Zur Entwicklung des Gegenübers
Sozialpsychologische Ursachen von Intergruppenkonflikten
von Ulrich Wagner und Christoph Butenschön
In den großen Konflikten der letzten Jahrzehnte – von den Balkankriegen über Libyen, Ägypten bis zu Syrien – wurden und werden nationale, ethnische und/oder religiöse Zugehörigkeiten thematisiert und benutzt, um die eigenen Reihen zu schließen und sie gegen Einflüsse des Gegenübers abzuschotten. Die Autoren gehen aus sozialpsychologischer Sicht der Frage nach, welche psychologischen Mechanismen bei der Austragung solcher Intergruppenkonflikte als Erklärung herangezogen werden können.
Verschiedene Modelle aus der Sozialpsychologie, Soziologie und Konfliktforschung sehen in der Auseinandersetzung von Gruppen um materielle Ressourcen eine wesentliche Ursache für die Entstehung von negativ eskalierenden Intergruppenkonflikten. Die klassische Arbeit, die diese Annahme dokumentiert, wurde von Mustafer Sherif und seinen Mitarbeitern (z.B. Sherif 1966) in den 1940-50er Jahren in den USA durchgeführt. Er lud 11- bis 12-jährige weiße amerikanische Jungen zur Teilnahme an Feriencamps ein. In diesen Camps wurden die Jungen in zwei Gruppen aufgeteilt und separat untergebracht. Nach einiger Zeit forderte Sherif dann die beiden Gruppen zu Wettkämpfen gegeneinander auf, beispielsweise ließ er sie zum Tauziehen gegeneinander antreten. Der Gewinnergruppe wurde ein materieller Gewinn in Form von Taschenmessern versprochen. Die Ergebnisse der mehrtägigen Wettkämpfe wurden auf einer Anzeigetafel fortlaufend dokumentiert. Sherifs Untersuchungen zeigen, dass eine solche Konstellation nicht nur zu engagierten Wettkämpfen zwischen den Gruppen führt, sondern dass die Gruppen aufgrund der Auseinandersetzung auch zunehmend Feindseligkeiten, negative Stereotype und Gewaltbereitschaft gegeneinander entwickeln (zu neueren Studien und theoretischen Weiterentwicklungen der Grundannahme vgl. z.B. Bobo 1999).
Ein verwandtes Konzept zu Sherifs Theorie des realistischen Gruppenkonflikts ist die Theorie der kollektiven relativen Deprivation (Vanneman & Pettigrew, 1972). Danach entstehen feindselige Intergruppenkonflikte, wenn Gruppenmitglieder den Eindruck haben, dass andere Gruppen im Vergleich zur eigenen Gruppe ungerechterweise bevorzugt sind. Die Erklärungsansätze, die feindselige Intergruppenkonflikte auf die Auseinandersetzung um materielle Ressourcen zurückführen, betonen, dass allein die Wahrnehmung eines Ressourcenkonflikts ausreicht, um die beschriebenen Prozesse auszulösen: Menschen entwickeln Vorurteile und diskriminieren, wenn sie allein glauben, dass EinwanderInnen die ökonomische Prosperität »ihres« Landes gefährden.
Identitätskonflikte
20 Jahre nach Sherifs Ferienlageruntersuchungen und einer Vielzahl von Replikationen seiner Befunde stellten Henri Tajfel und seine Mitarbeiter die Frage, ob tatsächlich ein Ressourcenkonflikt vorliegen muss, um feindselige Intergruppenkonflikte auszulösen. In ihren »minimal group studies« teilten sie ihren Versuchspersonen, z.B. englischen SchülerInnen, mit, dass sie einer von zwei Gruppen angehören, z.B. der blauen und nicht der grünen Gruppe. Anschließend wurden die Versuchspersonen aufgefordert, einen Geldbetrag auf zwei anonyme andere Versuchspersonen zu verteilen, von denen eine derselben und eine der fremden Gruppe angehört. Die Ergebnisse zeigen, dass unter solchen Bedingungen die Mitglieder der eigenen Gruppe, der »Ingroup«, bevorzugt und die der fremden Gruppe, der »Outgroup«, benachteiligt werden. Andere Studien dokumentieren darüber hinaus, dass sich die Einteilung in exklusive Gruppen nicht nur auf die Zuweisung von Geldbeträgen, sondern auch auf die Beurteilung der Gruppen auswirkt. Die fremde Gruppe und ihre Mitglieder werden allein aufgrund einer Kategorisierung in »Outgroup« schlechter bewertet (Hewstone, Rubin & Willis 2002). Dies geschieht selbst dann, wenn den Versuchspersonen sehr deutlich klar ist, dass die Kategorisierung rein zufällig erfolgt (Billig & Tajfel 1973).
Die »minimal group studies«sind mittlerweile häufig repliziert, z.B. mit Marburger Studierenden. Tajfel (1978; Tajfel & Turner 1979) hat zur Erklärung der Befunde die »social identity theory« erfunden. Danach sind Gruppenzugehörigkeiten identitätsrelevant. Wer und was wir sind, unsere Soziale Identität, erklärt sich (auch) dadurch, welchen Gruppen wir zugehören – die Autoren dieses Beitrags verstehen sich als Mitglieder der Philipps-Universität, Männer und Anhänger von Fußballvereinen. Tajfel geht außerdem davon aus, dass Menschen in der Regel eine positive Selbstwertschätzung anstreben. Für die Soziale Identität, also den Teil des Selbstkonzepts, der aus Gruppenzugehörigkeiten abgeleitet wird, ist eine solche Selbstaufwertung insbesondere dadurch zu erreichen, dass die eigene Gruppe im Vergleich zu wichtigen fremden Gruppen aufgewertet wird – in den »minimal group«-Untersuchungen geht das am besten durch die materielle Bevorzugung der Mitglieder der eigenen Gruppe. Negativ eskalierende Intergruppenkonflikte entstehen aus der Perspektive der Theorie der Sozialen Identität also als Resultat von Identitätskonflikten.
Wir alle gehören verschiedenen Gruppen an oder werden diesen zugerechnet. Diese Gruppenzugehörigkeiten sind in unterschiedlichen Situationen von unterschiedlicher Bedeutung. Nur wenn eine Gruppenmitgliedschaft in einer Situation wichtig – salient – ist, wird sie verhaltensrelevant: Nur wenn sexuelle Orientierung salient wird, z.B. indem sie thematisiert wird, wird die Zugehörigkeit zu der Gruppe Homo- oder Heterosexueller bedeutsam, und vorher unproblematische Interaktionen zwischen Individuen werden zu Interaktionen zwischen Gruppenmitgliedern: Es besteht die Gefahr der oben beschriebenen gegenseitigen Abwertungsprozesse.
Man könnte einwenden, dass die empirische Basis für die Theorie der Sozialen Identität, die »minimal group studies«, sehr artifiziell und in ihrer Bedeutung für »richtige« Intergruppenkonflikte daher eingeschränkt seien. Henri Tajfel, der für seine kritische Haltung gegenüber Laborexperimenten bekannt war, begegnete diesem Einwand mit dem Argument, dass die Effekte einer Kategorisierung in Ingroup-Outgroup noch viel deutlicher ausfallen müssten, wenn die jeweiligen Gruppenzugehörigkeiten von hoher subjektiver Bedeutung sind, wenn es sich also um ethnische Zugehörigkeit, Zugehörigkeit zur ArbeitnehmerInnen- oder Arbeitgebergruppe, die so genannte gesellschaftliche Mitte oder Prekarisierte, usw. handelt – um die Zugehörigkeit zu Gruppen also, die unter Umständen schon in einem jahrelangen Konfliktverhältnis zueinander stehen. Eine weitere Annahme der Theorie der Sozialen Identität ist daher, dass die Prozesse der Ingroup-Outgroup-Differenzierung umso stärker ausfallen, je mehr sich die Beteiligten mit ihren jeweiligen Gruppen identifizieren. NationalistInnen und RassistInnen gehen gegen fremde Gruppen radikaler vor als Personen, für die die eigene nationale oder ethnische Zugehörigkeit von nur geringer Bedeutung ist.
Die Theorien des Realistischen Gruppenkonflikts und der Sozialen Identität sind die sozialpsychologischen Äquivalente der konflikttheoretischen Unterscheidung von Ressourcenkonflikten einerseits und Identitäts- oder Werte- oder Normen-Konflikten andererseits (Bonacker & Imbusch 1999). Tajfel (1978) waren die Befunde Sherifs zum Zeitpunkt der Entwicklung der Theorie der Sozialen Identität natürlich bekannt. Tajfel hat auch nicht versucht, mit seiner Theorie die Theorie des Realistischen Gruppenkonflikts in Frage zu stellen. Er betont vielmehr, dass die Auseinandersetzung um materielle Ressourcen Identitätskonflikte verschärft, indem sie die Salienz der Kategorien und die Identifikation mit der jeweiligen Ingroup erhöht. Dies entspricht einer Annahme aus der Konfliktforschung, wonach Ressourcenkonflikte mit zunehmender Dauer in Identitätskonflikte übergehen können. Der Israel-Palästina-Konflikt beispielsweise begann mit einer Auseinandersetzung um Land und Wasser; inzwischen sind beide Seiten durch die chronisch hohe Salienz der Kategorisierung und die zunehmende Identifikation mit der jeweiligen Seite so weit in einen Identitätskonflikt verstrickt, dass sie massive Benachteiligungen für die Ingroup in Kauf nehmen, nur um der Outgroup noch stärker zu schaden.
Die Bedeutung des »äußeren Feindes«
Gruppen sind für ihre Mitglieder also identitätsrelevant; sie sind darüber hinaus eine wichtige Quelle der Information über angemessene normative Vorstellungen und Verhaltensweisen (Festinger 1954). Insbesondere dann, wenn ich die Richtigkeit der eigenen Überzeugung nicht mehr direkt an der Realität testen kann – welche Haltung soll ich zu Einwanderung einnehmen, welche zu Waffenbesitz, welche zu einer militärischen Intervention in einem Bürgerkriegsland? –, orientiere ich mich an den Vorstellungen, die in meiner Ingroup vertreten werden. John Turner, Miterfinder der Theorie der Sozialen Identität, hat zusammen mit seinen MitautorInnen mit der Selbstkategorisierungstheorie ein Modell vorgestellt, das die Prozesse genauer beschreibt, die in einer Gruppe zu beobachten sind, wenn die Mitglieder dieser Gruppe sich mit einer fremden Gruppe konfrontiert sehen (Turner et al.1987). Danach versuchen die Gruppenmitglieder, innerhalb der eigenen Gruppe eine starke Meinungshomogenität und gleichzeitig eine maximale Differenz zur Meinungsposition der fremden Gruppe herzustellen (um sich so von der fremden Gruppe zu distanzieren – siehe Theorie der Sozialen Identität). Die sich daraus ergebende optimale Position der eigenen Gruppe, auf die sich die Gruppenmitglieder zubewegen, ist die prototypische Gruppenposition.
Mit dem Bekanntwerden – in der Sprache der Selbstkategorisierungstheorie: der Zunahme an Salienz – der Outgroup-Position rücken die Mitglieder mit ihren individuellen Überzeugungen enger zusammen und entfernen sich gleichzeitig von der Position der Outgroup. Mit diesem Prozess verschiebt sich auch die prototypische Gruppenposition, also der Punkt, der die normative Position der Gruppe zu angemessenen Überzeugungen und Verhaltensweisen am besten repräsentiert. In der Outgroup kommt es natürlich zum selben Prozess.
Die Theorie der Selbstkategorisierung macht deutlich, wie der Kontext, in den eine Gruppe eingebettet ist, die Prozesse innerhalb einer Gruppe beeinflusst und die Positionen der Gruppenmitglieder sowie die prototypische Gruppenposition extremisiert. Bekannt sind die Beispiele, dass politische Führer mit der Einführung eines äußeren Feindes und dessen (scheinbar sehr abweichenden) Position die eigenen Reihen hinter sich schließen: Hitler hat dazu die Outgroup der Juden salient gemacht, der Nationalismus in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien wurde damit befeuert, und viele Ereignisse in Israel und Palästina lassen sich aus der ständigen Präsenz des äußeren Feindes erklären (Campbell 1965).
Was kann mensch tun?
Diskriminierung zwischen Gruppen und Gewalt zwischen Gruppen gehen nicht allein auf psychologische Mechanismen zurück (Wagner, Christ & Heitmeyer 2010). Zum Verständnis solcher Ausdrucksformen von Intergruppenkonflikten sind die Analysen objektiv existierender Machtunterschiede, wirtschaftlicher Interessen, des Zugangs zu Informationen und internationaler Vereinbarungen von vorrangiger Bedeutung: Ob Drittstaaten in einem Bürgerkrieg intervenieren oder nicht, hängt in der Regel nicht direkt von der Haltung in der Bevölkerung zu einer solchen Intervention ab. Aber: Das Konfliktverhalten von Makro-Akteuren ist von der Zustimmung oder Ablehnung in (manchen) Bevölkerungen nicht unabhängig. Einwanderungspolitik, die Gleichstellung von Minderheiten und militärische Interventionen sind leichter durchzuführen, wenn sie die Zustimmung der Menschen haben. Damit wird die Frage von Bedeutung, wie die oben beschriebenen sozialpsychologischen Mechanismen beeinflusst werden können, um einer Konflikteskalation entgegenzuwirken.
Wesentliche sozialpsychologische Bedingung für die Entstehung von Intergruppenkonflikten ist die Kategorisierung in Ingroup und Outgroup. Wenn es gelingt, eine solche Kategorisierung zu vermeiden oder einer bestehenden Ingroup-Outgroup-Kategorisierung eine gemeinsame übergeordnete Kategorie hinzuzufügen, können die in der Theorie der Sozialen Identität beschriebenen Mechanismen der Outgroup-Ablehnung vermieden oder abgebaut werden. Die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft hat eine solche übergeordnete Kategorisierung geschaffen und Ressentiments reduziert, allerdings nur in Bezug auf die, die dazu gehören. Die Ablehnung von EinwanderInnen aus Afrika blieb davon unberührt. Außerdem ist zu beachten, dass wir selbst bei einer gemeinsamen übergeordneten Kategorisierung – z.B. in EuropäerInnen – dazu neigen, unsere ursprüngliche Subkategorie, die der Deutschen, in ihrer Bedeutung für die gemeinsame Oberkategorie Europa zu überschätzen (Mummendey & Wenzel 1999) und damit erneut Konfliktpotential zu entwickeln.
Bei der Betrachtung von Kategorisierungsprozessen ist allerdings wichtig zu beachten, dass die Kategorisierungen von Menschen und die Attribute, die unterschiedlichen Gruppen zugewiesen sind, soziale und politische Konstruktionen sind. Menschen unterscheiden sich voneinander in einer Vielzahl von Merkmalen. Dass nun gerade die Hautfarbe, die sexuelle Orientierung oder die Partizipation am Arbeitsmarkt zu relevanten Kategorisierungs- und damit Ausgrenzungsmerkmalen werden (und nicht die Augenfarbe), ist das Ergebnis gesellschaftlicher und politischer Diskurse. Dasselbe gilt, wenn Gruppen ohne empirische Basis Merkmale zugeschrieben werden: Die Türken, Juden, Homosexuellen sind …
Es bedarf deshalb angemessener Wege, um den Missbrauch politisch motivierter Kategorisierung von Menschen in Ingroup und Outgroup entgegenzuwirken. Wie wir in unserer eigenen Forschung zeigen, ist der Kontakt zwischen Mitgliedern verfeindeter Gruppen ein solcher Weg. Intergruppenkontakt trägt dazu bei, negative Stereotype und Vorurteile über fremde Gruppen zu reduzieren und gleichzeitig eine kritischere Perspektive auf die eigene Gruppe einzunehmen (Pettigrew et al. 2011). Dieser Mechanismus wirkt selbst nach massiven Auseinandersetzungen zwischen Gruppen, wie nach Bürgerkriegen (Wagner & Hewstone 2012).
Nicht immer ist direkter Kontakt zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen möglich. Dann bedarf es zumindest einer unabhängigen und detaillierten Presseberichterstattung, um durch Fakten der Entstehung von Vorurteilen entgegenzuwirken. Einschränkend muss dazu allerdings eingewandt werden, dass die empirische Forschung noch nicht so weit ist, eindeutig empfehlen zu können, welche Form der Darstellung (»normale« Mitglieder der Outgroup, besonders erfolgreiche oder Interaktionen zwischen Mitgliedern der In- und Outgroup) besonders geeignet ist, positive Bilder über Outgroups zu fördern und negative zu vermeiden (Mutz & Goldmann 2010).
Auch für kollektives Handeln als Reaktion auf Benachteiligung sind Gruppenprozesse entscheidend. Wenn diskriminierte Menschen ihre Lage als individuelles Problem wahrnehmen und verändern wollen, werden sie z.B. eigene Bildungsanstrengung unternehmen. Die Bereitschaft zu gemeinsamem Handeln gegen Benachteiligung steigt, wenn die Gruppengrenzen und ihre Undurchlässigkeit salient werden, wenn die TellerwäscherInnen also die harte Grenze zu den MillionärInnen wahrnehmen. Die Wahrnehmung von Illegitimität und Veränderbarkeit der Hierarchie zwischen den Gruppen ist Voraussetzung für Befreiungsbewegungen. So beeinflussten die antikolonialen Bewegungen das Selbstverständnis und Handeln der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Auch hier helfen Bildung und kritische Medien, die Realität und Veränderbarkeit struktureller Gewalt zwischen Gruppen zu erkennen und eine politisierte soziale Identität zu entwickeln (Simon & Klandermanns 2001).
Literatur
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Ulrich Wagner ist Professor für Sozialpsychologie im Fachbereich Psychologie und am Zentrum für Konfliktforschung der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Konflikte zwischen Gruppen, Vorurteile, Gewalt und Intervention und Evaluation.
Dipl.-Pol. Christoph Butenschön ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Arbeitseinheit Sozialpsychologie der Philipps-Universität Marburg. Er beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Vorurteilen.