W&F 2002/2

Zum neuen Paradigma internationaler Beziehungen

von Hans Küng

„In Würdigung seiner herausragenden Leistungen zur Erforschung, Aufbereitung und Verbreitung der friedensstiftenden, religionsübergreifenden und kulturverbindenden Vision des »Weltethos« als der »minima moralis« aller großen Religionen und Kulturen“ wurde der Göttinger Friedenspreis 2002 an Prof. Dr. Hans Küng und seine Stiftung Weltethos verliehen. In der Begründung der Jury heißt es weiter:„Das Weltethos basiert (…) auf zwei fundamentalen Prinzipien, die allen großen Religionen und Kulturen in ihrem letzten Kern eigen sind: ,Jeder Mensch – oder Mann oder Frau, weiß oder farbig, reich oder arm, jung oder alt –, soll menschlich und nicht unmenschlich behandelt werden.‘ und ,Was du nicht willst, dass man dir tut, das tue auch nicht den anderen!‘ (…) (Prof Küng) hat durch seine Forschungsleistung, Organisation und persönliche Ausstrahlungskraft dem »Projekt Weltethos« Stimme und Struktur, Profil und Schwung, Aufmerksamkeit und Bedeutung verliehen. Das »Projekt Weltethos« ist zu einem friedensethischen Gravitationszentrum geworden, was vielen Menschen in der Welt für ihre beschwerliche Friedensarbeit vor Ort wesentliche Orientierung gibt und bei vielen Rückschlägen immer wieder Mut macht. Die niedersächsische Landesbischöfin, Dr. Margot Käßmann, hielt bei der 4. Göttinger Friedenspreisverleihung die Laudatio auf die Preisträger. In seiner Antwort ging Prof. Küng auch auf die aktuelle Situation nach dem 11. September ein. Unter anderem führte er aus:
Aufgrund der Erfahrungen in EU und OECD lässt sich die neue politische Gesamtkonstellation wie folgt skizzieren (…) Das neue Paradigma besagt grundsätzlich: statt der neuzeitlichen nationalen Interessen-, Macht- und Prestigepolitik (wie noch in Versailles) eine Politik regionaler Verständigung, Annäherung und Versöhnung. Von Frankreich und Deutschland ist dies exemplarisch vorgemacht worden. Dies erfordert im konkreten politischen Handeln – auch in Nahost, Afghanistan und Kaschmir – statt der früheren Konfrontation, Aggression und Revanche wechselseitige Kooperation, Kompromiss und Integration.

Diese neue politische Gesamtkonstellation setzt offenkundig eine Mentalitäts-veränderung voraus, die weit über die Tagespolitik hinausgeht:

  • Neue Organisationen reichen dafür nicht aus, es braucht eine neue Denkart (»mind-set«).
  • Nationale, ethnische, religiöse Verschiedenheit darf nicht mehr grundsätzlich als Bedrohung verstanden werden, sondern als zumindest mögliche -Bereicherung.
  • Während das alte Paradigma immer einen Feind, gar Erbfeind voraussetzte, braucht das neue Paradigma keinen Feind mehr, wohl aber Partner, Konkurrenten und oft auch Opponenten. Statt militärischer Konfrontation gilt auf allen Ebenen wirtschaftlicher Wettbewerb. Denn es hat sich gezeigt, dass die nationale Wohlfahrt auf die Dauer nicht durch Krieg, sondern nur durch Frieden befördert wird, nicht im Gegen- oder Nebeneinander, sondern im Miteinander.
  • Und weil die nun einmal bestehenden verschiedenen Interessen im Miteinander befriedigt werden, ist eine Politik möglich, die nicht mehr ein Null-Summen-Spiel ist, bei welcher der eine auf Kosten des anderen gewinnt, sondern ein Positiv-Summen-Spiel, bei dem alle gewinnen.

Natürlich ist Politik im neuen Paradigma nicht einfach leichter geworden, sondern bleibt – die jetzt freilich gewaltfreie – »Kunst des Möglichen«. Wenn sie funktionieren soll, kann sie sich nicht gründen auf einen »postmodernistischen« Beliebigkeitspluralismus. Vielmehr setzt sie einen gesellschaftlichen Konsens bezüglich bestimmter Grundwerte, Grundrechte und Grundpflichten voraus. Dieser gesellschaftliche Grundkonsens muss von allen gesellschaftlichen Gruppen mitgetragen werden, von Glaubenden wie Nichtglaubenden, von den Angehörigen der verschiedenen Religionen wie Philosophien oder Ideologien (…) Die freie Verpflichtung auf ein gemeinsames Ethos schließt selbstverständlich nicht aus, sondern ein, dass sie vom Recht unterstützt wird und unter Umständen juristisch eingeklagt werden kann – im Fall von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und völkerrechtlicher Aggression allerneuestens sogar vor einem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (…) Aber nun ist ja notorisch, dass ja gerade die USA den Internationalen Strafgerichtshof – zusammen mit Israel – sabotieren (…) Die gegenwärtige Administration der einzig übriggebliebenen Supermacht scheint eine Politik im neuen Paradigma mehr als andere Großmächte in der asiatischen, islamischen oder afrikanischen Welt zu stören. Und so komme ich denn nicht darum, das neue Paradigma mit der politischen Wirklichkeit nach dem 11. September 2001 zu konfrontieren (…)

Nicht aufhalten möchte ich mich mit der Frage, ob es nach dem 11. September eine Alternative zum erlebten Afghanistan-Szenario gegeben hätte. Auf die Frage des »Göttinger Tageblatts« habe ich die Frage bejaht und konkretisiert: Krieg als »ultima ratio« und nicht wie jetzt als »proxima ratio«. Ein deshalb höchst fragwürdiger Krieg übrigens (…),

  • ein Krieg, der seine primären Ziele nach einem halben Jahr noch immer nicht erreicht hat, der nun länger und verlustreicher wird als zunächst angenommen und der sehr wohl enden kann mit einem militärischen Sieg der Amerikaner und einem nicht gewonnenen Frieden, neuen Stammeskonflikten, Herrschaft der Warlords und Banditentum wie in der Zeit vor der Talibanherrschaft;
  • ein Krieg, in dessen aktive Führung auch deutsche Soldaten aufgrund einer »uneingeschränkten Solidarität« immer mehr verwickelt werden und möglicherweise zu jahrelanger Präsenz und Auseinandersetzungen im Hindukusch und in der Hauptstadt Kabul verdammt sind;
  • ein Krieg, der manche keineswegs pazifistische Zeitgenossen fragen lässt, was deutsche Soldaten eigentlich in Afghanistan und im Jemen zu suchen haben und was deutsche Fregatten in Djibutti und am Horn von Afrika und ob deutsche Soldaten uneingeschränkt auch Kriege gegen Somalia und Syrien, den Irak und Iran mitmachen sollen.

Deutschland könnte »marginalisiert« werden, meinen die Verteidiger dieser neuen militärischen Außenpolitik. Aber nein, meine Damen und Herren, Deutschland ist zu groß und zu mächtig, als dass es »marginalisiert« werden könnte. Die entscheidende Frage ist nach den neuesten Erfahrungen mehr denn je: Wie sollen wir uns international engagieren? Und soll es im Kampf mit dem Terrorismus einfach in diesem Stil weitergehen? Nicht um die Alternativen der Vergangenheit geht es mir, sondern um die Alternativen der Zukunft. Haben wir überhaupt solche, solange Außenpolitik vor allem Militärpolitik ist und Abermilliarden für sündhaft teure neue Waffensysteme und Transportflugzeuge statt für Kindergärten und Schulen im eigenen Land und für die Bekämpfung von Armut, Hunger und Elend in der Welt ausgegeben werden? Gibt es überhaupt noch Chancen für das neue Paradigma auch außerhalb der OECD-Welt? Ich meine ja und möchte das vorsichtig andeuten: nicht mit scheinbar sicheren Voraussagen, sondern im Modus des »Es könnte ja sein, dass«. Also im vollen Bewusstsein all der realen Ungewissheiten der Zukunft, die heute oft rascher grundlegende Wendungen herbeiführen als früher und dies nicht immer zum Schlimmeren. Also sozusagen nach dem realistischen Anti-Murphy-Principle: „Was schief gehen kann, muss nicht immer schief gehen.“ Und ich beschränke dabei meine Bemerkungen auf Afghanistan und den Nahen Osten.

Was den Afghanistan-Krieg angeht: Ich bin ein Freund der Vereinigten Staaten, war dort oft viel geehrter Gastprofessor und ein Bewunderer der großen amerikanischen Tradition der Demokratie und der Einforderung der Menschenrechte. Und gerade deshalb plädiere ich für Frieden – auch angesichts der Kampagne gegen den Terrorismus:

  • Es könnte ja sein, dass auch die neue amerikanische Administration einsieht, dass wer den Kampf gegen das Böse in der ganzen Welt meint gewinnen zu können, sich selbstgerecht zum ewigen Krieg verdammt und dass auch eine Supermacht erfolgreiche Politik nur dann betreiben kann, wenn sie nicht selbstherrlich unilateral handelt, sondern echte Partner und Freunde, nicht Satelliten, hat.
  • Es könnte ja sein, dass die USA, klüger als frühere Imperien, ihre Macht doch nicht überdehnen und am Größenwahn scheitern werden, sondern dass sie ihre Vormachtstellung bewahren, indem sie nicht nur ihre Eigeninteressen, sondern auch die ihrer Partner berücksichtigen.
  • Es könnte ja sein, dass der amerikanische Präsident, dessen Haushaltsüberschuss im vergangenen Jahr um vier Trillionen Dollar abgenommen hat und der in Zukunft wieder mit Defiziten rechnen muss, seine Budget-Politik doch noch umorientiert und sich statt primär um Militärpolitik um eine erfolgreichere Wirtschaftspolitik kümmert, die auch weitere Enron-Pleiten, Börsendesaster und eine noch immer mögliche Rezession ins Auge fasst.
  • Es könnte ja sein, dass auch die gegenwärtige amerikanische Administration, weil sie sich nicht die ganze islamische Welt entfremden will, doch etwas mehr nach den Ursachen der Ressentiments der Araber und Muslime gegenüber dem Westen und den Vereinigten Staaten im Besonderen fragt; dass sie sich statt nur um Symptombekämpfung mehr um die Therapie an den sozialen, ökonomischen und politischen Wurzeln des Terrors kümmert; dass sie statt noch mehr Milliarden für militärische und polizeiliche Zwecke mehr Mittel für die Verbesserung der sozialen Lage der Massen im eigenen Land und der Globalisierungsverlierer in aller Welt aufwendet.
  • Es könnte ja sein, dass die Supermacht USA auch aus Eigeninteresse daran interessiert wäre, dass das internationale Rechtsbewusstsein nicht erschüttert wird dadurch, dass die einzige Supermacht andere Standards setzt als sie allgemein völkerrechtlich gelten – weil sie so denjenigen Kräften hilft, die sich überhaupt nicht an die Standards des internationalen Rechts halten wollen, und gerade so den Terror fördert.

Und was nun die Tragödie im Nahen Osten betrifft: Ich war ein Freund des Staates Israel von Anfang an, habe mich im Zweiten Vatikanischen Konzil nachdrücklich für die Judenerklärung eingesetzt und nach dem Konzil für die Anerkennung des Staates Israel durch den Vatikan. Gerade deshalb plädiere ich für Frieden – auch angesichts einer scheinbar ausweglosen Situation:

  • Es könnte ja sein, dass gerade angesichts der ständig steigenden Spirale der Gewalt und mehr als 1100 Toten (davon 3/4 Palästinenser – darunter 200 Kinder) seit dem September 2000 (als Scharon zur puren Provokation schwer bewaffnet und -beschützt den Tempelberg hinaufstieg und die zweite Intifada auslöste) immer mehr Israelis realisieren, dass sie diesen Krieg nicht gewinnen können. Sharons rein militärische Strategie »Frieden durch Repression« ist gescheitert.
  • Es könnte ja sein, dass eine zunehmende Zahl von Israelis einsieht, dass dieser Scharon, der bereits für das Verhängnis des Libanonkrieges 1982 und die Kriegsverbrechen in den dortigen Flüchtlingslagern verantwortlich war und deshalb zum Rücktritt als Verteidigungsminister gezwungen wurde, sie ein zweites Mal durch seine konzeptionslose Demagogie irregeführt hat, als er ihnen Frieden durch eine Politik der starken Hand versprach. Niemand täusche sich: Die zweite Intifada wird siegen, weil die Leidensfähigkeit der Unterdrückten größer und anhaltender ist als die der Unterdrücker.
  • Es könnte deshalb sein, dass jene mehr als 500 tapferen israelischen Offiziere und Soldaten von Armee und Bevölkerung immer mehr Unterstützung erhalten, die einen Militärdienst in einem unmoralischen Krieg verweigern – mit der Begründung: „Wir werden nicht länger kämpfen jenseits der »Grünen Linie«, um dort zu besetzen, zu deportieren, zu zerstören, zu blockieren, zu morden, auszuhungern und ein ganzes Volk zu demütigen.“
  • Es könnte auch sein, dass die Judenschaft in Amerika und Europa, schon längst herausgefordert durch die skandalöse Unterdrückung eines Volkes, mithilft, damit die wieder erwachte Friedensbewegung in Israel Unterstützung erhält und die Friedenswilligen in Israel gewinnen, damit in dieser chaotischen Pattsituation möglichst rasch eine andere Politik dieser Regierung sich durchsetzt oder dann eben eine andere Regierung, die wirklich den Frieden will.
  • Es könnte dann sein, dass eine israelische Regierung wie schon im Jahr 2000 im Libanon nach zwei Jahrzehnten Besatzung (Israels »Vietnam«) die Truppen zurückzieht und den Friedensvorschlag des saudiarabischen Kronprinzen Abdullah aufgreift: Rückzug aus allen besetzten Gebieten und Anerkennung des Staates Israel durch alle arabischen Staaten mit normalen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen, um so einen autonomen und lebensfähigen (nicht zerstückelten) Palästinenserstaat zu ermöglichen, womöglich in einer Wirtschaftsunion mit Israel und Jordanien, die ein Segen für die gesamte Region und besonders für Israel sein könnte.
  • Es könnte ja sein, dass dann auch die radikalen Palästinenser, die mit der gleichen Gewaltslogik reagierten, ihre terroristischen Aktivitäten einstellen und dass die Palästinenser ihr »Recht auf Rückkehr« realistisch auf die symbolische Rückkehr für einige besonders harte Fälle beschränken – zu Gunsten von neuen Ansiedlungen oder von finanziellen Vergütungen, wie sie vielen Juden nach dem Zweiten Weltkrieg zukamen.
  • Es könnte ja sein, dass auch die Jerusalem-Frage eine Lösung finden könnte, wie die ebenfalls viele Jahrzehnte verschleppte »römische Frage«, als der Vatikan und der italienische Staat um Souveränität über die heilige Stadt Rom stritten, bis man in den Lateranverträgen die relativ einfache Lösung fand: eine einzige Stadt mit einer Stadtverwaltung aber zwei Souveränitäten, Italien auf dem linken Tiberufer und Città e Stato del Vaticano auf dem rechten. Was für Jerusalem hieße: In der einen Altstadt (nur sie zählt hier) zwei Fahnen und zwei Souveränitäten, aber eine einzige Stadtverwaltung – und womöglich mit einem Bürgermeister und einem Premierminister vom Format eines Teddy Kollek. Hier wären die Religionen besonders gefordert

„Vergeltet niemandem Böses mit Bösem!“ (Röm 12,17)

Dieses Wort des Neuen Testaments ist jenen christlichen Kreuzrittern in Amerika und Europa gesagt, die das Böse nur bei den anderen suchen und die meinen, ein Kreuzzug heilige jedes militärische Mittel und rechtfertige alle humanitären »Kollateralschäden«.

„Aug um Aug, Zahn um Zahn“ (Ex 21,24)

Dieses Wort der Hebräischen Bibel zur Schadensbeschränkung ist jenen israelischen Fanatikern gesagt, die dem Gegner immer lieber gleich zwei Augen als nur eines nehmen und mehrere Zähne einschlagen möchten und die vergessen, dass ein fortgesetztes „Aug um Aug die Welt erblinden lässt“ (Gandhi).

„Und wenn sie sich dem Frieden zuneigen, dann neige auch du dich ihm zu“ (Sure 8, 61)

Dieses Wort des Koran ist jenen palästinensischen Gotteskriegern gesagt, die noch heute den Staat Israel am liebsten von der Landkarte tilgen möchten (…)“

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/2 Frauen und Krieg, Seite