W&F 2020/3

Wir können auch hier nicht atmen

von Tarek Shukrallah

Die in den vergangenen Wochen im Globalen Norden wie ein Lauffeuer um sich greifenden Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt brachten auch in Deutschland die Frage auf das Tapet der weißen Allgemeinbevölkerung, ob diese Gesellschaft, ob der Staat und seine Mitarbeiter*innen ein Rassismusproblem haben. Von Minneapolis nach Mittelhessen diskutiert mit einem Mal die Mittelklasse strukturellen Rassismus. Für Schwarze Menschen und People of Color ist die Debatte ein zweischneidiges Schwert. Endlich, sagen einige. Andere mahnen zu Misstrauen. Denn: Während Horst Seehofer eine Studie zu rassistischen Polizeikontrollen, dem »racial profiling«, ablehnt, möchte er nun Gewalt gegen Polizist*innen erforschen lassen. Nach Ausschreitungen in Stuttgart betreibt die ermittelnde Behörde Stammbaumforschung – bei den migrantisierten Tatverdächtigen, versteht sich. Man könnte sagen: Auch das ist ein Debattenergebnis. Und es deutet darauf hin, warum trotz der besonderen Herausforderungen in Zeiten der Pandemie auch in Deutschland in unzähligen Groß- und Kleinstädten Zehntausende betroffene Menschen gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße gegangen sind.

Rassistische Polizeigewalt ist Alltag für Schwarze Menschen und People of Color. Tagtäglich werden an Bahnhöfen und an anderen öffentlichen Plätzen in der Bundesrepublik nicht-weiße Menschen von Polizei und Sicherheitsdiensten systematisch kontrolliert und schikaniert. Die Initiative »Death in Custody« konstatiert: Seit 1990 gab es 139 Todesfälle von Schwarzen Menschen und People of Color in Gewahrsam, zehn davon alleine im vergangenen Jahr. 2018 verbrannte Amad Ahmad in einer Zelle der JVA Kleve, nachdem er zwei Monate fälschlich in Polizeigewahrsam gehalten wurde. Man hatte ihn mit einer völlig anderen Person mit gänzlich anderem Namen und Aussehen verwechselt. Doch für den Innenminister und seine Mitarbeiter*innen ist die Migration die Mutter aller Probleme. In Hanau wurden am 19. Februar zehn Menschen in einer Shisha-Bar von einem Rechtsterroristen ermordet. Der Vorfall wäre nicht denkbar ohne die Kriminalisierung von solchen überwiegend migrantisch geprägten Orten. So sorgte etwa das Nordrhein-westfälische Innenministerium unter Herbert Reul in den vergangenen Jahren systematisch für Razzien in Shisha-Bars, ohne je belastbares Material zu finden. Für viele Schwarze Menschen und People of Color in Deutschland gehören Shisha-Bars zu den wenigen Orten, an denen sie sich ohne Angst vor Fremdheits- und Diskriminierungserfahrungen aufhalten können. Es sind Orte, an deren Pforte das überwiegend jugendliche Publikum nicht gescheitert ist. Indes werden sie an den Türen der Clubs und Kneipen der Allgemeinbevölkerung abgewiesen.

Im Zusammenhang mit der in den letzten Monaten wieder lauter gewordenen Kritik an Rassismus bei Sicherheitskräften und insbesondere bei der Polizei wurden Kritiker*innen immer wieder hämisch gefragt, ob sie denn nicht im Notfall oder bei Gefahr für Leib und Leben die Polizei riefen. Dieses Argument ist so zynisch wie dumm, denn tatsächlich rufen viele Schwarze Menschen und People of Color die Polizei nicht. Das Risiko einer Kriminalisierung, Inhaftierung oder gar des Todes in Polizeigewahrsam ist zu hoch. Für Menschen mit Rassismuserfahrungen in Deutschland sind Sicherheitskräfte oftmals einfach Sicherheitsrisiken. Die Polizei wird zur Gefahr für Leib und Leben. Als Alternative entwickelten ebenjene Gruppen Ansätze wie die »community accountability«, um selbst mit Gewalt und Kriminalität, auch und insbesondere innerhalb der eigenen Lebenswelten, umgehen zu können, ohne sich der Gefährdung durch Polizeibehörden aussetzen zu müssen.

Gewalt bei Sicherheitskräften ist nicht durch Sensibilisierung und Reflexion innerhalb der Sicherheitsapparate lösbar. Sie ist ein systemisches Problem. Es ist jene Gewalt, die wesentlich dazu beiträgt, eine bestehende Ordnung zu reproduzieren, indem sie durch systematische Marginalisierung Widerstand gegen strukturellen und direkt vermittelten Rassismus verhindert. Auf diese Weise trägt sie dazu bei, dass rassifizierte Ausbeutungsverhältnisse aufrecht erhalten werden können. Es ist nur konsequent, dass sich heute Menschen mit Rassismuserfahrungen zusammentun und politisch organisieren, sich dem Integrationsethos widersetzen und einen Platz im Diskurs einfordern – und mit ihm radikale Veränderungen.

Tarek Shukrallah ist Politikwissenschaftler*in, politische*r Referent*in und Aktivist*in in sozialen, migrantischen bzw. ­antirassistischen sowie queeren Bewegungen und betreibt die digitale Skill-­sharing-Plattform partizipieren.org.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2020/3 Der kranke Planet, Seite 5