W&F 2022/3

Zeitenwende? – Weiter denken!

Vergangene Woche auf dem Nachhauseweg von der FernUni nach Köln: Etwas mehr als eine Stunde Autoradio mit Berichten zu den Themen des Tages. Die Autofahrt beginnt mit einem Bericht über die ständigen Stromausfälle in Südafrika. Fast aller Strom ist Kohlestrom, das Leitungsnetz völlig veraltet und viel zu wenig gewartet, Korruption ist wohl der Hauptgrund. Inzwischen wird der Strom nur noch phasenweise freigeschaltet; Arbeiten, Einkaufen, Kochen etc. wird zum Vabanquespiel, die Wirtschaftsleistung sinkt, dabei gilt doch Südafrika als Leaderstaat des afrika­nischen Kontinents. Es gibt Initiativen für regenerativen Strom, aber meist eher privat und wer soll die Großinvestitionen tätigen, die eigentlich nötig sind?

Weiter geht’s auf der Heimfahrt: Anknüpfend an die Ankündigung einer sächsischen Wohnungsgenossenschaft, aus Energiespargründen und zum Schutze der finanziellen Überlastung der Mieter*innen, Warmwasser nur noch zu bestimmten Zeiten zur Verfügung zu stellen, gibt es eine umfassende Aufklärung über das, was uns in Deutschland im Winter vermutlich bevorsteht und Hinweise, welche Rechte Mieter*innen bezogen auf Heizung und Warmwasser geltend machen können, aber auch wie selbst zu sparen ist und welche finanziellen Vorbereitungen sinnvoll wären, um die Nebenkostenabrechnung bewältigen zu können.

Dann wendet sich der Sender wieder der Auslandsberichterstattung zu. Zunächst die Dürrekatastrophe in den fünf nördlichen Provinzen Italiens: Ein Bauer berichtet, er habe sich entscheiden müssen, ob er den Mais oder das Grünfutter rettet. Die Poebene ist die Landwirtschaftskammer Italiens, 30 % der italienischen Lebensmittel wachsen dort, wie werden die Italiener*innen nun zurechtkommen? Es sind Hilfsgelder für die Bäuer*innen beschlossen worden, die vielleicht die Betriebe retten können, aber sie wässern nicht die Pflanzen und werden nicht vor hohen Teuerungsraten bei Lebensmitteln und vor entsprechenden sozialen Zerwürfnissen schützen. Es folgt ein detaillierter Bericht über die konkreten Ursachen des Abbruchs eines Teils des Marmolada-Gletschers, der elf Menschen das Leben gekostet hat. Mir blutet das Herz: Ich liebe die alpine Bergwelt, bin begeisterte Skifahrerin, bemühe mich, möglichst ökologisch verträglich zu handeln, aber habe natürlich und nicht nur dadurch auch Anteil an diesem Schlamassel.

Der letzte Bericht kurz von Fahrtende erläutert die jüngsten Geschehnisse in der Ukraine: Wie immer geht es um die Frontlinie, die Bomben der Russen, ukrainische Opfer und die Forderungen nach noch mehr schwerem Gerät. Seit mehr als vier Monaten dauert dieser Krieg an…

Zuhause angekommen, mit reichlich beklemmenden und ohnmächtigen Gefühlen fällt mein Blick auf ein Buch, das von einem Kölner Kabarettisten geschrieben wurde. Eher zufällig habe ich es von ihm am Rande einer kabarettistischen Friedensveranstaltung erworben. Ich hatte an dem Abend die Aufgabe, mit Sachverstand das 100 Mrd.-Programm für die Bundeswehr zu kritisieren. »Es ist nicht Alles so Scheiße, wie Du denkst«, ist der Buch­titel, eigentlich etwas zu vulgär formuliert für meinen Geschmack. Es enthält, augenzwinkernd beschrieben, was sich in unserer Gesellschaft doch in den letzten Jahrzehnten zum Besseren gewandelt hat. Ein Buch, das man neugierig durchblättert, liest und sich amüsiert, aber dann auch zur Seite legt. Doch der Blick auf den Titel bringt mich in diesem Moment wieder etwas ins Lot. So banal es auch klingen mag, erinnert er mich daran, dass nicht nur alles schlechter wird. Er verweist darauf, dass es im Denken auch auf das »wie« ankommt; in aller Kritik auch um Wahrnehmung von Gelungenem geht. Aber er verlangt nicht das Denken zu beenden oder zu verdrän­gen oder Wahrheiten zu verleugnen. Wir sind wirkmächtig“, spricht für mich daraus, und „wir haben es in der Hand, was ist und was werden wird“.

In der Hand haben Sie nun als Leser und Leserin auch die aktuelle Ausgabe von W&F – Wissenschaft und Frieden, erneut mit dem Schwerpunkt »Ukrainekrieg«. Baute das letzte Heft mit einem hierzu kurzfristig eingefügten zweiten Schwerpunkt vor allem auf der verschriftlichten Expertise der Redaktion auf, haben wir für das aktuelle Heft Beiträge mit Themen ausgewählt, die nicht so die öffentliche Diskussion erreichen. Wichtig war uns, dass Aspekte zur Überwindung der Kriegsgewalt einen Platz bekommen. Sie finden in diesem Heft beispielsweise Überlegungen zu einer neuen Friedensordnung, um die Eskala­tionsspirale zu durchbrechen, Ableitungen für den Ukrainekrieg aus datenbasierten Kenntnissen zur Beendigung von Kriegen, eine Stellungnahme zur Begründung friedenslogischen Denkens und Handelns im Ukrainekrieg, einen Beitrag zur feministischen Kritik an ­nuklearer Abschreckung und patriarchaler Sicherheit sowie eine Hinterfragung der Nationalstaatsidee mit dem Gedanken, durch eine postnationale Integration zu einem friedlicheren, europäischen Ganzen zu gelangen.

Ich bin überzeugt: Den Ukrainer*innen ist mehr geholfen, alle Möglichkeiten zur Gewaltbeendigung in den Blick zu nehmen, als ständig mehr Waffen zu liefern. Wir haben eine Chance, also entdecken wir sie! Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre,

Ihre Christiane Lammers

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/3 Krieg gegen die Ukraine, Seite 2