W&F 2017/4

Zivilgesellschaft und Konfliktlösung

Überlegungen zum Konzept der Volksdiplomatie

von Cécile Druey

Bewaffnete Konflikte, vor allem diejenigen, die sich über eine lange Zeitperiode erstrecken, werden nicht selten mit dem dramatisch klingenden englischen Beinamen »protracted« oder »verschleppt« beschrieben. Ihnen beizukommen ist besonders schwierig. So wurde in der Friedensarbeit der vergangenen Jahrzehnte ein breites Spektrum an Instrumenten entwickelt, die nachhaltige Rahmenbedingungen dafür schaffen wollen, dass die Gewalt nicht wieder aufflammt. Innerhalb des riesigen Feldes der Friedensförderung konzentriert dieser Beitrag sich auf Mediations- und Dialogprozesse und auf die Rolle der Zivilgesellschaft in diesen – was natürlich nicht heißt, dass dies die einzigen Werkzeuge sind, die zum Aufbau des Friedens benötigt werden.

Eine nützliche Verständnishilfe für den Beitrag von Dialog und Mediation zum Frieden ist das Track- oder Schienen-Modell. Dieses wurde Anfang der 1980er Jahre vom US-Diplomaten Joseph Montville entwickelt und unterscheidet zunächst zwei verschiedene Ebenen oder »Tracks« von Friedensinterventionen: Offizielle bzw. staatlich getriebene Friedensbemühungen finden auf Track 1 statt; die inoffiziellen, nicht-staatlichen bewegen sich auf Track 2 (Montville and Davidson 1981). In den folgenden Jahrzehnten wurde Montvilles Modell um weitere Ebenen der Friedensförderung ergänzt, insbesondere um Track 3, der öfters auch als »Volksdiplomatie« bezeichnet wird.

Ziele, Akteure und methodische Ansätze der verschiedenen Tracks in Mediations- und Dialoginitiativen unterscheiden sich stark. Dennoch sollten sie nicht als Gegensätze zueinander gesehen werden, sondern als einander ergänzend.

Interventionen auf Track 1 sind ein Werkzeug der klassischen Friedensvermittlung, eine „Technik des staatlichen Handelns, [die] im Wesentlichen ein Prozess ist, bei dem die Kommunikation von einer Regierung direkt an den Entscheidungsapparat eines anderen gerichtet ist“ (Said and Lerche 1995, S. 69). Auf dieser Ebene ist die Zivilgesellschaft meist nicht vertreten. Vielmehr werden hier offizielle Vertreter*innen der Konfliktparteien an einen Tisch gebracht, wobei die Treffen in der Regel von externen Mediator*innen einberufen werden, die selber wiederum offiziell handeln, d.h. als Repräsentant*innen eines Staates oder einer multilateralen Organisation. Ziel dieser offiziellen Prozesse ist es, Gewalt zu stoppen und eine Einigung zu spezifischen, für die Konfliktparteien wichtigen Themen zu erzielen, beispielsweise zu Territorialfragen. Idealerweise mündet eine solche Vermittlung in einer offiziellen, für die Parteien rechtlich verbindlichen Vereinbarung.

Offizielle Friedensgespräche, besonders wenn sie ins Stocken geraten, werden nicht selten ergänzt durch informelle, vertrauliche Verhandlungen zwischen einflussreichen Vertreter*innen der Konfliktparteien, die jedoch nicht zwingend selber an offiziellen Gesprächen teilnehmen. Hier kann auch die Zivilgesellschaft vertreten sein. Das Ziel solcher Track-1,5-Aktivitäten ist es, Vertrauen aufzubauen, Antworten auf knifflige Fragen zu finden und Möglichkeiten für Kompromisse auszuloten. Die Verhandlungen sind jedoch weder offiziell noch rechtlich bindend, weshalb die Teilnehmenden auch weniger unter Druck geraten.

Vermittlungsinitiativen auf Track 2 finden parallel zu Regierungsgesprächen statt und wurden von den Vordenkern des Konzepts als inoffizielle, informelle Interaktion zwischen Mitgliedern von Gegnergruppen oder Nationen“ definiert, die beabsichtigen, „Strategien zu entwickeln, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und menschliche und materielle Ressourcen in einer Weise zu organisieren, die einer Beilegung des Konflikts förderlich ist“ (Montville 1990, S. 162). Initiativen auf Track 2 bringen zivilgesellschaftliche Führungspersönlichkeiten aus den Konfliktparteien zusammen, wie ehemalige Politiker*innen, religiöse Führungspersönlichkeiten, Künstler*innen, Gelehrte etc. (Herbert Kelman, zitiert in Chigas 2003, S. 5). Vermittlungsprozesse auf Track 2, wie auch auf Track 3, ersetzen die formelleren Kontakte auf Track 1 nicht, sondern ergänzen diese.

Das Konzept der Track 3- oder Volksdiplomatie ist nach und nach als analytisches Konzept entstanden, nachdem die Zivilgesellschaft allmählich als wichtiges, eigenständiges Element der Friedens­förderung in der Forschung Beachtung fand (Paffenholz 2010). Diana Chigas (2003) beschreibt Volks- oder Bürgerdiplomatie als „inoffizielle Bemühungen von Drittparteien und Leuten aus allen Lebensbereichen und -sektoren, um nach Wegen zu suchen, wie Frieden in gewaltsamen Konflikten gefördert werden kann“. Track 3-Aktivitäten werden nicht immer von solchen auf Track 2 unterschieden. Jedoch ist dies in verschiedener Hinsicht sinnvoll.

Erstens unterscheiden sie sich aufgrund ihrer politischen Autorenschaft und der Machtverhältnisse. Track 3-Initiativen sind »von unten« (bottom-up) organisiert, wohingegen Dialoge unter Eliten (Track 2) oft regierungsnah und »von oben« verordnet sind (top-down). Nicht zuletzt aufgrund dieser »bottom-up«-Ausrichtung und ihrer kritischen Haltung der Regierung gegenüber befinden sich Vertreter*innen der Volksdiplomatie vor allem in autoritären und gewaltsamen Konflikt-Kontexten oft in der Opposition zu ihrer eigenen politischen Führung und sind deren Repressionen ausgesetzt. Das heißt, »Volksdiplomat*innen« identifizieren sich oft weniger mit einer bestimmten Konfliktpartei, als vielmehr mit einer grenzübergreifenden Idee oder eine Sache.

Zweitens unterscheidet sich die Volksdiplomatie vom Track 2 in ihren Akteuren. »Grassroots«-Diplomat*innen vertreten nicht die Eliten, sondern »normale« Nichtregierungsorganisationen, religiöse Gruppen, Berufsgattungen etc., die direkt vom Konflikt betroffen sind. Dialoginitiativen auf Track 3 können sehr spezifisch sein, d.h. spezifischen Konfliktfolgen oder Akteuren gewidmet sein. Der Schweizer Diplomat Jean-Nicolas Bitter nennt solche Initiativen der praxisbezogenen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit »Diapraxis«, wobei er gleichzeitig die Wichtigkeit des kontext-spezifischen Handelns herausstreicht: Worte allein reichen nicht aus, um individuelle Beziehungen zu schaffen oder zu transformieren, noch um Brücken zu bauen und zwischengesellschaftliche Konflikte zu transformieren. [] Diapraxis – Dialog durch Praxis – muss man unterschiedlich definieren und anwenden, je nach Konflikt-Kontext, in dem sie angewendet wird.“ (Bitter 2011, S. 65)

Wirkungsmöglichkeiten und Grenzen der einzelnen Tracks

Initiativen auf Track 3 und Track 2 streben in der Regel kein Produkt (z. B. ein Waffenstillstandsabkommen) an, wie dies auf Track 1 der Fall ist. Vielmehr wollen sie auf den Prozess einwirken, der langfristig zum Frieden führen soll. Dies wird in der Fachliteratur auch als »peace constituencies« oder »Friedenskreise« bezeichnet und meint jene den Frieden unterstützenden Haltungen oder Tendenzen in der Gesellschaft, die für eine nachhaltige Stabilisierung und Versöhnung wichtig sind (Kriesberg 2001; Chigas 2003).

Initiativen der Friedensarbeit kommen je nach Track in unterschiedlichen Stadien eines Friedensprozesses zum Einsatz und haben verschiedene Aufgaben. Auf Track 2 und 3 werden beispielsweise Problemlösungs- und Dialog-Workshops durchgeführt, an denen einzelne Vertreter*innen der Konfliktparteien teilnehmen. Diese dienen dem Austausch von Daten, informieren die Parteien über die Ansichten der anderen Seite und helfen, über die Lösung gemeinsamer Probleme nachzudenken, die als Folge des Konflikts entstanden sind (zerstörte Infrastruktur, zerrissene Beziehungsnetze, usw.) (Kelman 1977). Des Weiteren wird in der eigenen Gesellschaft an der öffentlichen Meinung gearbeitet, wobei breitere Teile dazu gebracht werden sollen, „das Gefühl der Opferrolle unter den einzelnen Parteien abzubauen“ und „das Bild vom Feind mit neuer Menschlichkeit zu füllen“ (Montville 1990, S. 163). Schließlich können auf zivilgesellschaftlicher Ebene auch konfliktlinienübergreifende Projekte der praktischen Zusammenarbeit vorangetrieben werden – beispielsweise im Bereich Staatsaufbau oder humanitäre Hilfe.

Offizielle wie auch inoffizielle Vermittlungsbemühungen haben ihren eigenen Wert und können einander nicht ersetzen. Vielmehr sollten die verschiedenen Arten und Tracks als komplementär zueinander angesehen werden: Der Frieden muss aus einer »top-down«-, gleichzeitig aber auch aus einer »bottom-up«-Perspektive aufgebaut werden. Genau das ist aber leider oft nicht gegeben. Akteure der einzelnen Tracks sehen sich als Konkurrent*innen, behindern sich in ihrer Arbeit und/oder spielen sich gegeneinander aus. So besteht beispielsweise für auf Track 3 engagierte Gruppen das Risiko, dass sie aufgrund von Repressionen durch die Regierung, aber auch infolge ihres eigenen Oppositionsdenkens isoliert und in ihrer friedenspolitischen Wirkung marginalisiert werden. Die zivilgesellschaftliche Friedensarbeit braucht Unterstützung aus den höherliegenden Tracks, um ihre Wirkung voll entfalten zu können. Gleichzeitig reichen auf Track 1 verhandelte Abkommen nicht aus, einen dauernden Frieden zu schaffen, weil sie sich oft auf technische und militärische Aspekte konzentrieren und den Konflikt in seiner emotionalen und gesellschaftspolitischen Dimension nicht erfassen. Das heißt, ein auf Regierungsebene vereinbarter »juristischer Frieden« braucht die zivilgesellschaftlichen Tracks, um in die Bevölkerung hineingetragen, mit der Gesellschaft verhandelt und schlussendlich von dieser umgesetzt zu werden. Umso wichtiger ist es, dass die einzelnen Tracks um ihre eigenen Wirkungsmöglichkeiten und Grenzen wissen und die Zusammenarbeit suchen.

Fallstudie post-sowjetischer Raum

Im Süden der ehemaligen Sowjetunion ist die Dichte an »verschleppten« Konflikten besonders groß, wobei sie sich hier noch einen weiteren Beinamen erworben haben, nämlich den der »frozen« oder »eingefrorenen Konflikte«. Neil MacFarlane definiert diese als „Konfliktsituationen, in denen keine aktiven, breiteren Konflikthandlungen stattfinden (obwohl es zu kleiner Gewaltanwendung kommen kann) und es eine dauerhafte, gemeinsam vereinbarte Waffenruhe gibt, aber wo Bemühungen um politische Einigung und Frieden scheitern“ (MacFarlane 2009, S. 23).

Bei den »eingefrorenen« Konflikten des post-sowjetischen Raums ist auf Track 1 zwar ein Friedensabkommen zustande gekommen, das jedoch vor allem die militärische Sicherheit im Auge hat und nicht oder nur ungenügend auf einen Wiederaufbau politischer, sozio-kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen zwischen den Konfliktparteien ausgerichtet ist. Im georgisch-abchasischen Konflikt beispielsweise sorgten die Abkommen von Sotschi (1993) und Moskau (1994) zwar für militärische Befriedung und richteten friedenssichernde Missionen ein. Jedoch wurde die Beilegung des Konflikts auf anderen Ebenen ausgeklammert – insbesondere die heikle Frage des politischen Status Abchasiens und die psycho-soziale Aufarbeitung der auf beiden Seiten begangenen Gräueltaten an der Zivilbevölkerung.1 Unter anderem weil den Friedensbemühungen an der zivilgesellschaftlichen Basis zu wenig Raum gegeben wird und die verfeindeten Bevölkerungsgruppen absichtlich immer stärker voneinander isoliert werden, köchelt der Konflikt zwischen Abchas*innen und Georgier*innen seit den 1990er Jahren weiter, je nachdem auf kleinerer oder größerer Flamme (Zemskov-Züge 2016).

Ein anderes Merkmal der »eingefrorenen Konflikte« im post-sowjetischen Raum ist ihre starke Abhängigkeit von den geo-strategischen Interessen der russischen Regierung. Diese Abhängigkeit wird als Druckmittel gegen andere sowjetische Nachfolgestaaten benutzt, um deren wirtschaftliches, ideologisches und sozio-kulturelles Abdriften Richtung Westen zu verhindern. Sehr gut ist dies am jüngsten Beispiel des Donbass-Konflikts zu beobachten, der u.a. deshalb lanciert wurde, damit die pro-europäischen Kräfte, die während des Maidan-Aufstandes die Oberhand hatten, in der Ukraine nicht das letzte Wort haben. Als Resultat dieser Entwicklung macht sich in breiten Teilen des Landes wieder autoritäres Gedankengut breit; ob dieses nun von pro-russischen oder pro-ukrainischen Kräften verbreitet wird, ist zweitrangig.

Die Zivilgesellschaft ist doppelt betroffen von der »Eingefrorenheit« der Konflikte, in denen sie lebt. Einerseits haben diese tiefe sozio-kulturelle Gräben geöffnet und zu einer Radikalisierung der Gesellschaften auf allen Seiten beigetragen; vor diesem Hintergrund sind volksdiplomatische Bemühungen besonders gefordert, weil andere Formen der Friedensbemühungen dieser Art von Konflikt gar nicht beikommen können (Brunova-Kalisetskaya 2015). Andererseits stehen gerade die zivilgesellschaftlichen Akteure aufgrund politischer Radikalisierung, geopolitischer Interessen und zunehmend autoritärer Regierungsformen im post-sowjetischen Raum immer mehr unter Druck; dies führt nicht selten zu einem Angriff der Führungseliten auf inner- und zwischen-gesellschaftliche Formen der Volksdiplomatie als »unpatriotisch« oder sogar »die eigenen Nationalinteressen verratend«, und dient als willkommener Anlass, unerwünschte zivilgesellschaftliche Akteure mundtot zu machen.

Das heißt, in den »eingefrorenen« Konflikten des post-sowjetischen Raums bewegen sich die nach Frieden suchenden Teile der Zivilgesellschaft in einem Teufelskreis. Wohl sind sie dringend gefordert, weil nur sie eine Versöhnung und nachhaltige Stabilisierung der Situation herbeiführen können. Gleichzeitig sind sie aber stark geschwächt und stehen unter Beschuss von innen (nationalistische Radikalisierung) und außen (staatliche Repression), was sie an der Ausübung eben dieser friedensstiftenden Rolle hindert. Ob und wie es der Zivilgesellschaft gelingt, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, werden die kommenden Jahre zeigen.

Anmerkung

1) Siehe dazu Wolleh, O. (2017): Der nachhaltige Weg zur Vertrauensbildung – Geschichtsdialog in Georgien, Abchasien und Südossetien, auf S. 21.

Literatur

Bitter, J.N. (2011): Diapraxis in Different Contexts – A Brief Discussion with Rasmussen. Politorbis, Vol. 52, No. 2, S. 65-69.

Brunova-Kalisetskaya, I. (2015): Dialog Ne S Vragom, a S Chelovekom (Dialogue Not with the Enemy, but with Human Beings). Histor!ians, 12.9.2015; historians.in.ua.

Chigas, D. (2003): Track II (Citizen) Diplomacy. Beyond Intractability, August 2003; beyondintractability.org.

Kelman, H. (1977): The Problem-Solving Workshop in Conflict Resolution. In: Berman, M.; Johnson, J.E. (eds.): Unofficial Diplomats. New York: Columbia University Press.

Kriesberg, L. (2001): Mediation and the Transformation of the Israeli-Palestinian Conflict. Journal of Peace Research, Vol 38, No. 3, S. 373-92.

MacFarlane, S. (2009): Frozen Conflicts in the Former Soviet Union – The Case of Georgia/South Ossetia. In: Institute for Peace Research and Security Policy at the University of Hamburg/IFSH (eds.): OSCE Yearbook 2008. Baden-Baden: Nomos, S. 23-34.

Montville, J. (1990): The Arrow and the Olive Branch – A Case for Track Two Diplomacy. In: Volkan, V.; Julius, D.; Montville, J. (eds.): The Psychodynamics of International Relationships. Lexington, Mass: Lexington Books, S. 161-175.

Montville, J.; Davidson, W. (1981): Foreign Policy according to Freud. Foreign Policy, No. 45, S. 145-157.

Paffenholz, T. (ed.) (2010): Civil Society & Peacebuilding – A Critical Assessment. Boulder: Lynne Rienner Publishers.

Said, A.; Lerche, C. (1995): Concepts of International Politics in Global Perspective. New Jersey: Prentice Hall.

Zemskov-Züge, A. (2016): Contrary Memories – Bases, Chances and Constraints of Dealing with the Past in Georgian-Abkhaz Dialogue. Prague: European Consortium for Political Research (ECPR) General Conference, Charles University, Prag, 7-10 September 2016; ecpr.eu.

Cécile Druey lebt als freischaffende Historikerin in Bern (Schweiz) und arbeitet im Bereich der Konflikt- und Friedensforschung, unter anderem für die schweizerische Friedensstiftung swisspeace und die Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung OWEN in Berlin.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2017/4 Eingefrorene Konflikte, Seite 32–34