiti braucht Hilfe, Unterstützung beim Wiederaufbau, aber: „Haiti ist ein Gläubiger, kein Schuldner“. Darauf hat uns die US-amerikanische globalisierungskritische Autorin Naomi Klein in einer ihrer ersten Stellungnahmen nach dem Erdbeben aufmerksam gemacht.
Das gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen leisteten die Haitianerinnen und Haitianer einen bedeutenden Beitrag zum globalen zivilisatorischen Fortschritt: Die Abschaffung der Sklaverei 1794 in der damaligen französischen Kolonie Saint-Domingue durch den Französischen Nationalkonvent war von den aufständischen Sklaven erzwungen worden. Dass sie ihre Freiheit verteidigten, auch nachdem Frankreich unter Napoléon die Sklaverei auf der Insel wieder einführen wollte, war eine wichtige Voraussetzung für die spätere Abschaffung der Sklaverei weltweit. Als erster unabhängiger Staat Lateinamerikas ab 1804 hat Haiti den Befreiungskampf von Simon Bolívar in Südamerika mit Soldaten und Schiffen unterstützt.
Auf der anderen Seite hat Haiti – unter dem Joch der französischen Kolonialherrschaft – erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung Europas beigetragen: Die Kolonie steuerte in der Zeit der Industrialisierung mehr als ein Drittel zum Außenhandelsvolumen Frankreichs bei. Jährlich stachen 1.500 Schiffe in Saint-Domingue in See, um Kolonialwaren (Zucker, Kaffee, Indigo, Kupfer) nach Frankreich zu transportieren. Der Handel mit den Produkten der Kolonie bescherte den Handelsstädten des Mutterlandes wie Nantes, La Rochelle oder Bordeaux einen beträchtlichen kommerziellen Aufschwung und unterstützte die industrielle Entwicklung Frankreichs und Europas.
Das alles auf den Knochen der Bewohner der Halbinsel, die diesen Reichtum schufen: Sklavinnen und Sklaven, deren Lebens- und Arbeitsbedingungen so hart waren, dass ihre durchschnittliche Lebenserwartung nach ihrer Ankunft aus Afrika bei neun Jahren lag.
Der Fluch aus dem Norden
„Ihr seid nicht verflucht!“ Mit dieser eindringlichen Botschaft hat sich der Gewerkschaftsdachverband Batay Ouvriyè nach dem Erdbeben an seine Landsleute gewandt, die eine Naturkatastrophe oftmals als Strafe Gottes interpretieren. Und die natürlich – nach den schlimmen Unwetterkatastrophen von 2004 und 2008 – vom Pech regelrecht verfolgt scheinen. Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano sprach im Katastrophenjahr 2004 in einem Text über Haiti vom „weißen Fluch“ und verwies darauf, dass ein großer Teil der haitianischen Misere das Ergebnis von Jahrzehnten und Jahrhunderten der Ausbeutung und Destabilisierung ist. Wenn heute oftmals von Haiti als einem »gescheiterten Staat« (failed state) die Rede ist, sollte man diese Zusammenhänge nicht übersehen.
Haiti hatte bereits einen schlechten Start: Im Unabhängigkeitskrieg gegen die französische Armee kam ein Drittel der Bevölkerung ums Leben und die gesamte Infrastruktur der Halbinsel wurde zerstört.
Auf Unterstützung von außen konnten sie nicht rechnen, im Gegenteil: Es folgte eine jahrzehntelange internationale Isolation, weil Haiti den benachbarten USA und erst recht den europäischen Kolonialmächten als schlechtes Bespiel galt, das möglichst eingedämmt werden sollte. Mit den erzwungenen »Entschädigungszahlungen« von 150 Millionen Goldfranken an Frankreich als Preis für die Anerkennung der Unabhängigkeit wurde Haiti das erste Land des Südens in der Schuldenfalle.
Unter der US-Besatzung von 1915 bis 1934 wurde dann die Zentralisierung aller wirtschaftlichen und Verwaltungsfunktionen auf die Hauptstadt Port-au-Prince vorangetrieben und die Verfassung geändert, damit US-Konzerne Land erwerben und Plantagen errichten konnten. Hunderttausende Kleinbauern verloren ihre Existenzgrundlage. Die damals geschaffenen Strukturen waren zwar für die US-Okkupation funktional, für die haitianische Gesellschaft stellen sie aber bis heute eine schwere Hypothek dar.
Natürlich verbanden sich die externen wirtschaftlichen und strategischen Interessen auch immer mit Klasseninteressen innerhalb der haitianischen Gesellschaft. Drastisches Beispiel dafür war die Unterstützung Frankreichs und der USA für die Diktatur von Vater und Sohn Duvalier, die 1957 begann und 1986 endete, als Jean-Claude Duvalier nach einem Volksaufstand mit 900 Mio. US-Dollar ins Exil ging und seinem Land Auslandsschulden in Höhe von 750 Mio. US-Dollar hinterließ.
Seit den 80er Jahren haben neoliberale Entwicklungsstrategien der internationalen Geber (Weltbank, IWF und USAID) die haitianische Gesellschaft systematisch zerrüttet und die Funktionsfähigkeit des Staates untergraben. Durch die Handelsliberalisierung, die 1986 und 1995 jeweils im Kontext gesellschaftlicher Umbruchsituationen durchgesetzt wurde, verloren lokale Produzenten ihre Märkte an billige, teilweise subventionierte Import-Produkte aus den USA. Die Produktion von Grundnahrungsmitteln ging infolge dessen seit Mitte der 80er Jahre um ein Drittel zurück – bei gleichzeitigem Bevölkerungswachstum um ein Drittel. Haiti wurde von einem Selbstversorger zu einem hochgradig von Importen abhängigen Land. Die Hungerkrise von 2008 nach dem massiven Preisanstieg für Grundnahrungsmittel auf dem Weltmarkt ist eine Folge dieser Politik. Ebenso die enorme Landflucht nach Port-au-Prince: Die Einwohnerzahl der Hauptstadt erhöhte sich seit den 80er Jahren von 720.000 auf 2,5 Millionen. Die damit einhergehende unkontrollierte Bautätigkeit trug zu der hohen Opferzahl nach dem Erdbeben bei.
Durch die Senkung der Importzölle wurden außerdem die Staatseinnahmen verringert. Haiti wurde in einem Strukturanpassungsprogramm des IWF auferlegt, seine öffentliche Lohnsumme zu halbieren und Staatsbetriebe zu privatisieren. Im Zuge der Privatisierungen wiederum wurden ganze Produktionszweige (Zuckerindustrie, Zementindustrie) brachgelegt. Die Arbeitskräfte, die durch die Privatisierung und den Rückgang der landwirtschaftlichen Produktion frei wurden, sollten in die Sweat-Shops gelenkt werden, die seit den 70er Jahren am Rande der Slums von Port-au-Prince errichtet worden waren, und dort für US-amerikanische und kanadische Textilvermarkter zu Hungerlöhnen und ohne grundlegende gewerkschaftliche Rechte Hemden und Jeans zusammennähen.
„Haiti ist das liberalste Land Lateinamerikas – und das ärmste“, so fasst eine haitianische Gewerkschafterin die Ergebnisse dieser Politik zusammen: Der haitianische Staat wurde systematisch geschwächt, die Volkswirtschaft zerstört und politische Instabilität geschaffen. Nicht nur das Agrarbusiness und die Textilkonzerne der USA, Kanadas, der Dominikanischen Republik und anderer Länder haben davon profitiert, sondern auch die haitianische Elite: etwa als Sweat-Shop-Betreiber und Import-Monopolisten.
Die Verbindung westlicher Interessen mit denen der haitianischen Elite hat sich auch auf der politischen Ebene immer wieder gegen die Bevölkerung gerichtet: Der populäre, demokratisch gewählte Präsident Jean-Bertrand Aristide wurde gleich zweimal von der Elite bzw. ihren Milizen und unter Beteiligung der jeweiligen US-Regierung (erst Bush sen., dann Bush jun.) gewaltsam gestürzt, seine Bewegung Lavalas grausam verfolgt. Nach dem zweiten Staatsstreich wurde die UN-Mission MINUSTAH in Haiti installiert – mit robustem Mandat, weil, so die entsprechende Resolution des Sicherheitsrats, von Haiti eine Gefahr für den internationalen Frieden ausgehe.
Militarisierung der Hilfe
Diese Militarisierung von sozialen Problemen bzw. politischen Auseinandersetzungen setzt sich nach dem Erdbeben fort. Die UN-Militärmission MINUSTAH, die mit 7.000 Soldaten und 2.000 Polizisten seit 2004 in Haiti stationiert ist, wurde nach dem Erdbeben um 2.000 Soldaten und 1.500 Polizisten verstärkt. Dazu kommt der enorme militärische Aufmarsch von zeitweise über 20.000 US-Soldaten, der sich nach dem Erdbeben in Port-au-Prince vollzog. Die EU schickte 300 Gendarmen und kündigte eine eigene Militärmission an. Soldaten und Gendarmen, so wird argumentiert, seien nötig, um die Ankunft und Verteilung der humanitären Hilfe abzusichern.
In der Berichterstattung nach dem Erdbeben wurde teilweise der Eindruck erweckt, in Haiti herrsche nicht in erster Linie großes menschliches Leid, sondern vor allem ein Sicherheitsproblem (Stichworte: Bandenkrieg, Plünderungen).
Vertreter der Hilfsorganisationen vor Ort wie medico international oder Diakonie Katastrophenhilfe bestätigen die Meldungen über die Gefährdung ihrer Sicherheit jedoch nicht, sondern betonen im Gegenteil, wie diszipliniert und solidarisch sich die Haitianerinnen und Haitianer verhalten und dass die Sicherheit kein Problem darstellt, solange man mit den Selbsthilfestrukturen vor Ort zusammenarbeitet (Katja Maurer, Sprecherin medico international, am 22.1.2010 im Neuen Deutschland; Tommy Ramm von der Diakonie Katastrophenhilfe am 19.1.2010 in der Taz). Es gab sogar Hinweise, dass die Militärpräsenz Hilfe aufgehalten habe. Ärzte ohne Grenzen, die Karibische Staatengemeinschaft CARICOM und mehrere Regierungen anderer Geberländer (Frankreich, Italien, Brasilien) kritisierten, dass Flugzeuge mit Hilfslieferungen nach Santo Domingo umgeleitet wurden, weil der Flughafen von Port-au-Prince aufgrund der Aktivitäten der US-Armee überlastet war.
Viele Haitianerinnen und Haitianer wehren sich dagegen, dass die menschliche Katastrophe in Haiti kurzerhand zu einem Sicherheitsproblem umdefiniert wird. Sie vermuten hinter der militärischen Präsenz vor allem strategische Gründe: Es geht um die Kontrolle über den Wiederaufbau in Haiti und den Schutz der eigenen wirtschaftlichen Interessen, die am besten gewahrt bleiben, wenn sich der Neuaufbau nach den alten Spielregeln vollzieht. Wer alle wichtigen strategischen Punkte besetzt hält, bestimmt, was sich in Haiti abspielt und kann gegebenenfalls verhindern, dass die Haitianer sich von unten organisieren und möglicherweise nach alternativen Entwicklungswegen suchen.
Die Lage Haitis zwischen den USA, Kuba und Venezuela macht das Land für die USA außerdem geostrategisch interessant. Die Regierungen vieler lateinamerikanischer Nachbarstaaten sehen in der massiven Militärpräsenz den Versuch der USA, den Einfluss des linken, von Venezuela und Kuba maßgeblich initiierten Integrationsprojekts ALBA einzudämmen, und fordern ein Ende der Besatzung.
Perspektiven des Aufbaus
Der Wiederaufbau in Haiti wird nach Schätzungen von Experten über 10 Mrd. Euro kosten. Am 31. März fand die internationale Geberkonferenz statt, zu der die Vereinten Nationen und die US-Regierung nach New York eingeladen hatten und auf der über den Wiederaufbau in Haiti beraten werden sollte. Aber was soll wie, durch wen und für wen aufgebaut werden? Die Haitianerinnen und Haitianer wollen die Fehler der Vergangenheit vermeiden. Haiti hat in den letzten 20 Jahren Milliarden an Hilfsgeldern erhalten, ohne dass sich die Lebensbedingungen der Mehrheit der Bevölkerung dadurch verbessert hätten.
In welche Richtung also soll sich Haiti entwickeln? Ende Januar veröffentlichte die Stiftung Wissenschaft und Politik eine Analyse, die in ihrer Überschrift die Frage stellt: „Haiti – was kommt nach der Katastrophenhilfe?“ Die SWP stellt Haiti als einen »gescheiterten Staat« dar, in dem marodierende Banden die öffentliche Sicherheit gefährdeten und in dem politische Unzufriedenheit regelmäßig in Gewaltexzesse mündete. Ein Land, das darüber hinaus unregierbar und nicht in der Lage sei, sich selbst zu versorgen. Aus dieser Sicht seien der militärische Aufmarsch der US-Armee und die Verstärkung der MINUSTAH zu begrüßen. Und mehr noch: Die SWP stellt mehrere Szenarien vor, wie es mit Haiti weitergehen könnte. Alle laufen – in unterschiedlichen Abstufungen – auf eine Protektorats- oder gar Treuhandlösung hinaus.
Mittlerweile hat der US-Botschafter in Haiti auch eine dauerhafte Präsenz der US-Armee ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Die USA haben de facto die Regentschaft in Haiti übernommen. Sinnbildlich dafür steht eine Pressekonferenz am 31.01.2010 in Port-au-Prince, auf der der US-Botschafter und der Oberleutnant der US-Truppen zu den Medien sprachen, während der haitianische Präsident René Préval im Hintergrund stand und schließlich, ohne gesprochen zu haben, von dannen zog. (New York Times, 1.2.2010)
„Unsere Souveränität ist nicht verhandelbar“, sagen hingegen Aktivistinnen und Aktivisten sozialer Organisationen in Haiti. In einem gemeinsamen Statement vom 01.02.2010 haben sich mehrere haitianische Organisationen und Bündnisse zu Wort gemeldet, darunter die Plattform für eine alternative Entwicklung (PAPDA), das bekannteste entwicklungspolitische Bündnis Haitis. Sie beklagen das falsche Bild, das von der Situation in Haiti vermittelt wird, und beschreiben die große Solidarität zwischen den Menschen nach dem Erdbeben und die Gründung von Selbsthilfe-Komitees, die sofort nach dem Beben die Verteilung von Hilfsgütern auf Nachbarschaftsebene in die Hand genommen haben. Sie fordern, dass diese Strukturen, die mit Abstand den größten Anteil an der Organisation von Hilfe hatten, in den Wiederaufbau einbezogen werden müssen.
In einem Statement zum Prozess des Wiederaufbaus vom 19.03.2010 beklagen mehrere soziale Bewegungen Haitis, darunter PAPDA und die Flüchtlingsorganisation GARR, dass sich dieser Prozess unter Ausschluss der haitianischen Zivilgesellschaft und unzureichender Einbindung der haitianischen Regierung vollzieht. In einer scheinbar endlosen Aneinanderreihung von teuren Konferenzen beraten Technokraten und Vertreter der Geberländer und multilateraler Institutionen über eine langfristige Strategie für Haiti, so der Vorwurf. Die sozialen Bewegungen erinnern an das Scheitern ähnlich zustande gekommener Strategien in der Vergangenheit. In ihren Augen schreibt der Aufbauprozess, sowie er sich bislang vollzieht, die Dominanz der Geberländer und den andauernden Souveränitätsverlust Haitis fort. Sie fordern einen radikalen Bruch mit der bisherigen Entwicklungslogik, die Haiti in Armut und Abhängigkeit getrieben hat und knüpfen dabei an konkrete soziale Auseinandersetzungen an, die schon vor dem Erdbeben geführt wurden: Dezentralisierung, Agrarreform, Investition in Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Erhöhung des Mindestlohns, Verhinderung weiterer Privatisierung, Aufbau von Infrastruktur für die Bevölkerung, vollständige Entschuldung.
Der damalige Präsident Jean-Bertrand Aristide hatte 2004 – kurz vor seinem Sturz – von Frankreich die Summe von 21 Mrd. US-Dollar eingefordert, als Reparation für die im 19. Jahrhundert erpressten 150 Mio. Goldfranken. Diese Kampagne wird nun von einigen sozialen Organisationen wieder aufgegriffen, die die Hilfe für Haiti in diesem Sinne als Wiedergutmachung begreifen und für die Einrichtung eines entsprechenden Fonds plädieren, über den der Aufbau in Haiti finanziert werden soll.
Viele Haitianerinnen und Haitianer sehen in der regionalen Integration eine Alternative zur „imperialistischen Hilfe“ (Batay Ouvriyè, 14.2.2010) und unterstützen die Annäherung an ALBA. Haiti hat in den letzten Jahren zunehmend mit ALBA kooperiert und hat mittlerweile Beobachterstatus. Bereits seit Dezember 1998 sind ständig mehrere Hundert kubanische Ärzte in Haiti tätig, insgesamt seit 1998 rund 6.000. Kuba und Venezuela haben außerdem ein Programm zum Aufbau regionaler medizinischer Zentren in Haiti aufgelegt, von denen bereits vier arbeiten. Haiti ist Teil der Energieintegration von ALBA und profitiert von venezolanischen Erdöl-Lieferungen zu günstigen Konditionen.
Die kubanischen Ärztinnen und Ärzte, die seit Jahren in vielen haitianischen Gemeinden leben, genießen hohes Ansehen. Sie waren auch die ersten, die nach dem Beben Hilfe anbieten konnten. Es ist übrigens noch nie vorgekommen, dass einer der kubanischen Ärzte Opfer von Gewalt geworden wäre.
Dr. Alexander King ist Referent für Entwicklungspolitik der Bundestagsfraktion DIE LINKE.