W&F 2013/2

Zerstörtes Jugoslawien

Kriegsfolgen auf dem Balkan

von Hannes Hofbauer

Engagement und persönliche Tragödie des Autors und Unternehmers Kurt Köpruner im bosnischen Travnik mögen paradigmatisch für die Langzeitfolgen der südslawischen Kriege stehen. Auch fast 15 Jahre nach dem Schweigen der Waffen sind sie allgegenwärtig, wie im folgenden Artikel beschrieben wird.

Der kürzlich verstorbene Kurt Köpruner kannte die jugoslawischen Republiken aus seiner jahrzehntelangen beruflichen Tätigkeit als Vertreter deutscher Metallfirmen. Seine persönlichen Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg in Kroatien schrieb er in einem viel beachteten Roman nieder.1 Im Jahr 2004 entschloss er sich gemeinsam mit seiner Frau, eine zerstörte Metallfabrik im bosnisch-muslimischen Travnik zu übernehmen und wieder aufzubauen. Bereits kurz nach der Übersiedlung holte ihn der beendet geglaubte Krieg ein. Zwei Minensucher der Stadt Travnik kamen bei der Entschärfung einer Landmine, die direkt auf dem Gelände des LKW-Parkplatzes vor den Fabrikhallen deponiert gewesen war, ums Leben. Ein Gedenkstein erinnert an die Toten, die wie viele andere erst Jahre nach den Friedensschlüssen dem Krieg zum Opfer fallen.

Die Zerstörungen und Kriegsfolgen sind zahlreich. Sie reichen von direkten Schäden an Menschen, Siedlungen und Landschaft über psychologische und gesellschaftliche Deformationen bis zu strukturellen demographischen Veränderungen und Auswirkungen auf Völker- und Menschenrecht im Weltmaßstab. Im Folgenden soll eine Durchsicht versucht werden. Weitgehend unbehandelt bleiben dabei die andernorts2 ausführlich beschriebene territoriale Zersplitterung und sozioökonomische Verwerfung, die von den unterschiedlichen Kriegsgängen zwischen 1991 und 1999 verursacht wurden.

Uranmunition, Minen und posttraumatische Störungen

Die wohl schlimmste direkte Langzeitfolge kam zigtausendfach vom Himmel: Großteils US-amerikanische Bomber verstreuten weit über zehn Tonnen kleinkalibrige Uranmunition.3 Betroffen davon sind Bosnien, Kosovo, Serbien, Kroatien und – zu einem geringen Teil – Montenegro. Eine UN-Studie aus dem Jahr 20034 spricht allein für den Krieg der NATO gegen Jugoslawien von März bis Juni 1999 von 30.000 entsprechenden Geschossen auf Kosovo, während die jugoslawische Seite 50.000 ausgemacht haben will.5

Exkurs: DU-Munition

In dieser so genannten DU-Munition findet abgereichertes Uran (depleted uranium) Verwendung. Dieses ist ein Abfallprodukt der Atomindustrie und enthält das nicht spaltbare Uranisotop 238. Militärisch in großem Umfang verschossen wird DU-Munition seit dem Golfkrieg 1991, hauptsächlich durch US-Streitkräfte. Sie ist billig und hat wegen ihrer hohen physikalischen Dichte eine enorme Durchschlagskraft bei Metall, dient also als panzerbrechende Waffe.6 Beim Durchbohren des Ziels wird heißer Uranstaub frei, der sich selbst entzündet und damit von innen her das entsprechende Fahrzeug, Gerät oder Gebäude zur Explosion bringt. Auf Flugzeugen oder Hubschraubern montierte Bordwaffen können pro Minute zwischen 600 und 4.000 Schuss mit dieser Munition abfeuern.7 Die Perfidie der Waffe ist – von Laie zu Laie – schnell erklärt: Anstatt die relativ schwach radioaktiven Substanzen, die tonnenweise bei der Produktion von Atombrennstoff oder Atomwaffen anfallen, zu entsorgen, ummanteln US-Militärs das abgereicherte Uran mit Patronenhülsen und verschießen es in fernen Ländern.

In Ex-Jugoslawien kam abgereicherte Uranmunition erstmals im Sommer 1995 über serbischen Siedlungsgebieten in Bosnien zum Einsatz.8 In der Folge wurden weite Teile Bosnien-Herzegowinas, mehr oder minder der gesamte Kosovo, viele Regionen Serbiens und auch kroatische Landstriche mit radioaktiv strahlender Munition überzogen.

Die Aufdeckung des Einsatzes dieser schmutzigen Waffe ist übrigens dem deutschen Arzt Siegwart-Horst Günther zu verdanken.9 Günther lehrte in den Jahren 1990/91 an der Universität Bagdad, als er erstmals im Oktober 1991 mit Geschosshülsen von DU-Munition in Berührung kam. Nachdem er Proben in drei Berliner Labors untersuchen ließ, die eindeutig Radioaktivität nachweisen konnten, kam er in die Mühlen der deutschen Justiz und Psychiatrie. Sein Lebensweg hätte fast wie jener der Physiker in Dürrenmatts gleichnamigem Theaterstück geendet. Im Juli 1992 wurde Günther wegen illegalen Imports von radioaktivem Abfall angeklagt, im Januar 1999 drohte ihm wegen des Verdachts einer angeblich »paranoiden Entwicklung« die Einweisung in eine geschlossene Anstalt.10 Nur eine zwischenzeitlich breite Solidarität aus den Reihen der Friedensbewegung und letztlich das – viel später erfolgte – Eingeständnis der NATO, DU-Munition verwendet zu haben, bewahrten Günther davor, behördlicherseits zum Schweigen gebracht zu werden.

Abgereichertes Uran bringt multiple gesundheitliche Schäden mit sich. Diese reichen von schweren Funktionsstörungen insbesondere der Niere über Auslöser von Blut-, Haut- und Lungenkrebs bis zur Schädigung des Erbgutes. Aufgenommen werden in der Regel radioaktive Nanopartikel, die nach dem Einschlag der Munition frei werden und sich über Atemwege oder den Blutkreislauf, freilich auch über das Grundwasser, im menschlichen Körper verbreiten.11 Schätzungen über die Anzahl der infolge von abgereichertem Uran zu Tode gekommenen Menschen gehen weit auseinander. Nachdem die USA erst im März 2000, also fünf Jahre nach dem ersten Einsatz, überhaupt eingestanden, DU-Munition im Balkankrieg verschossen zu haben, betonten US-Vertreter gleichzeitig, dass davon keine Gefahr ausgehe. Diesem Befund schlossen sich im Wesentlichen die Internationale Atomenergiebehörde (IAEO) und das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) an. Letzteres meinte in einer Stellungnahme im März 2003, dass zweifelsfrei festgestellte erhöhte Krebsraten in Bosnien-Herzegowina „nur sehr unwahrscheinlich mit dem Gebrauch der DU-Munition […] in Zusammenhang gebracht werden können“.12 Die deutsche Bundesregierung antwortete im Jahr 2008 auf eine parlamentarische Anfrage der »Linken« über den Einsatz von DU-Munition in Afghanistan lapidar, ihr würden „keine eigenen Erkenntnisse zu möglichen Einsatzorten und -zeiten […] vorliegen“.13 Schweigen im Wald also, wenn es um die Folgen radioaktiver Verstrahlung von Kriegsgegnern geht.

Gesundheitsdesaster durch DU-Munition

Von serbischer Seite wurde die Aufarbeitung der Folgen von abgereichertem Uran nach dem Regimewechsel im Oktober 2000 systematisch boykottiert. Schon allein die Tatsache, dass die dafür zuständigen Stellen im Umweltministerium geschlossen wurden,14 zeigt, dass sich Belgrad nach Slobodan Milosevic mit der unangenehmen Vergangenheit nicht mehr beschäftigen wollte, um die von den neuen Eliten angestrebte Westintegration nicht zu gefährden.

Einer der wenigen Anhaltspunkte, wieviele Todesopfer DU-Munition fordert, findet sich in einem internen Bericht der britischen Atomenergiebehörde aus dem Jahr 1999. Dort wird – den Einsatz der radioaktiven Waffe im Irak betreffend – von zusätzlich 500.000 Krebstoten ausgegangen.15 Bezogen auf die Quantität der abgeschossenen Munition für das Gebiet Ex-Jugoslawiens würde das ein Mehr an 125.000 Krebstoten bedeuten.

Der jugoslawienweit mutmaßlich am stärksten von abgereicherter Uranmunition betroffene Ort ist die kleine, von Serben bewohnte Stadt Hadzici am Rande von Sarajewo. Nach den Angriffen 1995 stellten serbische Behörden eine Erhöhung von Radioaktivität um das 3.000-fache fest und evakuierten die gesamte Bevölkerung von 3.500 Personen ins Gebirgsstädtchen Bratunac.16 Zu spät, denn in den kommenden Jahren starb nach Recherchen des Filmemachers Frieder Wagner vom WDR ein knappes Drittel davon an Krebserkrankungen.17

Landminen – die gefährliche Erbschaft

Minentote können – anders als radioaktiv Verstrahlte – statistisch nicht versteckt werden. Zwischen 1996 und 2010 wurden allein in Bosnien-Herzegowina durch explodierende Landminen 498 Menschen getötet und 1.209 verstümmelt.18 Wer durch das Land fährt, bemerkt auch heute noch die zahlreichen gelb-roten Warnbänder an den Straßenrändern, auf denen Totenköpfe davor warnen, die Asphaltflächen nicht zu verlassen.

Bosnien ist das am stärksten verminte Land. Geschätzte 200.000 Minen blieben bis heute unentdeckt. Das in Sarajewo beheimatete »Mine Action Center« geht davon aus, dass insgesamt 1.270 Quadratkilometer bzw. 2,5% der Fläche des Landes vermint sind. Ausgelegt wurden die Landminen von allen Bürgerkriegsparteien. Sie finden sich vornehmlich in Bosnien und Kroatien. Die serbischen Kämpfer in der kroatischen Krajina waren besonders eifrig bei der Verminung von Landstrichen, was auch mit der geographischen und topographischen Lage der zu verteidigenden Gebiete zu tun gehabt haben dürfte. Denn das Siedlungsgebiet der kroatischen Serben, mittlerweile von dort vollständig vertrieben, war seit dem 16. Jahrhundert von den Habsburgern als »Militärgrenze« wie ein Band rund um osmanisches Gebiet gelegt worden und an manchen Stellen nur 40 Kilometer breit.19 Sowohl Kroatien als auch Bosnien-Herzegowina gehen davon aus, dass es mindestens bis ins Jahr 2019 dauern wird, die Entminung abzuschließen.

Posttraumatische Störungen

Auf ähnliche Schwierigkeiten wie bei der Quantifizierung der Strahlenopfer stößt man bei den posttraumatischen Störungen, die in weiten Teilen des Kriegsgebietes sowohl am Ort verbliebene als auch aus ihrer Heimat geflohene Menschen belasten. Eine von serbischen und amerikanischen Wissenschaftlern gemeinsam durchgeführte regionale Studie mag die Dimension andeuten, die monatelange Bombardements und gegenseitige Vertreibungen an psychischen Störungen verursacht haben: Während zweier Monate im Juli und August 2002 wurden Patienten in serbischen und kosovarischen Notfallstationen untersucht, die keine akut lebensbedrohliche Krankheit aufwiesen. Fazit: Bei der Hälfte von ihnen stellten die Ärzte posttraumatische Symptome wie z.B. Depressionen fest.20

Identität: Veteran

Eine weit verbreitete Art kompensatorischer Überhöhung erlebter Schrecklichkeiten findet mit der Definition von Kriegern – nach dem Kriegsgang – als »Veteranen« statt, also als Männer, die dem griechischen Wortstamm gemäß »aus dem Kampf« kommen. Die Gesellschaft perpetuiert damit ihre kriegerische Identität und stellt sie als wesentlich dar. Sämtliche Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien sind mit diesem Phänomen konfrontiert. Die Implikationen reichen von der Sozialpolitik bis zur Denkmalkultur: Veteran zu sein bedeutet, Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung zu haben.

Landauf, landab wurden steinerne Monumente errichtet, um der Krieger zu gedenken. Diese haben sowohl abstrakten wie auch konkreten Inhalt, heroisieren die (Un-) Taten der eigenen Gemeinschaft und erinnern an bestimmte Gefallene. Diese post-kriegerische Denkmalkultur ist weit verbreitet, besonders auffällig und zahlreich ist sie allerdings in Kroatien und im Kosovo vertreten. So etwa auf dem Zagreber Friedhof Mirogoj, der um mehrere Hektar erweitert wurde, um »für die Heimat« gestorbene Kämpfer Seite an Seite zu betten. Alle Gräber werden regelmäßig mit großen Kerzen des Verteidigungsministeriums bestückt, auf denen unübersehbar das symbolische Zeichen für den – angeblichen – Sinn des Todes prangt: die kroatische Schachbrettfahne. Auch antifaschistische Denkmäler aus der Zeit des Widerstandes gegen die Diktatur der Ustascha fanden im »Heimatkrieg« der frühen 1990er Jahre weitere Verwendung. Der Betrachter steht z.B. staunend vor einer Marmorplatte am Eingang der Schiffswerft von Rijeka, auf der die Namen der von den Ustaschi getöteten Arbeiter durch die Namen derjenigen ergänzt wurden, die „für die kroatische Unabhängigkeit im Kampf gestorben“ sind.

Kein Dorf und kaum eine Überland-Straßenkreuzung existiert im Kosovo, wo nicht der schwarze Adler auf rotem Grund eine Fahne ziert, die an Heldentode gegen Serbien erinnert. Als Ende 2012 ein großes albanisch-kosovarisches Kriegerdenkmal im nicht zum Kosovo gehörenden Presevo-Tal errichtet wurde, also auf kernserbischem, wiewohl mehrheitlich von Albanern besiedeltem Gebiet, drohte man in Belgrad mit dem Einsatz einer Sondereinheit. Ende Januar 2013, nach Gesprächen zwischen Belgrad und Prishtine, wurde die »Gedenkstele der albanischen Märtyrer« wieder abgetragen.

Auf andere Art erinnern Ruinen mitten in Belgrad an den Krieg der 1990er Jahre: Zwei völlig zerstörte Gebäude des serbischen Verteidigungsministeriums wurden 1999 von Cruise Missiles der NATO getroffen. Bis heute werden sie als Mahnmal gegen die Zerstörung so belassen.

Kriegsveteranen bestimmen nicht nur nationale Symbolik und zeithistorisches Gedenken, sondern sie mischen auch kräftig in der Politik mit. Pensionisten-Parteien werden vielfach von Veteranen betrieben. Entschädigungszahlungen und Kriegspensionen stehen im Mittelpunkt ihres politischen Interesses. Damit stoßen sie auch bei IWF und Weltbank auf Kritik, fordern doch die Weltfinanzorganisationen die Regierungen zum harten Sparen auf. Ausgaben für Veteranen stören dabei die Austeritätsmaßnahmen.

Strukturelle Schäden und soziale Verwerfungen

Die Balkankriege der 1990er Jahre haben freilich auch tiefe strukturelle Folgen gezeitigt. Eine wesentliche ist die Änderung der demographischen Verhältnisse sowohl in jenen Regionen, in denen gekämpft wurde, als auch in den benachbarten Ländern.

Die größten »ethnischen Säuberungen« betreffen die kroatische und die bosnische Krajina, die Republika Srpska und Kosovo. Serben (in der Krajina und im Kosovo) sowie Moslems (in der Republika Srpska) sind am meisten von Vertreibungen durch die jeweilige Gegenseite betroffen. Über die ethnische Komponente hinaus gab es auch Einschnitte von siedlungshistorischer Bedeutung. So sind weite Teile der früher von serbischen Bauern bewohnten Krajina heute menschenleer. Die Missgunst des – kroatischen – Kriegsgegners, ergänzt durch die Kargheit des Bodens, hat weite Landesteile veröden lassen und eine Wiederbesiedlung verhindert.

Vor allem der Krieg in Bosnien-Herzegowina führte letztlich auch zu einer Zwangsmobilisierung Hunderttausender Menschen, die das Land verließen und sich in Westeuropa, Nordamerika oder Australien ein neues Leben aufbauen müssen. Dies betrifft, anders als bei der Gastarbeitergenerationen seit Ende der 1960er Jahre, auch gesellschaftliche Eliten wie die technische Intelligenz, die der zerstörten Heimat beim Wiederaufbau besonders fehlen.

Wer nicht durch ethnische Vertreibung oder unmittelbare existenzielle Bedrohung zwangsmobilisiert wurde, der muss mit den Folgen des Krieges zu Hause leben. Soziale Differenz und regionale Disparität bestimmen den Alltag in vielfacher Weise. Ironischerweise waren es diese beiden Faktoren – die Verarmung weiter Teile der Bevölkerung und das zunehmende Auseinanderklaffen reicher und armen Republiken –, die in den 1980er Jahren zu gesellschaftlicher Unzufriedenheit und zunächst zu sozialen, dann zunehmend zu national gefärbten Protesten geführt hatten. Diese inneren Krisenerscheinungen wurden in der Folge von außen, vermittelt über die Schuldenpolitik des Internationalen Währungsfonds und später die geopolitischen Ambitionen des vergrößerten Deutschlands, dynamisiert. Mehr als 20 Jahre nach dem kriegerischen Auseinanderbrechen der multi-ethnischen südslawischen Föderation haben die regionalen Unterschiede sich in nationalen Grenzziehungen manifestiert und die sozialen Verwerfungen verstärkt. Die sozioökonomische Desintegration äußert sich symbolhaft im Umstand, dass in dem einstmals einheitlichen Wirtschaftsraum heute sechs Staaten (plus Kosovo) mit fünf verschiedenen Währungen existieren: In Slowenien, Montenegro und Kosovo gilt der Euro als Zahlungsmittel, in Bosnien-Herzegowina die Konvertible Mark, in Kroatien die Kuna, in Serbien der Dinar und in Makedonien der makedonische Denar.

Die Kleinstaaterei führte nicht zu einem regionalen Ausgleich. Vielmehr spiegelt sich im aktuellen Pro-Kopf-Einkommen die ungleiche Verteilung der späten 1980er Jahre wider, die mit zur Implosion der Föderation beigetragen hatte. Slowenien steht – wie vor 30 Jahren – mit einem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen von (nicht kaufkraftbereinigten) 17.000 Euro pro Jahr am besten da, Kosovo bildet wie gehabt mit 3.500 Euro das Schlusslicht.21 Die Differenz von 6:1 hat nicht nur regionale, sondern auch soziale Sprengkraft.

Mit Ausnahme Sloweniens haben die südslawischen Kriege zu einem ökonomischen Desaster geführt, das bis heute bei weitem nicht behoben ist. Anders als in ehemaligen Ländern des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe haben sich in den ex-jugoslawischen Republiken auch keine ausländischen Investoren im großen Stil eingefunden, die in die industrielle Produktion investiert hätten. Ausnahmen wie U.S. Steel im serbischen Smederevo haben ihre Fabrikstore oft nach kurzen Gastspielen wieder geschlossen.

Die Deindustrialisierung ließ alte Standorte in Serbien und Bosnien verwaisen. In Kroatien wiederum wird gerade die letzte industrielle Bastion des Landes ausgelöscht. Seitdem die Europäische Union anlässlich der Aufnahmegespräche mit Zagreb befunden hat, dass die kroatischen Werften auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig seien,22 ist ihre Schließung voll im Gange. Von den ursprünglich sechs Werften soll nur die ehemalige habsburgische Kriegsmarinewerft in Pula, »Uljanik«, bestehen bleiben.

Die Arbeitsplatzverluste schlagen sich auch statistisch nieder. Der Rückgang der Beschäftigten ist seit Kriegsausbruch dramatisch. Oftmals wurden bei Kampfhandlungen zerstörte Kombinate nicht wieder aufgebaut, wie z.B. im ehemals mustergültigen Single-Factory-Ort Borovo nahe Vukovar, der heute einer Ruinenlandschaft gleicht. Allein in Serbien haben seit 1990 17% der Beschäftigten ihre Arbeit verloren.23 Entsprechend katastrophal lesen sich auch die offiziellen Arbeitslosenstatistiken. Kosovo lag 2012 mit 44% Arbeitslosen an der Spitze, gefolgt von Makedonien mit 31%, Bosnien-Herzegowina mit 28%, Serbien mit 24% und Montenegro mit 20%. Auch Kroatiens 16,5%ige Arbeitslosenrate deutet nicht auf stabile soziale Verhältnisse hin, und die 9% in Slowenien müssen vor dem Hintergrund einer schweren Rezession interpretiert werden, die dem kleinen Adria-Anrainerstaat für 2013 ein negatives Bruttoinlandsprodukt von 1,5% voraussagt.24

Das Ende der europäischen Nachkriegsordnung

Mit den Bürgerkriegen in Ex-Jugoslawien und insbesondere mit dem völkerrechtswidrigen Eingriff der NATO im März 1999 ging auch die Epoche der europäische Ordnung nach 1945 zu Ende, die freilich schon mit dem Zusammenbruch des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe und des Warschauer Pakts einen wesentlichen Eckpfeiler verloren hatte. Die Auswirkungen der schleichenden Transformation vom – kodifizierten – Völkerrecht zum – schwammigen – Menschenrecht als zivilisatorische Grundlage sind unabsehbar. Dazu gehört, dass Krieg als Mittel der Politik wieder neue Legitimität erhalten hat. »Bomben für Menschenrechte« ist zur zynischen Losung des beginnenden 21. Jahrhunderts geworden, wobei dieser vorgeblich liberal-menschenrechtliche Bellizismus philosophisch von Denkern wie Jürgen Habermas und Bernard-Henry Levy25 begleitet wird. Die Intervention von außen in die jugoslawischen Bürgerkriege kann als Auftakt für diese Entwicklung gesehen werden.

Anmerkungen

1) Kurt Köpruner (2010):, Reisen ins Land der Kriege. Erlebnisse eines Fremden in Jugoslawien. Wien.

2) Vgl. Hannes Hofbauer (2013/2001): Balkankrieg – 10 Jahre Zerstörung Jugoslawiens. 4. Auflage, Wien.

3) Roug Rokke (2000): Einsatz von abgereichertem Uran: ein Verbrechen gegen die Menschheit; ag-friedensforschung.de.

4) UN Environment Programme (2003): Depleted Uranium in Bosnia and Herzegovina. Nairobi.

5) Bericht der Bundesrepublik Jugoslawien auf pregled-rs.rs/article.php?pid=176&id=17200; zitiert auf politonline.ch/index.cfm?content=news&newsid=853.

6) Wikipediaeintrag »Uranmunition«.

7) Ebenda.

8) »Oslobodjenje« vom 14. März 1996; vgl. auch: »Telegraf« vom 3. April 1996.

9) Siegwart-Horst Günther (1996): Uran-Geschosse: Schwergeschädigte Soldaten, mißgebildete Neugeborene, sterbende Kinder. Freiburg.

10) Interview mit Siegwart-Horst Günther, geführt von Brigitte Queck (Mütter gegen den Krieg) am 17. Februar 2012; tlaxcala-int.org.

11) Vgl. Frieder Wagner: Uranwaffen: Das größte Kriegsverbrechen unserer Zeit; hintergrund.de, 17.10.2008.

12) International Atomic Energy Agency: Depleted Uranium in Bosnia-Herzegovina. IAEA Staff Report, 27.3.2003.

13) Bundestagsdrucksache 16/8992 vom 25. April 2008.

14) Auskunft von Gordana Brun, Umweltberaterin der serbischen Regierung am 23. Mai 2001 in Belgrad.

15) »Independent« vom 22. November 1999.

16) Wikipediaeintrag »Hadžiæi«.

17) WDR-Bericht »Der Arzt und die verstrahlten Kinder von Basra« vom 28. April 2004.

18) Wikipediaeintrag »Bosnien und Herzegowina«, Abschnitt Minenlage«.

19) Vgl. Hannes Hofbauer (2004): Jugoslawische Zerfallslinien. Aktuelle Grenzen in historischer Perspektive. In: Joachim Becker/Andrea Komlosy (Hrsg.): Grenzen weltweit. Zonen, Linien, Mauern im historischen Vergleich. Wien, S.185ff.

20) Brett Nelson u.a. (2004): War-related psychological sequels among emergency department patients in the former Republic of Yugoslavia. BMC Medicine, Ausgabe 2,23. Zit. nach Christine Amrhein: Psychische Kriegsfolgen in Serbien auch heute noch zu spüren. Bild der Wissenschaft online, 1.6.2004.

21) Vasily Astrov u.a.: Double-dip Recession over, yet no Boom in Sight. Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, Current Analyses and Forecasts Nr. 11, März 2013.

22) Gespräch mit dem ortsansässigen Ökonomen der EU, David Hudson, in Zagreb am 2. August 2007.

23) Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (Hrsg.): Countries in Transition. Wien 1995, 2005, 2012; sowie eigene Berechnungen.

24) Vasily Astrov u.a., op.cit., S. vi.

25) Vgl. Hannes Hofbauer: Balkankrieg. op.cit., S.261 ff.

Hannes Hofbauer ist österreichischer Historiker und Verleger.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2013/2 Kriegsfolgen, Seite 23–26