W&F 2024/3

Wiesbadener Erinnerung

Eine neue Debatte über Atomwaffen

von Ernst Ulrich von Weizsäcker, Angelika Claußen, Ulrich Gottstein, Volker Jung und Michael Karg

Vor siebzig Jahren trafen in Wiesbaden Carl Friedrich von Weizsäcker, Otto Hahn und Werner Heisenberg, Martin Niemöller, Otto Dibelius und Helmut Gollwitzer zu einem theologisch-physikalischen Spitzengespräch zusammen. Sie sprachen unter dem Eindruck der Zündung der ersten Wasserstoffbombe und suchten nach Impulsen für Friedensbewegung und Sicherheitspolitik. In Erinnerung an dieses Gespräch und vor dem Hintergrund weitgehend ausgesetzter atomarer Rüstungskontrolle, neuer Atombewaffnungs-Debatten und nuklearer Eskalationsgefahren intervenieren die Autor*innen mit vier Initiativvorschlägen. W&F dokumentiert im Folgenden die »Wiesbadener Erinnerung: Es gibt keine Sicherheit mit nuklearen Massenvernichtungsmitteln«.

Es mehren sich Stimmen, die eine mögliche atomare Bewaffnung Deutschlands oder unter Beteiligung Deutschlands in Betracht ziehen.

Wir erinnern an einen bislang verborgenen Anfang der Atomdebatten, an erzielte Erkenntnisse und an erreichte Erfolge.

Wir benennen, welche Optionen Deutschland hat, seine Sicherheit zu erhöhen.

Wir fragen, braucht Deutschland eine dritte Welle in der Debatte um Atomwaffen?

Der verborgene Beginn – Begegnung Naturwissenschaft und Theologie

Vor 70 Jahren, am 9. Juni 1954, zwölf Wochen nach dem Zünden der größten amerikanischen Wasserstoffbombe im Bikini-Atoll, kommen in Wiesbaden drei Theologen und drei Atomphysiker zu einem vertraulichen Austausch zusammen: EKD-Ratsvorsitzender Otto Dibelius, Theologie-Professor Helmut Gollwitzer, EKHN-Kirchenpräsident Martin Niemöller und Otto Hahn, Chemienobelpreisträger, Werner Heisenberg, Physiknobelpreisträger, sowie der Physiker, Philosoph und Friedensforscher Carl Friedrich von Weizsäcker.

Eingeladen hatte Martin Niemöller. Als die sechs auseinandergehen, hat Niemöller, der Pastor und ehemalige Offizier, die Erkenntnis gewonnen: Nukleare Waffen sind keine Waffe, sondern ein Massenvernichtungsmittel. Es gibt keinen Zweck, der damit noch erreichbar wäre. Diese Erkenntnis verstärkt sich auch bei den Wissenschaftlern, ihre Begegnung mit den Ethikern von der evangelischen Kirche hat richtungsweisende Folgen.

Gar nicht erst anfangen – »Kampf dem Atomtod« 1957-1959

Anfang April 1957 verlautbart Bundeskanzler Adenauer, die „taktischen Atomwaffen [seien] nichts weiter als die Weiterentwicklung der Artillerie“. Dagegen wenden sich bereits eine Woche später, am 12. April 1957, 18 Atomphysiker mit dem »Göttinger Manifest«. Sie erklären u.a.: Jedenfalls wäre keiner der Unterzeichnenden bereit, sich an der Herstellung, der Erprobung oder dem Einsatz von Atomwaffen in irgendeiner Weise zu beteiligen.“

Sie geben den Anstoß für die Kampagne »Kampf dem Atomtod« mit 1,7 Millionen Menschen auf der Straße, mit Streiks in den Betrieben und hunderten Veranstaltungen landauf, landab.

Kirchenpräsident Martin Niemöller ist einer der Erstunterzeichner der Erklärung, die am 10. März 1958 unter dem Titel »Kampf dem Atomtod« veröffentlicht wird. Er erreicht, dass als letzter Satz aufgenommen wird: „Wir werden nicht Ruhe geben, solange der Atomtod unser Volk bedroht.“

Die Bewegung, zu der sich neben DGB, SPD, FDP auch Vertreter der EKD und viele weitere bekennen, hat Erfolg: Die Bundesrepublik verzichtet auf eine atomare Bewaffnung. Deutschland ist damit jedoch nicht frei von Atomwaffen, denn hier lagern Atomsprengköpfe der USA. Das Thema bleibt also präsent, deshalb formiert sich eine zweite Friedensbewegung.

Abrüstung ist möglich – »Keine Atomraketen in Europa« 1980-1983

1979 plant die NATO, im Rahmen eines »Doppelbeschlusses« (Verhandeln und Aufrüsten), neue atomare Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren. Darauf reagiert die Friedensbewegung am 16. November 1980 mit dem »Krefelder Appell«. Die Grundlage dafür legt erneut ein Physiker mit seinem Stab, Carl Friedrich von Weizsäcker. In der Studie »Kriegsfolgen und Kriegsverhütung« äußert er sich auch militärstrategisch und politisch: „Wir haben keine hinreichende Aussicht, einen Krieg auszuhalten, ja nur zu überleben; wir sind darauf angewiesen, ihn zu verhindern […]. In einer solchen Lage hat die Öffentlichkeit eine wichtige Rolle.“

Wieder ist Martin Niemöller einer der Mitinitiatoren und Erstunterzeichner. Über vier Millionen Menschen unterschreiben den Appell, Hunderttausende gehen auf die Straße und bilden Menschenketten. Die Hofgarten-Kundgebungen in Bonn sind die Höhepunkte. Die neuen Raketen werden dennoch aufgestellt. Die Bundesregierung setzt ihren »Doppelbeschluss« aus Dislozieren und Verhandeln um. Im Ergebnis werden ab 1987 2.692 Atomraketen in Ost und West abgezogen und komplett verschrottet, überwacht durch ca. tausend wechselseitige Vorort-Kontrollen, geregelt im INF-Vertrag zur Abrüstung aller Mittelstreckenraketen in Europa. Mehrere Verträge zur Begrenzung und zum Rückbau von Atomwaffen folgen.

Und heute…?

Der INF-Vertrag ist gekündigt, obwohl er 1987 auf unbeschränkte Dauer geschlossen wurde. Gekündigt sind auch der Vertrag über die Begrenzung der Raketenabwehr (ABM) und der Vertrag über den Offenen Himmel (»Open Skies«). Der New-START-Vertrag über die strategischen Atom-Potentiale ist außer Kraft gesetzt, der Umfassende Atomteststoppvertrag (CTBT) ist noch nicht in Kraft getreten. Die Rüstungskontrolle ist somit weithin ausgesetzt. Derzeit wachsen die politischen und militärischen Spannungen. Zeitgleich könnte die Verbindung zwischen Europa und den USA brüchiger werden.

Angesichts dieser Entwicklungen plädieren manche wieder für eine deutsch-europäische Atom-Aufrüstung, nun sogar mit Hyperschall-Trägersystemen, die die Vorwarn- und damit auch mögliche Deeskalationszeiträume minimieren. Diejenigen, die dies fordern, sprechen wie Adenauer seinerzeit für eine deutsche Verfügung über Atomwaffen mithilfe neuester Waffentechnologie. Doch es gilt wie damals: Je »kleiner« die Atomwaffen, umso höher ist ihre Einsatz-Wahrscheinlichkeit, umso größer ist die Kriegsgefahr.

70 Jahre nach dem Wiesbadener Atomgespräch stellen wir deshalb fest:

  • Nukleare Massenvernichtungsmittel gefährden das Leben auf dieser Erde.
  • Deutschland braucht eine dritte Aufklärungswelle in der Debatte um Atomwaffen!

Was kann Deutschland konkret tun – statt atomar aufzurüsten?

(1) Deutschland kann die Atomwaffenstaaten nachdrücklich daran erinnern, ihre im gültigen Atomwaffensperrvertrag von 1970 eingegangene „Absicht, zum frühestmöglichen Zeitpunkt die Beendigung des nuklearen Wettrüstens herbeizuführen und auf die nukleare Abrüstung gerichtete wirksame Maßnahmen zu ergreifen“ nun auch umzusetzen und die ausgesetzten atomaren Rüstungskontrollverträge in neuen Verhandlungen wieder aufzunehmen.1

(2) Deutschland kann mit den NATO-­Verbündeten einen Fahrplan erarbeiten mit dem Ziel, die nukleare Teilhabe zu beenden.

(3) Deutschland kann dem 2021 in Kraft getretenen Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) beitreten. Damit würde Deutschland bestätigen, keine Nuklearwaffen zu besitzen und auf seinem Territorium zuzulassen.

(4) Deutschland kann sich für eine gesamt­europäische atomwaffenfreie Zone einsetzen, die Russland einbindet.2

Wir bitten die Bundesregierung, diese vier Initiativen zu ergreifen. Die Öffentlichkeit, Wissenschaft, Medien, Politik, Zivilgesellschaft bitten wir, diese Initiativ-Möglichkeiten begleitend genau zu prüfen und breit zu erörtern.

Wiesbaden, 29. Mai 2024

Unterzeichnende:

Dr. Dr. h.c. Volker Jung, Pfarrer; Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Mitglied im Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Professor für Umweltforschung und Dipl. Physiker; Club of Rome
Dr. med. Angelika Claußen, Ärztin; Präsidentin der IPPNW Europa (International Physicians for the Prevention of Nuclear War)
Prof. Dr. med. Ulrich Gottstein, Internist; Ehrenvorstands- und Gründungs-Mitglied der Deutschen Sektion der IPPNW
Michael Karg, Pfarrer; Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung

Weitere Informationen zur Wiesbadener Erklärung: martin-niemoeller-stiftung.de

Anmerkungen

1) Offizielle Atomwaffenstaaten sind die USA, Russland, Frankreich, Großbritannien und China. Inoffiziell gehören Indien, Pakistan, Israel und Nordkorea dazu.

2) Deutschland hat hierfür bereits eine Vorleistung erbracht: Die neuen Bundesländer einschließlich Berlin sind durch den Zwei-plus-vier-Vertrag vom 12. September 1990 bereits eine völkerrechtsverbindliche Atomwaffen-freie Zone.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/3 Widerstehen – Widersetzen, Seite 45–46