Zeitenwende, Richtungswechsel?
Seit dem 24. Februar 2022 herrscht wieder Krieg in Europa. Der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine hat auch weitreichende Folgen für uns Friedensforschende und Akteur*innen der Friedensbewegung und wirft zentrale Fragen auf: Haben wir uns im Vorfeld des Kriegs ausreichend in den Diskurs eingebracht und auf gewaltfreie Handlungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten hingewiesen? Welche Instrumentarien stehen gegenwärtig inmitten des brutalen Angriffskriegs zur Verfügung?
Die vielfach als »Zeitenwende« bezeichnete sicherheitspolitische Wende ist auch eine Richtungsdebatte um einen Aufbruch in eine neue Ära – aber wohin steuern wir, wer bestimmt das und auf welcher wissenschaftlichen und ethischen Grundlage tun wir das? Die europäischen und deutschen Reaktionen der ersten Kriegstage (als Beispiel sei die Aufrüstungsdynamik genannt) haben Konsequenzen zur Folge, die einer umfassenden (Selbst-)Kritik sowie friedenspolitischen Einordnung bedürfen.
Die Redaktion hat sich daher kurzfristig dazu entschlossen, dieses Heft mit einem Schwerpunkt zur Ukraine zu erweitern. Wir bieten zum einen ein erstes Nachdenken und Einordnen, auch Innehalten, an, zum anderen stellen wir erste Überlegungen für alternative, zivile Handlungsmöglichkeiten vor. In einem gemeinsamen Redaktionsbeitrag legen wir eine Einschätzung zur Situation vor und betrachten dabei Themen wie eine psychologische Perspektive auf eine Logik des Friedens, zeigen Möglichkeiten des pazifistischen Handelns und der Solidarität auf und diskutieren (Auf-)Rüstungsdynamiken im Kontext einer Rückkehr der Abschreckungslogik und von Systemkonflikten.
In dieser Einschätzung werden wir von Beiträgen externer Autor*innen unterstützt, die dankenswerterweise in der Kürze der Zeit unserer Einladung gefolgt sind. Die Beiträge reichen thematisch von Sozialer Verteidigung (Ulrich Stadtmann), dem Handlungsspielraum der Vereinten Nationen (Andreas Zumach), einer friedenspolitischen Einordnung des multilateralen Sanktionsregimes gegen Russland (Sascha Werthes / Melanie Hussak) bis zu einem Aufzeigen von Handlungsoptionen des zivilen Widerstands (Werner Wintersteiner).
Damit soll die Auseinandersetzung mit diesem Krieg, seinen Ursachen und Folgen nicht beendet sein. Wir starten daher einen Aufruf zu Beiträgen für das kommende Heft 3/2022 zum Thema »Am Rande des Abgrunds: Der Ukrainekrieg, seine Bedingungen und Folgen«. Der Call für Beiträge findet sich auf der Homepage von W&F.
Trotz der aktuellen Kriegsereignisse soll unser geplanter Schwerpunkt zu »Neokolonialismus« keinesfalls in den Hintergrund rücken. Denn auch hierbei geht es um weitreichende Gewalt, die einer dringenden »Zeitenwende« im Sinne einer kontinuierlichen Macht- und Herrschaftskritik bedarf. Mit dem Begriff »Neokolonialismus« wird auf die bis in die Gegenwart wirkmächtigen gewaltsamen Herrschafts- und Beziehungsmuster aufmerksam gemacht, die Fortwirkungen des vergangenen »formalen« Kolonialismus sind.
Wie Michaela Zöhrer in ihrem Beitrag zu kolonialen Bildwelten ausführt, ist es also notwendig, sich „kolonialen Kontinuitäten im heutigen Wahrnehmen, Denken und Handeln – und Möglichkeiten des selbstkritischen Umgangs mit selbigen – zu nähern“. Das Heft geht dem nach und bringt Beispiele neokolonialer Struktur-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse sowie des Widerstands gegen diese.
Eine ebenso einführende wie ausführliche Begriffsbestimmung führt uns von den „in der Kolonialzeit gewachsenen Macht- und Herrschaftsverhältnisse[n]“ (Nicki K. Weber) zu gegenwärtigen Ausprägungen. Theresa Bachmann verdeutlicht anschaulich unsere eigenen neokolonialen Verstrickungen und zeigt den „Preis der Energiewende“ am Beispiel der Cerrejón-Mine in Kolumbien auf. Ein hoher Preis, den Kolumbien unter anderem für Deutschlands Energiesicherheit bezahlt.
»Koloniale Schatten« zeigen sich auch in gegenwärtigen Verständnissen von Frieden, wie Christina Pauls ausführt. In ihrem Beitrag plädiert sie dafür, andere Friedenszugänge sichtbar zu machen und „auch die in der Wissenspolitik und Genealogie des Friedens angelegten Formen von Gewalt auf[zu]decken und [zu] problematisieren“. Neokoloniale Abhängigkeiten in der Entwicklungshilfe sowie im Kontext des Systems globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle verdeutlicht Jasper A. Kiepe in seinem Beitrag. Dass die Herrschaftsbeziehungen zwischen vormaligen Kolonialmächten und ihren ehemaligen Kolonien selbst in der jeweiligen Restitutionspolitik weiterleben, stellt dazu Gracia Lwanzo Kasongo deutlich heraus.
Die Beiträge dieses Hefts machen daher sichtbar, wie sehr neokoloniale Gewalt auch mit unserem Alltag und – für einige – auch beruflichen Kontext verbunden ist. Das macht ein (selbst-)kritisches Umdenken nötig. Wir hoffen, mit unseren beiden Schwerpunkten in diesem Heft zu einer vielschichtigen friedenswissenschaftlichen und -politischen Einordnung der aktuellen Ereignisse beizutragen und wie gewohnt Impulse für zivile, auf nachhaltigen Frieden hin ausgerichtete Handlungs- und Bearbeitungsmöglichkeiten bereitzustellen.
Im Namen der Redaktion wünsche ich Ihnen dabei eine anregende Lektüre,
Ihre Melanie Hussak