Zerstörer Trump
von Jürgen Nieth
Am 22. Oktober 1983 demonstrierte über eine Million Menschen in Bonn, Hamburg und bei der Menschenkette zwischen Stuttgart und Ulm gegen die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper in der BRD und die Stationierung sowjetischer SS20 in der DDR. Die Regierung Kohl-Genscher ließ trotzdem stationieren. Mit einem bilateralen Abkommen (dem INF-Vertrag) zwischen den USA und der Sowjetunion – die anderen Atomwaffen besitzenden Staaten waren nicht einbezogen – wurde 1987 vereinbart, landgestützte Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km zu verschrotten und keine neuen zu beschaffen. 1.846 russische und 846 US-amerikanische Trägersysteme wurden zerstört. Das Abkommen galt „als Meilenstein der Rüstungskontrolle im Kalten Krieg“ (Hubert Wetzel, SZ 22.10.18, S. 6).
Fast auf den Tag genau 35 Jahre später, am 20. Oktober 2018, teilte US-Präsident Trump mit, er wolle den INF-Vertrag aufkündigen. Wie bei dem Nuklearabkommen mit dem Iran macht Trump auch hier die Gegenseite verantwortlich.
Schuldzuweisungen
Trump sagt, der russische Präsident Wladimir Putin habe das Abkommen „leider nicht eingehalten. Also werden wir die Vereinbarung beenden und dann werden wir die Waffen entwickeln.“(Georg Mascolo, SZ 22.10.18, S. 4) Es geht um den russischen Marschflugkörper 9M729, NATO-Bezeichnung SS-C-8, der eine Reichweite von 2.600 km haben soll. „Moskau weist diesen Vorwurf zurück mit der Erklärung, dieser Marschflugkörper sei ausschließlich für die Stationierung auf See vorgesehen und falle daher nicht unter das INF-Abkommen. Umgekehrt behauptet Russland die USA würden mit ihren von der Nato unterstützten Raketenabwehrsystem gegen das INF-Abkommen verstoßen – konkret mit der bereits erfolgten Stationierung von Abwehrraketen im rumänischen Deveselu und in Polen.“ (Andreas Zumach, taz 23.10.18, S. 3) Dazu Michael Stabenow und Katharina Wagner in der FAZ (22.10.18, S. 2): „Laut der Stiftung Wissenschaft und Politik verwenden die Vereinigten Staaten in Rumänien tatsächlich Senkrechtstartanlagen, die geeignet seien, seegestützte Marschflugkörper abzufeuern. Da diese Anlagen sich nun an Land befänden, seien die russischen Anschuldigungen, es handele sich um einen Vertragsbruch seitens Washingtons, ‚aus technischer Sicht schwer zu entkräften‘.“
China im Visier?
Mehrere Kommentator*innen unterstreichen die Rolle von Trumps Sicherheitsberater, John Bolton, bei der geplanten INF-Kündigung. Dazu Georg Mascolo (SZ 22.10.18, S. 4): „Bolton ist seit jeher ein Gegner dieses und eigentlich aller Abrüstungsabkommen […] [Er] will neue Atomwaffen nicht nur, um Russland abzuschrecken, sondern auch den neuen Rivalen China. Das Land ist kein Partner des INF-Vertrages, und seine Aufrüstung – auch mit Raketen solcher Reichweite – versetzt die USA und Russland gleichermaßen in Sorge.“ Auch für Knut Mellenthin lässt der Kontext der trumpschen „Bemerkungen darauf schließen, dass der US-Präsident zunächst Neuverhandlungen mit Russland erzwingen will, in die auch China hineingezogen werden soll“ (jw 22.10.18, S. 1). Für Hubert Wetzel (SZ 22.10.18, S. 6) ist aber die „Wahrscheinlichkeit, dass auch China dem INF-Vertrag beitritt und das Abkommen so erhalten und erweitert werden könnte, […] gleich null“.
Wachsende Kriegsgefahr
In allen hier zitierten Zeitungen wird vor einem Ende des INF-Vertrages gewarnt: „Dieses Abkommen, das auch von Russland schon in Frage gestellt wurde, ist es in jedem Falle wert, verteidigt zu werden. Es bietet einen Rahmen zur gegenseitigen Kontrolle.“ (Reinhard Müller, FAZ 22.10.18, S. 1) Kommt es zur Kündigung des INF-Vertrages „kann es über Nacht um Sein oder Nichtsein gehen. Ballistische Raketen mit Mehrfachsprengköpfen und Cruise Missiles, die dem Gelände folgen, tragen in sich ein Potenzial für Konfrontation, Krieg, Atomkrieg, das man nicht ernst genug nehmen kann.“ (Michael Stürmer, Welt 22.10.18, S. 1) „Großes gerät ins Rutschen. Eine neue Spirale der Aufrüstung mit den verheerendsten jemals entwickelten Waffen droht.“ (Georg Mascolo, SZ 22.10.18, S. 4) „Ein Ende des Vertrages wäre ein Desaster – ganz besonders für die Deutschen.“ (Rainer Pörtner, StZ 23.10.18, S. 1) „Das Thema atomare Abrüstung gehört auf den Verhandlungstisch. Das muss eine der wichtigsten Prioritäten für die Sicherheitspolitik werden. Zu viel steht auf dem Spiel, und zwar nicht nur bei den Mittelstreckenraketen. Auf beiden Seiten laufen längst mit aberwitzigen Kosten Modernisierungsprogramme für die Atomwaffen aller Größen (auch für die 20 Sprengköpfe, die noch in Deutschland stationiert sind), verbunden mit der Entwicklung neuer Trägerwaffen – Raketen, Bomber, U-Boote.“ (Werner Sonne, FR 23.10.18, S. 3) „Mit der Drohung eines Rückzugs aus dem INF-Abkommen zielt Trump auf Russland, meint China – trifft aber vor allem Europa.“ (Marina Kormbaki, FR 23.10.18, S. 11)
Selbständige EU-Außenpolitik
„Trump hat bereits mehrere internationale Abkommen aufgekündigt, ohne etwas Besseres an ihre Stelle zu setzen […] Die Welt des amerikanischen Präsidenten ist nicht die, die Europa will“, schreibt Rainer Pörtner (StZ 23.10.18, S. 1). Bettina Gaus geht in der taz (23.10.18, S. 1) noch einen Schritt weiter: „Europa kann es sich nicht mehr leisten, alleine auf die USA als Schutzherrin zu vertrauen. Es muss endlich den Weg zu einer eigenen, selbständigen Außenpolitik finden – so verunsichernd das auch sein mag. Wie wäre es mit einem russisch-europäischen Gipfeltreffen?“ Georg Mascolo (SZ 22.10.18, S. 4) nimmt Bezug auf die Situation der 1980er Jahre: „Heute sollten Politik und Bürger sich einig sein: Neue US-Atomwaffen kommen nicht nach Deutschland.“ Auch Olaf Standke (ND 23.10.18, S. 1) sieht die Bundesregierung gefordert: „So ist der INF-Streit auch eine Aufforderung an die Bundesregierung, sich endlich vom Konzept der nuklearen Teilhabe in der Nato zu verabschieden und auf den Abzug aller US-Atomwaffen aus Deutschland zu drängen.“
Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine, FR – Frankfurter Rundschau, jw – junge welt, ND – Neues Deutschland, StZ – Stuttgarter Zeitung, SZ – Süddeutsche Zeitung, taz – die tageszeitung