W&F 1992/4

Zur Zukunft des Nationalismus in Europa

Unvollendeter Nationenbau oder postnationale Gesellschaft?

von Rainer Bauböck

Wie Eric Hobsbawm in seinem jüngsten Buch über Nationen und Nationalismus feststellt, gibt es einen Konsens der neueren Literatur zu diesem Thema, daß Nationen Phänomene der Moderne, genauer gesagt der letzten zweihundert Jahre sind und nur in ihrem Bezug auf den modernen bürokratisch verwalteten Territorialstaat bestimmt werden können. „Nicht Nationen bilden Staaten und Nationalismen, sondern umgekehrt.“ (Hobsbawm 1990, S.10, ähnlich Krippendorff 1985, S.301).

Ferner besteht weitgehende Einigkeit, daß eine Definition von Nationen anhand einer Liste objektiver Merkmale wie Sprache, Territorium, gemeinsame Abstammung, Wirtschaftsgemeinschaft etc., wie sie z.B. von Stalin 1913 formuliert wurde, unmöglich ist. Subjektive Definitionen der Nation als politische Willensgemeinschaft wiederum setzen tautologisch voraus, was zu erklären ist – die Herausbildung einer nationalen Gemeinschaftsidee (Bauböck 1991).

Nationalismus ist für Ernest Gellner (1983/1990) die Forderung nach der Übereinstimmung von kulturellen und staatlichen Grenzen. Benedict Anderson untersucht die Entstehungsbedingungen von Nationen als „imaginierten Gemeinschaften“ (Anderson 1983/1988). Etienne Balibar und Immanuel Wallerstein befassen sich in ihrem Dialog mit der Frage, wie im Rahmen eines kapitalistischen Weltsystems die „Konstruktion von Völkern“ mit den Kategorien der Rasse, der Nation und der Ethnizität erfolgt. (Balibar/Wallerstein 1988/1990). Bei aller Verschiedenheit des Zugangs teilen diese Autoren eine Überzeugung. Das Rätsel der Nation entspringt aus einer falsch gestellten Frage. Es läßt sich erst lösen, wenn sie nicht lautet: Wie erzeugen die zuvor bestehenden religiösen und ethnischen Kulturgemeinschaften die moderne Nation, sondern umgekehrt: Wie erzeugt der moderne Staat jene Kulturgemeinschaft und jene historischen Traditionen, durch die er sich selbst als Nation legitimiert? Gellners Antwort darauf scheint mir die bisher überzeugendste: Die soziale Arbeitsteilung in der industrialisierten Gesellschaft bedingt eine Homogenisierung von Kultur in nationalen Standardsprachen, welche in erster Linie durch ein staatliches Bildungssystem herbeigeführt wird. Dies bedingt auch eine grundlegende Veränderung der Legitimation politischer Ordnung.

In der für den modernen Nationalstaat charakteristischen Vorstellung, daß das Volk der Souverän der politischen Ordnung sei, wird dieses Volk immer auch als Kulturgemeinschaft gedacht (in pluri-nationalen Staaten als gegenüber Außenstehenden exklusive Föderation mehrerer Kulturgemeinschaften). Souveränität im Nationalstaat ist daher auch nicht an das demokratische Legitimationsprinzip der Partizipation auf der Grundlage gleicher Rechte gebunden. Dieser Widerspruch zwischen demokratischer und nationaler Selbstbestimmung ist der rote Faden des folgenden Essays. Er soll zunächst durch das Labyrinth der neuen nationalen Ideologien und Kämpfe führen und am Ausgang in einige theoretische und politische Folgerungen eingeflochten werden.

Symptome einer postnationalen Epoche

Hobsbawm deutet den Aufschwung der Nationalismus-Forschung in den letzten 20 Jahren als Signal eines historischen Niedergangs des analysierten Phänomens. Solange er wirksam war, hielt der Mythos der Nation auch seine politischen Gegner, die Internationalisten und Kosmopoliten gefangen. Erst wenn er seine Kraft verliert, können wir ihn als Mythos begreifen und überwinden. Es gibt auch andere und weniger esoterische Symptome einer zunehmend postnationalen Entwicklung, die jedoch von Gegentendenzen begleitet werden.

Die Rolle von Nationalstaaten in der Weltökonomie hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg tiefgreifend verändert. Gab es zuvor einen breiten Konsens, daß ein Minimum an Bevölkerung, Territorium und materiellen Ressourcen unerläßlich sei für die Lebensfähigkeit eines Staates, so hat sich seither eine neue Arbeitsteilung entwickelt, in der nicht mehr Nationalökonomien die zentrale Rolle einnehmen, sondern „global cities“ (Saskia Sassen 1991), die zu Drehscheiben weltweiter Ströme von Kapital, Waren, Dienstleistungen, Informationen und auch Arbeitsmigrationen werden. Es könnte sein, daß die Epoche der internationalen Struktur des ökonomischen Weltsystems nur eine Phase zwischen den transnationalen Strukturen des 16.-18. Jahrhunderts und der Gegenwart war (Hobsbawm 1990, S.174f.).

Paradoxerweise begünstigt jedoch gerade dieser ökonomische Bedeutungsverlust des Nationalstaats die Proliferation von Nationalismen. Schon in der Phase der Dekolonisierung nach 1945 konnten beliebige, nach rein administrativen Gesichtspunkten durch die Kolonialmächte gezogene Grenzen durch Befreiungsbewegungen zu nationalen umgedeutet werden. Wenn heute in Osteuropa die Ansprüche auf kollektive Selbstbestimmung von den ökonomischen Bedingungen ihrer Einlösung entkoppelt werden, so ermöglicht dies zugleich die Vervielfältigung dieser Ansprüche. Erfolg oder Scheitern hängt dann nur mehr von politischen und militärischen Machtverhältnissen ab. Die Kettenreaktion kommt erst dann zum Stillstand, wenn die verbleibenden Minderheiten zu schwach sind, um ihrerseits souverän zu werden oder sich einem Mutterland anzuschließen.

Der Nationalismus des 19. und 20. Jahrhunderts hatte seine Grundlage nicht nur in der ökonomischen Struktur des Weltsystems, sondern auch in der internen sozialen Transformation industrieller Gesellschaften. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts beobachten wir jedoch gerade in den Metropolen Zerfallserscheinungen nationaler Kulturgemeinschaften und ihrer institutionellen Voraussetzungen: die ideologische Kritik und partielle Rücknahme der wohlfahrtsstaatlichen Regulierung des Kapitalismus; eine Aufweichung des staatlichen Bildungsmonopols mit sozialen und kulturellen Segregationstendenzen in den Grundschulen; einen Funktionsverlust von Grundbildung und standardisierter Kommunikation für die unteren Segmente eines zersplitterten Arbeitsmarktes; die Subkulturalisierung von Mehrheitsbevölkerungen und dauerhafte kulturelle Grenzziehungen gegenüber zugewanderten Minderheiten.

Die Zersetzung der institutionellen Grundlagen des Nationalismus bewirkt jedoch noch nicht sein Verschwinden, sondern eine Verwandlung seiner Manifestationen: Er wird zunehmend negativ definiert, d.h. als Abgrenzung gegenüber Fremdgruppen, wobei die inneren von größerer Bedeutung sind als die externen. Er verbindet sich mit einem politischen Populismus, welcher gegen die technokratische Legitimation politischer Entscheidungen gerichtet ist, aber wenn er zur Macht kommt, selbst das technokratische Modernisierungsprogramm exekutiert (siehe Schedler 1991). Nationalismus wird solange nicht überwunden werden, als er nicht durch ein anderes Legitimationsprinzip politischer Ordnung ersetzt werden kann.

Europäische Ungewißheiten

Noch nie seit 1945 schien die zukünftige politische Gestalt Europas so ungewiß wie jetzt. In politischen Feuilletons ebenso wie in halbamtlichen Dokumenten finden sich drei ganz verschiedene Skizzen für den Umbau.

  • Erstens ein geeintes Europa vom Atlantik bis zum Ural, in dem staatliche Grenzen an Bedeutung verlieren und Nationalismus die harmlosere Gestalt des Regionalismus annimmt.
  • Zweitens ein solches postnationales Europa im Westen innerhalb einer um die EFTA-Staaten erweiterten EG bei gleichzeitiger Desintegration des ehemaligen Ostens in zahlreiche nationale Kleinstaaten und Verwandlung dieser größeren Hälfte in einen halbkolonialen Hinterhof des reichen Westens.
  • Drittens die Verkleinstaatlichung ganz Europas, bei der die Krise des Ostens in den Westen überschwappt und zu einem neuen Gleichgewicht auf der Basis der Selbstbestimmung aller Nationalitäten unabhängig von ihrer Größe führt.

Die Unsicherheit über die Zukunft Europas speist sich aus zwei Quellen: Erstens aus der Ungewißheit, welches dieser Szenarien das wahrscheinlichste ist; zweitens aus der Uneinigkeit, welches darunter das wünschbarste wäre. Was für die einen eine Horrorvision ist, gilt den anderen als bessere Zukunft. Der europäische Umbruch hat die These vom Ende der Geschichte gründlich widerlegt, aber zugleich jene vom Ende der abendländischen Geschichtsphilosophie ebenso gründlich bestätigt. Wir können nicht mehr an ein durch den Sinn der Geschichte verbürgtes Ziel glauben, aber zugleich scheint auch ein spätaufklärerischer Konsens abhanden gekommen zu sein, daß die Überwindung des Nationalismus ein erstrebenswertes Ziel sei. Wenn allerdings die Teleologie nicht nur aus der Geschichtsdeutung, sondern auch aus der politischen Praxis verschwindet, dann ist die Zukunft nicht nur ungewiß, sondern wird zum unbeeinflußbaren Schicksal.

Self-accelerating prophecies

Die Verwirrung im Westen wie im Osten Europas hält sich allerdings in Grenzen – jenen, die durch die Trennlinie der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme vorgegeben war. Westlich davon dominiert die Grundüberzeugung, daß die europäische Vereinigung ein unumkehrbarer Prozeß sei, östlich davon die gegenteilige, daß die Kettenreaktion der Verselbständigung von Nationalitäten zu Nationalstaaten kaum gebremst werden kann. Insofern scheint das zweite der eingangs skizzierten Szenarien einer Addition der Stimmungen in beiden Hälften Europas zu entsprechen.

Dies könnte zu einer self-fulfilling prophecy werden. Solche Vorhersagen werden von manchen auch in der Absicht gemacht, dieses Resultat herbeizuführen. Ein befriedetes, aber erschöpftes und in ökonomisch impotente Kleinstaaten zersplittertes Osteuropa, das keinerlei internationale Verhandlungsmacht einzubringen hat, würde durchaus ein geeignetes Hinterland für ein prosperierendes und geeintes Westeuropa abgeben. Aber auch jene Propheten, welche auf die sich selbst erfüllende Wirkung ihrer Voraussagen vertrauen, könnten sich als Zauberlehrlinge wiederfinden: Gerade das Eintreffen der Erwartung kann den Prozeß jeder Steuerung entziehen.

Dieses Paradox möchte ich als selfaccelerating prophecy bezeichnen. Die Vereinigung Deutschlands kann als Exempel für eine solche modernisierte Variante der self-fulfilling prophecy angeführt werden. Die nationalistische Umdeutung der Demokratiebewegung vom »Wir sind das Volk« zum »Wir sind ein Volk« erzeugte erst den Konsens, „daß zusammenwachsen muß, was zusammen gehört“. Die Folge dieser Prophezeiung war nicht nur ihre Erfüllung, sondern eine Beschleunigung ihrer Einlösung, welche eine technokratisch rationale Steuerung dieses Prozesses weitgehend außer Kraft setzte. Genau umgekehrt verläuft die Entwicklung in Mittel-Süd-Ost-Europa. Die Erwartung eines unaufhaltsamen Zerfalls des Sowjetimperiums und des titoistischen Staates weckte die nationalistischen Geister, welche diesem Zerfall einen neuen Sinn unterlegen: jenen der Selbstbestimmung der so lange unterdrückten Völker. Dies setzte jedoch eine Dynamik in Gang, die vor keinen einmal etablierten staatlichen Grenzen Halt macht, wenn ihr nicht mit den Mitteln der gewaltsamen Unterdrückung von Minderheiten Einhalt geboten wird. Die daraus entstehende Ordnung ist um nichts gerechter oder weniger konfliktträchtig als die alte, nicht einmal gemessen an jenem Selbstbestimmungsrecht, in dessen Namen sie erzwungen wird.

Die mathematische Chaos-Forschung hat illustriert, daß Rückkoppelungsprozesse, wie sie der self-accelerating prophecy zugrunde liegen, unter Umständen auch zu völlig unvorhersehbaren Resultaten führen. Eine solche fatale Schleife wird erzeugt, wenn die jeweils dominierenden Erwartungen zur Grundlage von Vorhersagen über die europäische Entwicklung gemacht werden, welche ihrerseits die politischen Handlungsorientierungen beeinflussen.

Zu den Rückkoppelungsprozessen kommen als weitere Beiträge zur Verunsicherung von Zukunft auch noch Interaktionseffekte hinzu. Das Senario der getrennten Entwicklungswege berücksichtigt nicht, daß bereits der Zusammenbruch der spätstalinistischen Ordnung auch ein Ergebnis verstärkter Wechselwirkungen zwischen West und Ost war. Vor allem die von west- wie osteuropäischen Regierungen in den 80er Jahren gemeinsam betriebene Politik der Verschuldung hatte den doppelten Effekt der Verringerung innerer ökonomischer Reserven und der Verstärkung äußerer politischer Abhängigkeit. Daß auf die jetzige Phase der rapiden Umbrüche ein neuer Isolationismus folgt, ist schwer vorstellbar. Aber ob die fast zwangsläufig zunehmende Interaktion zwischen West und Ost einen stabilisierenden oder destabilisierenden Einfluß auf die Gesamtentwicklung haben wird, ist keineswegs schon ausgemacht.

Die Feststellung, daß die Verwirrungen über die Zukunft innerhalb beider Teile Europas sich in Grenzen halten, hilft uns also nicht besonders weiter. Die Unsicherheit wird verschärft durch die weitere Feststellung, daß die Verwirrungen über die Vergangenheit und die Ursachen der jetzigen Krise grenzenlos scheinen, vor allem wenn man als »Beobachter zweiter Ordnung« den westlichen Blick nach Osten analysiert. Um einen kleinen Beitrag zur Entwirrung zu leisten, soll im folgenden versucht werden, drei Erklärungsmuster für das Aufleben des Nationalismus in Mittel-Süd-Ost-Europa zu unterscheiden, die m.E. in der Reihenfolge ihrer Präsentation an Verbreitung ab-, aber an Plausibilität zunehmen.

Kühltruhe, Dampfkessel oder Akzelerator

Die gängigste Erklärung möchte ich als Kühltruhentheorie bezeichnen. Sie geht davon aus, daß der Nationalismus eine urtümliche Kraft im gesellschaftlichen Leben sei, die zwar vorübergehend unterdrückt werden kann, aber zusammen mit einer Befreiung von Diktatur sich unweigerlich von neuem manifestieren muß. Der Stalinismus habe den Nationalismus also nur vorübergehend eingefroren und damit ein Auf- und Abarbeiten dieser Primärenergie verhindert. Was wir jetzt erleben, sei einfach das Wiederanknüpfen an einer 1917 bzw. 1945 unterbrochenen Entwicklung. Diese These stützt sich auf eine noch immer nicht ausgerottete Variante der Geschichtsphilosophie, jene, die in Deutschland von Herder begründet wurde und deren ursprünglich demokratischer Gehalt in zwei Jahrhunderten eliminiert worden ist. Es ist die Vorstellung, daß Völker das Subjekt der Geschichte seien und ihre Befreiung in Form der Eigenstaatlichkeit nicht nur das Ziel, sondern auch ein unaufhaltsamer Prozeß sei.

Außer von jenen, die einen neuen Völkerfrühling im Osten spüren, wird die Tiefkühltheorie meist mit einer spezifischen Rückständigkeit des Ostens in Zusammenhang gebracht. Demnach hätte der Westen durch die fortgeschrittene industrielle Entwicklung unter demokratischem und kapitalistischem Vorzeichen nach den heftigen Krisen der 30er und 40er Jahre endlich zu einer abgeklärten Form des Nationalismus gefunden, in welcher die Gewalt der Eruptionen gerade dadurch verringert wird, daß die Grundforderung »ein Volk – ein Staat – eine Kultur« im wesentlichen erfüllt sei. Im Osten und Südosten dagegen stünden eben noch einige Flurbereinigungen aus.

Eine optimistische Variante dieser Auffassung könnte als Latenzzeit-These bezeichnet werden. Nach Freud knüpft die Persönlichkeitsentwicklung in der Pubertät nicht einfach an den frühkindlichen Erfahrungen an; die in der Latenzphase verdrängte Sexualität bricht nun in neuen Formen hervor, um schließlich in einen Reifungsprozeß zu münden. Ebenso sei der osteuropäische Nationalismus nach der Unterbrechung durch den Stalinismus zwar kaum weniger gewalttätig, aber gleichzeitig doch reifer geworden. Als Indikator dafür dient der Umstand, daß die neuen populistischen oder auch extrem autoritären Kräfte immerhin durch demokratische Wahlen an die Macht gespült worden seien. Darin und im gesamteuropäischen Integrationsprozeß wird oft eine Art institutionelle Garantie für eine zunehmend ruhigere Entwicklung gesehen. In der Sicht der Latenzzeit-These hätte die stalinistische Diktatur nicht nur die nationalen Triebe unterdrückt, sondern mit ihren massenhaften Vertreibungen bis hin zum Genozid an manchen Nationalitäten sogar bessere Voraussetzungen für eine dauerhafte Lösung durch die Separierung der Völker in Staaten geschaffen.

Gärung im Kessel, Feuer unter dem Topf

Die Dampfkessel-Theorie teilt mit der Tiefkühlthese die Grundannahme einer nationalen Urkraft. Sie argumentiert jedoch anders hinsichtlich des Einflusses, den der Stalinismus gehabt hat, und gelangt zu wesentlich pessimistischeren Schlüssen. In dieser Perspektive bewirkte die Phase des bürokratischen Staatsmonopolismus kein Einfrieren, sondern ein Aufstauen der alten Nationalismen: Erst dadurch hätten sie die jetzt beobachtete Explosivität erhalten. Dies setzt ein differenzierteres Bild der Gesellschaft in der stalinistischen Phase voraus. Zwar hat es keine entwickelte Zivilgesellschaft gegeben, aber in der Privatsphäre der informellen Netze und Beziehungen konnten sich die ethnischen Traditionen behaupten und sogar entwickeln, um nun als Nationalismen neu in Erscheinung zu treten. Unterschwellige Gärung hat also die innere Hitze vergrößert. Zusätzlich heizte der Stalinismus auch das Feuer an, auf dem der Kessel stand. Jetzt ist der Deckel weggeflogen und der Topf quillt über.

In ihren öffentlichen Manifestationen war die Herrschaft der Kommunistischen Parteien eine Schule in brutaler Machtpolitik von oben, durch welche als Beteiligte oder als Opfer auch die jetzigen politischen Führungen der unterdrückten Nationalitäten gegangen sind. Die Masse der Bevölkerung sei gleichzeitig durch realsozialistische Sozialisation zu Passivität, Unmündigkeit und Mitläufertum erzogen worden. Die Ausbrüche der neuen Xenophobie in Ostdeutschland wurden besonders gerne mit einem eigenen stalinistischen Sozialisationstyp erklärt, bis sich Hoyerswerda im Westen wiederholte und zuvor nicht beachtete Untersuchungen zeigten, daß das rassistische Potential in den alten Bundesländern mindestens ebenso groß ist wie in den neuen.

In der Reihenfolge Kühltruhen-, Latenzzeit- und Dampfkessel-These steigt jeweils die Bedeutung der jüngeren Vergangenheit für die Erklärung der Gegenwart. Allen diesen Erklärungen ist jedoch die Annahme gemeinsam, daß der Urgrund des Nationalismus letztlich zeitlos sei oder in einer fernen stammesgeschichtlichen Vergangenheit liege. Es gibt in dieser Sicht einen uneingelösten Wechsel der Geschichte und es scheint nur eine Frage der Zeit und günstigen Gelegenheit, wann er präsentiert wird. Die Oberflächenerscheinung, daß sich die osteuropäischen Nationalismen als unbefriedigte Ansprüche von Völkern auf Selbstbestimmung äußern, wird zur einzig relevanten Ursache umgedeutet. Dabei ist doch nicht nur erklärungbedürftig, warum diese Ansprüche gerade jetzt so heftig geltend gemacht werden, sondern auch unter welchen Bedingungen sie überhaupt entstehen.

Statt nun diese Ideen ausführlicher zu kritisieren, will ich im folgenden nur zwei Aspekte skizzieren, die von ihnen ausgeblendet werden, aber m.E. entscheidend zum neuen Nationalismus beitragen.

Neue Eliten auf Staatssuche

Der erste Aspekt bezieht sich auf eine Neubewertung der stalinistischen Regime, so daß diese nicht nur als Unterdrücker, sondern zugleich als Wegbereiter der gegenwärtigen Nationalismen erkennbar werden.

Die bürokratischen Diktaturen haben von Anfang an oder relativ kurz nach der Unterdrückung aller revolutionär-demokratischen Bewegungen und Experimente zu einer Stagnation der politischen Entwicklung geführt, welche die Entfaltung einer vom Staat unabhängigen Zivilgesellschaft verhinderte. Dennoch fand in dieser Epoche die bis dahin umfassendste Transformation dieser Gesellschaften in sozioökonomischer Hinsicht statt. Die staatlich forcierte Industrialisierung, die Kollektivierung der Landwirtschaft (mit der einzigen Ausnahme Polens), die massive Verstädterung, das Aufbrechen traditioneller Familienstrukturen durch allgemeine Lohnarbeit der Frauen, die wechselseitige ökonomische Abhängigkeit früher fast autarker Regionen, all das zerstörte die Voraussetzungen für ein Überleben der alten agrarischen Volkskulturen ebenso gründlich wie es die industriellen Revolutionen im Westen getan hatten. Allerdings erwies sich nach anfänglichen, um den Preis des Massenterrors erzielten Erfolgen die zentralstaatliche bürokratische Steuerung als Hemmschuh für eine zweite, »qualititative« Industrialisierung. Das Grundproblem war nicht die Unfähigkeit, High Technologies zu entwickeln, sondern die Lähmung der Gesellschaft durch eine vertikale Kommandostruktur, welche die Umsetzung von Produktivitätssteigerungen in wachsenden Wohlstand verhinderte. Dies mündete in der Breschnew-Ära in eine ökonomische Stagnation, welche schließlich die sozialen Grundlagen der Regime unterminierte.

AII das ist wohlbekannt. Weniger beachtet wird jedoch, daß es zumindest ein Gebiet gibt, auf dem in allen diesen Staaten bis in die 80er Jahre hinein Erfolgsbilanzen vorgewiesen werden konnten – dies ist die Bildungspolitik. Über der Kritik an der ideologischen Orientierung wird meist vergessen, daß außer in Ostdeutschland, der Tschechoslowakei und Polen diese Gesellschaften vor der stalinistischen Machtübernahmen von weit verbreitetem Analphabetismus geprägt waren. In dieser Hinsicht wurde im Osten unter »realsozialistischem« Vorzeichen wiederholt, was im Westen Europas einige Dekaden zuvor unter kapitalistischem geschehen war.

Erstens schuf die Massenerziehung in standardisierten Schriftsprachen überhaupt erst eine potentielle Basis für nationale Kommunikationsgemeinschaften und politische Bindungen zwischen Bildungseliten und den breiteren Bevölkerungsschichten. Gemessen an diesem starken und vom Gesellschaftssystem ziemlich unabhängigen Struktureffekt ist die Wirkung der jeweiligen ideologischen Indoktrination offensichtlich von geringerer Bedeutung. Zweitens wurde Bildung in den Gesellschaften sowjetischen Typs, in denen die persönliche Akkumulation von Kapital unterdrückt war, noch stärker als im Westen zum wichtigsten symbolischen Kapital der Aufstiegsorientierten. Drittens wurden durch die staatlich gelenkten Bildungssysteme auch die internen kulturellen Differenzen als territoriale zwischen Nationalitäten neu definiert.

Die explosiven Folgen dieser Politik kommen nun am stärksten dort zum Ausdruck, wo der Staat selbst als Föderation von Nationalitäten definiert worden war, also in Jugoslawien, in der Sowjetunion und nach 1968 in der CSSR. Die strikte Unterordnung aller lokalen Zweige des Machtapparats unter die Zentrale ging Hand in Hand mit der Förderung und Privilegierung lokaler Eliten und einer gleichzeitig anhaltenden ethnischen Durchmischung der Peripherien. In der Sowjetunion wurde innerhalb jeder Republik der namensgebenden ethnisch-nationalen Gruppe ein Vorrang beim Zugang zu den Bildungseinrichtungen ebenso wie zu den lokalen Machtapparaten eingeräumt. Das interne Paßsystem regulierte die Mobilität zwischen Regionen und vor allem den Zuzug in die Großstädte und schrieb gleichzeitig die Nationalität jeder Person fest. Die kombinierte Wirkung beider Maßnahmen war aber nicht eine ethnische Homogenisierung, sondern vielmehr eine künstliche Schichtung der Bürger nach Nationalität innerhalb jeder politischen Region. (Zaslavsky 1991, S.12 ff.). Diese Widersprüche mußten aufbrechen, sobald die mittels der Partei ausgeübte politische Kontrolle der Zentralmacht zusammenbrach. Das »Teile und Herrsche« der Stalinschen Nationalitätenpolitik schuf die Voraussetzungen dafür, daß die Herrschaft schließlich jenen zufiel, die sich ihrer im Namen der Teile bemächtigen konnten.

In diesem politischen Kontext wurden also Bildungseliten geschaffen, die mit der Bevölkerung innerhalb ihrer Nationalkulturen kommunizieren konnten. Ein Teil davon suchte den Zugang zur politischen Macht durch Integration in die Nomenklatura, in deren Hierarchie jedoch keine nationalen Sonderinteressen toleriert wurden. Ein anderer blieb frustriert vom Zugang zur politischen Herrschaft ausgesperrt. Es ist keineswegs verwunderlich, daß im Prozeß des Umbruchs die Machtansprüche beider Schichten in der Sprache des Nationalismus formuliert wurden, denn im Rahmen eines demokratisierten, aber weiterhin zentralisierten politischen Systems wie es wohl Gorbatschows Projekt war, hätten die meisten von ihnen nur untergeordnete Plätze einnehmen können. Die Multiplikation autonomer Staatsapparate ist zwar vom Standpunkt ökonomischer Rationalität im Übergang zur Marktwirtschaft aus gesehen widersinnig, aber die Forderung nach nationaler Souveränität für die jeweils eigene Gruppe ergibt als Strategie zur Maximierung der Macht dieser neuen Gruppen durchaus Sinn.

Die gegenwärtigen Nationalismen sind also nicht einfach ein Ergebnis der Demokratisierung nach einer Phase der Unterdrückung; sie knüpfen vielmehr an Ansprüche auf nationale Autonomie an, die sich zumindest in papierener Form schon innerhalb der stalinistischen Regime Legitimität verschaffen konnten. Gemeinsamkeiten der Sozialstrukturen und der Nationalitätenpolitik im sowjetischen Machtbereich zeigen sich heute darin, daß in allen Regionen und Staaten nationalistische Potentiale aktiviert und linksliberale und demokratische Strömungen an den Rand gedrängt wurden. Die beträchtlichen Unterschiede zwischen den Manifestationen der Nationalismen haben weniger mit dem politischen Erbe als mit dem ökonomischen Entwicklungsstand zu tun.

In den am stärksten entwickelten Regionen wie Slowenien oder den baltischen Staaten ist die dominante Forderung jene nach staatlicher Autonomie. In letzteren haben trotz der vehement antirussischen Kampagnen der neuen Republikführungen sogar die russischen Minderheiten für die Lostrennung gestimmt – in der Hoffnung, daß eine privilegierte Beziehung zum Westen den Erfolg der ökonomischen Reformen garantieren könnte. In Zentralasien dagegen und in den südlichen jugoslawischen Republiken überwiegt die Tendenz, nach neuen Formen des Zusammenschlusses mit einem externen Zentrum zu suchen, weil die wirtschaftliche Autarkie ein fürchterlicher Preis für die staatliche Autonomie wäre (siehe auch Zaslavsky 1991, S. 34ff.). Der Zerfall der UdSSR und die Instabilität der GUS haben für den islamischen Süden eine zweite Option eröffnet – der Iran und die Türkei scheinen durchaus willens als neue Regionalmächte an die Stelle Moskaus zu treten. Die Albaner des Kosovo befinden sich dagegen in einer viel schwierigeren Lage. Mit extremer Repression durch die alte Hegemionalmacht Serbien konfrontiert, bleibt für sie die Orientierung auf den Zusammenschluß mit einem von politischen Krisen und ökonomischen Katastrophen gebeutelten Mutterland ein wenig attraktiver Ausweg.

In jenen Regionen, wo Nationalismus mit ökonomisch motivierten Ohnmachtsgefühlen geladen ist und sich nicht ungehemmt gegen das bisherige politische Zentrum richten kann, wird das Schüren von Haß gegen Minderheiten zum probatesten Mittel für Machthungrige, Unterstützung zu mobilisieren.

Modernisierungsschock und negative Ethnizität

Daß sie diese Unterstützung auch erhalten, ist wesentlich schwieriger zu erklären als das national verbrämte Eigeninteresse der neuen Eliten selbst. Woher kommt die Bereitschaft, den offenkundig falschen Versprechungen zu trauen, daß nationale Souveränität auch schon eine Besserung ihrer materiellen Situation brächte; woher die noch viel weitergehende, für die neuen Vaterländer zu töten oder getötet zu werden?

Vielleicht ist gegenüber diesen Fragen zunächst einmal Skepsis angebracht. Wir kennen im wesentlichen nur die Worthülsen der machthabenden oder zur Macht strebenden Nationalisten und sollten deren Echo im Fernsehinterview mit dem kroatischen, serbischen, georgischen oder litauischen Bauern oder Arbeiter nicht von vornherein als eine adäquate Wiedergabe von Interessen und Meinungen akzeptieren. (Die Bäuerinnen oder Arbeiterinnen, deren Söhne in Bürgerkriege geschickt werden, äußern sich selbst im Fernsehen oft recht dissident). Dazu kommt die Erfahrung, daß in Staaten wie Polen oder Ungarn, in denen die Glut nicht von einem internen Nationalitätenkonflikt permanent angefacht wird, recht bald Ernüchterung gegenüber populistischen Führungen eingesetzt hat, die jedoch angesichts fehlender Alternativen meist in Apathie umschlägt.

Es scheint, daß der Grundbestand des gegenwärtigen Nationalismus im Osten ebenso wie im Westen eine negativ definierte symbolische Ethnizität geworden ist. Deren Antriebskraft wie bereits erwähnt ist nicht so sehr die Neudefinition des staatlichen Rahmens nationaler Selbstbestimmung, sondern vielmehr die Abgrenzung gegen Fremdgruppen. Daher ist es auch schwer, diesen Nationalismus mit politischer Demokratisierung zu verknüpfen. Die resignierende Verbitterung wie die gewalttätigen Ausbrüche dieses negativ definierten Nationalismus können vielleicht am ehesten als Folgen eines sozialen Modernisierungsschocks begriffen werden. Die marktwirtschaftliche Transformation der ost-mittel-süd-europäischen Gesellschaften hat zusammen mit den bescheidenen materiellen Sicherheiten auch jene der bisherigen Formen der Lebensplanung eliminiert. Dabei wird sowohl die Zukunft unsicher als auch die Vergangenheit entwertet. Nicht nur Randgruppen von Dauerarbeitslosen, sondern ganze Generationen von Dreißig-, Vierzig- oder Fünfzigjährigen erleben heute das Trauma einer rapiden Dequalifikation ihres beruflichen Wissens und ihrer erlernten sozialen Fähigkeiten. Wenn diese Analyse zutrifft, so können die strategischen Projekte der nationalen Eliten zwar mit keiner dauerhaften Massenunterstützung rechnen, aber die ethnophobe – gegen Minderheiten gerichtete – Deutung sozialer Krisen kann immer wieder in der Erfahrung sozialer Minderwertigkeit von Mehrheitsbevölkerungen ihren Resonanzboden finden.

Zusammenfassend könnte diese Analyse als Akzelerator-Theorie bezeichnet werden, in welcher stalinistisches Erbe und marktwirtschaftliche Modernisierung nicht zu einem Wiederaufleben alter, sondern zu genuin neuen Nationalismen führen, die sich jedoch in traditionelle Gewänder kleiden, um ihre Machtansprüche historisch zu fundieren. Sowohl der Stalinismus der Zwangsindustrialisierung als auch die derzeitige kapitalistische Umgestaltung sind in dieser Sicht politisch induzierte Beschleunigungen sozialen Wandels. Auf eine Kurzformel gebracht war die Erzeugung einer Massenbasis für Nationalkulturen paradoxerweise ein Hauptresultat der Sowjetpolitik, die politische Formierung nationaler Machteliten ein Ergebnis ihres Zusammenbruchs und die Mobilisierbarkeit der Bevölkerung für deren Ziele Folge einer Modernisierungspolitik ohne soziale Sicherheitsgurte.

 Westeuropa – bleibt der Geist in der Flasche?

Die Bedingungen für die Herausbildung neuer Nationalismen in beiden Teilen Europas sind denkbar verschieden. Im Osten erleben wir eine Implosion astronomischer Größenordnung. Die sowjetische Supernova dehnte sich in zwei Schüben nach dem ersten und zweiten Weltkrieg auf ihre maximale Größe aus. Seit den späten 50er Jahren erlahmte die Aktivität in ihrem Kern – das Innere erkaltete und die gewaltige Hülle verkrustete. 35 Jahre lang erschütterten periodische Beben einige der Peripherien, aber das Zentrum selbst schien aufgrund seines Repressionsapparats und einer elaborierten militärischen Gleichgewichtsbeziehung mit seinem westlichen Gegenpart durch nichts aus den Angeln zu heben. Niemand hatte vorhergesehen, daß die Sowjetgesellschaften letztlich nicht an der Diktatur und dem Terror scheitern würden, sondern am mutigen Versuch, in einem extremen politischen Vakuum Reformen in Gang zu setzen. Gorbatschows Appell zur Umgestaltung richtete sich an Partei und Volk. Seine Hoffnung war, daß dieses »und« noch mit Bedeutung gefüllt werden könnte. Das war sein entscheidender Fehler, an dem er hartnäckig festhielt. Aber wer kann heute schon sagen, ob 1956 oder 1968 eine Demokratisierung á la Gorbatschow Aussichten auf Erfolg gehabt hätte? Sicherlich nicht im Sinn einer Stabilisierung der bürokratischen Herrschaft, aber doch vielleicht in Richtung eines damals überaus populären »dritten Weges«? Jetzt fliegen die Trümmer des Sowjetreichs durch den politischen Raum und erschlagen Menschen.

Im Westen Europas ist es gerade umgekehrt: Die äußere Hülle ist über Jahrzehnte soweit gefestigt worden, daß ihre schrittweise Ausdehnung risikoarm scheint. Hier gibt es im Inneren kein Vakuum, sondern eine mit Macht gesättigte Lösung. Aber auch in dieser Lösung kann Nationalismus kristallisieren. Statt eine Folge von Destabilisierung scheint der neue Nationalismus hier paradoxerweise das Resultat von anhaltender politischer Stabilität bei raschem sozialen Wandel. Gesicherte Ordnung hier wird nicht nur durch ein kräftiges Skelett von Repressionsapparaten erzeugt, sondern dieses wird von einem dichten Nervengewebe mit einer Überfülle miteinander verflochtener und sich wechselseitig stabilisierender Knoten der Macht überlagert und gesteuert. Wie bei einem gut gebauten Kartenhaus macht die vielfach abgestützte Statik des westeuropäischen Hauses es sogar theoretisch möglich, einzelne Mauern herauszunehmen und auszutauschen, ohne daß das Gebilde selbst einzustürzen droht.

Vielleicht ist das wichtigste Merkmal, das die relative Stabilität Westeuropas seit den 50er Jahren erklären kann, der allmähliche Souveränitätsverlust von Nationalstaaten. Dies ist eine ungleichmäßige Entwicklung, sie erfolgt in Schüben und betrifft nicht alle Gebiete staatlicher Politik in gleicher Weise. Das Wesentliche scheint mir jedoch zu sein, daß Souveränitätsverlust ohne Demokratiegewinn nationalistische Gegenbewegungen auslöst.

Zwischen einem auf der Ebene der ökonomischen und politischen Machtzentren integrierten Europa und solchen Gegenströmungen gibt es jedoch keine grundlegende Unvereinbarkeit. Zwar sehen sich einzelne dominierende Parteien durch nationale Populisten bedrängt, doch ihre gemeinsamen Projekte sind noch keineswegs gefährdet und würden wohl sogar den einen oder anderen Durchbruch von Rechtsextremisten überleben. Wir leben heute nicht nur in einem Europa der »zwei Geschwindigkeiten« auf dem einen Weg in die Integration, sondern auch in einem Europa der zwei Fahrtrichtungen. Drei Phänomene zeigen, daß der Konsens über die Zukunft Westeuropas weniger breit ist, als seine Vorbeter glauben machen wollen: erstens die neue Virulenz eines xenophoben westlichen Nationalismus, zweitens anhaltende und neubelebte Konflikte um Autonomie für alte nationale Minderheiten und drittens die Beschwörung der nationalen Souveränität im wachsenden Widerstand gegen die westeuropäische Integration auf der Basis des Maastrichter Vertrags.

Das Programm der Ent-Fremdung als Selbstvergewisserung

Wo in der Vergangenheit noch Verfassungspatriotismus und demokratisch fundierter Staatsnationalismus gepredigt wurde, gibt es heute eine Rückkehr zu integralen und kulturalistischen Definitionen der nationalen Identität. In einer beliebten Gattung von Witzen geht es darum, was denn nun »die Deutschen«, »die Franzosen«, »die Briten« charakterisiere, wenn sie in den Himmel oder in die Hölle kommen. Daraus wird plötzlich die mit unerträglichem Ernst gestellte Frage, was denn uns Deutsche, uns Franzosen oder uns Briten von anderen unterscheide, wenn wir in das postmoderne Europa eintreten. Dieser Diskurs wird viel weniger an Stammtischen gepflegt als von einer neuen nationalen Intelligenzia, die sich nicht mehr ausschließlich rechts verorten läßt, und er findet sein Echo in den Reden der seriösesten Politiker.

Wer dabei als »die anderen« herhalten muß, um verunsicherten Europäern ihre aufgefrischte Identität zu verschaffen, sind in erster Linie Flüchtlinge und Immigranten. Xenophobie und Rassismus, die sich gegen außereuropäische, aber auch gegen osteuropäische Einwanderer richten, grassieren in praktisch allen Staaten des industriell entwickelten Europa. Auch Immigration und die Forderung nach Gleichberechtigung für die Immigrierten wird als Verlust von Souveränität erlebt, denn diese ermächtigte seit jeher zur Kontrolle über den Zugang zum Gemeinwesen und zur Unterscheidung zwischen Bürgern und Fremden.

Das selbsterzeugte Dilemma der Immigrationspolitik ist: Wirtschaftlicher Zusammenschluß plus Deregulierung von Arbeitsmärkten wirken als Magneten für Einwanderung. Gleichzeitig hat die Steuerung der Immigration durch die Nachfrage der Unternehmen einen weiteren Abbau sozialer Sicherung zur Folge – in erster Linie für die vorletzten Einwanderer. Offene Grenzen erzeugen unter diesen Bedingungen Angst und nicht nur unter jenen, die gute Gründe haben, sich bedroht zu fühlen. Die selektive Schließung der Grenzen für bestimmte Gruppen (vor allem Flüchtlinge und Migranten aus islamischen Regionen) und deren interne Diskriminierung als Lohnarbeiter, Wohnungssuchende und Bürger zweiter Klasse beseitigt diese Angst nicht, sondern präsentiert der rassistischen Gewalt auch noch ihre Zielscheiben.

Alte Minderheiten neue Eskalationen

Der neue Nationalismus richtet sich jedoch nicht nur gegen die neuen Bewohner Westeuropas, sondern ebenso gegen seine alten Minderheiten. Nur bietet er für letztere im Unterschied zu ersteren auch eine Chance, ihre Forderungen nach Autonomie oder Souveränität stärker anzumelden. In dieser Hinsicht ist nicht so sehr mit neuen Bruchlinien als mit einer Vertiefung der bestehenden zu rechnen.

Vor allem jene Streitfragen, in denen aufgrund langwieriger Verhandlungen allen ethnischen Kollektiven ein Zipfel der Macht garantiert wurde, können leicht eskalieren. Ausgerechnet kurz vor der Erfüllung der letzten noch offenen Punkte des Südtirol-Pakets brach innerhalb der Einheitspartei der Deutschsprachigen eine Debatte um Autonomie und staatliche Zugehörigkeit auf. Und wer würde heute so unvorsichtig sein, eine Hypothek bis zum Jahr 2000 auf den Fortbestand des belgischen Staates aufzunehmen? In diesen und anderen Fällen hat eine rigide Politik des Ethno-Proporzes den Streit nur oberflächlich beigelegt. Die Festschreibung ethnischer Machtverhältnisse führt bei fortlaufenden sozialen und ökonomischen Veränderungen (etwa durch demographische und Wanderungsbewegungen) zu erhöhter sozialer Reibungsenergie. Wo diese frei wird, versuchen politische Bewegungen, sich einen Teil jener Souveränität zu holen, die von den Nationalstaaten an ein vereinigtes Westeuropa abgegeben wird. Dies gilt noch stärker in Regionen wie Schottland oder Katalonien, wo Nationalbewegungen bei der friedlichen Eroberung der kulturellen und politischen Hegemonie in den letzten Jahren große Fortschritte gemacht haben. Die Entwertung staatlicher Souveränität im westlichen Integrationsprozeß könnte sie für jene durchaus erschwinglich machen, die bisher als Sprecher minderer Sprachen vom Konzert der Nationen ausgeschlossen wurden.

Gerade in jenen beiden Konflikten in Euzkadi (Bakenland) und Nordirland, die schon bisher einen hohen Blutzoll gefordert haben und das Gespenst nationalistischer Bürgerkriege in Westeuropa am Leben erhalten haben, gibt es dagegen Anlaß zur Hoffnung, daß alte Gräben nicht weiter vertieft sondern zugeschüttet werden. Hier könnten die militanten Nationalisten zunehmend ihre Unterstützung in der Bevölkerung verlieren, wenn die Föderalisierung Europas neue Chancen auf symbolische oder auch reale Abkoppelung von alten Hegemonialmächten eröffnet.

Selbstbestimmung  jenseits der Nation?

Für zeitgenössische politische Wissenschaft würde es sich lohnen, über die Frage nachzudenken: Was geht verloren, wenn nationale Souveränität schwindet und wodurch wäre der Verlust ersetzbar? Die Reflexion über die Zukunft des Nationalismus in Europa würde dann auch eine Diskussion über Alternativen eröffnen. Ich kann dazu vorläufig nur ein paar Gedankensplitter beitragen:

Demokratische oder nationale Souveränität?

Souveränität ist nicht dasselbe wie Staatlichkeit. Im internationalen politischen System, in der Außen- und Sicherheitspolitik, werden weiterhin Staaten die wesentlichen Akteure sein. Und auch in der internen Struktur politischer Gemeinwesen wird die Ebene des Staates gegenüber jener der Gemeinden, der förderalen Einheiten und der übernationalen Bündnisse wohl auf lange Sicht deutlich hervorgehoben bleiben. Was diese Ebene heute und in absehbarer Zukunft auszeichnet, ist die Konzentration, aber nicht mehr das Monopol, der Gesetzgebung. Staatlichkeit fixiert einen vorläufig unverzichtbaren Bezugsrahmen für alle Politik, aber nicht jeder Instanzenzug im politischen Spiel endet in derselben souveränen Spitze.

Jean Bodin hat 1576 die klassische Definition formuliert: „Souveränität ist die dem Staat eignende absolute und zeitlich unbegrenzte Gewalt“ (Bodin 1576/1981, S.205). Gemessen an dieser Begriffsbestimmung gibt es zwei mal zwei Einschränkungen von Souveränität: die externe durch Unterwerfung, aber auch mit der freiwilligen Einfügung in einen dauerhaften Staatenbund; die interne, wenn das Allgemeinwohl partikularen Interessen geopfert wird, aber auch mit der Beschränkung staatlicher Macht durch Bürger- und Menschenrechte. Im Grunde werfen schon Montesquieu's und Locke's Theorien der Gewaltenteilung die Frage auf, ob nicht demokratische Souveränität ein in sich widersprüchliches Konzept ist.

Auch das nationale Selbstbestimmungsrecht hat zwei Bedeutungen – eine mythologische: die Emanzipation von unterdrückten Völkern als Nationen; und eine historische: die Legitimierung des Strebens nach Souveränität, nachdem dynastische und imperiale Ansprüche auf dieses höchste politische Gut normativ außer Kraft gesetzt wurden. Nur in diesem letzteren Sinn war und ist das Selbstbestimmungsrecht auch eine Emanzipationschance, weil es die Egalität der Staaten untereinander postuliert (Wallerstein in Balibar/Wallerstein 1988, S 111 f.). Es gebührt den Opfern kolonialer, rassistischer oder ethnischer Unterdrückung, weil sie nur so und zunächst nur als Kollektive jene Gleichrangigkeit erreichen können, die ihnen zuvor als Bürger verwehrt wurde.

Zugleich ist das Selbstbestimmungsrecht unabhängig von der internen Verfassung des Staates d.h. es ist nicht das Recht der politischen Selbstbestimmung, sondern das Recht jener, die erfolgreich im Namen der Nation die souveräne Gewalt ausüben. In der demokratischen Tradition ist das nationale Selbstbestimmungsrecht die Voraussetzung, aber nicht schon die Einlösung der politischen Selbstbestimmung:

Dem aufgrund seiner Rechte in der Zivilgesellschaft souveränen Bürger muß ein in seiner Sphäre souveräner Staat korrespondieren, innerhalb dessen diese Rechte garantiert werden.

Wenn die äußere Souveränität nicht unterjocht, sondern diffus wird, dann gibt es darauf zwei verschiedene politische Antworten: erstens die symbolische, aber in der Eskalation von Konflikten unter Umständen auch gewaltsame Rückforderung der Souveränität im Namen der Nation; zweitens das Auffüllen der neu entstandenen politischen Räume durch demokratische Bürgerrechte.

Multiplikation von Mitgliedschaft

Was einen politischen Raum zur Nation macht, sind nicht seine territorialen Grenzen, sondern die kollektive Selbstabgrenzung seiner Bürger gegen jene, die nicht dazugehören. Wenn in Europa ausschließlich die EG als transnationaler politischer Raum konstruiert wird, dann wird sich in der Abgrenzung von den Peripherien des Ostens und Südens und vor allem in der Abwehr der Einwanderer aus diesen Regionen eine Art westeuropäischer Hypernationalismus entwickeln.

Die Alternative dazu wäre die Anreicherung und Überwindung traditioneller Staatsbürgerschaften durch transnationale ebenso wie subnationale Bürgerschaften. Der institutionelle Raum, innerhalb dessen solche Rechte eingefordert werden können, hätte keine einheitliche Gestalt und scharfen Konturen mehr. Doppelstaatsbürgerschaften, die Angleichung sozialer und politischer Rechte niedergelassener Ausländer an jene der Inländer, die Einräumung spezifischer Einwanderungsrechte auf jenen Verbindungswegen, die in den bisherigen Migrationen ausgebaut wurden und schließlich die stärkere institutionelle Verankerung universeller Menschenrechte, dies wären einige Elemente einer transnationalen Bürgerschaft, welche über Staatenbünde hinausreicht (Bauböck 1992).

Hand in Hand damit könnte die Entwicklung von spezifischen lokalen und Stadtbürgerschaften gehen, welche im Gegensatz zum ethnisch oder pseudo-ethnisch begründeten Föderalismus die Ausdifferenzierung von Funktionen anstelle der Abgrenzung von Regionen und Kulturen als Anknüpfungspunkt politischer und sozialer Rechte nimmt. So wie egalitäre Rechte im Staat den Spielraum für gesellschaftliche Differenzierung durch Erweiterung individueller Wahlchancen eröffnen, so müßte der Anspruch auf adäquate kommunale Infrastrukturen zu einem gleichen Grundrecht für alle Bewohner werden. Um das zu realisieren bedarf es einer negativ bestimmten und einer positiven Leitidee: erstens einer Politik der Desegregation, welche der territorialen Sortierung von Bevölkerungsgruppen in Stadtviertel ebenso entgegenwirkt wie ihrer Zuordnung in vorbestimmte Plätze in institutionellen Hierarchien, und zweitens einer Förderung von Chancengleichheit in den Grundfunktionen städtischen Lebens: Wohnen, Arbeit, Konsum, Bildung, Freizeit, Verkehr.

Multiple Bürgerschaft korrespondiert dann mit multipler Souveränität, welche auf ihre einfachste Bedeutung reduziert wäre: daß jedem Recht eine jeweils höchste Instanz der Gesetzgebung zugeordnet sein muß. Es gäbe dann allerdings nicht mehr eine einzige oberste Instanz für alle Bürgerrechte, sondern eine komplexe Ordnung von vertikal wie lateral angeordneten institutionellen Endpunkten.

Gegen dieses m.E. attraktive Bild gibt es einen wahrhaft schlagenden Einwand: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ (Schmitt 1990). Man könnte ergänzen: Der Krieg ist die ultima ratio der Souveränität. In der Logik des Krieges ist diffuse Souveränität tatsächlich eine Schwächung der Angriffs- wie der Verteidigungschancen. In einer Logik der Verhinderung von Kriegen könnte sie dagegen eine Variable mit positivem Vorzeichen werden. Die alte und noch immer gegenwärtige politische Ordnung der Welt ist aus Nationalstaaten als Bausteinen gefügt. In den Fugen gibt es viel Mörtel und hier und da existieren solide Mauern, mit deren Zusammenbruch niemand rechnen würde. Aber bei einem Erdbeben ist jede Mauerfuge eine potentielle Bruchlinie, entlang derer das Ganze zerfallen kann. Die Automobilkonstrukteure standen bei der Entwicklung brauchbarer Windschutzscheiben vor einem ähnlichen Problem: Beim Aufprall eines Fremdkörpers zerbricht Glas in große zusammenhängende Splitter, welche die Fahrgäste schwer verletzen können. Die von den Ingenieuren gefundene Lösung ist vorbildlich: Statt die Scheibe durch aufwendige Panzerung völlig bruchsicher zu machen, erfanden sie eine Sorte Glas mit einer durchsichtigen Netzstruktur. Beim Zusammenstoß wird dieses Netz als Mosaik von Teilchen und Linien sichtbar und je dichter es ist, umso geringer die Gefahr, daß ein Stück herausbricht.

Anmerkung

Bei dem Text handelt es sich um einen Beitrag für den Friedensbericht 1992 der schweizerischen, deutschen und österreichischen Gesellschaft für Friedensforschung.

Literatur

Benedict Anderson (1983/1988): Imagined Communities, deutsch: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts, Campus Verlag: Frankfurt a.M.

Etienne Balibar<|>/<|>Immanuel Wallerstein (1988/1990): Race, Classe, Nation. Les identités ambigues. Paris, deutsch: Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Argument-Verlag: Berlin.

Rainer Bauböck (1991) Nationalismus versus Demokratie, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Heft 1, S. 73-90.

Rainer Bauböck (1992): Immigration and the Boundaries of Citizenship. Monograph in Ethnic Relations, Centre for Research in Ethnic Relations, University of Warwick.

Jean Bodin (1567/81): Sechs Bücher über den Staat, Buch I-III, Beck-Verlag: München.

Ernest Gellner (1983/90): Nations and Nationalism. Cambridge Oxford, deutsch: Nationalismus und Moderne, Rotbuch: Berlin

Eric J. Hobsbawm (1990/1991): Nations and Nationalism since 1780. Programme, Myth, Reality, Cambridge. deutsch: Nationen und Nationalismus seit 1789. Mythos und Realität, Campus Verlag: Frankfurt a.M.

Ekkehart Krippendorff (1985): Staat und Krieg. Die historische Logik politischer Unvernunft. Frankfurt/Main: suhrkamp.

Saskia Sassen (1991): The Global City. New York, London, Tokyo. Princeton.

Andreas Schedler (1991): Die Nicht-repräsentative Demokratie. Unveröffentlichtes Manuskript. Institut für Höhere Studien, Wien.

Carl Schmitt (1990): Politische Theologie; Duncker und Humblot, Berlin.

Josef Stalin (1913): Marxismus und nationale Frage, Stern-Verlag: Wien. Victor Zaslavsky (1991): Das russische Imperium unter Gorbatschow. Seine ethnische Struktur und ihre Zukunft. Wagenbach: Berlin.

Rainer Bauböck ist Mitarbeiter im Institut für höhere Studien in Wien.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1992/4 Facetten der Gewalt, Seite