W&F 2022/2

Zementierte Ungleichheit

Entwicklungshilfe, Kapitalismus und andere neokoloniale Abhängigkeiten

von Jasper A. Kiepe

Dieses Essay fasst Gedanken zur zementierten Ungleichheit in den neokolonialen Abhängigkeiten des Globalen Südens vom Globalen Norden zusammen, versucht ein kurzes, aber differenziertes Bild auf das System globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle und die sogenannte »Entwicklungszusammenarbeit« zu werfen und stellt die Frage, wer im postkolonialen Diskurs sprechen darf und wer gehört wird. Wie und von wem können Regierungen und Kreditgeber zur Rechenschaft gezogen werden und wie kann dies helfen, neokoloniale Verhältnisse zu verändern?

Neokolonialismus verstehe ich im Sinne von Kwame Nkrumahs Definition und nach Mark Langan als die Fortsetzung externer Kontrolle, insbesondere über Länder Afrikas, durch neue und subtilere Methoden (nach Langan 2018, S. 4; vgl. auch Weber in dieser Ausgabe, S. 28). Nkrumah warnt vor den potenziell regressiven Auswirkungen von unregulierten Formen der Hilfe, des Handels und ausländischer Direktinvestitionen auf die Armutsbekämpfung und das Wohlergehen in den afrikanischen Ländern. Langan stellt fest, dass dies nicht Korruption, Nepotismus oder Verstöße gegen die Menschenrechte von lokalen Eliten ausschließt. Im Gegenteil, wir müssen Fälle von schlechter Regierungsführung feststellen und kontextualisieren, um zu beleuchten, wie externe Geberorganisationen und Unternehmen solche Handlungen oft ermöglichen (und fördern), um lukrative wirtschaftliche Vereinbarungen zu erhalten. Nkrumah unterscheidet zwei Formen neokolonialer Intervention – bi- und multilaterale »Spenden« oder »Entwicklungshilfe« auf der einen und wirtschaftliche Investitionen auf der anderen Seite –, wobei ich mich in diesem Beitrag vor allem auf die sogenannte institutionelle Unterstützung durch supranationale Organisationen beziehe. So kommen die Systeme globaler Finanz- und Wirtschaftskontrolle in den Blick.

Entwicklung und Abhängigkeit in Theorie und Praxis

Internationale Organisationen der Finanz- und Geldpolitik, wie der Internationale Währungsfonds (IMF), sowie diverse kleinere und mittlere Entwicklungsbanken (u.a. KfW, EIB, EBRD) haben über Jahrzehnte hinweg Kredite an die Länder des Globalen Südens vergeben. Die schiere Summe lässt sich am Beispiel des IMF für einen Einjahreszeitraum gut illustrieren: Zwischen 2019 und 2020 flossen hier mehr als 165 Mrd. US$ an 83 Länder (IMF 2020, S. 28). Die Kreditvergaben der anderen Institutionen kommen hier noch ergänzend hinzu. Die Art der Kreditvergabe unterscheidet sich auch maßgeblich. Während beispielsweise die Weltbank vor allem spezifische Projekte finanziert, unterstützt der IMF Staaten direkt, die dann die lokale Kreditvergabe selbst verwalten und gestalten.

Spätestens seit dem Prozess der Paris-Declaration für Hilfsgelder und deren Vergabe (OECD 2005) werden diese Gelder beinahe ausschließlich an die jeweiligen nationalen Regierungen gegeben. Dies wurde entschieden, um dem Wortlaut nach einerseits Effizienz der Maßnahmen durch lokale Teilhabe zu erhöhen, und andererseits um rechtsstaatliche Rechenschaftsmechanismen, Transparenz und Kontrolle in den jeweiligen Ländern zu stärken. In der Praxis bedeutet dies, dass Kredite vergeben werden, um Regierungen bei einem Reformprozess, bei der Umsetzung nationaler Entwicklungspläne oder bei der Entwicklung von Infrastruktur zu unterstützen, für die die jeweilige Regierung anderweitig kein Budget zur Verfügung hätte.

Hieraus ergibt sich eine Vielzahl von Abhängigkeiten, die die »zementierte Ungleichheit« verdeutlichen. Diese beinhalten allem voran die Abhängigkeit mancher Staaten von Fördergeldern und Krediten und den daraus resultierenden Einfluss der Förderinstitutionen auf Regierungsführung und »Policy« (Langan 2015). Dieser Einfluss gibt Spendenorganisationen und Ländern eine enorme Hebelkraft auf die Exekutive eines souveränen Staates, die fundamentale Kontrollfunktionen außer Kraft setzen kann (siehe z. B. Oxfam 2021). Hierzu können Veruntreuung und Korruption kommen – oft auf der Seite der Empfängerstaaten –, die nur schwer zu verfolgen sind. Organisationen wie der IMF haben sich in den letzten Jahren angestrengt, Veruntreuung von Geldern vorzubeugen und dies wird zunehmend von unabhängigen Organisationen verfolgt (Transparency International 2018).

Eine Abhängigkeit eines Staates und seiner Institutionen von Investitionen ergibt sich, wenn anderweitig wenig Investitionskapital zur Verfügung steht. Hohe Staatsverschuldung ist dann eine natürliche Konsequenz dieser Wirtschaftsordnung. Nach Jahrzehnten des Kreditvergabewesens in die Staaten des Globalen Südens sind folglich wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verschuldungen gegenüber Institutionen des Globalen Nordens entstanden, deren Politik und Handeln wiederum entgegen aller anderslautenden Neutralitätsbekundungen sehr wohl von der jeweiligen politischen Agenda der Geberländer dominiert wird. „In der Zwischenzeit haben sich die Veränderungen der relativen Preise, die im Mittelpunkt der […] Strukturanpassungsprogramme stehen, ungeachtet ihrer Vorzüge als unzureichend erwiesen, um nachhaltiges Wachstum und Entwicklung zu schaffen“, schrieb der südafrikanische Politologe Rod Alence schon 2004 (Ebd., S. 163). Seitdem diese Kritiken immer lauter wurden, haben sich die internationalen Organisationen des Bretton-Woods-Systems bemüht, ihre Programme durch stärkere lokale Teilhabe zu verändern, die Unabhängigkeit der Nationalbanken zu fördern und die Nachprüfung und Nachverfolgung der Mittelverwendungen zu verbessern, um dadurch die Effizienz der Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen (Reinsberg, Kern und Rau-Göhring 2021).

Wer spricht, wer wird gehört?

Gleichzeitig erübrigen diese Policy-Veränderungen und die Debatte über die Effektivität von Entwicklungszusammenarbeit nicht einen Dialog darüber, wer am Ende des Tages profitiert, und mehr noch, wer eigentlich darüber sprechen darf (und wer nicht, siehe Spivak 1988). So hart die Kritik an Strukturanpassungsprogrammen und finanzieller Unterstützung/Kreditvergabe aus einer theoretischen Betrachtung sein kann, die oftmals in den komfortablen Hörsälen der Universitäten des Globalen Nordens angestellt wird, so darf doch gleichzeitig nicht vergessen werden, dass manche dieser strukturellen Entwicklungsprogramme zumindest kurzfristig für viele Menschen etwas zum Positiven verändern können, insbesondere im Bereich der grundlegenden Menschenrechte und der »menschlichen Sicherheit«. Dies bedeutet nicht, den negativen Konsequenzen oder strukturellen, systemischen Problemen den Rücken zuzuwenden, aber es anerkennt die Realität einer kurzfristigen Situationsverbesserung. Deshalb ist eine kritische, postkoloniale Diskussion über diese »Zusammenarbeit« wichtig – ob sie effektiv ist oder nicht und wer am Ende daran profitiert. Dies beinhaltet eine kritische Betrachtung davon, wer in diesem Verhältnis Akteur und wer Statist ist und ob derartige »Unterstützung« perspektivisch weiter existieren sollte. Nicht zuletzt stellt es die Frage danach, wie Kreditvergabe und internationale »Hilfe« effektiver, mit stärkerer Teilhabe des Globalen Südens und funktionierenden Systemen der Rechenschaft gehandhabt werden könnte.

Was in der Behandlung dieser Herausforderungen als Problem sichtbar wird, ist, wessen Stimmen in den Debatten zu Wort kommen, Gehör finden und auch zu materiellen Konsequenzen führen. Werden denn die Stimmen der Menschen des Globalen Südens gehört, die eigentlich selbst über ihre Politik, Wirtschaft und Reformen entscheiden sollten?

Es muss kritisiert werden, dass dies traditionell ein Dialog ist, der im Globalen Norden von Menschen des Globalen Nordens über den Globalen Süden, oder mit wenig Teilhabe lokaler Eliten geführt wird. Dies ist an sich schon ein neokolonialer Akt und verwerflich, weil es bedrohliche Erinnerungen an die verbrecherischen Diskurse der europäischen Kolonialmächte weckt, die die Welt erst in Kolonialmächte und Kolonien aufgeteilt haben. Auch Entwicklungszusammenarbeit wirft Fragen auf – z. B. ob wirklich »zusammengearbeitet« wird, oder ob es sich nicht vielmehr um ein einseitiges Machtverhältnis handelt.

Gleichzeitig sind die Kritiken von Akademiker*innen und Practitioners aus allen Regionen nicht immer repräsentativ. Es gilt wieder einmal das Privileg, sprechen »zu dürfen« – und dies gibt vielleicht berechtigt kritischen Geistern viel Raum, wenngleich die eigentlichen Rezipient*innen entwicklungspolitischer Zusammenarbeit, die immer noch zu oft in den marginalisierten Randregionen des Globalen Südens leben, keine Stimme in diesem Diskurs haben. In Bezug auf Entwicklungszusammenarbeit, die sehr vielseitig, manchmal bestimmt nicht effektiv ist, und die viele negative Folgen haben kann, wird häufig vergessen, wie schlecht es vielen Menschen immer noch geht. Dies beinhaltet, wie wenig inklusiv das kapitalistische System auf globaler und lokaler Ebene ist und wie viele Katastrophen und Konflikte es zuzüglich der systembedingten globalen ökonomischen Ungerechtigkeiten gibt. Es bleibt die Frage, wie man die Stimme der Unterrepräsentierten hörbar machen könnte – Demokratisierung und eine erhöhte diskursive Teilhabe der Durchschnittsbevölkerung wären vielleicht Antworten, und eine, die von der Entwicklungsagenda des Globalen Nordens verfolgt wird, die aber zugleich eine normative, koloniale Zuschreibung bleibt.

Hier ergibt sich ein Dilemma, weil zwar Teilhabe durch Entscheidung und Kontrolle bei den kreditbegünstigten Ländern durch demokratische Ordnung erhöht würden, sich gleichzeitig die supranationalen Geberorganisationen jedoch der Kontrolle entziehen und „Zentren politischer Entscheidungsfindung weit weg von öffentlichem Einfluss jeglicher Art“ sind (Fischer 2019, S. 566), in denen Technokrat*innen die Entscheidungen treffen. Zugespitzt könnte argumentiert werden, dass diese Abhängigkeiten kapitalistische Kontrolle über lokale Märkte begünstigen und dies würde nicht funktionieren in Ländern mit starken eigenen Kontrollinstitutionen (vgl. Goldsmith, 2002).

Dieses System bedingt, dass es für Menschen des Globalen Südens oftmals eine Zwangssituation erzeugt, bei der die Frage am Ende nur »friss oder stirb« ist – und auch dies weckt beunruhigende Erinnerungen an koloniale Gewalt. Man könnte argumentieren, dass manche Staaten des Globalen Südens noch nicht bereit sind, ohne »Hilfe« des Globalen Nordens auszukommen. Dies beinhaltet einen subversiven und zutiefst anmaßenden Gewalt­akt, der zwangsläufig in antiquierten Parolen im Sinne von „die sind nicht bereit, wir müssen ihnen helfen“ mündet. Doch die Tatsache, dass Staaten unterschiedlich weit entwickelt sind, ist schon das Ergebnis kolonialer Gewalt und Ausbeutung.

Internationale Maßstäbe und die Realität

Organisationen zwingen Gelder nicht auf, auch wenn im postkolonialen Dialog argumentiert werden könnte, dass die Länder des Globalen Südens oft eigentlich keine Wahl haben. Es sind oftmals die Regierungen, die sich – nicht zuletzt aufgrund eigener Verdienstmöglichkeiten – gerne diese Gelder nehmen. Hier ist Vorsicht geboten: Es klingt das Klischee der kleptokratischen Eliten des Globalen Südens an, das zu oft (aber nicht immer) zutrifft. Gleichzeitig sind Regierungen die Hände gebunden, weil das benötigte Kapital für existentielle Reformen zuhause oft nicht zur Verfügung steht, und weil die Regierungen aufgrund der systemisch fehlenden Kontrolle über die eigene Volkswirtschaft und über die eigenen Ressourcen häufig wenig Spielraum haben. Hier liegt das eigentliche Problem der »kolonialen Geister« – dass sich eine Welt mit wirtschaftlichen und politischen Abhängigkeiten verselbstständigt hat, die durch das koloniale Projekt geschaffen wurde und die dem Globalen Süden eine DNA der kapitalistischen (Selbst-)Ausbeutung bis heute zwangsverordnet. Internationale Währungs- und Handels­organisationen sind hierbei nicht die Ursache einer neokolonialen Wirtschaftsordnung im Globalen Süden, sondern ein Symptom davon.

Die Frage nach dem Neokolonialismus in Bezug auf internationale Organisationen ist eigentlich keine Frage nach diesen Organisationen, sondern eine Frage nach den Prämissen unserer Welt und unseres Lebens. Am Ende des Tages ist die Feststellung, dass bestimmte Institutionen »neokolonial« sind oder neokoloniale Politik verfolgen, nicht falsch – aber die Feststellung ist weder überraschend noch direkt verurteilbar.

Insgesamt geht es nicht darum, per se die Zuwendungen abzuschaffen, sondern darum, die (kapitalistischen) Prämissen zu verändern. Es geht darum, einen kritischen Diskurs zu führen, der zwei Ziele verfolgt: zunächst Rechenschaft zu stärken, bei Geber­ländern und Organisationen, aber auch in Empfängerländern. Menschen und Systeme müssen in ihrer Unabhängigkeit gestärkt werden, damit die eigenen Regierungen zur Rechenschaft gezogen werden können für Kredite und Reformen, und damit die Frage gestellt werden kann, ob vielleicht in der Zukunft weitere Kredite überhaupt noch nötig sind. Das zweite Ziel sollte sein, den Dialog zu stärken und Raum zu schaffen, um einem repräsentativeren Publikum des Globalen Südens die Entscheidung über seine eigene Politik zu überlassen. Dies würde auch beinhalten, bei den Entscheidungsträger*innen zu diversifizieren und dafür zu sorgen, dass der Globale Süden bei den Geldgebern hinreichend repräsentiert ist. Nur eine Veränderung dieser grundlegenden politischen Prämissen kann die zementierte Ungleichheit zu überwinden beginnen.

Literatur

Alence, R. (2004): Political institutions and developmental governance in Sub-Saharan Africa. The Journal of Modern African Studies 42(2), S. 163–187.

Ayogu, M. (2019): International trade and capital flight from Africa: Challenges for governance. PERI Working paper. Amherst: University of Massachusetts.

Fischer, A.M. (2019): On the origins and legacies of really existing capitalism: In conversation with Kari Polanyi Levitt. Development and Change 50(2), S. 542-572.

Goldsmith, E. (2002): Development as colonialism. World Affairs: The Journal of International Issues 6(2), S. 18-36.

IMF (2020): Annual Report 2020. A year like no other.imf.org/AR2020

Langan, M. (2015): Budget support and Africa–European Union relations: Free market reform and neo-colonialism? European Journal of International Relations 21(1), S. 101-121.

Langan, M. (2018): Neo-colonialism and the poverty of ‘development’ in Africa. London: Palgrave Macmillan.

McVeigh, K. (2017): World is plundering Africa’s wealth of ‘billions of dollars a year’. The Guardian, 24.07.2017.

OECD (2005): Paris declaration on aid effectiveness. Paris: OECD Publishing.

Oxfam (2021): Adding fuel to the fire. How IMF demands for austerity will drive up inequality worldwide. Oxfam briefing paper. August 2021.

Reinsberg, B., Kern, A. und Rau-Göhring, M. (2021): The political economy of IMF conditionality and central bank independence. European Journal of Political Economy, 68, 101987.

Spivak, G. C. (1988): Can the Subaltern speak? In: Nelson, C.; Grossberg, L. (Hrsg.), Marxism and the Interpretation of Culture. Champaign: University of Illinois Press, S. 271-313.

Transparency International (2018): The new IMF anti-corruption framework: 3 things we’ll be looking for a year from now. Transparency.org, 27.04.2018.

World Bank (o. J.): Sub-Saharan Africa trade statistics: exports, imports, products, tariffs, GDP and related development indicators.wits.worldbank.org/CountryProfile/en/SSF.

Jasper A. Kiepe arbeitet zu gesamtheitlichen, postkolonialen, lokalen und intersektionalen Perspektiven in der Friedens- und Konfliktforschung.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/2 Kriegerische Verhältnisse, Seite 35–37