W&F 1999/1

Zur aktuellen Diskussion um die neue Nuklear-Strategie der NATO

Memorandum der IALANA vom 26. November 1998

von IALANA

In ihrer Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 haben sich SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik u.a. auf zwei Ziele festgelegt:

Vollständige Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen: „Die neue Bundesregierung hält an dem Ziel der vollständigen Abschaffung aller Massenvernichtungswaffen fest und wird sich in Zusammenarbeit mit den Partnern und Verbündeten Deutschlands an Initiativen zur Umsetzung dieses Ziels beteiligen.“ (Kapitel XI, Ziff. 6, Absatz 2)

Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen: „Zur Umsetzung der Verpflichtungen zur atomaren Abrüstung aus dem Atomwaffensperrvertrag wird sich die neue Bundesregierung für die Absenkung des Alarmstatus der Atomwaffen sowie für den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen einsetzen.“ (Kapitel XI, Ziff. 6, Absatz 2)

Erste »Mutprobe«: Die Abstimmung im Ersten Ausschuss der UN-Generalversammlung

Bereits bei der ersten Bewährungsprobe, nämlich bei der Abstimmung am 13. November 1998 im Ersten Ausschuss der UN-Generalversammlung über die u.a. von Brasilien, Irland, Ägypten, Schweden und Mexiko eingebrachten Resolution L.48 (Towards a Nuclear Weapon Free World: The Need For A New Agenda), konnte sich die neue Bundesregierung erst in letzter Minute zu einer Stimmenthaltung entschließen. Andere NATO-Staaten wie Kanada waren da mutiger und wären zu einem »Ja« bereit gewesen, wenn die deutsche Bundesregierung mitgezogen hätte.

Immerhin: Die UN-Resolution, über die dann im Dezember im Plenum der UN-Generalversammlung abgestimmt werden wird, fand – gegen die 19 Nein-Stimmen der Atomwaffenmächte Großbritannien, Frankreich, USA, Russland sowie anderer Staaten – mit 97 Ja-Stimmen eine große Zustimmung. Die 12 NATO-Staaten Belgien, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Italien, Island, Luxemburg, Kanada, Niederlande, Norwegen, Portugal und Spanien enthielten sich der Stimme.

Dieses Abstimmungsverhalten – von den deutschen Massenmedien ganz überwiegend nicht einmal für berichtenswert gehalten – und ein SPIEGEL-Interview von Außenminister Fischer vom 23. November 1998 führten zwischenzeitlich dennoch zu erstem besorgten »Stirnrunzeln« der US-Regierung. Verteidigungsminister Rudolf Scharping sah sich daraufhin sofort zu Dementis und ersten Distanzierungsversuchen in Washington genötigt (vgl. u.a. FAZ vom 25.11.1998, S. 1).

Die erste Bewährungsprobe: NATO-Rats-Tagung im Dezember 1998

Bei der nächsten NATO-Rats-Tagung am 6./7. Dezember 1998 werden die Weichen für die neue NATO-Strategie gestellt, die dann auf der Frühjahrs-Tagung Anfang April 1999 in Washington zum 50. Jahrestag der NATO-Gründung beschlossen werden soll.

Hier wird die neue Bundesregierung »Farbe bekennen« müssen, wie ernst sie es mit dem meint, was beide Koalitionsfraktionen in der Koalitionsvereinbarung vom 20. Oktober 1998 niedergelegt haben.

Es geht dabei vor allem um folgende Punkte:

  • Soll die NATO, die nach dem geltenden NATO-Vertrag ein kollektives Verteidigungsbündnis im Sinne von Art. 51 UN-Charta ist, die Befugnis zu weltweiten militärischen Einsätzen auch ohne UN-Mandat erhalten?
  • Soll die NATO an ihrer erklärten Bereitschaft zum nuklearen Ersteinsatz (First Use) festhalten?
  • Soll die NATO (bzw. ihre drei Atomwaffenmächte) den Einsatz von Atomwaffen künftig nicht nur für den Fall eines militärischen Angriffs auf einen NATO-Verbündeten, sondern auch gegen sogenannte Schurkenstaaten androhen (»Terrorismusabwehr«, »Counter-Proliferation«, »Verhinderung der Produktion von Massenvernichtungswaffen«)?
  • Wird die NATO künftig weiterhin alle Verhandlungen über eine Nuklearwaffen-Konvention, durch die – nach den B- und C-Waffen – auch alle A-Waffen geächtet und vernichtet werden sollen, ablehnen?

Es geht nicht nur um die Glaubwürdigkeit der neuen Bundesregierung; es geht auch um Recht.

These 1: Die geltende NATO-Nuklearstrategie ist mit dem geltenden Völkerrecht nicht vereinbar.

  • Der Richterspruch des Internationalen Gerichtshofs (IGH):
    Am 8.7.1996 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag auf der Grundlage von Art. 96 der UN-Charta der UN-Generalversammlung ein Rechtsgutachten erstattet, das die ihm vorgelegte Rechtsfrage nach der Völkerrechtsmäßigkeit der Androhung oder des Einsatzes von Atomwaffen dahin beantwortet, „dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen grundsätzlich (“generally“) gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Völkerrechts.“
    Der Gerichtshof sah sich (in seiner »Präsidentenmehrheit«) allerdings nicht in der Lage, positiv oder negativ definitiv festzustellen, ob der Einsatz oder die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen in einer für einen Staat existenzgefährdenden extremen Notwehrsituation – ausnahmsweise – rechtmäßig oder rechtswidrig wäre. Im Wortlaut: „Allerdings kann der Gerichtshof angesichts der gegenwärtigen Lage des Völkerrechts und angesichts des ihm zur Verfügung stehenden Faktenmaterials nicht definitiv die Frage entscheiden, ob die Androhung oder der Einsatz von Atomwaffen in einer extremen Selbstverteidigungssitutation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde, rechtmäßig oder rechtswidrig wäre.“
  • Ist die geltende NATO-Nukleardoktrin mit der IGH-Entscheidung vereinbar?
    Die alte Bundesregierung hat in einer 1996 veröffentlichten Antwort auf eine parlamentarische Anfrage im Deutschen Bundestag erklärt: „Die Bundesregierung sieht sich durch das Gutachten in ihrer Auffassung bestärkt, dass bei Androhung des Einsatzes oder Einsatz von Nuklearwaffen Art. 2 Abs.4 und Art. 51 der UN-Charta – die Regeln der Verhältnismäßigkeit sowie die auf alle Waffen anwendbaren Regeln des Humanitären Völkerrechts – zu beachten sind. Das Gutachten zeigt auch, dass der Gerichtshof zur Kenntnis nimmt, dass die Staatenpraxis noch nicht zu einem generellen Verbot von Nuklearwaffen gelangt ist. Es bezeichnet folgerichtig den Besitz von Nuklearwaffen durch die Kernwaffenstaaten und die zugrundeliegende Abschreckungstrategie nicht als völkerrechtswidrig.
    Die geltende Verteidigungsstrategie des Nordatlantischen Bündnisses bleibt daher – auch im Lichte des IGH-Gutachtens – mit dem Völkerrecht vereinbar“
    (Bundestags-Drucksache 13/5906).

Ergänzend hatte die alte Bundesregierung gesagt, sie teile „die Auffassung des IGH, das gegenwärtige Völkerrecht kenne kein Verbot der Androhung oder des Einsatzes von Nuklearwaffen in einem extremen Fall der Selbstverteidigung, in dem die Existenz des Staates auf dem Spiel steht.“ (ebd.).

Auf der Tagung des NATO-Rates 1996 in Brüssel ist mit Zustimmung des deutschen Verteidigungsministers beschlossen worden: „Wir bekräftigen, dass die nuklearen Kräfte der Bündnispartner weiterhin eine einzigartige und essentielle Rolle in der Allianzstrategie der Kriegsverhinderung spielen. Von neuen Mitgliedern, die in jeder Beziehung Vollmitglieder der Allianz sein werden, wird erwartet, dass sie das Konzept der Abschreckung sowie die essentielle Rolle unterstützen, die die Nuklearwaffen in der Allianzstrategie spielen. Die Erweiterung der Allianz wird keine Änderung im gegenwärtigen Nukleardispositiv der NATO erforderlich machen, und daher haben die NATO-Länder nicht die Absicht, keine Pläne und auch keinen Anlass, nukleare Waffen auf dem Hoheitsgebiet neuer Mitglieder zu stationieren, noch sehen sie die Notwendigkeit, das NATO-Nukleardispositiv oder die Nuklearpolitik in irgendeinem Punkt zu verändern – und sehen wir dazu auch in Zukunft keine Notwendigkeit“ (abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung Nr. 105 vom 20.12.1996, S. 1136).

Die geltende NATO-Nukleardoktrin hat die alte deutsche Bundesregierung wie folgt beschrieben: Die „eurogestützten Nuklearwaffen haben weiterhin eine wesentliche Rolle in der friedenssichernden Gesamtstrategie des Bündnisses… Deshalb wird die Bundesregierung … nicht für einen Verzicht auf die Option der Allianz eintreten, ggf. Nuklearwaffen als erste einzusetzen. … Die Erklärung des Verzichts auf die Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis würde die Kriegsverhütungsstrategie aushöhlen“ (vgl. BT-Drucksache 12/4766).

Die NATO

  • beharrt somit bisher in ihrer Nukleardoktrin auch für die Zukunft auf der Notwendigkeit von Atomwaffen und weist diesen auf unabsehbare Zeit eine »wesentliche Rolle« in der Gesamtstrategie des Bündnisses zu,
  • lehnt jeden Verzicht auf einen möglichen Einsatz von Atomwaffen in einem militärischen Konflikt strikt ab und
  • behält sich sogar den möglichen atomaren Ersteinsatz von Atomwaffen vor.

NATO und Bundesregierung können sich nicht auf die zitierte sogenannte »Notwehr-Klausel« im IGH-Rechtsgutachten berufen.

Völkerrechtlich »sicher« und »geklärt« ist die grundsätzliche (generally) Völkerrechtswidrigkeit eines Einsatzes und die Androhung eines Einsatzes von Atomwaffen. Ein »generally no« ist eben ein »grundsätzliches Nein«, nicht aber ein »grundsätzliches Ja«.

Nuklearwaffeneinsätze sind, wie der IGH festgestellt hat, nach dem geltenden Völkerrecht allenfalls insoweit noch nicht verboten, als es um eine „extreme Selbstverteidigungssitutation (geht), in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde.“ In der geltenden und von der Bundesregierung mitgetragenen NATO-Nukleardoktrin ist von einer solchen Beschränkung auf den Fall „einer extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde“, nirgendwo die Rede. Die NATO droht den Einsatz von Atomwaffen nach wie vor nicht »nur« für den Fall an, dass das Überleben eines ihrer Atomwaffenstaaten (oder Mitgliedstaaten) »auf dem Spiele« steht. Vielmehr sieht die NATO-Nukleardoktrin (wie oben zitiert) weiterhin sogar die „Möglichkeit eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen durch das (NATO-)Bündnis“ vor.

Jedenfalls soweit die NATO-Nukleardoktrin die Androhung und den Einsatz von Nuklearwaffen nicht auf den Fall der „extremen Selbstverteidigungssituation, in der die Existenz eines Staates auf dem Spiele stünde“, beschränkt, verstößt sie gegen den Richterspruch des IGH.

Rechtliche Verbindlichkeit des IGH-Richterspruchs

Die frühere Bundesregierung hat in ihrer bereits zitierten Stellungnahme gegenüber dem Deutschen Bundestag die Auffassung vertreten:

Rechtsgutachten des Internationalen Gerichtshofs sind weder nach der UN-Charta und dem IGH-Statut noch nach allgemeinem Völkerrecht rechtlich verbindlich“ (Bundestags-Drucksache 13/5906).

Der vom Internationalen Gerichtshof 1996 verkündete Richterspruch ist zwar nicht in der Form eines Beschlusses oder eines Urteils ergangen. Es handelt sich jedoch um ein nach Art. 96 UN-Charta erstattetes Rechtsgutachten (»advisory opinion«).

Das Bundesverfassungsgericht hat durch sein aus seinen beiden Senaten bestehendes »Plenum« bereits in seinem Beschluss vom 8. November 1952 mit 20 zu 2 Stimmen zur Bindungswirkung von ihm (auf der Grundlage des damaligen 97 BVerfGG) erstatteter Rechtsgutachten entschieden: „Wenn ein Gericht durch Gesetz zur Erstattung von Rechtsgutachten berufen wird, so handelt es auch bei dieser Tätigkeit als Gericht. Das Gutachten beruht dann ebenso wie ein Urteil des Gerichts auf Gesetz und Recht; es ist nicht eine bloße Zusammenfassung der Meinungen einzelner Richter, sondern es geht vom Gericht als solchem aus und hat dessen Autorität. … Obwohl also das Gutachten nicht die rechtliche Wirkung eines Urteils hat, ist es doch seinem materiellen Gehalt nach einem Urteil gleichzustellen“ (vgl. BVerfGE 2, S. 79ff, S. 87, S. 89).

Nichts anderes kann für die vom IGH auf der Grundlage von Art. 96 der UN-Charta erstatteten Rechtsgutachten gelten. Mit seinen nach Maßgabe der Verfahrensvorschriften des IGH-Statuts erstatteten Rechtsgutachten beantwortet der IGH als das dafür nach der UN-Charta zuständige Gericht die ihm gestellten Fragen nach dem geltenden Völkerrecht.

Das IGH-Rechtsgutachten und Art. 25 GG

Auf die ihr im Deutschen Bundestag gestellte Frage, ob das Rechtsgutachten des IGH über Art. 25 GG nach ihrer Auffassung innerstaatliche Rechtswirkungen z.B. für die Gestaltung der Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik entfalte, hat die frühere Bundesregierung in der bereits zitierten Bundestags-Drucksache knapp und eindeutig geantwortet: „Nein“ (BT-Drucksache 13/5906).

In der Bundesrepublik Deutschland sind nach Art. 25 GG die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechtes, das vom Gesetzgeber, von der Regierung, der Verwaltung und den Gerichten strikt zu beachten ist (Art. 20 Abs. 3 GG); sie „gehen den Gesetzen vor und erzeugen Rechte und Pflichten unmittelbar für die Bewohner des Bundesgebietes.“

Zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG gehört nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mit Ausnahme des Völkervertragsrechts, soweit in ihm nicht völkergewohnheitsrechtliche Regeln kodifiziert sind, das gesamte geltende Völkerrecht, insbesondere das Völkergewohnheitsrecht sowie die von den Kulturnationen (»civilized nations«) anerkannten allgemeinen Grundsätze des Rechts (so auch die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, vgl. u.a. BVerfGE 15, S.34f; E 46, S. 342 ff).

Der IGH hat in seinem Rechtsgutachten darauf hingewiesen, dass jedenfalls die folgenden Regeln des sog. humanitären (Kriegs)-Völkerrechts als geltendes Völkergewohnheitsrecht anzusehen und zu beachten sind, die aber aufgrund der spezifischen Eigenschaften von Nuklearwaffen nicht eingehalten werden könnten:

  • Jeder Einsatz von Waffen muss zwischen kämpfender Truppe (Kombattanten) und der Zivilbevölkerung unterscheiden.
  • Bei jedem Waffeneinsatz müssen unnötige Grausamkeiten und Leiden vermieden werden.
  • Unbeteiligte und neutrale Staaten dürfen bei einem Waffeneinsatz nicht in Mitleidenschaft gezogen werden.

Der IGH hat daraus den Schluss gezogen: „Aus den oben … erwähnten Anforderungen ergibt sich, dass die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen generell gegen diejenigen Regeln des Völkerrechts verstoßen würden, die für bewaffnete Konflikte gelten, insbesondere gegen die Prinzipien und Regeln des humanitären Kriegsvölkerrechts.“

Damit stellen jedenfalls diese Regeln allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG dar.

Angesichts dessen lässt sich kaum daran zweifeln, dass auch diese Feststellung des IGH zu den allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG zu zählen ist. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind eben die Regeln des Völkergewohnheitsrechts „kraft Art. 25 Satz 1 GG als solche mit ihrer jeweiligen völkerrechtlichen Tragweite Bestandteil des objektiven, im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland geltenden Rechts“ (vgl. BVerfGE 46, 403f).

Nach der Rechtsprechung des BVerfG sind die Träger der deutschen öffentlichen Gewalt gem. Art. 25 GG gehalten, alles zu unterlassen, was einer unter Verstoß gegen allgemeine Regeln des Völkerrechts vorgenommenen Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger im Geltungsbereich des GG Wirksamkeit verschafft (vgl. BVerfGE 75, 19). Ferner sind sie gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden Handlung nichtdeutscher Hoheitsträger bestimmend mitzuwirken (vgl. dazu BVerfG, ebd.). Dies gilt auch für das Verhalten der deutschen Bundesregierung in den Gremien der NATO. Denn die Mitwirkung deutscher Stellen innerhalb der NATO ist nicht von den Bindungen des Grundgesetzes freigestellt (vgl. Art. 20 Abs.3 GG). Mithin ist jede deutsche Bundesregierung innerhalb der NATO-Gremien durch Art. 25 GG gehindert, an einer gegen die allgemeinen Regeln des Völkerrechts verstoßenden „Nuklearpolitik“ mitzuwirken und alles zu unterlassen, was hinsichtlich der NATO-Nuklearpolitik mit den vom IGH herausgearbeiteten allgemeinen Regeln des Völkerrechts unvereinbar ist.

Für ein verfassungskonformes Verhalten der zuständigen deutschen Organe ergibt sich daraus ein großer aktueller Handlungsbedarf.

These 2: Die Bundesregierung darf sich nicht länger der bindenden völkerrechtlichen Verpflichtung aus Art. VI des NV-Vertrages zum effektiven Eintreten für eine baldmöglichste vollständige nukleare Abrüstung (»atomare Nullösung«) entziehen.

Dies gilt sowohl für ihr Verhalten im nationalen Bereich als auch in den Gremien der NATO (NATO-Rat) und in anderen internationalen Organisationen, namentlich auch für ihr Abstimmungsverhalten in den Vereinten Nationen.

Sie ist verpflichtet, sich aktiv für das baldmöglichste Zustandekommen von Verhandlungen über eine vollständige nukleare Abrüstung, also eine vollständige atomare Nullösung, sowie für einen erfolgreichen Abschluss dieser Verhandlungen einzusetzen.

Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Richterspruch vom 8. Juli 1996 einstimmig festgestellt: „Es besteht eine völkerrechtliche Verpflichtung, in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen und zum Abschluss zu bringen, die zu nuklearer Abrüstung (Entwaffnung) in allen ihren Aspekten unter strikter und wirksamer internationaler Kontrolle führen.“

Dies ergibt sich vornehmlich aus Art. VI des NV-Vertrages und den völkerrechtlichen Vereinbarungen vom Mai 1995 im Zusammenhang mit der unbegrenzten Verlängerung des NV-Vertrages, der in der Bundesrepublik Deutschland als zwingendes innerstaatliches Recht gilt und gemäß Art. 20 Abs. 3 GG alle staatlichen Organe bindet; denn nach Art. 20 Abs. 3 GG ist gerade auch die »vollziehende Gewalt« (also Regierung und Verwaltung einschließlich der Streitkräfte) an Gesetz und Recht gebunden. Diese Bindung der Exekutive an das geltende Gesetz und Recht ist ein Kernelement unseres Rechtsstaates. Wer dies missachtet, stellt die Fundamente des Rechtsstaates in Frage. Diese Verpflichtung trifft, wie der Wortlaut des Art. VI des NV-Vertrages ausweist, nicht nur die Atomwaffenstaaten, sondern alle Parteien des NV-Vertrages. Wer keine Atomwaffen besitzt, muss sich dennoch für das vorgegebene Ziel einsetzen, insbesondere wenn er zu den Verbündeten von Atomwaffenstaaten zählt und wenn im Rahmen des Bündnisses, dem er angehört, nukleare Einsatzkonzepte diskutiert und beschlossen werden.

Dem darf sich eine neue Regierungskoalition nicht entziehen.

Die neue Regierungskoalition und die von ihr gebildete Bundesregierung sollte sich deshalb mit aller Kraft entsprechend dem vom Europäischen Parlament am 13. März 1997 gefassten und an alle EU-Mitgliedsstaaten gerichteten Beschluss dafür einsetzen, „dass … Verhandlungen im Hinblick auf den Abschluss einer Atomwaffenkonvention zur Abschaffung nuklearer Waffen aufgenommen werden.“

Eine solche Atomwaffenkonvention muss insbesondere umfassen:

  • das absolute Verbot, Atomwaffen oder nukleare Waffensysteme zu entwickeln, herzustellen, zu besitzen, zu lagern, einzusetzen oder mit ihrem Einsatz zu drohen,
  • wirksame internationale Kontrollsysteme (einschließlich »Societal Verification«, d.h. hinreichende Schutzgarantien für alle diejenigen, die Verstöße gegen die Konvention den zuständigen nationalen oder internationalen Kontrollinstanzen melden).

These 3: Die sog. nukleare Teilhabe der Bundeswehr muss aufgegeben werden.

Wie sich aus der vom seinerzeitigen Bundesverteidigungsminister Rühe vorgelegten »Konzeptionellen Leitlinie zur Weiterentwicklung der Bundeswehr« vom 12.Juli 19941 ergibt, werden im Rahmen der »Krisenreaktionskräfte« der Bundeswehr u.a. „in der Luftwaffe sechs fliegende Staffeln (mit Tornado-Flugzeugen) für … nukleare Teilhabe“ bereitgehalten. Diese Tornado-Flugzeuge sollen im Krisenfalle „als Trägersysteme dem Bündnis zur Verfügung“ gestellt werden. Mit anderen Worten: Die Einsatzplanung sieht vor, dass im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ ggf. deutsche Tornado-Flugzeuge mit (amerikanischen, britischen oder französischen) Atomwaffen beladen und von deutschen Piloten und Besatzungen zu Einsatzorten geflogen werden.

Der neue Bundesverteidigungsminister hat dieser Tage von Washington aus verkündet, er werde „die Geschwader der Luftwaffe, die die Teilhabe Deutschlands an der nuklearen Komponente des Bündnisses gewährleisten, nicht auflösen“ (vgl. FAZ vom 25.11.1998, S. 1).

Damit stellt sich nicht nur die Frage, wie diese »nukleare Teilhabe« mit dem völkerrechtlich wirksamen Verzicht Deutschlands2 auf jede unmittelbare oder mittelbare Verfügungsgewalt über Atomwaffen vereinbar sein kann,3 der sich aus dem Nichtweiterverbreitungsvertrag (Atomwaffensperrvertrag) und dem Zwei-Plus-Vier-Vertrag ergibt. Nach der IGH-Entscheidung vom 8. Juli 1996 ist darüber hinaus zu fragen, wie eine solche »nukleare Teilhabe« und darauf gerichtete Planungen und Übungen weiter aufrechterhalten werden können, wenn der Einsatz von Nuklearwaffen – wie nun festgestellt – „generell“/ „grundsätzlich“ völkerrechtswidrig ist.

Die neue Bundesregierung sollte deshalb unverzüglich die erforderlichen Schritte dafür einleiten, dass jegliche Form der »nuklearen Teilhabe« von Nicht-Atomwaffenstaaten (darunter u.a. Deutschland, Italien, Niederlande) innerhalb der NATO beendet wird. Dies betrifft insbesondere das Bereithalten von Trägersystemen (Tornado-Flugzeuge) „für … nukleare Teilhabe“, die dem Bündnis für einen A-Waffen-Einsatzfall zur Verfügung gestellt werden sollen.

These 4: Die Entscheidung des IGH muss auch Konsequenzen für die Stationierung und Lagerung von Atomwaffen haben.

Nach der Greenpeace-Studie »The 520 Forgotten Bombs«4 sind in Europa nach wie vor mehrere Hundert atomare Sprengköpfe gelagert, davon ein Großteil in Deutschland an den Standorten Büchel, Spangdahlem, Ramstein, Memmingen und Brüggen. Wenn nach der IGH-Entscheidung die Androhung und der Einsatz von Atomwaffen „generell“ / „grundsätzlich“ völkerrechtswidrig sind, dürfen dann weiterhin Atomwaffen an den Stationierungsorten für einen Einsatz bereitgehalten werden? Wird dadurch nicht einem Völkerrechtsbruch Vorschub geleistet?

Das IGH-Rechtsgutachtens vom 8. Juli 1996 erklärt den Besitz, das Lagern und das Bereithalten von Atomwaffen zwar nicht ausdrücklich für völkerrechtswidrig. Allerdings müssen sowohl die Nuklearstaaten als auch die Stationierungsländer alles tun, um ihre mit Nuklearwaffen im Zusammenhang stehenden völkerrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen: Neben der Pflicht zur baldmöglichsten Aufnahme von Verhandlungen über eine vollständige nukleare Abrüstung umfassen diese insbesondere gerade auch den Verzicht auf jede Maßnahme oder Planung, die – bis zu einer vollständigen Abschaffung aller Nuklearwaffen – die Androhung und den Einsatz von Atomwaffen außerhalb der vom IGH gezogenen Grenzen vorsehen und beinhalten. Die Bundesregierung ist gehalten, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um die Einhaltung dieser Grenzen zu gewährleisten. Die beste Gewährleistung besteht darin, auf einen schnellstmöglichen Abzug der in Deutschland verbliebenen Atomwaffen zu dringen.

These 5: Die Ausbildung der Offiziere und Soldaten der Bundeswehr im »humanitären Völkerrecht« (sog. Kriegsvölkerrecht) muss hinsichtlich des A-Waffeneinsatzes auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden; die einschlägigen Dienstvorschriften der Bundeswehr (und der NATO) müssen revidiert werden. Auch die Ausbildung an den Universitäten muss dies zu ihrem Gegenstand machen.

Für den Bereich der Bundeswehr ist spezialgesetzlich in §10 Abs. 4 des deutschen Soldatengesetzes (SG) bestimmt, dass Vorgesetzte „Befehle nur … unter Beachtung der Regeln des Völkerrechts, der Gesetze und der Dienstvorschriften erteilen“ dürfen. Mit anderen Worten: In der Bundeswehr dürfen keine Befehle erteilt werden, die gegen geltendes Völkerrecht verstoßen.

Soldaten der Bundeswehr dürfen nach §11 Abs. 2 SG keinen Befehl befolgen, „wenn dadurch eine Straftat begangen würde.“ Die Tötung oder Verletzung von Menschen, die unter Verstoß gegen geltendes Kriegsvölkerrecht erfolgt, ist strafbar. Erfolgt die Tötung – wie beim Einsatz von Atomwaffen – „grausam“ oder „mit gemeingefährlichen Mitteln“, handelt es sich gar um Mord ( §211 StGB). Auch die Mittäterschaft und die Beihilfe sind strafbar.

Diese rechtliche Situation erfordert: Um die Soldaten und Offizieren der Bundeswehr in die Lage zu versetzen, ihre dargelegten Pflichten sicher erkennen und wahrnehmen zu könnten, müssen die Offiziere und Soldaten der Bundeswehr mit den Regeln des geltenden Völkerrechts in einer Weise vertraut gemacht werden, dass sie diese im Dienst beachten und einhalten können.

Dies muss Konsequenzen haben für die Ausbildung in den Ausbildungsstätten der Bundeswehr und im Bundeswehralltag, aber auch für die Bundeswehrdienstvorschriften.

Auch die Gesellschaft insgesamt, namentlich die Universitäten, müssen sich dieser veränderten Situation stellen. Dies ist nicht nur eine Aufgabe, die der Bundeswehr überlassen bleiben darf.

Literaturhinweise:

Die Friedenswarte (Hrsg. von Knut Ipsen/Volker Rittberger und Christian Tomuschat) (1996): Engl.Text des IGH-Gutachtens und Beiträge von Richard Falk, Michael Bothe, Harald Müller, Camille Grand, Heft 3/1996.

Hilgenberg, Hartmut (1996): Das Gutachten-Verfahren vor dem IGH zur völkerrechtlichen Zulässigkeit von A-Waffen, Saarbrücken.

IALANA (Hrsg.) (1997): Atomwaffen vor dem Internationalen Gerichtshof. Dokumentation – Analysen – Hintergründe. Mit einem Geleitwort von Bundesverfassungsrichter a.D. Helmut Simon, Münster.

International Review of the Red Cross (Hrsg. vom Internationalen Komitee des Roten Kreuzes) (1997): Engl. Text des IGH-Gutachtens und zahlreiche Einzelbeiträge, Heft 316 Jan./Febr.1997.

Anmerkungen

1) Hrsg. vom Bundesministerium der Verteidigung, Bonn 1994, S. 7 f.

2) vgl. dazu u.a. Knut Ipsen, Europaarchiv (EA) 1972, S. 589 ff; Deiseroth, Atomwaffenverzicht der Bundesrepublik – Reichweite und Grenzen der Kontrollsysteme, in: Archiv des Völkerrechts (AVR) 1990, S. 113 ff; Matthias Küntzel, Bonn und die Bombe. Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer bis Brandt, 1992, S. 243 ff.

3) vgl. dazu u.a. Dieter Mahnke, Nukleare Mitwirkung, 1972, S. 239 ff; Deiseroth, Nukleare Teilhabe Deutschlands?, auszugsweise in: Frankf. Rundschau vom 29.1.1996, S. 1

4) vgl. Greenpeace, The 520 Forgotten Bombs. 18. April 1995, S. 5.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1999/1 Risiko Kapital, Seite