W&F 1995/2

Wir können nichts mehr für euch tun

Medizinische Auswirkungen der amerikanischen Atombomben-Einsätze in Hiroshima und Nagasaki

von Wolfgang Köhnlein

Das Jahr 1995 ist ein denkwürdiges Jahr, wir erinnern uns an die Entdeckung der Röntgenstrahlung vor 100 Jahren und an die Atombomben-Explosionen vor 50 Jahren. In diesen Wochen jährte sich darüber hinaus der bisher größte Reaktorunfall des Atomzeitalters zum neunten Mal. Dabei denkt man natürlich sofort an die Unfälle in Windscale 1957, Harrisburg 1979 und die nie ganz aufgeklärten Nuklearkatastrophen in der Sowjetunion in den späten fünfziger Jahren. Es ist nur wenige Wochen her, da erlebten wir den ersten Transport eines Kastorbehälters von Philippsburg nach Gorleben.

Wenn ich heute über die Auswirkungen atomarer Explosionen auf die Gesundheit des Menschen und seine Umwelt sprechen soll, so wird das kein schöner und erbaulicher Vortrag. Ich muß über schlimme und schreckliche Dinge berichten, und ich habe mich bei der Vorbereitung auf diesen Nachmittag oft gefragt, ob es richtig ist, dies alles wieder hervorzukramen, all das Elend und Leid, das durch die Atombombenexplosionen ausgelöst wurde und das bis heute noch nicht beendet und abgeschlossen ist. Noch heute erkranken Menschen an Krebs und sterben daran, die vor 50 Jahren der Atombombenstrahlung ausgesetzt waren. An all die menschenverachtenden Handlungen der siegreichen Amerikaner in Japan, mit ihren Untersuchungen an den Atombombenüberlebenden, an die sich anschließende Eskalation in der Atomwaffenproduktion.

Ist es denn sinnvoll, über die Folgen eines Nuklearkrieges zu referieren? Die Ost-West-Konfrontation ist überwunden – ist sie es wirklich? Einen nuklearen Holocaust wird es nicht geben! Warum also darüber sprechen? Sind nicht andere Probleme viel dringlicher? Etwa die ethnischen Kriege in Afrika oder der Völkermord vor unserer Haustür in Jugoslawien? Doch ist mit der Beendigung der Ost-West-Konfrontation auch das Problem der Atombombenarsenale gelöst? Droht wirklich keine Gefahr? In den zurückliegenden Jahrzehnten sind diese Arsenale geradezu paranoid angefüllt worden. Das Zerstörungspotential hat unfaßbare Dimensionen angenommen. Ein ganz geringer Teil davon ist bis heute »entschärft« worden.

Angesichts dieser Perspektiven ist es vielleicht doch sinnvoll, daran zu erinnern, was zwei kleine reichlich primitive Atombomben vor 50 Jahren bereits für Unheil und Elend über eine zivile Bevölkerung gebracht haben. Darüber hinaus sollte daran erinnert werden, mit welcher Bedrohung wir gelebt haben und leben.

Eigentlich blieben in allen kriegerischen Auseinandersetzungen der früheren Jahrhunderte die Kampfhandlungen nicht auf die Truppen beschränkt. Schon immer wurden von der zivilen Bevölkerung hohe Opfer verlangt. Diese Tendenz hat sich in den Kriegen dieses zu Neige gehenden Jahrhunderts zunehmend verstärkt. Die immer schlimmere Brutalisierung und Automatisierung der Kampfhandlungen mit dem Ziel der physischen Vernichtung des Gegners wird durch die modernen Kriegstechnologien und Strategien begünstigt. Die Achtung vor dem Leben und Ehrfurcht vor der Schöpfung werden nur noch sehr partiell in das Kalkül der strategischen Überlegungen einbezogen. Ich denke an den zweiten Weltkrieg, an Uganda oder Jugoslawien.

Seit den Schrecken und Leiden, die die Bomben über Hiroshima und Nagasaki ausgelöst haben, ist das nukleare Zerstörungspotential ins geradezu Groteske gesteigert worden und hat Elend, Not und Hunger über viele Länder gebracht, weil finanzielle, intellektuelle und natürliche Ressourcen divertiert wurden. Die Menschheit ist in der Lage, die Grundlagen ihrer Existenz und damit sich selbst zu vernichten.

Ich glaube, daß Naturwissenschaftler und Ärzte in dieser Situation sich ihrer großen Verantwortung bewußt werden müssen. Wir müssen unsere Intelligenz, unser Wissen und unsere Weisheit einsetzen, um die Massenvernichtungswaffen zu ächten und das spaltbare Material von dieser Erde zu verbannen. Die dabei anstehenden Probleme sind offensichtlich von Politikern alleine nicht zu bewältigen, sie brauchen unsere Hilfe.

Ich persönlich sehe eine Möglichkeit dazu, indem ich mein Wissen über die Auswirkungen von Kernexplosionen nicht für mich behalte, sondern weitergebe und damit Aufklärung betreibe. Ich habe selbst erfahren, daß das Ausmaß einer Nuklearkatastrophe für den Menschen nicht faßbar ist. Unser Vorstellungsvermögen reicht dafür nicht aus. Aufgewachsen in einer Periode des 50-jährigen Friedens und Wohlstands sträubt sich unser Intellekt vor einer solchen Realität, und wir begegnen einer Nuklearkatastrophe mit Verdrängung.

Vielleicht ist das ja auch die einzige Möglichkeit, in einer Situation mit mehr Sprengstoff pro Mensch als Nahrungsmittel – und das weltweit – nicht den Verstand zu verlieren.

Ich will durch meine Ausführungen Ihnen heute darlegen, welche schlimmen Auswirkungen die Atombomben auf die Bevölkerung von Hiroshima und Nagasaki hatten, welche Konsequenzen für die medizinische Forschung daraus folgten, wie bereits von 1945 an das wahre Ausmaß der Katastrophe durch die offiziellen politischen und militärischen Stellen verschleiert wurde und wie das Schicksal der Atombombenüberlebenden zur Grundlage der internationalen Richtlinien für den Strahlenschutz wurde.

Eine gewisse Strukturierung meines Vortrags ist bereits durch das Thema gegeben. Ich möchte dennoch eine kurze Gliederung vorstellen. Ich werde zunächst etwas über die Energie, die bei einer Atombombenexplosion freigesetzt wird, sagen und dann auf die akuten medizinischen Folgen eingehen, die an der japanischen Bevölkerung beobachtet wurden. In einem weiteren Abschnitt möchte ich die medizinischen Langzeitfolgen beschreiben.

Unmittelbare medizinische Folgen der Kernexplosionen

Vergegenwärtigen wir uns zunächst, daß die Bomben in Japan nach heutiger Vorstellung kleine Atombomben waren. Sie hatten eine Sprengkraft von 15 kt bzw. 22 kt TNT. Moderne Atombomben besitzen eine Zerstörungsgewalt im Megatonnenbereich.

Will man eine Megatonne TNT mit der Eisenbahn transportieren, so benötigt man einen Güterzug von ca. 400 km Länge. (Bochum bis Mannheim). Mit dem Energieinhalt einer Megatonne kann man eine Million Tonnen Eis in überhitzten Dampf verwandeln.

Wenn eine Kernwaffe explodiert, wird eine gewaltige Menge Energie freigesetzt. Wo kommt diese Energie her? In welcher Zeit wird sie freigesetzt? In welcher Form tritt sie in Erscheinung? Was bewirkt diese Energie? Wo kommt die Energie her?

In schweren Atomkernen sind die Kernbausteine (Protonen und Neutronen) weniger stark gebunden als in Kernen mittleren Atomgewichts. Wird ein Urankern gespalten, so ist die Bindungsenergie in den Spaltkernen größer als im Ausgangskern. Jedes Nukleon hat kinetische Energie verloren, die nun in der kinetischen Energie der Spaltkerne nach außen in Erscheinung tritt.

Wird ein Uran235-Kern gespalten, so werden im Durchschnitt 200 MeV Energie und zusätzlich zwei bis drei Neutronen freigesetzt, die ihrerseits Uran235 oder Plutonium239 spalten können (Kettenreaktion). Bei jeder Spaltung verdoppelt sich die Anzahl der Neutronen. In Uran235 sind 6x1023 Kerne. Will man alle spalten, so braucht man 6x1023 Neutronen.

Wie viel Zeit braucht man, um so viele Neutronen durch eine Kettenreaktion herzustellen? Wenn wir mit einem Neutron starten, dann benötigen wir 79 Verdopplungsschritte. Die Neutronen haben fast Lichtgeschwindigkeit. Sie gelangen von einem Urankern zum anderen in 10-11 sec. Die Zeit zur Spaltung aller Urankerne ist etwa 80 mal so lang, also 8x10-10 sec.

In welcher Form wird die Energie freigesetzt?

Dies hängt sehr vom Bombentyp ab. Wir müssen also verschiedene Bombentypen betrachten. Eine einfache Spaltbombe (Nagasaki-Typ) besteht aus etwa 10 kg Plutonium239 (Kugel mit Radius 10 cm). Das sind rund 2,5x1025 Plutoniumkerne. Wenn alle gespalten werden, wird eine Energie von 6x1027 MeV oder 6x1014 Joule freigesetzt. In Wirklichkeit werden nur ca. 10% der Kerne gespalten, also rund 6x1013 Joule freigesetzt.

Wenn so viel Energie in einem so kleinen Volumen frei wird, dann erhitzt sich das Volumen auf 108C und es entsteht ein Überdruck von 100 Millionen Atmosphären.

Neben den reinen Spaltbomben gibt es die thermonuklearen Bomben, die auch Wasserstoffbomben genannt werden. Es sind Fusionsbomben mit einem Spaltbombenzünder. Bei der Fusion wird ebenfalls viel Energie frei und außerdem sehr schnelle Neutronen, die sogar Uran238 spalten können. Das führt zur Spaltungs-Fusions-Spaltungsbombe.

Eine thermonukleare Waffe ohne den äußeren Uran238-Mantel ist eine Bombe mit besonders hoher Neutronenstrahlung (Neutronenbombe). Der Spaltungsprozess führt zu einer extrem heißen, sich rasend schnell ausbreitenden Masse von radioaktiven Kernfragmenten.

Dieser Feuerball dehnt sich schnell aus. Zwei Mechanismen sind dafür verantwortlich.

1. Der Feuerball emittiert Gamma- und Röntgenstrahlung, die die umgebende Luft so stark erhitzen, daß sie für Röntgenstrahlung transparent wird. Weitere Schichten werden dadurch exponiert, die dann UV- und sichtbares Licht emit tieren.

2. Der unwahrscheinlich hohe Druck innerhalb des Feuerballs komprimiert die umgebende Luft plötzlich, dadurch wird die Luft extrem erhitzt, so daß sie leuchtet.

In der ersten Sekunde nach der Explosion breitet sich ein glühender überhitzter Luftwall und ein gigantischer Strahlenpuls, dessen Strahlung sich von Röntgenlicht über UV- und sichtbares Licht zu thermischer Infrarot-Strahlung ändert, vom Detonationspunkt her aus und verschlingt alles, was in seinem Weg steht.

Bei Testexplosionen in der Wüste von Nevada hat man an Häusern, die mit dem in Japan üblichen Baumaterial erstellt wurden, die Wirkung von Hitze- und Druckwelle untersucht. Bei einer 15 kt Explosion entzündet sich ein rund 1200 m vom Explosionsort entferntes Haus fast augenblicklich und wird bereits 2,3 sec später durch die Druckwelle völlig zerstört.

Was bewirkt die plötzlich freigesetzte Energie?

Der sich ausdehnende Feuerball erzeugt eine Reihe physikalischer Phänomene:.

1. Hitzestrahlung

2. unmittelbare radioaktive Strahlung (Gamma, Neutronen)

3. Schockwellen mit Überdruck

4. Explosionskrater

5. Erdbeben

6. Elektromagnetische Pulse

7. Radioaktivität (»Fall-out«)

8. Zerstörung der Ozonschicht

Während Hitzestrahlung, unmittelbare radioaktive Strahlung und Fallouteffekte von meteorologischen Bedingungen abhängig sind, ist das bei der Überdruck-Schockwelle weniger der Fall.

Die akuten, durch Atombombenexplosionen hervorgerufenen Verletzungen kann man einteilen in Verbrennungen, mechanische Verletzungen (Knochenbrüche, innere Verletzungen, große Wunden, durch umherfliegende Trümmer verursacht) und Strahlenschäden. Am häufigsten kamen in Hiroshima und Nagasaki Kombinationen dieser Verletzungen vor. Viele Menschen starben sofort an dem unmittelbaren Druck und an den Hitzewirkungen. Andere erlagen den Verbrennungen und Wundtraumata, bevor sich ein akutes Strahlensyndrom ausbilden konnte.

Sehr viele Menschen wären an den Strahlendosen gestorben, wenn sie die Verbrennungen und Verwundungen überlebt hätten. Fast alle Menschen, die innerhalb der ersten zehn Wochen nach der Bombe starben, zeigten die Symptome der akuten Strahlenkrankheit. Die strahleninduzierte Zerstörung des Knochenmarks war hier der kritische Strahlenschaden, der zum Tode führte. In diesen Fällen ist die verminderte Anzahl der Leukozyten und Plättchenzellen im Blut Grund für erhöhte Infektionsgefahr und innere Blutungen, die dann die Haupttodesursachen waren.

Verletzungen durch die Hitzewelle

Die Hitzestrahlung breitet sich mit Lichtgeschwindigkeit aus und erreicht ihr Ziel noch vor der Druckwelle. Die durch die Explosion erzeugte Hitze hatte in der Nähe des Hypozentrums eine Temperatur von 3000 – 4000C. Die Hitzewelle war kurz, etwa eine sec. lang. In etwa zwei km Entfernung betrug die Temperatur »nur noch« 500 – 600C. Diese intensive Wärmestrahlung erzeugte direkte Verbrennungen, aber auch indirekt durch entzündete Feuer. Alle Menschen, die sich im Freien innerhalb 4 km vom Hypozentrum aufgehalten hatten, erlitten Verbrennungen, zum Teil schwere Verbrennungen.

Menschen innerhalb eines Kilometers verdampften oder verkohlten. Auch Menschen, die sich in Gebäuden aufhielten, erlitten teilweise schwerste Verbrennungen durch die heißen Gase und glühenden Staubmassen, obwohl sie der direkten thermischen Strahlung nicht ausgesetzt waren.

Während die direkten Verbrennungen nur auf der dem Explosionsball zugewendeten Körperseite zu finden sind, treten die indirekten Verbrennungen an allen Körperseiten auf. Sie dringen tiefer ein als die Blitzverbrennungen. Unterschiede im Heilungsprozess dieser Verbrennungsarten wurden offenbar nicht beobachtet. In Hiroshima und Nagasaki waren die Verbrennungen extrem häufig, denn viele Menschen befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion auf dem Weg zur Arbeit. Verbrennungen waren die Haupttodesursache am Tag der Bombenexplosion. Viele, die durch die Druckwelle verletzt wurden, waren unfähig, der Feuerwelle und dem Feuersturm, der noch viele Stunden nach der Explosion wütete, zu entfliehen. Verbrennungen wurden selbst unter der Kleidung noch 2,5 km von Hypozentrum entfernt hervorgerufen.

Bei Menschen, die sich im Augenblick der Explosion vier km vom Zentrum im Freien aufhielten, wurden noch leichte Verbrennungen festgestellt. Die Befunde von Hiroschima und Nagasaki über die Verbrennungen sind recht ähnlich. Blitzverbrennungen 1. Grades wurden noch bei Personen, die fünf km vom Epizentrum in Nagasaki entfernt waren, festgestellt.

Bei einer Energiedichte von:

12 Joule/cm² Verbrennungen 1. Grades

35 Joule/cm² Verbrennungen 2. Grades

20 Joule/cm² Blätter und Papier entzünden sich

60 Joule/cm² Möbel, Kleider, Gardinen brennen

Viele Menschen, die in den Feuerball blickten, erblindeten, teilweise vorübergehend. Nach dem Verheilen der schweren Verbrennungen wurde häufig eine Wucherung des Narbengewebes beobachtet, besonders bei Überlebenden aus der 2,5 km Zone. Diese Keloide genannten Wucherungen entstellten die Opfer und führten unter anderem zu einer sozialen Ausgrenzung der Hibakusha (Überlebende der Atombombenabwürfe).

Aus der 1,5 km Zone gab es fast keine Überlebenden mit Verbrennungen. Die Überlebenden, die es aus dieser Zone gab, waren offensichtlich vor der direkten Wärmestrahlung und der Atomstrahlung geschützt, denn sie hielten sich in Kellern oder Schutzräumen auf.

Verletzungen durch die Druckwelle

Im allgemeinen wird jedes Gebäude, das nicht speziell für eine besondere Druckresistenz gebaut ist, zerstört, wenn es einem Überdruck von fünf oder mehr p.s.i. (entsp. 35 kPa) ausgesetzt ist. Gebäude, die bei diesem Druck nicht zusammenstürzen, werden jedoch so geschädigt, daß eine Reparatur nicht mehr möglich ist.

Drucke werden in verschiedenen Dimensionen angegeben. Zur Umrechnung dient die folgende Gleichung: 1 p.s.i.=70 g/cm2=700 kg/m² ; 5 p.s.i.=3,5 t/m2=35 kPa

Der durch die Bombe erzeugte Explosionsdruck lag in Japan bei 35 bis 55 kPa am Hypozentrum.

Die Explosion besteht aus zwei Phasen: Kompression und Unterdruck. Die Kompressionsphase dauerte 1 bis 2 sec. Die mechanischen Verletzungen, hervorgerufen durch die Druckwelle, sind direkt aber häufiger indirekt. Hauptsächlich werden sie durch einstürzende Gebäude und durch mit hoher Geschwindigkeit umherfliegende Trümmer verursacht. Da der menschliche Körper höhere Drucke aushalten kann als die meisten Gebäude, wurden die meisten Opfer der Druckwelle durch indirekte Effekte bedingt, aber auch dadurch, daß Menschen von der Druckwelle erfaßt, zu Boden geschleudert oder auf feste Strukturen geworfen wurden. Dagegen gab es weniger Opfer in den japanischen Holzhäusern. Menschen, die sich im Freien aufhielten, hatten am wenigsten unter der Druckwelle zu leiden. Wir beobachten also hier genau die entgegengesetzte Reihenfolge als bei den Verbrennungen. Feste Gebäude und Wände bedeuteten also das größere Risiko, besonders in dem dem Hypozentrum nahen Bereich. Bei den Überlebenden waren alle Arten von Verletzungen zu finden. Angefangen von kleineren Verwundungen bis hin zu schweren Quetschungen und Knochenverletzungen. Am häufigsten waren die Verletzungen durch Glassplitter und herabfallende Trümmer.

Die Schwerverletzten hatten keine Chance zu überleben. Da fast keine ärztliche Hilfe unmittelbar nach der Explosion zur Verfügung stand – die meisten Krankenhäuser und Sanitätsstationen waren der Explosion zum Opfer gefallen, genauso wie die meisten im Gesundheitswesen tätigen Personen – und wegen der bald einsetzenden Leukopenie als Folge der Strahlenwirkung, führten bereits geringfügige Verletzungen und Wunden, die normalerweise schnell verheilt wären, zu schweren Infektionen. Die Druckwelle führte auch zu großen Schäden am Gehörorgan. Teilweise waren es Dauerschäden.

Aus den Erfahrungen der Explosionen in Hiroshima und Nagasaki hat die Atom-Energie-Kommission (AEC) das Konzept der Todeszone entwickelt. Dabei wird angenommen, daß auf der Fläche, die mindestens einen Überdruck von 35 kPa erhalten hat, die Anzahl der Überlebenden gleich der Anzahl der Opfer außerhalb dieser Fläche ist, die dann weniger Überdruck abbekommen hat. Diese Annahme ergibt dann die Sofort-Toten aus der Fläche und der Bevölkerungsdichte.

Die Wirkung der radioaktiven Strahlung

Obwohl die Bomben auf Hiroshima und Nagasaki die erste Gelegenheit waren, um die Wirkung massiver Strahlendosen auf den Menschen zu beobachten, ist doch wenig über die schweren Strahlenverletzungen, die unmittelbar zum Tode führten, bekannt, weil die Fälle nicht autopsiert wurden. Weiterhin verhinderte die sehr hohe Zahl der Todesfälle und der schweren Verletzungen in den ersten Tagen nach der Bombe jede genaue statistische Auswertung der Strahlenwirkung. Außerdem war den überlebenden Ärzten unbekannt, daß es sich um radioaktive Strahlung handelte.

Bei einer 20 kt Atombombe ist die unmittelbare Strahlung in 1.000 m Entfernung in 2 sec. auf rund 80% des Gesamtwerts angestiegen (100%=50 Gray (Gy)). Bei 5 Mt in 2,3 km Entfernung dauert es rund 8 sec. (100%=400 Gy). Selbst wenn man zum Zeitpunkt der Explosion in einen tiefen Schützengraben springen könnte, hätte man bereits 40 Gy im ersten Fall und 90 Gy im zweiten Fall abgekriegt. Beide Dosen sind absolut tödlich.

Die Symptome der Strahlenkrankheit bei Opfern, die drei Wochen nach der Bombe noch am Leben waren, sind etwas genauer erfaßt worden. Man muß aber beachten, daß die Kriterien für die Diagnose der Strahlenschädigung nur sehr schwierig festzulegen sind, da die Schädigungen sich in vielen Fällen nicht unmittelbar manifestieren und bestimmte Symptome auch anderen Ursachen zugeschrieben werden können und damit das Bild weiter verkomplizieren. So waren die Menschen, die einer hohen Dosis ausgesetzt waren, natürlich auch im Bereich der Hitzewelle und der Druckwelle. Die psychische Belastung blieb ebenfalls nicht ohne Folgen.

Die klinischen Symptome

Die Überlebenden innerhalb eines Kreises von 1.000 m waren großen Dosen ausgesetzt. Nur die Menschen, die sich in geschützten Kellern aufhielten, waren weniger exponiert. Bei 1.000 m betrug die Dosis in der Luft noch ca. 4,5 Gy. Bei der Explosion einer 1 Mt Bombe führte die radioaktive Strahlung im Zentrum zu einer Dosis von 110 Gy und in 3 km noch 100 Gy. In Hiroshima führten die Dosen bis 4,5 Gy zu Haarausfall, Blutungen in das Hautgewebe und in die inneren Organe, zu Ulcerationen im Rachen, zur Zerstörung der Kryptzellen im Darm, zur Zerstörung des roten Knochenmarks und zum Verlust der Immunabwehr.

Chronologisch können die Symptome und Anzeichen folgendermaßen zusammengefaßt werden:

Die Phasen des Strahlensyndroms

Phase I Übelkeit, Erbrechen, Appetitlosigkeit für einige Tage

Phase II Vorübergehende Besserung. Die Dauer ist der Dosis umgekehrt proportional.

Phase III Fieberanfälle mehrere Wochen lang, Haarausfall, Ulceration der Schleimhäute, Infektionen, innere Blutungen, Durchfälle

Phase IV Entweder Verschlechterung des Zustandes und Tod oder langsame Rekonvaleszenz mit möglicher Gesundung

In vielen Fällen wurde die zweite Phase der vorübergehenden Besserung nicht beobachtet. Bei Schwerverletzten begann die Fieberphase oft schon am 3. Tag mit schweren Durchfällen, bis der Tod eintrat. Bei leichter Verletzten wurde der Haarausfall etwa 10 bis 14 Tage nach der Bombe beobachtet, gleichzeitig begann die Fieberphase und bald darauf traten die inneren Blutungen und Schleimhautschäden auf. Die Schwere der jeweiligen Schäden war dosisproportional. Wer mit Dosen um 4,5 Gy und mehr bestrahlt wurde, verstarb innerhalb zwei Wochen. Weniger hoch, aber immer noch mit letalen Dosen bestrahlte Menschen starben unter entsetzlichen Qualen und im Delirium in der 6. bis 8. Woche nach der Bombe.

Klinischer Verlauf und Prognose

Grobe Abschätzungen sagen, daß rund 200.000 bis 250.000 Menschen innerhalb der ersten 8 Wochen nach der Bombe umkamen. Davon sind rund 50% in den ersten 6 Tagen gestorben und 96% in den ersten 3 Wochen. Man kann sich denken, welche Probleme allein die Beseitigung der Leichen aufgab. Da Vielfach-Verletzungen (Hitze, Druck, Strahlung) besonders häufig vorkamen, war die Todesursache in vielen Fällen unbekannt, dies gilt vor allem für die Opfer, die innerhalb der ersten 3 Wochen starben.

Doch zeigten gerade diese fast durchweg die Symptome der Strahlenkrankheit. Natürlich trugen auch die Verbrennungen und Verletzungen dazu bei, daß viele nicht überleben konnten. Die meisten Menschen, die innerhalb der ersten 2 bis 3 Wochen starben, hatten auch abnorm veränderte Blutbilder. Der klinische Verlauf und die Prognosen waren sehr unterschiedlich wegen der unterschiedlichen Verletzungsursachen (Hitze, Druck, Strahlung). Genaue Dosis-Wirkungsbeziehungen beim Menschen sind nicht bekannt, selbst bei homogener Ganzkörperbestrahlung. So kann man nur eine Einteilung in verschiedene Gruppen machen:

Gruppe 1: Dosisbereich bis 6 Gy, bereits nach 2 Wochen keine Überlebenden, Gruppe 2: 3 bis 4 Gy, nach 3 bis 6 Wochen nur noch 50% Über lebende, Gruppe 3: 2 bis 3 Gy, nach 6 Wochen rund 90 % Überlebende, Gruppe 4: 1 bis 2 Gy, keine Todesfälle.

Anzahl der Opfer

Es gibt auch heute noch keine genauen Angaben über die Anzahl der Opfer. Das kommt zum einen daher, weil die Opfer nicht alle geborgen werden konnten, weil die Unterlagen über die damalige Bevölkerung mit zerstört wurden, und weil es keine Angaben mehr über die Soldaten und die koreanischen Zwangsarbeiter gibt, die im August 1945 in Hiroshima und Nagasaki stationiert bzw. dort gearbeitet haben. Die genaue Größe dieser beiden Gruppen ist unbekannt. Man weiß nur, daß es sehr viele waren.

Die Atomic Bomb Casuality Commission (ABCC), der in den Wochen und Monaten nach der japanischen Kapitulation vor allem daran gelegen war, daß keine Informationen über die verheerende Wirkung der Atombomben an die Weltöffentlichkeit drangen, die sogar verbot, das Wort »Atombombe« zu benutzen, gibt in ihren zunächst geheimen Berichten folgende geschätzte Zahlen an:

Hiroshima Nagasaki
60.000 41.000
Verbrennungsverletzte Verbrennungverletzte
78.000 45.000
Druckverletzte Druckverletzte
35.000 22.000
Strahlenverletzte Strahlenverletzte

Hämatologische Befunde

Verlust der Knochenmarkszellen als Bestrahlungsfolge ist eine sehr kritische Schädigung, die zum Tod führt. Ebenso wurde eine Abnahme der roten und weißen Blutzellen beobachtet. Es wurden aber in den ersten Tagen nach der Bombe nur wenig Knochenmarksuntersuchungen und Blutanalysen durchgeführt, da die überlebenden Ärzte mit anderen Aufgaben überlastet waren.

Auswirkung der Bestrahlung auf die Spermatogenese

Die Anzahl der Spermien ist stark reduziert in den Überlebenden. Diese Reduktion hält lange an und ist teilweise permanent. Ganz ähnliche Befunde wurden später auch bei den Überlebenden der Strahlenunfälle auf dem Bikini-Atoll beobachtet.

Hygienische Folgen

Die Erfahrungen in Hiroshima und Nagasaki zeigen, daß neben den mittelbaren und unmittelbaren Folgen der Kernexplosion auch die Zerstörung der sozialen Strukturen einhergeht. Neben den bereits beschriebenen Auswirkungen, die die Psyche der Überlebenden weit über die Grenzen des Erträglichen belastet, kommt die Aufgabe, die Opfer zu beerdigen, sanitäre Einrichtungen zu erstellen und den Ausbruch von Seuchen zu verhindern, die bei den ebenfalls geschwächten Überlebenden katastrophale Auswirkungen hatten. In Japan war diese Aufgabe teilweise zu lösen, weil noch eine partiell intakte Umwelt bestand, aus der Hilfe gebracht werden konnte. Diese Hilfe war natürlich gering, da Japan militärisch wie wirtschaftlich bereits durch die konventionelle Bombardierung der Städte am Ende war. Trotz dieser bald von außen eintreffenden Hilfe war in den Tagen und Wochen nach der Bombe in Hiroshima und Nagasaki eine enorme Insektenplage zu beobachten. Unzählige Fliegen quälten die Leidenden und Sterbenden, die zu schwach waren, sich zu wehren.

In den Wunden vieler Opfer fand man Maden. Die Kadaver der Haustiere, die überall herumlagen, boten den Insekten einen hervorragenden Boden zur Vermehrung. Die nur mit unzureichenden sanitären Mitteln versorgten Menschen bekamen Läuse, Infektionskrankheiten breiteten sich aus. Die Beerdigung der Toten wurde zu einem großen Problem. Überall verwesten Leichen und Tierkadaver in der Sommerhitze. Haustiere und Vögel litten unter dem Strahlensyndrom und verendeten. Die Versorgung der Kranken und Verwundeten überforderte die Möglichkeiten des Gesundheitssystems. Der Geruch von Tod und Verwesung lag über den Trümmern der Städte.

Medizinische Langzeitfolgen

Die katastrophalen Folgen hoher Bestrahlungsdosen haben wir kennengelernt. Was sind die Folgen kleinerer Dosen? Hier spielen die sogenannten stochastischen Strahlenwirkungen eine große Rolle. Damit sind die Veränderungen im Erbmaterial, also die Mutationen in den Zellen, gemeint. Finden diese in den Oozyten oder in den Spermien statt, so kann das zu veränderten, d.h. mutierten Individuen in der nächsten Generation führen. Sind dagegen die Körperzellen der Bestrahlten verändert, so kann es zu einer Krebserkrankung kommen, die erst viele Jahre später klinisch manifest wird.

Die Organisationen, die mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung der medizinischen Folgen der Atombombenexplosion beauftragt waren, die ABCC und später die RERF, haben in langjährigen Studien zunächst etwa 135.000 Überlebende, deren Aufenthalt und Position zum Zeitpunkt der Bombe angebbar war, in eine Lebenszeitstudie aufgenommen, sie in verschiedene Dosiskohorten eingeteilt und immer wieder Teilergebnisse ihrer Analysen publiziert.

Dabei haben sie sich besonders der Frage der Kanzerogenität gewidmet. Genetische Folgeschäden und allgemeine Schwächung des Gesundheitszustandes waren nicht ihr Untersuchungsziel.

Das hatte zur Folge, daß solche Strahlenwirkungen, wenn sie bei den Fallout-Geschädigten oder anderen strahlenbelasteten Populationen beobachtet wurden, von den offiziellen Stellen nicht mit der Strahlung in Verbindung gebracht wurden, weil eben allgemeine Gesundheitschwächungen und genetische Folgeschäden in Hiroshima und Nagasaki nicht berichtet wurden.

So wurde in den Jahren 1950 bis 1965 fast nur in den höher exponierten Teilkohorten eine mit der Dosis zunehmende Krebsrate beobachtet. Da weitaus der größte Teil der in die Studie aufgenommenen Personen, nur mit Dosen unter 100 cGy belastet wurde und bei ihnen keine statistisch gesicherte Zunahme der Krebsrate zu beobachten war, glaubte man bis in die Mitte der siebziger Jahre, daß Bestrahlungen mit niedrigen Dosen, wie sie in der Nuklearindustrie oder bei medizinisch-diagnostischer Anwendung von Röntgenstrahlung auftreten, kein zusätzliches Risiko für die menschliche Gesundheit bewirken.

Inzwischen häuften sich aber die Berichte, daß auch kleine Dosen kanzerogene Wirkung haben. Aber die Autorität der RERF-Wissenschaftler und die politischen Kräfte hinter ihnen waren so mächtig, daß wissenschaftliche Ergebnisse über die Mutagenität und Kanzerogenität kleiner Dosen, die nicht mit den Japandaten übereinstimmten, als fehlerhaft und unglaubwürdig abgetan wurden.

Die Kritik an den Ergebnissen der RERF wurde immer lauter und wissenschaftlich immer fundierter. Dann zeigte sich, daß mit längerer Beobachtungsdauer auch in den niedrig belasteten Kohorten die Krebshäufigkeit signifikant erhöht war. Außerdem ergaben neuere Berechnungen und Messungen über die Strahlungsstärke der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki, daß man bisher die Dosen überschätzt hatte. Es wurde auch langsam klar, daß die Neutronendosen wegen der relativ hohen Luftfeuchtigkeit damals im August 1945 kleiner waren als angenommen.

Schließlich zeigte sich, daß die als unbestrahlt betrachtete Kohorte teilweise erhebliche Fallout-Dosen abbekommen hatte.

Nimmt man dies alles zusammen, so ergibt sich ein erheblich höheres Strahlenkrebsrisiko als bisher angenommen wurde. Die alten Vorstellungen sind aber immer noch die Grundlage für unserer Strahlenschutzverordung.

Mit Hilfe der publizierten Rohdaten der RERF haben verschiedene Wissenschaftlergruppen ebenfalls Risikoanalysen durchgeführt und sind zu wesentlich höheren Strahlenrisiken gekommen (siehe Tabelle).

Teilweise liegen diese Werte um den Faktor 10-20 über den Werten der RERF und sind vergleichbar mit den so lange geächteten Ergebnissen von Untersuchungen an anderen exponierten Personengruppen (Nukleararbeiter, Patienten, in utero exponierte Feten etc.) Diese Diskrepanz in einer eminent wichtigen Frage, in der die offiziellen Strahlenschützer so sehr auf Übereinstimmung bedacht waren, hat zu einer sehr heftigen Auseinandersetzung geführt, die noch lange nicht beendet ist. Doch zeichnet sich immer mehr ab, daß mit den Hiroshima/Nagasaki-Daten zu viel herum manipuliert wurde, nachdem die ersten Teilergebnisse vorhanden waren und damit eine der Grundregeln der epidemiologischen Forschung nicht beachtet wurde (keine Änderung der Ausgangsdaten, nachdem erste Ergebnisse vorliegen).

Ich persönlich habe große Bedenken, diese Daten auch weiterhin als die wesentlichen Grundlagen unserer Strahlenschutzgesetzgebung zu akzeptieren. (Die Bestrahlungsbedingungen in Japan sind nicht vergleichbar mit Expositionen am Arbeitsplatz. Die Strahlenqualität unterscheidet sich erheblich von diagnostischer Röntgenexposition.) Ich stehe damit nicht ganz alleine da, aber die Mehrheit der Strahlenbiologen, Radiologen und Anwender von Strahlung ist da anderer Auffassung.

Was kann man tun?

Gestatten Sie mir nach all den schrecklichen Tatsachen und Perspektiven, die ein ausgedehnter Einsatz von Atomwaffen mit sich bringt, einige Worte darüber, was wir aus dem Gehörten und Gesehenen eigentlich folgern müßten:

Was kann man tun, Herr Doktor? Wie oft haben Ärzte diese Frage gestellt bekommen, sei es von schwerkranken Patienten selbst oder von den Angehörigen angesichts unheilbarer Krankheit oder unerträglicher Schmerzen. Niemals ist es gerechtfertigt, eine solche Frage negativ zu beantworten. Niemals, denn selbst wenn nichts mehr getan werden kann, so können doch Schmerzen gelindert und Zuspruch erteilt und Trost gespendet werden. Können Ärzte auch keine Heilung mehr anbieten, so können sie doch immer noch den Kranken versorgen. Auch aus diesem Grunde genießen Ärzte Vertrauen. Die Menschen würden also sehr wohl aufmerken und zuhören, wenn Ärzte wie etwa die IPPNW einmütig und eindeutig aussprechen, daß nichts, aber auch gar nichts getan werden kann, um die physikalischen und psychologischen Wirkungen von Atombomben zu mildern oder erträglich zu machen. Eine thermonukleare Katastrophe ist ganz einfach nicht zu ertragen. Wer davon noch nicht überzeugt ist, sollte nur einmal die Berichte der wenigen überlebenden Ärzte aus Hiroshima und Nagasaki lesen. Die medizinischen Perspektiven müssen auch den Politikern klargemacht werden und wer könnte das besser als die Ärzte? Ich frage mich oft, woran die Physiker und Ingenieure denken, die diese Waffen entwickelt und ihren Einsatz logistisch vorgeplant haben! Die Zahlen der zu erwartenden Todesopfer bei verschiedenen nuklearen Szenarien können für den Militärstrategen durchaus unterschiedliche Bedeutung haben. Sie haben aber nur eine Bedeutung für den Arzt.

Was ist das für eine Sprache!: Da ist die Rede von nur 2 Millionen oder 20 Millionen Toten nach einem »chirurgischen« Angriff auf gewisse Ziele! Der Militärstratege sagt dann nach Substraktion der Toten, es wird immer noch soviel Millionen Überlebende geben. Ein Arzt weiß, welcher Aufwand erforderlich ist, um nur einen schwer brandverletzten oder einen Strahlenpatienten zu versorgen und kann leicht mit der Anzahl der Verwundeten und Hilfebedürftigen multiplizieren. Dieses sind die Perspektiven, die die Ärzte den Strategen vermitteln müssen. Noch vor 10 bis 15 Jahren machte das Wort vom begrenzten und führbaren und gewinnbaren Atomkrieg die Runde, was auch immer die strategischen Implikationen sein mögen, das ist aber absolut sinnlos in medizinischer Betrachtungsweise. Die heute von mir angesprochenen Perspektiven sind schon lange bekannt. Sie geraten aber zunehmends in Vergessenheit, besonders in einer Zeit des Friedens und der Entspannung.

Trotzdem müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet sein, die noch vorhandenen nuklearen Zerstörungspotentiale zu vernichten. Nur durch den totalen Abbau der Kernwaffen werden die Führer der nuklearen Supermächte die Wahrscheinlichkeit verringern, daß nämlich eines Tages die überlebenden Ärzte zu den Opfern sagen müssen: Wir können nichts mehr für euch tun.

Anmerkung

Der Artikel basiert auf einem Manuskript eines Vortrages, den der Autor in der Vorlesungsreihe »50 Jahre Hiroshima« an der Ruhr-Universität Bochum am 30. Mai 1995 hielt.

Literatur

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300.000 deutsche Ärzte fordern Abschaffung aller Atomwaffen

Der 98. Deutsche Ärztetag 1995, der letzte Woche in Stuttgart tagte, forderte einstimmig die verantwortlichen Politiker auf, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen (Drucksache IV-25). Der Deutsche Ärztetag ist die Vertretung der 300.000 Ärztinnen und Ärzte in der Bundesrepublik Deutschland.

50 Jahre nach dem Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki, an denen mindestens 100.000 Menschen sofort und 400.000 Menschen an den Folgen der radioaktiven Strahlung starben, tritt die deutsche Ärzteschaft mit dieser Forderung gegen die atomare Bedrohung von Leben und Gesundheit ein. Dabei läßt sie sich von der Erkenntnis leiten, daß es bei radioaktiver Verstrahlung keine effektive medizinische Hilfe mehr geben kann.

Die deutschen Ärzte stehen damit an der Seite der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die den Weltgerichtshof in Den Haag beauftragten, die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von Atomwaffen zu prüfen.

Heute gibt es immer noch über 48.000 atomare Sprengköpfe auf der Welt. Diese haben eine Sprengkraft von 50.000 Hiroshima-Atombomben. Die Atombombe, die am 6. August 1945 über Hiroshima zur Explosion gebracht wurde, hatte eine Sprengkraft von 13 Tonnen. Mehr als 360 Tonnen atomwaffenfähiges Plutonium lagern auf der Welt. Die Gefahr einer Atombombenexplosion, sei es durch Unfall, Terrorismus oder Krieg ist noch lange nicht gebannt.

Mit ihrer Forderung, weltweit alle Atomwaffen abzuschaffen, setzen die deutschen Ärzte für ihre Kolleginnen und Kollegen in der ganzen Welt ein Zeichen, sich dieser Forderung anzuschließen und sich für eine Welt frei von atomarer Bedrohung einzusetzen.

Berlin, 1. Juni 1995

Dr. Wolfgang Köhnlein ist Biologe und arbeitet am Institut für Strahlenbiologie der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1995/2 Hiroschima und Nagasaki, Seite