Ziviler Widerstand im Kosovo
von Christine Schweitzer
Zu den Selbstverständlichkeiten des »militärgläubigen« friedens- und sicherheitspolitischen Mainstreams gehört zweifelsohne, die Effektivität gewaltfreien zivilen Widerstands in Frage zu stellen. Auch wenn die Mainstreamer sich im Hinblick auf ihr eigenes Überzeugungs- und Wertesystem (und dessen Auswirkungen!) nicht annähernd vergleichbar kritisch gebärden, sollten VertreterInnen der aktiven Gewaltfreiheit sich diesen Fragen doch stellen. Gerade bei offensichtlichem Misserfolg kann ein »zweiter Blick«, eine nähere Untersuchung der Umstände und Bedingungen des Versagens, aufschlussreich und fruchtbar sein. In Form einer Art erweiterter Besprechung einer einschlägigen Monographie von H. Clark wirft Christine Schweitzer im Folgenden einen solchen »zweiter Blick« auf die Entwicklung im Kosovo zwischen 1989 und 1997.
Schon beinahe vergessen ist, dass der Kosovo1 nicht nur Schauplatz des ersten Kriegs der NATO ohne ein Mandat der Vereinten Nationen gewesen ist, sondern auch eins der eindrucksvollsten Beispiele zivilen Widerstandes in Europa darstellt. Ungefähr von Sommer 1989 bis Herbst 1997 versuchten die albanischen Kosovaren, durch ausschließlich gewaltfreie Mittel der serbischen Gleichschaltung nach Aufhebung der Autonomie 1989 zu entgehen und ihr Ziel der Unabhängigkeit des Kosovo durchzusetzen. Auf den ersten Blick scheint der zivile Widerstand im Kosovo keine Erfolgsgeschichte zu sein. Er blieb letztlich erfolglos, während der nachfolgende bewaffnete Kampf 1998-1999 dazu führte, dass die Kosovo-Albaner der Unabhängigkeit von Serbien ein Stück näher gekommen sind, wenngleich um den Preis vorübergehender Vertreibung und von Krieg. Ist dies also wieder ein Beleg dafür, dass Gewaltfreiheit doch nichts bringt?
Keine eindeutigen »Lehren aus der Geschichte«
So eindeutig sind die Lehren nicht, die aus dieser Geschichte gezogen werden können. Zum einen ist die Tatsache als solche beachtenswert, dass über sieben oder acht Jahre hinweg ziviler Widerstand von quasi einem ganzen Volk getragen und trotz zahlloser Provokationen und fortdauernder Menschenrechtsverletzungen durch die serbische Polizei aufrecht erhalten wurde. Und dies in einem zeitgeschichtlichen und kulturellen Umfeld, das wie wenig andere von Krieg und Gewalt geprägt war. (Man denke an die zeitgleichen Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina.) Dem von Präsident Ibrahim Rugova angeführten Widerstand gelang es, die Unterdrückung durch das serbische Regime nicht zum Alltag werden zu lassen und gleichzeitig das Ausbrechen eines Krieges zu verhindern zu einer Zeit, als die internationale Aufmerksamkeit in erster Linie auf Bosnien gerichtet war und deshalb wenig Hilfe und Unterstützung von Dritten erwartet werden konnte.
Zum Zweiten hatte der zivile Widerstand – vergleicht man ihn mit anderen historischen und gegenwärtigen Beispielen, die erfolgreicher waren – einige entscheidende inhärente Schwächen, die sein letztendliches Versagen im Grunde schon früh andeuteten. Dazu unten mehr.
Zum Dritten spielt auch in dieser Phase die sog. Internationale Gemeinschaft eine sehr unrühmliche Rolle. Sie versagte darin, den Ernst der Lage richtig einzuschätzen und erkannte den zivilen Widerstand nicht als Form der politischen Auseinandersetzung – es blieb ja scheinbar alles »friedlich«. Der Kosovo wurde allein als ein Problem der Menschenrechte, aber nicht als Schauplatz eines Unabhängigkeitskampfes gesehen. Druck zu handeln wurde erst empfunden, als 1998 die Kämpfe zwischen der erstarkten Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) und dem serbischen Militär und der Sonderpolizei zu Hunderttausenden von Binnenflüchtlingen führten. Ein Druck, der bekanntlich dann zur NATO-Intervention und der anschließenden Unterstellung des Kosovo unter ein Quasi-Protektorat der UNO führte.
Aus all diesen Gründen lohnt es sich, die Phase des gewaltfreien Widerstandes näher zu betrachten. Hierzu ist 2003 eine exzellente Studie des englischen Aktivisten und Kosovo-Kenners Howard Clark in deutscher Sprache erschienen.2 Das Buch, das für die deutsche Ausgabe vom Autor mit einem neuen Nachwort versehen wurde, untersucht die Phase des zivilen (gewaltfreien) Widerstands der Kosovo-Albaner. Clark beschreibt die verschiedenen Stationen des Kampfes, die Stärke und das Potential dieser Bewegung, wie auch ihre Grenzen und Schwächen. Schließlich geht er auch auf das Versagen der internationalen Diplomatie ein und wagt in dem Nachwort einen Rückblick auf die Bewegung aus heutiger Sicht.
Besonderheiten des kosovo-albanischen Widerstands
Der Widerstand der Kosovo-Albaner konzentrierte sich auf die Schaffung paralleler Institutionen und wurde von praktisch der gesamten Bevölkerung mit getragen. Trotz seines letztendlichen Misserfolgs ist er ein beeindruckendes Beispiel dafür, über welch langen Zeitraum eine gewaltlose Strategie aufrechterhalten werden kann. Dabei war er anfangs durchaus nicht vorhersehbar. 1988 erwarteten die meisten Beobachter der Situation eine Intifada, nicht gewaltfreien Widerstand. Die Entscheidung für Gewaltfreiheit stellte eine rein pragmatische Entscheidung dar, wobei einige der Führer der Kosovo-Albaner mit den Theorien von Gandhi u. a. vertraut waren. Howard Clark macht vier Gründe für diese Entscheidung aus:
- Erfahrung mit den Massendemonstrationen 1981, die mit viel Gewalt niedergeschlagen wurden;
- ein Streik der Bergleute 1989, der viel Eindruck machte;
- eine von StudentInnen initiierte Versöhnungsbewegung unter den Kosovaren, bei der 2.000 Familien bis 1993 das Ende der Blutrache verabredeten und
- die Entwicklung von 1989 (Bürgerrevolutionen als »Erfolgsgeschichten«).
Der gewaltfreie Widerstand konzentrierte sich auf den Aufbau eines parallelen, von Albanern getragenen Systems. Öffentliche Aktionen (Demonstrationen z.B.) wurden nach 1991 als zu gefährlich betrachtet. Man fürchtete – im Nachhinein kann man sagen, zu Recht –, dem serbischen Regime einen Vorwand für gewaltsames Durchgreifen zu liefern. Das parallele System konzentrierte sich auf die drei Bereiche Schule, Gesundheitswesen und Regierung.
In den Schulen war im August 1990 ein serbisches Curriculum erlassen worden. Die albanischen LehrerInnen weigerten sich, der Lehrplanänderung Folge zu leisten und unterrichteten weiter gemäß dem alten Curriculum. Daraufhin entließen die serbischen Behörden alle Schuldirektoren und zahlten keine Löhne mehr aus. Zu Beginn des nächsten Schuljahres (September 1991) stand dann die Polizei vor den Schulen und verweigerte den albanischen SchülerInnen den Zutritt zu ihren Schulen. Daraufhin begann die albanische Führung mit dem Aufbau von Schattenschulen, die zuletzt von 220.000 SchülerInnen besucht wurden, die von 19.000 LehrerInnen unterrichtet wurden. (In der Mehrzahl handelte es sich hierbei um weiterführende Schulen, nachdem die Hauptschulen ein Jahr später wieder eröffnet wurden.) Ebenso wurde die albanisch-sprachige Universität in Pristina geschlossen; auch sie wurde illegal fortgeführt und hatte zuletzt 16.000 StudentInnen. Trotz dieser beeindruckenden Zahlen muss allerdings festgestellt werden, dass – zwangsläufig – die Qualität des Schul- und Universitätsunterrichts abfiel und dass der Schulbesuch vor allem von Mädchen wieder zurückging, nachdem der Gedanke, dass auch Mädchen formale Bildung genießen sollten, erst in den letzten Jahrzehnten hatte verankert werden können.
Ein zweiter Schwerpunkt lag auf dem Gesundheitswesen, nachdem die meisten albanischen ÄrztInnen ihre Arbeit in den Krankenhäusern verloren und die Behandlung grundsätzlich in serbischer Sprache erfolgen musste. Viele der entlassenen Ärzte engagierten sich, oftmals ehrenamtlich, bei der humanitären Organisation »Mutter Theresa«, die in erster Linie Ambulanzen aufbaute. Allerdings funktionierte das alternative Gesundheitssystem nicht besonders gut. Die Kindersterblichkeit stieg, viele Krankheiten (Lungenkrankheiten z.B.) stiegen ebenfalls drastisch an und auch hier wurden Frauen besonders Opfer, da Geburten nicht mehr in den Krankenhäusern, sondern zu Hause stattfanden und mit hohem Risiko behaftet waren.
Das dritte Hauptelement des Widerstandes war die Errichtung eines parallelen politischen Systems. Es fanden zweimal Wahlen zu einem kosovo-albanischen Parlament statt (das allerdings nie zusammentrat) und ein funktionierendes Verwaltungs- und Regierungssystem wurde eingerichtet.
Grenzen und Schwächen der Widerstandsbewegung
Allerdings, und dies kann als eine der zentralen Schwächen des Widerstandes angesehen werden und wohl als einer der Gründe, warum er letztlich zusammenbrach, fehlte eine Strategie, wie die Ziele – die Unabhängigkeit von Serbien/Republik Jugoslawien – aus eigener Kraft hätten erreicht werden können. Stattdessen setzte man von Anfang an auf die internationale Gemeinschaft, die dem Kosovo die Selbstständigkeit geben und durch die Stationierung von Truppen absichern sollte.
Eine zweite Schwäche des Widerstandes war seine Passivität. Der Alltag ging weiter, ohne dass Veränderungen sichtbar wurden und ohne dass besondere Akte des Widerstands durchgeführt werden konnten. Hier zeichnete sich erst 1997 eine Veränderung ab, als die StudentInnen in Pristina mit Demonstrationen für die Wiedereröffnung von Schulen und der Universität begannen. Zur gleichen Zeit begannen allerdings auch die gewaltsamen Aktivitäten der Kosovo-Befreiungsarmee, der anderen Antwort auf den Stillstand der politischen Entwicklung.
Ein drittes kritisches Element war das Fehlen jeglicher Dialogbereitschaft mit dem Gegner. Lange Zeit galt jeder Kontakt, auch zu serbischen Oppositionellen, als verratsverdächtig. Ebenso suchte man z.B. auch bei den Studentenprotesten 1997 vergeblich Transparente in serbischer Sprache.
Als Fazit lässt sich festhalten, dass der gewaltfreie Widerstand im Kosovo versagte, weil es ihm nicht gelang, den Konflikt (gewaltlos) so zu eskalieren, dass die Gegenseite gezwungen worden wäre, nach einer Lösung zu suchen. Dies schaffte erst die UCK, deren Terrorakte die serbische Polizei und das Militär zu massiven Gegenaktionen veranlasste, was dann seinerseits die internationale Gemeinschaft auf den Plan rief, die zuvor eher geneigt war, die Vorgänge im Kosovo als interne Angelegenheit Serbiens bzw. Jugoslawiens anzusehen. Die Frage des Status des Kosovo ist immer noch nicht geklärt – anstatt der Herren aus Belgrad haben jetzt die Vereinten Nationen und die NATO das Sagen, doch zweifeln nur wenige Beobachter daran, dass, was immer im Einzelnen die völkerrechtlichen Regelungen sein werden, der Kosovo gewiss nicht mehr nach Serbien zurückkehren wird.
Anmerkungen
1) »Kosovo« wird hier als die internationale Schreibweise des Namens benutzt. Im Albanischen heißt er »Kosova«.
2) Clark, Howard (2003): Ziviler Widerstand im Kosovo. Hrsg. Institut für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung, Kassel, Weber & Zucht, 304 Seiten, 20 EUR.
Christine Schweitzer (Hamburg) arbeitet als Mitarbeiterin des Instituts für Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung an einer Studie über Interventionen im Raum des ehemaligen Jugoslawien und für die internationale NGO Nonviolent Peaceforce.