Zur Nahostdimension des Terrorismus Bin Ladens
von Petra Weyland
Anders als der Begriff »Orient«, den wir im Allgemeinen mit romantischen Sehnsüchten besetzen, assoziiert das Wort »Naher Osten« in der deutschen Öffentlichkeit vielfach Gewalt. Wir denken an den endlosen Bürgerkrieg im Libanon, an Flugzeugentführungen durch palästinensische Freischärler, an Katyusha-Beschuss von Siedlungen im Norden Israels oder auch an die jüngste Welle von Selbstmordattentaten islamistischer Extremisten. Und so entsteht sehr schnell der Eindruck, der Terrorismus des Arabers und Muslims Bin Laden und al-Qaidas gehöre zur selben Kategorie wie die militanten Aktionen der schiitisch-libanesischen Hizbullah oder palästinensischer Organisationen in den besetzten Gebieten. Irrationale Gewalt und Terrorismus sind für uns »irgendwie« im Nahen Osten zuhause, scheinen »irgendwie« arabische oder islamische Ursachen zu haben. Allenfalls mit der gelegentlichen Anführung der Redewendung „Was des einen Terrorismus ist, ist des anderen Befreiungskampf“ sind wir bereit wahrzunehmen, dass es neben unserer Perspektive noch eine andere, für uns allerdings inakzeptable Position gibt.
Die Einschätzung, dass extreme, illegale Gewaltausübung ursächlich mit dem Islam oder dem Arabertum verbunden ist, dass es sich bei dem Terrorismus eines Bin Laden oder der Gewalt der afghanischen Taliban um ein und dasselbe Phänomen handelt wie in Palästina/Israel oder im Libanon, ist jedoch falsch. Sie berücksichtigt nicht die unterschiedlichen regionalen, soziopolitischen und kulturellen Problemlagen. Erst die Mechanismen der Globalisierung machen es möglich, dass Bin Laden, al-Qaida und die Taliban heute weltweite Bedeutung gewinnen und ihre spezifischen Formen des Terrors entwickeln können.
Die Krisen im Nahen Osten und besonders in Palästina/Israel haben hiermit zunächst sehr wenig zu tun. Allerdings kommt gerade der Palästinafrage eine wichtige symbolische Bedeutung zu und genau die ermöglicht es, diesen spezifischen Konflikt in den – je nach Blickwinkel – »islamistischen Befreiungskampf« oder den »islamistischen Terrorismus« einzuordnen. Wenn es das zentrale Ziel ist, den Terrorismus auszutrocknen, dann müssen wir die unterschiedlichen Ursachen und Hintergründe des Terrors untersuchen, dann dürfen wir nicht die Augen vor den Entstehungszusammenhängen dieser Entwicklungen verschließen. Das hat nichts mit der Rechtfertigung von Terror zu tun und auch nichts mit Antiamerikanismus oder Sympathiebekundungen für die Terroristen.
Bin Laden und Al Qaida
Tatsächlich verfügen wir über wenig abgesicherte Informationen über Bin Laden1 und Al Qaida. Zu wenig für eine gesicherte Einschätzung bezüglich deren Motivation und Machtbasis. Leider ist das jedoch für die öffentliche Diskussion kaum von Bedeutung. Die hier vorherrschende Betrachtungsweise lässt sich eher als Dämonisierung beschreiben. So wird es möglich, Bin Laden, al-Qaida und die Taliban herausgelöst aus ihren realen soziopolitischen und kulturellen Bezügen zu betrachten und als das Böse schlechthin darzustellen.
Zu beobachten ist dabei, dass die Öffentlichkeit in Bezug auf Saudi-Arabien, die Heimat Bin Ladens, ähnlich ignorant ist, wie dies in den siebziger Jahren bezüglich des Irans unter dem Schah der Fall war. Wir registrieren zwar, dass Saudi-Arabien ein sehr autokratisch regiertes Land ist, dabei interessiert hier aber hauptsächlich, dass dieser Staat sich trotz seiner islamischen Verfassung und trotz seiner autokratischen Herrschaft westlichen Interessen gegenüber konform verhält. Wie im Fall des Iran nehmen wir kaum wahr, dass es in diesem Land enorme gesellschaftliche und politische Spannungen gibt. Tatsächlich existiert in Saudi-Arabien seit langem ein oppositionelles geistiges Klima, eine innergesellschaftliche Opposition, die sich gegen den autokratischen, repressiven Führungsstil der Machteliten richtet, die den offensichtlichen Widerspruch aufgreift zwischen einem islamisch legitimierten Anspruch als Herrscher und Hüter der heiligen Stätten von Mekka und Medina und einer realen Herrschaftspraxis, die nicht dem islamischen Gesetz, der Scharia, entspricht. Hinsichtlich dieser Opposition sei nur daran erinnert, dass militante Islamisten schon 1979 die große Moschee in Mekka besetzten. Dass sich Opposition in einem so traditionalen Land wie Saudi-Arabien kaum anders als religiös artikulieren kann, ist dabei kaum verwunderlich.2
Bin Ladens Entwicklung zum Terroristen muss vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund gesehen werden. Es ist anzunehmen, dass Bin Laden als junger Erwachsener von diesem islamisch-islamistischen oppositionellen Milieu zumindest Kenntnis hatte. So gesehen ist er kein Einzelgänger, der vom Bösen besessen ist. Sondern er erscheint uns als ein Vertreter jenes oppositionellen Teils einer ganzen Generation heranwachsender Saudis, eine jener Personen, die sich auf ihrem Lebensweg und den damit verbundenen einschneidenden Erfahrungen von einem wohlhabenden Spender für islamische karitative Zwecke allmählich zum Extremisten wandeln. Ein ausreichend gefestigtes Weltbild vorausgesetzt, ist es durchaus plausibel, dass er, anders als viele reiche Saudis, sein Erbe nicht in die Partizipation am Jetset der Golfaraber investiert, sondern es der »internationalen islamistischen Solidarität« mit Afghanistan widmet. Und auch als jemand, der schließlich sogar bereit ist in diesem Land aktiv am Kampf für die gemeinsame islamische Sache teilzunehmen, ist er kein Einzelfall. Damals entschlossen sich viele junge Araber dazu, in Afghanistan am Kampf gegen die sowjetischen Besatzer teilzunehmen.3
Es ist anzunehmen, dass die Erfahrung der Waffenbrüderschaft mit Glaubenskämpfern aus anderen muslimischen Gesellschaften, ihre Berichte und Diskussionen über soziale, politische und kulturelle Missstände in ihren Heimatländern, schließlich zur Etablierung von Netzwerken führte, in die Bin Laden integriert war. Erfahrungen, die dazu führten, dass er die saudische Frage in einem umfassenderen, panarabisch-muslimischen, schließlich sogar »antiimperialistischen« Kontext stellte. Hinzu kam, dass ihn – angesichts seiner afghanischen Erlebnisse – die politischen Verhältnisse, die er nach seiner Rückkehr in die Heimat vorfand, abstießen. Das saudische Regime hatte sich in seinen Augen inzwischen völlig delegitimiert. War Bin Laden gerade aus einem erfolgreichen Jihad zurückgekehrt, so musste er nun feststellen, dass die Königsfamilie nicht zuletzt mit dem Ziel der eigenen Herrschaftssicherung den USA eine massive, permanente militärische Präsenz in Saudi Arabien ermöglicht hatte.
Bin Laden nahm den Kampf auf mit dem Ziel der Beendigung der US-Präsenz in Saudi-Arabien. Insofern war sein Ziel sehr konkret – es ging ihm nicht primär darum, »den Westen«, »die westlichen Werte« oder »die Zivilisation« zu bekämpfen. Jedoch weitete sich sein Kampf von diesem sehr konkreten Ziel, die amerikanische Präsenz auf der arabischen Halbinsel zu beenden, schließlich tatsächlich auf Angriffe auf amerikanische Einrichtungen überall in der islamischen Welt aus. Seine Rückkehr nach Afghanistan, seine Integration in ein internationales islamistisches gewaltbereites Netzwerk bewirken einerseits, dass er diesen islamistischen Kräften nun als finanzkräftiger Unterstützer für deren Sache zur Verfügung steht, andererseits aber auch, dass Bin Laden diese Kanäle für sein eigenes Anliegen, US-Institutionen anzugreifen, nutzen kann.
Die Globalisierung und der Terror
Zu dieser Entwicklung haben auch unterschiedliche Aspekte der Globalisierung beigetragen. Elektronische Kommunikation, die mediale Verbreitung von Bildern, Symbolen und Definitionen des »Kampfes der Kulturen«, die Proliferation von Kleinwaffen, Drogenhandel und globale Kapitalströme nahmen im vergangenen Jahrzehnt enorm zu. Damit globalisierten sich die Möglichkeiten für den islamistischen Terror von Bin Laden und al-Qaida. Mögen die Ursprünge dieses Terrors und die anfängliche Motivation der späteren Terroristen auch noch so lokal begrenzt gewesen sein, heute ist diese Form des Terrorismus eine der vielen Facetten der Globalisierung. Genauso wie frühere Formen des Islamismus nie traditional, »vormodern« oder »halbmodern« waren, sondern nur regionalspezifische Ausprägungen einer allumfassenden Moderne, so ist auch Bin Ladens Terrorismus ein weiteres Gesicht der Globalisierung. Und es ist zu befürchten, dass sich gerade nach den monströsen Anschlägen vom 11.9. und den Maßnahmen der weltweiten Antiterrorallianz die Gewaltspirale weiter drehen wird. Denn das Ausmaß und die Dauer der Luftschläge, die steigende Anzahl der zivilen Opfer, die Schwierigkeiten, die Kriegsziele zügig zu erreichen – also Bin Laden und Al Qaida zu zerstören und das Taliban Regime mit den ergriffenen Maßnahmen zu Fall zu bringen, die Tatsache, daß auch Bewegungen, die mit militanten Mitteln gegen eine Besatzungsmacht im eigenen Land kämpf(t)en – also Hizbullah und Hamas –, auf die Liste der zu bekämpfenden Terrororganisationen gesetzt wurden, die Offensichtlichkeit, dass auch jetzt die USA nicht bereit sind, dem israelischen Vorgehen in den besetzten palästinensischen Gebieten energisch entgegenzutreten – all das wird weltweit medial verbreitet und damit vor allem in der islamischen Welt öffentlich diskutiert und kritisiert. Das führt mehr oder weniger automatisch zu einer Abfolge von Reaktionen und Gegenreaktionen. Hinzu kommt, dass beide Kriegsparteien über CNN bzw. über al-Jazira um die Durchsetzung ihrer jeweiligen Definition des Krieges in der öffentlichen Meinung kämpfen und damit dazu beitragen, dass trotz aller andersartigen US-amerikanischen Beteuerungen dieser Krieg als ein Kampf der Kulturen präsentiert wird. Für die USA ist Bin Laden der Böse schlechthin, während Bin Laden in den USA eine moderne Form der Kreuzritter sieht, die wieder einmal ausgezogen sind, die muslimische Welt zu zerstören. Mit dieser Einschätzung versucht er in dem jetzt entbrannten Krieg eine möglichst große Zahl von Muslimen aus allen Ländern zu motivieren, sich seinem Jihad anzuschließen.4 Angesichts der Spirale der Gewalt, die nach dem 11.9. in Gang gesetzt wurde, ist es nur allzu gut nachvollziehbar, dass er angesichts seiner militärischen Unterlegenheit kaum eine andere Strategie verfolgen kann, als sich als islamische Ikone im Kampf gegen die modernen Kreuzritter zu stilisieren, was ihm aufgrund seines offensichtlich vorhandenen Charismas in manchen Kreisen5 tatsächlich auch gelingen mag.
Andere Interessenlage in Nahost
Mit dem Nahen Osten und den dortigen Konflikten, besonders mit der Dauerkrise um Palästina/Israel, hat dieser Teil des internationalen islamistischen Terrorismus wenig zu tun. Weder haben sich die Menschen im Nahen Osten in Scharen nach Afghanistan begeben, noch kämpfen sie vor Ort für die Sache Bin Ladens. Und auch Bin Laden ist nie im Nahen Osten aktiv geworden. Zwar teilt eine überwiegende Mehrheit der arabischen, und so auch der nahöstlichen und besonders der palästinensischen Bevölkerung, die antiamerikanische Einstellung Bin Ladens, ohne dabei jedoch dessen Terror oder gar die Anschläge vom 11.9. gut zu heißen. Diese antiamerikanische Haltung beruht auf einer Jahrzehnte alten, durchaus sehr realen Erfahrung, die besagt, dass die USA nur an der Durchsetzung ihrer eigenen Interessen interessiert sind. Die Menschen registrieren, dass die USA, obwohl sie vorgeben die größten Verfechter von Demokratie und Menschenrechten zu sein, durchaus mit sehr unterschiedlichen, interessengeleiteten Maßstäben an die Umsetzung von UN-Resolutionen gehen; dass sie (zumindest seit dem Junikrieg von 1967) auf Kosten der Palästinenser eine sehr einseitige pro-israelische Politik verfolgen; dass viele korrupte arabische Regime sich nur mit amerikanischer Unterstützung an der Macht halten konnten. Diese US-Politik war für die Menschen vor Ort oft mit großem Leid verbunden, z.B. für die irakische Zivilbevölkerung, die seit Jahren unter dem Embargo leidet, oder für die Menschen in Gaza und der Westbank, die nach wie vor keinen Frieden haben.
Weite Teile der arabischen Bevölkerung erkennen, dass es aufgrund der enormen amerikanischen Machtfülle nicht möglich ist, eigene Interessen erfolgreich durchzusetzen. Sie verstehen dies als Arroganz der Supermacht und das führt bei vielen schließlich zu einem Gefühl der absoluten Machtlosigkeit, der Erniedrigung und Demütigung, zu einem grundsätzlichen Misstrauen, zu Abneigung und Hass. Trotzdem sind die USA für große Teile der nahöstlichen Bevölkerung aufgrund wachsender Armut und politisch-sozialer Perspektivlosigkeit das »Gelobte Land«, in das man ausreisen möchte. Auch hört man in der arabischen Öffentlichkeit immer wieder, dass angesichts der Machtlosigkeit Europas kein anderer Weg bleibe, als die USA als Partner bei Konfliktlösungen zu akzeptieren.
In eben diesem Sinnzusammenhang ist Palästina von zentraler Bedeutung. Am Palästinaproblem zeigt sich am deutlichsten die sehr einseitige, allein an nationalen Interessen ausgerichtete Nahostpolitik der USA.6 In der arabischen Öffentlichkeit ist es Konsens, dass die US-Unterstützung für Israel bisher verhindert hat, dass die Palästinenser ihre politischen Rechte erhalten, und dass die soziale Lage der Palästinenser sich deswegen seit Jahren – und besonders seit Beginn dessen, was als »Friedensprozess von Oslo« bezeichnet wurde – kontinuierlich verschlechtert. Palästina ist seit vielen Jahrzehnten überall in der arabischen Welt, und sogar in Teilen der übrigen muslimischen Welt, das zentrale Symbol für die Verweigerung des Selbstbestimmungsrechts und für den Kampf eines Volkes gegen eine übermächtige, von den USA unterstützte, als kolonialistisch betrachtete staatliche Macht. Hinzu kommt, dass sich die arabische und muslimische Bevölkerung in hohem Maße mit diesem Symbol identifiziert. Diese Identifikation existiert seit Jahrzehnten ungebrochen, auch wenn dies kaum einmal praktische Relevanz bekommen hat.
Historisch gesehen haben diese Solidarität und Identifikation ihre Wurzeln in der Zeit der arabischen Einheit und des Panarabismus der fünfziger und sechziger Jahre, also in der Zeit der Bildung junger Nationalstaaten arabisch-sozialistischer Prägung während der Phase der Entkolonialisierung. Der große, charismatische Führer der arabischen Einheit war der ägyptische Staatschef Gamal Abd an-Nasr, aber es gab auch wichtige, länderübergreifende panarabische Organisationen, wie die »Bewegung der arabischen Nationalisten«. Von ihnen erwarteten die arabischen Massen lange Zeit auch die Befreiung Palästinas. Arabische Intellektuelle und politische Aktivisten führten lange theoretische Debatten über den Zusammenhang von Panarabismus und der Befreiung Palästinas. Zwar ist diese panarabische Phase mit dem Tod Nasrs zu Ende gegangen, aber auch heute noch sieht ein beachtlicher Teil der arabischen Bevölkerung in der arabischen Einheit eine zentrale Voraussetzung für die Befreiung Palästinas.
Hinzu kommt, dass die Solidarisierung der arabischen Massen mit der Palästinafrage alle arabischen Regimes immer auch zu einer zumindest rhetorischen Solidarität mit den Palästinensern gezwungen hat. Jede offene politische oder ökonomische Annäherung dieser Staaten an Israel musste unweigerlich zu deren Delegitimierung in den Augen der arabischen Bevölkerung beitragen, musste die Kluft zwischen arabischer Zivilbevölkerung und autokratischen Machthabern vergrößern. Nicht zuletzt deswegen liegt der Bush-Regierung derzeit so viel daran, den »low intensity war« in Palästina/Israel nicht weiter eskalieren zu lassen. Von diesem innerarabischen, eher säkularen Diskurs waren islamische und islamistische Zirkel durchaus nicht ausgeschlossen, sie entwickelten ihre eigenen Varianten. Und mit dem Niedergang der panarabischen Bewegung und ihrer eher arabisch-sozialistischen Ausrichtung übernahmen islamistisch geprägte Ideologien und Bewegungen dieses Erbe – was sich nach der iranischen Revolution noch verstärkte. So wurde auch das vormals eher säkular besetzte Symbol Palästina allmählich »islamisiert«. Weil Jerusalem nicht nur als zukünftige Hauptstadt eines palästinensischen Staates gedacht war, sondern – nach Mekka und Medina – auch die drittwichtigste Stadt des Islam ist, ließ sich der Kampf um die Befreiung Palästinas von je her auch islamisch begründen. So kam der Palästinafrage immer schon eine wichtige Bedeutung am Sinnhorizont aller Muslime und der Islamisten zu.
Diesem Trend der Islamisierung des Symbols Palästina konnten sich in den letzten Jahren nicht einmal die palästinensische Autonomiebehörde und die palästinensischen politischen Bewegungen entziehen. Sie hätten andernfalls riskiert, im allgemeinen Zuge der Islamisierung der Massen als säkulare, außerdem ziemlich erfolglose politische Kräfte ihren Rückhalt in der Bevölkerung noch weiter zu verlieren. Dies hat dazu geführt, dass der Kampf gegen die Besatzungsmacht, der lange Jahre von säkularen Kräften dominiert wurde, sich zunehmend islamisierte, ohne dass sich damit jedoch Ziele und Inhalte des Widerstands wesentlich änderten.
Vor diesem historischen Hintergrund wird verständlich, warum das Symbol Palästina zwingendermaßen auch in der Argumentation Bin Ladens auftauchen musste. Hinzu kommt, dass die aktuellen Entwicklungen in der Intifada für die Plausibilität dieses Symbols täglich neue Beispiele liefern, die rund um die Uhr auf allen Fernsehkanälen vor allem in der arabischen Welt zu sehen sind.
Ein Beispiel für die Wirkung der Medien ist das Sterben des zwölfjährigen palästinensischen Jungen Muhammad ad-Durra durch die Kugeln israelischer Soldaten im Herbst letzten Jahres. Dieser viele Male im Fernsehen übertragene Tod hat sich so sehr beim arabischen Fernsehpublikum eingeprägt, dass al-Qaida das Sterben dieses Kindes sogar ein Jahr danach noch zum Symbol für das Leiden und Sterben der afghanischen Zivilbevölkerung durch amerikanische Bomben machen kann. Dieses Symbol, diese Zusammenhänge werden von jedem im Nahen Osten und in Palästina verstanden. Und so wird es verständlich, dass al-Qaida sich dieses Ereignisses bedient, um zwischen dem eigenen Kampf und dem der Palästinenser eine Verbindung zu konstruieren. Es ist diese große symbolische Bedeutung des Palästinakonflikts, die es dem islamistischen Terroristen Bin Laden und al-Qaida ermöglicht, bei beachtlichen Teilen der Araber und Muslime zumindest ein gewisses Verständnis zu erwecken.
Auswirkungen des Terrors auf die Nahostfrage
Bleibt zu fragen, welche Auswirkungen die Attentate in New York und Washington und der anglo-amerikanische Krieg in Afghanistan auf die Entwicklung der Krise in Palästina/Israel haben werden. Nach über einem Jahr Intifada ist zu konstatieren, dass vor dem 11.9. ein Ende des Konflikts in weitere Ferne denn je gerückt war. Die auf beiden Seiten ständig eskalierende Gewalt, eine immer größere Zahl an Opfern, der vom israelischen Ministerpräsident Sharon durchaus angestrebte Zerfall der palästinensischen Autonomiebehörde, deren Unfähigkeit und Korruption sind nur einige Gründe dafür, dass heute die ökonomische, politische und soziale Situation weiter Teile der palästinensischen Gesellschaft bedeutend schlechter als je zuvor und kaum noch zu ertragen ist. Vor dem 11.9. zeichnete sich weder in der israelischen und der amerikanischen, noch in der palästinensischen Politik eine Trendwende zum Besseren ab.
Die vage Hoffnung besteht, dass mit dem 11.9. und den Folgeereignissen eine weitere Eskalation vielleicht doch noch aufgehalten wird. Zwar setzte Scharon in den ersten Tagen nach den Attentaten, und besonders nach der Ermordung des israelischen Tourismusministers Zeevis, darauf, Arafat als einen zweiten Bin Laden darzustellen, gegen den das israelische Militär dann zwingend vorgehen müsse. Diese Gleichsetzung Arafats mit Bin Laden wurde aber von der Weltöffentlichkeit und auch von den USA nicht mitgetragen. Trotzdem ist es offensichtlich, dass die israelische Regierung die Situation, in der die Welt ihre volle Aufmerksamkeit auf die Entwicklung in Afghanistan richtete, für eine weitere deutliche Steigerung der Gewalt gegen die Palästinenser nutzte.
Die Bush-Regierung, die seit ihrer Etablierung keinerlei Aktivitäten im palästinensisch-israelischen Krisenmanagement entwickelt hatte, sieht sich nun allerdings gezwungen einzugreifen. Aufgrund innenpolitischer Mechanismen in den USA und aufgrund der amerikanischen strategischen und ökonomischen Interessen in der Golfregion haben sie über viele Jahrzehnte die bedingungslose Unterstützung Israels nicht in Frage gestellt. Die gewaltigen innenpolitischen Erschütterungen nach dem 11.9. und der Wille, die gemeinsame Front gegen den islamistischen Terror nicht zu gefährden, könnten jetzt erstmals zumindest ansatzweise zu einer neuen Politik gegenüber Israel führen. In der Tat haben die Amerikaner in den letzten Tagen immer wieder interveniert, um die Israelis zu einer Mäßigung ihres Krieges gegen die Bevölkerung der palästinensischen Gebiete zu bewegen. Dies ist ihnen sehr bedingt auch gelungen. Andererseits ist hier offensichtlich eine noch viel deutlichere amerikanische Politik gegenüber Palästina und Israel gefragt, um tatsächlich eine Trendwende einzuleiten. Dass die USA jetzt die Etablierung eines palästinensischen Staates befürworten, sollte jedenfalls nicht zu allzu großer Hoffnung führen. Denn nach allem, was sich in den letzten Jahren abgezeichnet hat, käme dieser Staat eher einem völkerrechtlich legitimierten Bantustan gleich als einem tatsächlich souveränen Staat. Trotz aller derzeitiger Rhetorik – größere Skepsis bleibt angebracht, was die Aussichten auf eine gerechte Beilegung dieses Konfliktes aufgrund einer neuerdings geänderten amerikanischen Haltung betrifft.
Anmerkungen
1) Siehe hierzu vor allem: Rashid, Ahmed: Taliban, Afghanistans Gotteskrieger und der Dschihad, München 2001, Droemer.
2) Siehe zur innersaudischen Opposition: Okruhlik, Gwenn: »Understanding Political Dissent in Saudi Arabia«, MERIP Press Information, Note 73, October 24, 2001, www.merip.org
3) Siehe hierzu Rashid, 2001, Kapitel 10. In diesem Kapitel beschäftigt sich Rashid außerdem mit der massiven US-amerikanischen Unterstützung für diesen Widerstand gegen die Sowjetunion. Übrigens verweist auch Huntington schon in seinem Buch »Kampf der Kulturen« darauf, dass der erfolgreiche Kampf der Mujahidin gegen die SU erheblich durch diese amerikanische Unterstützung gefördert wurde. Letztlich haben die USA also zum »Erfolg« Bin Ladens selber maßgeblich beigetragen, - eine äußerst riskante Politik, die auch in anderen Fällen (so z.B. bezüglich Saddam Husseins oder jetzt der afghanischen Nordallianz) praktiziert wurde und wird.
4) so heißt es in Bin Ladens Fernsehansprache vom 3.11.u.a.: „God says: »Never will the Jews or the Christians be satisfied with thee unless thou follow their form of religion.« It is a question of faith, not a war against terrorism, as Bush and Blair try to depict it. (…) After the US politicians spoke and after the US newspapers and television channels became full of clear crusading hatred in this campaign that aims at mobilizing the West against Islam and Musims, Bush left no room for doubts (…) that this war is a crusader war. (…) What terrorism are they speaking about at a time when the Islamic nation has been slaughtered for tens of years without hearing their voices and without seeing any action by them? But when the victim starts to take revenge for those innocent children in Palestine, Iraq, southern Sudan, Somalia, Kashmir and the Philippines, the rulers’ ulema (Islamic leaders) and the hypocrites come to defend the clear blasphemy.“ (Auszug aus dem von al-Gezira ins Englische transkribierten Text auf der BBC-homepage vom 3.11.2001, Korrekturen W&F).
5) Ich denke hier zum Beispiel an jugendliche Palästinenser im Gazastreifen, die nach jahrelangem Leben in einer Art überdimensionalem Gefängnis und enttäuschten Hoffnungen, nach über einem Jahr Intifada, also Demütigung, Verarmung, militärischer Gewalt, absoluter Perspektivlosigkeit, Korruption der eigenen Führung, natürlich in Bin Laden das zentrale Symbol für Widerstand sehen.
6) Es gibt jedoch auch Einschätzungen, die von einer nur begrenzten Macht der USA ausgehen, ihre Ziele im Nahen Osten durchzusetzen. Siehe hierzu z.B. Berg, Manfred: »Freunde und andere Feinde. Wie die USA seit einem halben Jahrhundert versuchen, in der islamischen Welt Realpolitik zu machen«, in: DIE ZEIT vom 4.10.2001.
Dr. Petra Weyland ist Islamwissenschaftlerin und Nahostexpertin. Sie lehrt am Fachbereich Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr.