W&F 1985/3

Zonen ungleicher Sicherheit.

Interview mit John Pike, Associate Director for Space Policy, Federation of American Scientists

von John Pike, J. Altmann und J. Scheffran

Bundeskanzler Kohl hat am 18. 4. 85 im Bundestag gesagt, daß der ABM-Vertrag von 1972 kurz- und mittelfristig aufrechterhalten werden müsse. In welchem Stadium des SDI-Projektes würde dieses Abkommen ihrer Meinung nach verletzt?

Beginnend 1988 mit dem Test des Airborne Optical System. Das ist die erste, unmittelbarste und offensichtlichste Demonstration im Rahmen von SDI, die unvereinbar mit dem Abkommen wäre. Darauf folgen eine Reihe von 1991 beginnenden Demonstrationen verschiedener weltraumgestützter Waffen und Sensoren, die ebenfalls mit dem Abkommen unvereinbar wären. All diese Tests würden lange vor einer Entscheidung, ob ein solches System stationiert werden sollte oder stationiert wird, stattfinden.

Jeder sagt, das SDI-Programm sei lediglich ein Forschungsprogramm. Ist das richtig?

Es ist ebenso Entwicklung, ebenso Test. Es gibt insbesondere in der Europäischen Debatte die Tendenz, zwischen Forschung, die nach dem ABM-Vertrag vollständig erlaubt ist und der Entwicklung, die verboten ist, zu trennen. In der Tat unterwirft der ABM-Vertrag während er Forschung zuläßt, Tests sehr strengen Beschränkungen. Aber gerade darum geht es vor allem in SDI, um Tests.

Bundeskanzler Kohl hat gesagt, daß Destabilisierungen beim Übergang zu einem defensiv orientierten System vermieden werden sollten. Welche Destabilisierungen könnten auftreten, wenn das SDI-Programm realisiert würde?

Die klassischen Destabilisierungen, die man nennen müßte, wären eine erhöhte Gefahr in Krisensituationen und ein weiterer Rüstungswettlauf. Die Regierung hat deutlich gemacht, daß sie wenig Hoffnung in die Verhinderung des Rüstungswettlaufs setzt. Der Hoffmann- Report hat gesagt, daß die wahrscheinlichste sowjetische Antwort auf eine SDI-Produktion ein Ausbau ihrer Offensivpotentiale wäre. Der Fletcher-Report hat gesagt, daß die UdSSR wahrscheinlich ihr Offensivarsenal auf bis zu 30.000 Sprengköpfe vervierfachen würde und der Regierungs- Report vom März an den Kongreß fahrt als erste Gegenmaßnahme, die die UdSSR ergreifen würde, einen Ausbau ihrer offensiven Systeme an. Also, ich denke, daß es eine generelle Übereinstimmung gibt, daß eine der Konsequenzen auf SDI eine Ankurbelung des Rüstungswettlaufs durch den Ausbau der sowjetischen Offensivsysteme wäre. Was die Gefahr in Krisensituationen betrifft, ist schon lange erkannt worden, daß nicht- perfekte Verteidigungssysteme die Gefahr erhöhen, weil ein undichter Schirm effektiver gegen einen Vergeltungs- als gegen einen umfassenden Erstschlag ist. Das ist auch die Erkenntnis, die die UdSSR gewonnen hat.

Wie ist das mit einem begrenzten Atomkrieg in Europa? Die Europäer fürchten, daß ein Atomkrieg auf Europa begrenzt werden könnte, weil die USA einen Schutzschirm hätte.

Es gäbe eine deutliche Abkopplung durch SDI weil schließlich eine der technologischen Prämissen von SDI eine mehrschichtige Verteidigung ist. Auch wenn jede Schicht nicht ganz dicht ist, wurden nur sehr wenig oder gar keine Sprengköpfe das Verteidigungssystem durchdringen, wenn genügend Schichten zwischen dem Angreifer und dem Verteidiger errichtet werden könnten. Diese Art 5- oder 6-schichtiger Verteidigung mag noch plausibel erscheinen, wenn man von der Verteidigung Nordamerikas spricht. Was aber die Verteidigung der Völker in Zentraleuorpa betrifft, gibt es einfach nicht genug Entfernung, um mehr als ein oder zwei Abschirmschichten zu installieren.

Sie meinen, es kann keinen Schirm oder Schutz für Europa geben?

Ich glaube wohl, daß es technologische Möglichkeiten für einige Typen von Ratetenabwehrsystemen für Europa gibt, aber ich glaube es wäre schwierig, die Schaffung von Zonen ungleicher Sicherheit zu verhindern. Das bedeutet, daß verschiedene Teile der Allianz sehr unterschiedliche Risikoanteile im Falle des Ausbruchs kriegerischer Handlungen hätten.

Das Interview führten J. Altmann und J. Scheffran für den Informationsdienst am 7. Mai 1985.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1985/3 1985-3, Seite