W&F 2004/3

Ziviler Ungehorsam

Menschenrechtliches Aufbegehren im Rechtsstaat

von Arnold Köpcke-Duttler

Wie die Anerkennung einer moralischen Pflicht zum Rechtsgehorsam gehört die Feststellung der Grenzen dieser Pflicht und einer eventuellen Pflicht zu Ungehorsam und Widerstand zum Jahrtausende alten Nachdenken über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft (Staat). Allerdings taten und tun sich »beamtete« Nachdenker – d.h. die meisten – recht schwer mit dem zweiten Teil dieses Junktims. Man befürchtet vor allem, der Rückzug auf das Gewissen könne die sogenannte Kulturleistung des staatlichen Gewaltmonopols gefährden. Auch die Erfindung des »zivilen Ungehorsams« durch H.D. Thoreau konnte diese Befürchtungen kaum beschwichtigen. Der Verfasser des vorliegenden Beitrags beleuchtet vor diesem Hintergrund die Beziehung zwischen zivilem Ungehorsam und Rechtsordnung.

Um was es beim zivilen Ungehorsam im Kern geht, kann man kaum prägnanter zum Ausdruck bringen als mit den Worten Henry David Thoreaus (1817-1862): „Wenn aber das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten.“1

Die Umwandlung dieser persönlichen Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen in ein Mittel des politischen Kampfes ist im Wesentlichen Mohandas K. Gandhi (1869-1948) zu verdanken. Auf Gandhi geht auch die allgemeine Verbreitung des Ausdrucks »ziviler Ungehorsam« zurück, der zuvor nur im Zusammenhang mit dem Werk und der Lehre von Thoreau verwendet wurde und ursprünglich wahrscheinlich eine improvisierte Titelei seines posthumen Verlegers war.2 Gandhi fand im Übrigen bei Thoreaus nicht seine originäre Inspiration, wohl aber die Bestätigung dessen, was er bereits (in Südafrika) praktizierte – und eine ergiebige Zitatenquelle im Rahmen seiner Kampagnen. Mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem Protest gegen den Vietnam-Krieg erreichte der zivile Ungehorsam seine bisherige Höchstkonjunktur. Martin Luther King (1929-1968) war schon als Student durch den Text von Thoreau in einen ersten Kontakt mit der Theorie des gewaltfreien Widerstands gekommen. In der „direkten gewaltfreien Aktion“, von der er lieber sprach, um nicht den Aspekt der Gesetzesübertretung zu betonen, fand er drei zentrale Dimensionen des Lebens: Selbstfindung in der Dialektik von Selbstveränderung und Änderung der Lebensbedingungen, Dufindung in Anteilnahme und Geschwisterlichkeit und Hoffnung aus der Erkenntnis von Unfertigkeit und Unvollendetheit.3

Diese kurze Genealogie des Zivilen Ungehorsams ist im Folgenden zunächst insbesondere im Hinblick auf den Beitrag Gandhis zu ergänzen und zu vertiefen. In den beiden anschließenden Teilen des Beitrags sollen dann Fragen der Beziehung zum einfachgesetzlichen Recht und zum Verfassungsrecht thematisiert werden.

Gandhi und die Gewalt des Staates

Anregungen zu Gewaltfreiheit und Kooperationsverweigerung gegenüber der politischen Macht erhielt Gandhi auch von Lew N. Tolstois (1828-1910) christlichem Anarchismus und dessen Lehre vom Widerstehen im Nicht-Widerstehen.4 In der Nachfolge des russischen Dichters und Pädagogen heißt es auch bei Gandhi, der Staat verkörpere die Gewalt in einer konzentrierten und organisierten Form.5 Die Armee, die Polizei, die Gerichte werden als gewaltvolle Institutionen kritisiert. Zugleich proklamiert Gandhi, dass das Gewissen und das Gesetz Gottes über aller weltlichen Autorität stehen, auch über dem Urteil der Mehrheit. Die Spiritualität von »satyagraha«, der machtlosen Macht der Wahrheit und des Leidens, verband er im Wissen um die Unaufhebbarkeit der Gewalt mit einem selbstlosen Handeln und Nicht-Handeln. Ebenso wie Thoreau galt ihm die Regierung als beste, die am wenigsten regiert, vielleicht sogar nicht regiert. Diese Idee einer »aufgeklärten Anarchie« (Michael Blume) nannte Gandhi auch »ramaraj«: Herrschaft Gottes auf Erden. Dazu gehört auch, dem Gesetz den Gehorsam zu verweigern, wenn es zum Arm des Unrechts gegen einen anderen Menschen wird. Blume fasst Gandhis Hoffen und Handeln gegen alle Formen der Gewalt zusammen: Macht gehe nicht nur aus gesetzgebenden Versammlungen hervor; der Zivile Ungehorsam wird als Schatzkammer der Macht gesehen, genauer: einer machtlosen Macht.6

Politisch gesprochen geht es um aufgeklärte, gewaltfreie Herrschaftskritik, um den zivilen Ungehorsam als Menschenrecht und Menschenpflicht zugleich. Ein wahrer Demokrat sei, wer auf gewaltfreiem Weg seine Freiheit, die seines Landes und die der Menschheit verteidige. Solange der Mensch ein Mensch sei, müsse er sich hüten, das Recht auf zivilen Ungehorsam aufzugeben. Diese Form des Ungehorsams wird von jedem kriminellen Ungehorsam unterschieden. Versuche, den zivilen Ungehorsam zu unterdrücken, betrachtet Gandhi als gewaltförmiges Bestreben, die Freiheit des Gewissens einzusperren. Die Erkenntnis des »satyagrahi«, des gewissensbestimmt und gewaltfrei Ungehorsamen, dass der zivile Ungehorsam zur (heiligen) Pflicht wird, wenn der Staat selber gesetzwidrig agiert oder seine Gesetze rechtswidrig sind, ist für manche Juristen schwer zu ertragen. Gandhi zufolge kann das Recht auf zivilen Ungehorsam aber nicht aufgegeben werden ohne Verlust der Selbstachtung. Der gewaltfrei Ungehorsame verstoße öffentlich gegen ein Gesetz, dessen Befolgung er als menschliche Schmach erachte, und nehme die Strafe für diesen Bruch ruhig auf sich. Die Einsicht in ein Gesetz, nicht die Furcht vor ihm, geben Gandhi also einen Maßstab, wobei der Ungehorsam als Ausdruck der Stärke verstanden und verbunden wird mit dem Glauben an die Wirkkraft des unschuldigen Leidens. Der Zivile Ungehorsam ist gezeichnet von Mut und Tapferkeit und von strikter Disziplin: Den Horizont bildet ein konstruktives Programm gegen die Gewalt der alten Gesellschaft und des Staates, seine Stärke beruht auf der Gewaltfreiheit in Gedanken, Worten und Taten.

Eine eingehendere Diskussion, ob Gandhis Selbstdisziplin nicht mit Gewalt gegen sich selbst erfolgte und ob er mit seinem Fasten nicht Zwang ausübte, kann hier nicht geführt werden. Gandhi stellte sich jedoch diesen Fragen, wobei er die Kraft des Selbst-Leidens von einem gegen sich selbst gewandten Zwang unterschied und beide von jenem Zwang, der in der Ausübung verletzender Macht gegen eine Person liegt, die zu einem bestimmten Verhalten gedrängt wird. Wer das Ziel des Fastens als egoistisch bestimmt ansehe, solle sich weigern, diesem Motiv nachzugeben, sich der Ausübung des Zwangs enthalten.

Ziviler Ungehorsam und Rechtsnormen

Der Rechtsphilosoph Arthur Kaufmann hat mit einem Seitenblick auf Martin Luther King gemahnt, Gewaltlosigkeit und Frieden seien nicht mittels Gewalt zu haben. Jedes ungeduldige Erzwingenwollen der Gewaltlosigkeit und des Friedens bedeute eine Niederlage für die Sache.7 Skeptisch gegenüber einer Vergeistigung des Gewaltbegriffs im Strafrecht – insbesondere dann, wenn sie sich immer weiter ausdehnt –, deutet Kaufmann darauf, dass mit Gewalt zwar nicht unbedingt ein rohes, wohl aber ein aggressives Verhalten gemeint sei, durch das Leib oder Leben der angegriffenen Person beeinträchtigt oder unmittelbar geschädigt werde. Ein bloßes Dasitzen stelle keine Gewalt dar.8 Falls eine demonstrierende Gruppe, die, um sich Gehör zu verschaffen, die ganze Breite einer Fahrbahn einnehme, Gewalt ausübe, sei auch eine Fronleichnamsprozession ein Gewaltakt. Jeder Mensch werde das als unsinnig bezeichnen. Kaufmann beurteilt Sitzstreiks von Gegnern der Nachrüstung, passiven Widerstand gegen die Stationierung von Raketen nicht als gewalttätige Nötigung, nicht als Entfaltung körperlicher Kraft gegen andere Menschen. Hellsichtig weist er nach, dass die Rechtsprechung – selbstwidersprüchlich – bei Vergewaltigung nie nur auf die Wirkung beim Opfer, auf das Empfinden der Frau abgestellt habe.

Diese Kritik einer selektiven Wahrnehmung von Gewalt bedeutet freilich keine Zustimmung zu rohem Handeln und zur Leugnung der Opferperspektive; vielmehr geht es um ein neues Durchdenken des Gewaltbegriffs auf dem Feld des Strafrechts: Ein passives, nicht-aggressives Verhalten ist keine Gewalt im strafrechtlichen Sinn. In einem tiefer gehenden Sinn konnte Gandhi auch Spuren der Gewalt z.B. in einem Sitzstreik von Studenten entdecken, die andere Menschen durch ihr Verhalten zwingen, sie – wider Willen – zu verletzen oder körperlich zu bedrängen. Eine solch hohe Empfindlichkeit gegenüber subtilen Formen der Gewalt mag Gandhi besessen haben; doch für das Strafrecht als äußerliche Regelung menschlicher Freiheitssphären ist dieser Maßstab zu hoch angesetzt.

Kaufmann bezweifelt die menschliche Fähigkeit, einen Zustand völliger Gewaltlosigkeit zu erlangen; dieser sei eine unerreichbare Utopie.9 Doch die Unerreichbarkeit ist wie bei Gandhi gerade der Anreiz dafür, die Gewalt – auch die subtile – weiter zu begrenzen. Kaufmann fügt an, einen (Rechts-) Staat, in dem die Gerechtigkeit vollständig verwirklicht sei, könne es ebenfalls nicht geben. In einem Rechtsstaat sei die Anwendung von Gewalt nur in den gesetzlich vorgesehenen Fällen erlaubt: Notwehr, Nothilfe, Widerstand gegen unrechtmäßige Staatsgewalt. Der Rechtsphilosoph bekräftigt in seinem Buch »Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden«, gegen rechtmäßige Akte von Staatsorganen sei Gewalt niemals erlaubt, auch nicht in der schillernd »ziviler Ungehorsam« genannten Form. Diesen Standpunkt vertritt er gerade deshalb, weil er den Unrechtsstaat des Nationalsozialismus erlebt hat und den Widerstand dagegen von Protestaktionen zu unterscheiden weiß. Er plädiert vor allein für gewaltfreie Methoden der Konfliktlösung im zwischenstaatlichen Bereich.

In seiner »Rechtsphilosophie« hat Kaufmann seine Ablehnung des Zivilen Ungehorsams korrigiert. Entgegen jenem Positivismus, der jedes Gesetz für geltendes Recht erachtet, zeigt er, dass positives »Recht« auch Nicht-Recht, gesetzliches Unrecht, sein kann. Unterschieden wird dann zwischen dem Widerstand, dem Recht auf Widerstand, gegen einen Unrechtsstaat und der Kritik an einzelnen ungültigen Gesetzen in einem Rechtsstaat. Im ersten Fall gehe es um den Widerstand gegen eine illegitime Obrigkeit („großer Widerstand“), im zweiten um den Widerstand im Rechtsstaat, den zivilen Ungehorsam („kleiner Widerstand“).10

Das Widerstandsrecht in einem Unrechtsstaat, den Widerstand gegen eine Tyrannis erörtere ich hier nicht.11 Ich gebe nur zu bedenken, dass die Entgegensetzung »hier Rechtsstaat, dort Unrechtsstaat« eine Simplifizierung darstellt, dass kein Rechtsstaat der Gefahr einer Perversion zum Unrechtsstaat entronnen ist, dass jede Obrigkeit Unrecht verschuldet. Bei einem Widerstandsrecht im Rechtsstaat, insbesondere beim Zivilen Ungehorsam, nimmt Kaufmann Gandhis Anspruch auf, dieser Ungehorsam habe gewaltlos zu sein; der Ungehorsame müsse die ihm zugeteilte Strafe annehmen.

Ist nun der Zivile Ungehorsam etwas Rechtswidriges, etwas Gesetzwidriges? Diese Frage bejaht Kaufmann. Mit John Rawls wird bei zivilem Ungehorsam gegenüber einer rechtmäßigen demokratischen Gewalt von einem Pflichtenkonflikt gesprochen – einem Konflikt zwischen der Pflicht, sich den von dem Gesetzgeber (der Mehrheit) beschlossenen Gesetzen zu fügen, und der Pflicht, Ungerechtigkeiten zu widerstehen. Rawls definiert den zivilen Ungehorsam als öffentliche, gewaltfreie, gewissensbestimmte, gesetzwidrige Handlung, die eine Änderung der Gesetze oder der Politik der Regierenden herbeiführen soll.12 Als Ungehorsam gegenüber dem Gesetz innerhalb der Gesetzestreue bewege er sich an deren Rand. Das Gesetz wird gebrochen gemäß dem Sinn von Gerechtigkeit. Die Treue zum Gesetz wird deutlich in dem öffentlichen und gewaltfreien Charakter der Handlung und in der Bereitschaft, die gesetzlichen Folgen auf sich zu nehmen.

Andere sehen den zivilen Ungehorsam dann als grundrechtlich gerechtfertigt an, wenn er sich gegen schwerwiegendes Unrecht richtet, gewaltlos und verhältnismäßig ist.13 Wie sein Lehrer Gustav Radbruch spricht Kaufmann klarer von einem gesetzlichen Unrecht, dem widersprochen werden soll. Auch im Rechtsstaat gebe es Akte erlaubter (und gebotener?) Auflehnung gegen Unrecht, begründet im „Widerstandsrecht der kleinen Münze.“14

Der zivile Ungehorsam sucht nach einem übergesetzlichen Recht in seinen Akten praktischer Vernunft, in seinem der Angst abgerungenen Mut, der Tapferkeit, die mit den Tugenden der Klugheit, der Gerechtigkeit und des Maßes verbunden ist. Der Zivile Ungehorsam soll menschenfreundlich sein, anders als der große, heroische und oft scheiternde Widerstand ist er beständig zu tun, damit der große Widerstand nicht nötig wird. Deutlich wird darin, dass das Widerstehen ein Grundzug des Rechts selber werden, dass der leidende Gehorsam zum Ungehorsam transzendieren kann. Das Widerstehen gehört von innen zum Recht selber. Das kann in Handlungen wie Sitzblockaden deutlich werden, die in der Strafrechtsprechung viel zu oft noch als Nötigung geahndet werden. Doch fehlt hier der Raum, Einzelheiten der Rechtsprechung näher nachzugehen.

Ziviler Ungehorsam und Verfassungsrecht

Auf der verfassungsrechtlichen Ebene wird dem zivilen Ungehorsam nur geringe Aufmerksamkeit zugewandt. Mit der sog. Notstandsverfassung wurde in das Grundgesetz ein Art. 20 Abs. 4 aufgenommen, ein positiviertes Recht auf Widerstand gegen jeden, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung der Bundesrepublik zu beseitigen. Ein solches limitiertes Recht verdankt sich einem menschenrechtlichen Irrtum, denn das Recht auf Widerstand kann gerade nicht positiv festgelegt werden, sondern entzieht sich dieser Bestimmung. Versuchen, Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes als Legalisierung des zivilen Ungehorsams zu deuten,15 halten manche Staatsrechtler entgegen, damit würde einer Reprimitivierung des Rechts und einem kulturellen Rückschritt Bahn gebrochen. Andere betonen, auf Grund der Sonderstellung des Widerstandsrechts (in der Beschränkung des Art. 20 Abs. 4) erfasse dieses gerade nicht den zivilen Ungehorsam. Einer Norm des positiven Rechts aus Gewissensgründen die Gefolgschaft zu verweigern, sei schon wegen der Inkaufnahme der Rechtsfolgen eine Bestätigung der positiven Rechtsordnung im Ganzen. Als politischer Appell zu deren punktueller Verbesserung könne solche Widerständigkeit zwar moralisch legitim, nicht aber verfassungsrechtlich legal sein. Der zivile Ungehorsam entbehre definitionsgemäß jeder Rechtfertigung durch das Recht; als symbolischer Akt könne er allenfalls eine moralische Rechtfertigung finden. Als öffentliche, gewaltlose, gewissensbestimmte Handlung schließe er den vorsätzlichen Bruch einzelner Rechtsnormen ein, ohne dass der Handelnde der Rechtsordnung als ganzer den Gehorsam versage.16

Dieser schnellen Verbannung in den Bereich der Moralität ist zu entgegnen, dass der gewaltfreie öffentliche Protest gegen ein schwerwiegendes Unrecht und die Kritik eines öffentlichen Missstandes gehalten sind von der Unabgegoltenheit und Verletzbarkeit der Menschenrechte.17 Im Wissen darum, dass das Grundgesetz kein lückenloses Schutzsystem bilden kann, begründet der Rechtsphilosoph Ralf Dreier die Rechtfertigung des zivilen Ungehorsams so. „Wer allein oder gemeinsam mit anderen öffentlich, gewaltlos und aus politisch-moralischen Gründen den Tatbestand einer Verbotsnorm erfüllt, handelt grundrechtlich gerechtfertigt, wenn er dadurch gegen schwerwiegendes Unrecht protestiert und sein Protest verhältnismäßig ist.“18 Der Protest gegen ein schwerwiegendes Unrecht und die Kritik eines öffentlichen Missstandes bekunden ein Element direkter Demokratie und die Fehlbarkeit einer repräsentativen Staatsordnung.

Der Rechtsstaat, der seine eigene Unvollkommenheit ignoriert, verkehrt sich in autoritären Legalismus. Ohne ihrerseits einem elitären Gestus zu verfallen, sollten die gewaltfrei Ungehorsamen zeigen, dass die Grundregeln eines menschlichen Zusammenlebens nicht verwirklicht sind, ihre öffentliche Verwirklichung noch aussteht. Die begrenzte Regelverletzung deutet auf die Gefahr, dass auch ein Rechtsstaat – gewissermaßen gegen sich selbst – seine Grundlagen vergessen und ignorieren und Züge einer Unrechtsordnung annehmen kann. Angesichts dieser Gefahr zeigt der skeptisch nach Zivilität Suchende, dass ein öffentlicher Raum der Bildung der Menschlichkeit nicht einfach feststeht. Im Horizont kritischer Vernunft klagt der gewaltfreie Ungehorsam die Offenheit der Demokratie ein, erinnert an die Unabgegoltenheit der politischen Idee der Demokratie als Macht der Selbstregierung. Deutlich wird im zivilen Ungehorsam, dass der Sinn für die Antastbarkeit der Menschenrechte stets wach zu halten ist angesichts der Gefahr, die Demokratie in Selbstgerechtigkeit zu einer Staatsform unter anderen erstarren zu lassen und den offenen Prozess der Demokratisierung zu verdinglichen.

Anmerkungen

1) Thoreau, H.D. (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich, Diogenes, S. 18.

2) Mellon, C. (o.J.): Die Geschichte eines Begriffes von Thoreau bis in unsere Tage. In Komitee für Grundrechte und Demokratie (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam – Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven. Sensbachtal, Herausgeber, S. 47ff.

3) vgl. Schultz, H.J. (1982): Martin Luther King. In H.J. Schultz (Hrsg.): Liebhaber des Friedens. Stuttgart, Kreuz, S. 326f.

4) Tolstoi seinerseits dienten das Vorbild und die Schriften Thoreaus dazu, seine eigenen Ideen zu illustrieren; vgl. Mellon, C. (o.J.), s. Anm. 2.

5) vgl. Tolstoi, L.N. (1893): Das Reich Gottes ist inwendig in euch. Religionskritische und gesellschaftskritische Schriften. Bd. 9. München, Diederichs.

6) Blume, M. (1987): Satyagraha. Wahrheit und Gewaltfreiheit, Yoga und Widerstand bei M.K. Gandhi. Gladenbach, Hinder & Deelmann, S. 110f.

7) Kaufmann, A. (1986): Gerechtigkeit – der vergessene Weg zum Frieden. München, Piper, S. 87; Kaufmann, A. (1984) Martin Luther King – Gedanken zum Widerstandsrecht. In ders., Rechtsphilosophie im Wandel: Stationen eines Weges. Köln, Heymanns, S. 251ff.

8) Das bekannte Urteil des Landgerichts Köln vom 31.10.1968, seine Aufhebung durch den Bundesgerichtshof am 8. August 1969 und die weitere Judikatur können hier nicht zusammengefasst werden.

9) Kaufmann, A. (1984): Gesetz und Evangelium. In R. Hauser (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Peter Noll. Zürich, Schulthess, S. 61 ff. Hier geht es um die Tugend der Epikie (Billigkeit), die das Gesetz berichtigt in Fällen, in denen es wegen seiner Allgemeinheit vor dem Anspruch der Menschlichkeit versagt.

10) Kaufmann, A. (1991): Vom Ungehorsam gegen die Obrigkeit: Aspekte des Widerstandsrechts von der antiken Tyrannis bis zum Unrechtsstaat unserer Zeit, vom leidenden Gehorsam bis zum zivilen Ungehorsam im modernen Rechtsstaat. Heidelberg, Decker und Müller.

11) s. Köpcke-Duttler, A. & Metz, G. (Hrsg.) (1988): Vom Recht des Widerstehens: neue Perspektiven zu einem alten Dilemma. Mit einem Vorw. von Arthur Kaufmann. Frankfurt/M., Haag und Herchen.

12) Rawls, J. (1979): Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 399 ff.

13) Dreier, R. (1983): Widerstand und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. In P. Glotz (Hrsg.), Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 54 ff.

14) Kaufmann, A. (1984): Das Widerstandsrecht der kleinen Münze. In W. Krawietz (Hrsg): Objektivierung des Rechtsdenkens. Gedächtnisschrift für Ilmar Tammelo. Berlin, Duncker und Humblot, S. 85ff.

15) Z.B. Dreier, R. (1991): Recht – Staat – Vernunft. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 39f.

16) Dolzer, R. (1992): Der Widerstandsfall. In J. Isensee & P. Kirchhof (Hrsg.): Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VII. Heidelberg, Müller, S. 469 f.

17) Köpcke-Duttler, A. (o. J.): Ziviler Ungehorsam. In Komitee für Grundrechts und Demokratie (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam – Traditionen, Konzepte, Erfahrungen, Perspektiven Sensbachtal, Herausgeber, S. 313 ff.

18) Dreier, R. (1983): Widerstandsrecht und ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. In P. Glotz (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Frankfurt/M., Suhrkamp, S. 60; vgl. a. Jürgen Habermas, J. (1983): Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat, ebd. S. 5

Prof. Dr. Arnold Köpcke-Duttler ist Rechtsanwalt und Diplom-Pädagoge.

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