W&F 2002/3

Zurück zur Anarchie?

Die Demontage des UN-Systems seit dem Ende der Bipolarität

von Werner Ruf

Für die herrschende Schule der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen, den Realismus, war das Internationale System schon immer anarchisch, gekennzeichnet vom Kampf aller gegen alle und vom Streben der Staaten nach Macht – eingeschränkt allenfalls durch die Macht und die Gewaltandrohung anderer, mächtiger Akteure in diesem System. Und nach dem Ende des Ost-West-Konflikts scheint es, als ob die prominentesten Vertreter der realistischen Schule, die Huntingtons, Brzezinskis, Kissingers, Krauthammers endlich die empirische Bestätigung ihrer Theorie fänden, die sie fleißig durch ihre politikberatende Tätigkeit mit herbeigeführt haben: Krieg wird wieder zum Mittel der Politik, zur ultima ratio, wie unser olivgrüner Außenminister verkündigt – ohne dass auch nur der Versuch gemacht würde, Konflikte präventiv oder durch Vermittlung zu lösen.
In den letzten zehn Jahren mussten wir erfahren, dass nach dem realen Zusammenbruch des Sozialismus die Welt eben nicht friedlicher geworden ist, dass die Zahl der Kriege (Bürgerkriege eingeschlossen) geradezu explodiert, dass die erwartete Abrüstungsdividende allenthalben verkehrt wurde in neue gigantische Hochrüstungsprogramme, die die Welt nicht sicherer, sondern instabiler machen und zur Gewaltanwendung geradezu anreizen – ganz so als ob es gelte, mit immer perfekteren und perfideren Waffensystemen jene elementare Einsicht in Schutt zu bomben, die Immanuel Kant im dritten Präliminarartikel seiner Schrift »Zum Ewigen Frieden« vor über 200 Jahren formulierte: „Stehende Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören. Denn sie bedrohen andere Staaten unaufhörlich mit Krieg durch die Bereitschaft, immer dazu gerüstet zu erscheinen; reizen diese an, sich einander in Menge der Gerüsteten, die keine Grenzen kennt, zu übertreffen, und indem durch die darauf verwandten Kosten der Friede endlich noch drückender wird als ein kurzer Krieg, so sind sie selbst Ursache von Angriffskriegen, um diese Last loszuwerden.“

Das UN-System bis 1990

Bereits 1928 war im Briand-Kellogg-Pakt der Krieg als Mittel der Politik geächtet worden. Es bedurfte jedoch erst der fürchterlichen Massenmörderei des Zweiten Weltkriegs, damit ein internationales Vertragssystem geschaffen wurde, das den Krieg als Mittel der Politik endgültig verbot und mit den Vereinten Nationen und ihrem Sicherheitsrat den Versuch unternahm, ein supra-staatliches Gewaltmonopol zu errichten, das in der Lage sein sollte, Krieg zu verhindern, Angreifer zu bestrafen, dem Völkerrecht zum Durchbruch zu verhelfen, um Konflikte schon im Vorfeld der Anwendung von Gewalt zu lösen. Heißt es doch in Art. 1 Abs. 1 der Charta: „den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.“

Und Abs. 3 des Artikels 1 liefert eine der umfassendsten Definitionen dessen, was wir in der Friedensforschung den »positiven Frieden« nennen, nämlich die Abwesenheit von Konfliktursachen: „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten für alle ohne Unterschied der Rasse, des Geschlechts, der Sprache oder der Religion zu fördern und zu festigen.“

Verantwortliche Akteure in diesem System sollten die souveränen Staaten sein. Eine Einmischung in deren innere Angelegenheiten – konnte sie doch gar nicht anders begriffen werden denn als Angriff auf die Staatensouveränität – war und ist nach Art. 2 der Charta streng verboten.

Nun wäre es naiv, feststellen zu wollen, der normative Charakter dieses internationalen Vertragssystems, eines Systems kollektiver Sicherheit, in dem gerade auch die potenziellen Feinde eingeschlossen sind und sich zu gegenseitigem gewaltfreiem Umgang verpflichten, hätte die Welt zwischen 1945 und 1990 vor Krieg und Gewalttätigkeit bewahrt. Da war der Kampf der kolonisierten Völker um ihre Unabhängigkeit wie in Algerien und Vietnam, da führte die globale Rivalität der Supermächte zu blutigen Stellvertreterkriegen wie in Angola und Nicaragua, zu endlosen Einmischungen in innere Angelegenheiten wie in vielen Staaten des südamerikanischen Kontinents seitens der USA oder in der Tschechoslovakei seitens der SU. Die Ursachen dieser Konflikte liegen in der Fehlkonstruktion des Sicherheitsrates der VN, die den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges einen das Gleichheitsprinzip der Charta verletzenden, privilegierten Status einräumten, ein Vetorecht gegen Resolutionen dieses Organs der VN zugestanden, womit jede dieser fünf Mächte jede Resolution blockieren kann.

Dennoch konnten zahlreiche Konflikte auf der Basis des geltenden Völkerrechts gelöst werden: Fast alle kolonisierten Völker erhielten schließlich ihre staatliche Unabhängigkeit, die Eskalation lokaler Stellvertreterkriege wurde verhindert, die Verletzungen von Völkerrecht wurden verurteilt: So wurde kein Staat so oft vom Sicherheitsrat wegen Bruchs des Völkerrechts verurteilt wie Israel – auch wenn diese Verurteilungen dank der Parteinahme der USA niemals von Sanktionen begleitet wurden.

Zusammenfassend kann für die Periode von 1945 bis 1990 festgestellt werden, dass nicht die VN sondern die bipolare Situation, allerdings auf der Grundlage der Charta, einen relativen Frieden zu erhalten vermochte.

Die Demontage der UN nach 1990

Die Zäsur im Übergang zum unipolaren System stellt der zweite Golfkrieg dar. Die völkerrechtswidrige Aggression des Irak gegen Kuwait, die mit großer Wahrscheinlichkeit von den USA gefördert wurde, war der Anlass für den damaligen US-Präsidenten Georgen Bush, eine »neue Weltordnung« zu verkünden: „Aus diesen schwierigen Zeiten kann unser fünftes Ziel – eine neue Weltordnung – hervorgehen: Eine neue Ära, freier von der Bedrohung durch Terror, stärker in der Durchsetzung von Gerechtigkeit und sicherer in der Suche nach Frieden. Eine Ära, in der die Nationen der Welt im Osten und Westen, Norden und Süden prosperieren und in Harmonie leben können. … Heute kämpft diese neue Welt, um geboren zu werden, eine Welt, die völlig verschieden ist von der, die wir kannten. Eine Welt, in der die Herrschaft des Gesetzes das Faustrecht ersetzt. … eine Welt, in der der Starke die Rechte des Schwachen respektiert.“1 Am Rande sei erwähnt, dass diese Rede am 11. September 1990 gehalten wurde.

Wichtig aber ist die Umsetzung dieser »Neuen Weltordnung«: Nach Einstellung der Kampfhandlungen am Golf, nachdem der Irak alle vorausgegangenen Resolutionen des UN-Sicherheitsrates akzeptiert und umgesetzt hatte (Rückzug aus Kuwait, Anerkennung der kuwaitischen Souveränität etc.) beschloss der Sicherheitsrat jene geradezu historisch zu nennende Resolution 688, in der eine internationale Kontrolle der irakischen Rüstung beschlossen wurde, in der die Ökonomie des Irak dem IWF, der Weltbank und den Clubs von Paris und London unterstellt wurde, in der die Souveränität des Irak über Teile seines Territorium eingeschränkt bzw. aufgehoben wurde und in der vor allem das völkerrechtlich neue Prinzip der »humanitären Intervention« verankert wurde.

Dieses neue Konstrukt der »humanitären Intervention« rechtfertigt zum ersten Mal im modernen Völkerrechts die Intervention in einen souveränen Staat. Dieses Novum wurde dann flugs genutzt und erweitert, um die Intervention in Somalia zu begründen, an der zum ersten Mal auch die Bundeswehr beteiligt war. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass das Völkerrecht sich wesentlich aus zwei Quellen speist: Dem Vertragsrecht und dem Völkergewohnheitsrecht. Auch wenn in den Augen vieler Völkerrechtler das Vertragsrecht höher rangiert, so setzt doch das Gewohnheitsrecht wichtige interpretatorische und richtungweisende Normen. Mit der Etablierung des »Rechts auf humanitäre Intervention« wurde das Tor zu einem neuen Interventionismus in die inneren Angelegenheiten von Staaten geöffnet. Diese Schlussfolgerung ergab sich bereits aus der Instrumentalisierung des Sicherheitsrats nach dem Ende des 2. Golfkriegs: „Das kaum etablierte Novum »humanitäres Interventionsrecht« läuft so Gefahr, zur Legitimation eines unilateralen Interventionismus zu verkommen, der in der Folge der Resolution 688 und unter Berufung auf moralische Werte der Sanktionierung durch den Sicherheitsrat nicht mehr bedarf.“2 Spätestens mit dem Krieg gegen Jugoslawien war dies erreicht.

Mit dieser Resolution 688 wurde das Gewaltmonopol der VN und ihres Sicherheitsrats aufgebrochen, die »humanitäre Intervention« gewissermaßen der Beliebigkeit der Definition der Mitgliedstaaten überantwortet. Gewaltanwendung – genauer Krieg – kann hinfort über dieses Konstrukt der »humanitären Intervention« einseitig von Einzelstaaten legitimiert werden. Das suprastaatliche Gewaltmonopol der VN wird außer Kraft gesetzt.

Mit Blick auf diesen Zusammenhang schrieb Ernst-Otto Czempiel, gleichfalls 1994: „(Wird) das Machtmonopol der Vereinten Nationen aufgebrochen, die Gewaltanwendung über die Selbstverteidigung hinaus wieder legitimiert, stürzt die Welt in jene Zustände zurück, in denen die Gewaltanwendung als akzeptierte ultima ratio der Außenpolitik galt. … Der Krieg kehrt wieder.“3

Und dieser Interventionismus, der mit der Resolution 688 gegen Irak begann, zieht sich wie ein roter Faden durch die folgenden Konflikte in Somalia, Haiti, Bosnien bis zum Kosovo.

Der völkerrechtswidrige, durch keinerlei Mandat des UN-Sicherheitsrats gedeckte Angriffskrieg gegen Jugoslawien muss verstanden werden als ein weiterer entscheidender Schritt auf dem Wege zur Wiedereinführung des »jus ad bellum«, des Rechts auf Kriegführung. Dieser Krieg war gewollt. Denn: Die Jugoslawien vorgelegten Bedingungen in den Verhandlungen von Rambouillet beinhalteten den Verzicht Jugoslawiens auf seine staatliche Souveränität. Eine Bedingung, die kein Staat akzeptieren kann, es sei denn um den Preis der Aufgabe seiner Existenz. Dass es nicht um die vorgeschobenen »humanitären« Argumente ging, zeigt der Skandal um den von Minister Scharping präsentierten »Hufeisenplan«, der noch nicht einmal von der NATO selbst für glaubwürdig befunden wurde.4(Loquai 2000)

Es ist hier nicht möglich, in der notwendigen Differenziertheit auf das Verhältnis von Völkerrecht und Menschenrechten einzugehen, die durch zahlreiche Konventionen, die gerade von den VN etabliert wurden, geregelt sind. Diese enthalten die Möglichkeit von Sanktionen durch die Völkergemeinschaft gegen Rechtsbrecher, nicht aber das Mittel des Krieges, und schon gar nicht des einseitig und willkürlich vom Zaun gebrochenen Krieges! Nicht um den Schutz der Menschenrechte ging es im Kosovo (und warum nur dort und niemals in Palästina?), sondern um die Wiedereinführung des Krieges als Mittel der Politik.

Diese arrogante Ausübung der Macht wurde schon 1991 von Politikberater Charles Krauthammer in seinem Aufsatz »The Unipolar Moment« gefordert: „Unsere beste Hoffnung auf Sicherheit …. ist Amerikas Stärke und die Willenskraft, eine unipolare Welt zu führen und ohne Scham (unshamed) die Regeln der Weltordnung festzulegen und sie auch durchzusetzen.“5 (Krauthammer 1991)

Der 11. September und danach

Der 11. September erscheint in diesem Kontext wie ein Geschenk des Himmels – für die USA sowohl wie für die Diktaturen dieser Welt. Jenseits des Schocks, den diese grauenhaften Anschläge in der US-amerikanischen Bevölkerung auslösten, ja auslösen mussten, erlebte das Land zwischen den zwei Weltmeeren doch den ersten Angriff auf eigenem Territorium. Jenseits dieses psychologischen Schocks und der Erwartungen der Mehrheit der Amerikaner an ihre Regierung, doch etwas zu tun, müssen der Kontext und die Perspektiven bedacht werden, die dieses fürchterliche Ereignis eröffnete. Dazu einige Bemerkungen:

Zum Begriff des Terrorismus

Ohne hier auf die historische Entwicklung des Begriffs eingehen zu können, ist festzustellen: Terror ist illegales Handeln von Gruppierungen zur Durchsetzung politischer Forderungen, denen – nach deren Meinung – anders nicht Gehör verschafft werden kann. Seltsam ist am 11. September, dass sich keine Organisation zu den Anschlägen bekannte (auch wenn jener Usama bin Laden seine Genugtuung darüber zum Ausdruck brachte) und dass keine Forderungen erhoben wurden.

Legitime Forderungen – wie beispielsweise die der Befreiungsbewegungen – wurden nach Erreichung des Zieles, der Unabhängigkeit, im Nachhinein legalisiert: Die Regierungen der Kolonialmächte erkannten die Führungen der Befreiungsbewegungen als Verhandlungspartner an. Wie sehr Terrorismus ein Definitionsproblem darstellt – ohne dass hier auf notwendige Differenzierungen eingegangen werden kann – lässt sich illustrieren an der Person Yassir Arafats, einst Top-Terrorist Nr. 1, dann Friedensnobelpreisträger, und nun wieder Terrorist zumindest für Israel, möglicherweise schon morgen wieder für die USA.

Eigentümlich ist dieser Akt auch, weil in der Regel »Terroristen« mit ihren Anschlägen politische Ziele verfolgen. Die Todesflieger gegen das WTC und das Pentagon haben sich nicht nur nicht zu den Anschlägen bekannt, sie haben auch keine Forderungen erhoben. Und die von den USA vorgetragenen »Beweise« für die Verantwortung bin Ladens wurden nur befreundeten Regierungen vorgelegt.

Wichtiger ist in diesem Zusammenhang jedoch ein theoretischer, aber auch in der Praxis wichtiger Aspekt: Transnational organisierte terroristische Netzwerke – so ein solches für die Anschläge verantwortlich ist – unterscheiden sich von Staaten dadurch, dass sie nicht die Kriterien von Staatlichkeit erfüllen, also kein Territorium kontrollieren, kein Staatsvolk vertreten und kein (legitimes) Gewaltmonopol über Volk oder Territorium besitzen. Einfacher ausgedrückt: Weder kann mit ihnen verhandelt werden noch können sie das Verhandlungsergebnis im Inneren eines Staatsgebietes und/oder Staatsvolks umsetzen.

Staat und Krieg

In der Welt vor 1945 war Krieg, jenes »jus ad bellum«, wesentlicher Bestandteil der staatlichen Souveränität. Krieg in der Staatenwelt war deshalb Krieg zwischen territorial verfassten und politisch identifizierbaren Akteuren. Wie kann mit den klassischen Mitteln des Staates, dem Militär, ein Krieg gegen »den internationalen Terrorismus« geführt werden, der sich ja gerade dadurch auszeichnet, dass er weder territorial verfasst ist, noch als Akteur erkennbar ist, der als Repräsentant eines Staatsvolks die Staatsgewalt vertritt? Ist das Instrument Militär, dessen Aufgabe es ist, fremde Armeen zu bekämpfen, für eine solche Aktion überhaupt tauglich? Gegenüber Verbrechern sind polizeiliche Mittel angemessen. Und Dank internationaler Vernetzung und bestehender völkerrechtlicher Verträge wäre hierfür beispielsweise Interpol zuständig. Krieg dagegen kann, das ist gar nicht anders möglich, nur gegen Staaten geführt werden – und das geschah dann auch geradezu zwangsläufig: Gegen Afghanistan, nicht aber – beispielsweise – gegen Saudi-Arabien, das jahrzehntelang Drehscheibe des gegen die Sowjetunion instrumentalisierten Islamismus war und aus dem die Mehrzahl der von FBI und CIA identifizierten Attentäter stammen. Die Wahl des Mittels Krieg legt die Vermutung nahe, dass die Ereignisse des 11. September für ganz andere Zwecke benutzt werden.

Das Messen mit zweierlei Maß und die Arroganz der Macht

Zu fragen ist hier, ob es sich wirklich um einen Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei handelt, wie von Bush bis Berlusconi und von vielen anderen immer wieder betont wird, oder aber, ob der 11. September dazu genutzt wird, die weltweite Hegemonie der USA zu sichern. Hat der Westen wirklich das moralische Recht, sich als Hort der Zivilisation gegenüber einer Barbarei zu gebärden, die mehr oder weniger deutlich mit dem islamischen Kulturkreis assoziiert wird? Bahman Nirumand hat dies am 29. Sept. 2001 in einer Rede in Frankfurt auf den Punkt gebracht. Unter Bezugnahme auf die Äußerungen Berlusconis erklärte er6:

„Der Ministerpräsident hat die Worte nicht erfinden müssen. Seine Vorfahren in Italien und Deutschland sind vor nicht all zu langer Zeit derselben Idee von einer erhabenen Rasse gefolgt und haben die ganze Welt mit ihrer Zivilisation beglückt. Diese Arroganz ist ekelhaft und widerlich. Wer will es leugnen, dass der Westen Wunderbares hervorgebracht hat, in der Wissenschaften, den Künsten, der Literatur, der Philosophie, der Technik. Demokratie und Menschenrechte sind eine Errungenschaft des Westens. Aber gerade diese Errungenschaften werden oft aufgegeben, sobald man die Grenzen des Abendlands verlässt.

Lassen wir die Zeit des Kolonialismus beiseite, werfen wir nur einen Blick auf das soeben vergangene Jahrhundert. Ich bin kein Glaubensfanatiker und weiß wohl, welche Verbrechen im Namen des Islam begangen wurden und werden. Aber es waren nicht die Muslime, es war die zivilisierte Welt, die sechs Millionen Juden vergast und verbrannt, Millionen Vietnamesen mit Napalm verstümmelt und verseucht hat. Es war die zivilisierte Welt, die in Chile geputscht und Zehntausende in den Tod geschickt, in Algerien Massenmorde durchgeführt und in Südafrika das System der Apartheid den Einheimischen aufgezwungen hat. Es war die zivilisierte Welt, die in nahezu sämtlichen Entwicklungsländern Diktaturen errichtet und sie mit Waffen versorgt hat. Die Flüchtlingslager Sabra und Shatila sind nicht das Werk der Muslime. Es ist doch bekannt, dass Saddam Hussein, die Taliban und ähnliche Verbrecher Zöglinge des Westens waren. Selbst der Terrorist Bin Laden war ein Schützling der CIA. Waren es Muslime, die die Natur zerstört, die Umwelt verseucht haben? Zeugen diese Taten von Humanität, von geistiger, moralischer Erhabenheit, von Zivilität? Wenn man bedenkt, dass in Afrika Tag für Tag mehr Menschen an Aids sterben als bei dem Anschlag in New York und Washington, wenn man sich vor Augen führt, wie viele Kinder und Erwachsene Armut, Hunger und Seuchenkrankheiten zum Opfer fallen, wenn man weiß, dass unzählige Menschen in den Entwicklungsländern ihre gesunden Organe gegen ein Handgeld an reiche Europäer und Amerikaner verkaufen, um ihr Dasein fristen zu können, dann sollte erlaubt sein, die Begriffe Zivilisation und Barbarei noch einmal anhand der Tatsachen unter die Lupe zu nehmen. …“

Es ist die Politik der doppelten Standards, des Messens mit zweierlei Maß, wie Pierre Bourdieu dies kurz vor seinem Tode auf den Punkt gebracht hat,7 die die Wut erklärt, die in den Ländern der ehemaligen Dritten und zunehmend in großen Teilen der Zweiten Welt jenen Hass fördert auf den Westen im allgemeinen und auf dessen Vormacht, die USA, im besonderen.

Und Jürgen Habermas, der noch den Krieg gegen Jugoslawien moralisch zu rechtfertigen vermochte, erklärt: „Die Bush-Regierung scheint den selbst-zentrierten Kurs einer abgebrühten Supermachtpolitik mehr oder weniger ungerührt fortzusetzen. Sie wehrt sich gegen die Einsetzung eines internationalen Strafgerichtshofs und vertraut statt dessen auf eigene völkerrechtswidrige Militärtribunale. Sie weigert sich, die Biowaffen-Konvention zu unterschreiben. Sie hat den ABM-Vertrag einseitig gekündigt und fühlt sich durch den 11. September absurderweise in ihrem Plan, einen Raketenabwehrschirm zu errichten, bestätigt. Für diesen kaum verhohlenen Unilateralismus ist die Welt zu komplex geworden.“8

Und ganz im Sinne der »double standards« könnte man hinzufügen, dass die »Zivilisierten« gefahrlos aus ihren Flugzeugen ganze Landstriche mit Bomben und Zerstörung, mit Minen und Splitterbomben unbewohnbar machen können, ohne dass sie in solchem Krieg um ihr Leben fürchten müssten, während am Boden die zu neuen Bündnispartnern der Zivilisation erkorenen »warlords« die blutige Drecksarbeit erledigen.

Die Pervertierung der Charta der VN

Der anscheinend durch nichts mehr gebremsten Willkür der Gewalt in den internationalen Beziehungen entspricht die weitere Demontage der VN und ihres suprastaatlichen Gewaltmonopols. Auch wenn argumentiert werden kann, wie Gerhard Stuby dies tut9 – und diese Argumentation ist politisch wichtig – dass der Sicherheitsrat sich mit seiner Resolution 1368 keineswegs seiner Kompetenzen begeben habe, so lässt die Formulierung dieser Resolution doch aufhorchen, denn der Sicherheitsrat verweist explizit auf das „naturgegebene Recht (der Staaten) zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung im Einklang mit der Charta“.

Dies ist wörtliches Zitat aus Artikel 51 der Charta. Auch „bekundet (der Sicherheitsrat) in dieser Resolution seine Bereitschaft, alle erforderlichen Schritte zu unternehmen, um auf die Terroranschläge vom 11. September 2001 zu antworten, und alle Formen des Terrorismus zu bekämpfen, im Einklang mit seiner Verantwortung nach der Charta der Vereinten Nationen.“

Verblüffen muss allerdings, dass der Sicherheitsrat in dieser Resolution nur den ersten Halbsatz des entscheidenden Satzes des Art. 51 zitiert, denn, auf den Passus der „Anerkennung des naturgegebenen Rechts zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung“ folgt ein Komma, und hinter diesem geht der Satz folgendermaßen zu Ende: „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat.“

Genau dies aber tut der Sicherheitsrat nicht, sondern „er bekundet seine Bereitschaft“, dies zu tun – und legt damit seine Verantwortung ad acta! So ist es nicht verwunderlich, wenn die USA diese Resolution, die ja wesentlich unter ihrer Mitwirkung zustande kam, als Freibrief verstehen und George Bush in seiner Rede vom 29. Januar 2002, in der er die »Achse des Bösen«, (vorläufig) bestehend aus dem Irak, Iran und Nordkorea definierte, feststellt: „Afghanistan hat bewiesen, dass man mit teuren Präzisionswaffen den Feind besiegt und Unschuldige verschont, und wir brauchen mehr davon. Wir müssen alte Flugzeuge ersetzen und unser Militär beweglicher machen, damit wir unsere Truppen schnell und sicher auf der Welt stationieren können.“10

Auf das Feigenblatt eines Mandats des Sicherheitsrats scheint der Präsident hinfort verzichten zu wollen! Somit erscheint nach gut zehn Jahren die »humanitäre Intervention« nur noch als eine, wenn auch entscheidende Etappe, die den Krieg wieder führbar gemacht hat. Das jetzt reaktivierte »Recht auf individuelle Selbstverteidigung« und der Verzicht auf den zweiten Halbsatz des Artikels 51 in der Resolution des Sicherheitsrats, öffnet der staatlichen Willkür und dem Angriffskrieg Tür und Tor. Krieg ist wieder machbar!

Im Schatten dieser Entwicklungen versuchen auch andere Mächte, ihre Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen: Weil Pakistan Terroristen unterstütze, droht Indien mit der »Lösung« des Kaschmirproblems bis hin zum Einsatz von Atomwaffen. Um die Vision eines Eretz Israel zwischen Mittelmeer und Jordan zu verwirklichen, definiert Israel die palästinensische Autonomiebehörde als Terrororganisation. Russland hat freie Hand in Tschetschenien, und Pastrana kann in Kolumbien die Verhandlungen mit der FARC abbrechen und den Kampf wieder aufnehmen. Die Beispiele können fortgesetzt werden.

Der 11. September wird von allen Diktaturen der Welt genutzt, um noch hemmungsloser als zuvor innenpolitische Gegner zu verfolgen und individuelle Freiheiten zu unterdrücken.

Was sind die wahren Ziele?

Dass Krieg untauglich ist, um die derzeitigen Probleme der zusammenwachsenden Weltgesellschaft zu lösen, wissen auch die Regierenden. Doch die wirklichen Ziele lassen sich erkennen, zum einen an den Staaten, die zur »Achse des Bösen« gezählt werden, vor allem aber an den Stationierungsorten von US-Truppen. So war schon der Golfkrieg die Gelegenheit, eine dauerhafte Militärpräsenz der US-Truppen auf der Arabischen Halbinsel einzurichten. Verfolgt man nun den wohl auf Dauer angelegten Einsatz in Afghanistan, die Waffenlieferungen und die Stationierung von Militärberatern in den früheren asiatischen Sowjetrepubliken, so wird klar, dass es hier um die Kontrolle der Erdölressourcen sowohl der Arabischen Halbinsel wie des Kaspischen Meeres geht.

Bedenkt man, dass die USA aus dem arabischen Raum knapp 10%, Europa aber 40% und Japan 70% ihrer Ölimporte beziehen, dann lässt sich unschwer folgern, dass die militärische Sicherung des vorderasiatischen Raumes den USA die Kontrolle über jene Energieressourcen sichert, die die beiden anderen Pole der Triade existentiell benötigen. Der Hegemon sichert militärisch seine Vormachtstellung gegenüber seinen wichtigsten ökonomischen Konkurrenten ab. Dies erklärt, warum die übrigen Mächte, um mitreden zu können, noch immer der US-Außenpolitik folgen. Es erklärt auch, warum die USA die NATO dazu bewegten, den Bündnisfall nach Art. 5 des NATO-Vertrags feststellen zu lassen, um dann jedoch auf die NATO als militärisches Instrument zu verzichten: Fragen, die »nationale Interessen« betreffen, regelt der Hegemon allein und verhindert so Forderungen nach Mitsprache der Verbündeten!

Zusammenfassung

Viel wäre zu sagen zur Rolle und Politik der Bundesrepublik, die unter ihrer derzeitigen Regierungskoalition auf dem Wege ist, weltweit interventionistisch tätig zu werden – ganz wie dies der damalige Verteidigungsminister Volker Rühe in den Verteidigungspolitischen Richtlinien vom 27. November 1992 gefordert hatte: Das vereinigte Deutschland sollte in die Lage versetzt werden, weltweit deutsche Interessen auch militärisch durchzusetzen, vor allem die Zufuhr von Rohstoffen zu schützen. Der regierenden Koalition ist es zu verdanken, dass diese Bundesrepublik an prominenter Stelle am völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien teilgenommen hat und seither ihre militärpolitische Emanzipation weitertreibt. In diesem Zusammenhang heißt dies: Auch die Bundesrepublik beteiligt sich aktiv an der Demontage des Völkerrechts zugunsten der Durchsetzung sogenannter nationaler Interessen.

Es geht hier nicht darum, moralisch den Zeigefinger zu erheben, sei es gegen die Regierungen der Bundesrepublik oder der USA oder der übrigen Westmächte. Es geht um die Feststellung, dass eine Rechtsordnung zerstört wird, die aus der Einsicht in die Gräuel des Krieges geschaffen wurde. Eine Rechtsordnung, die umso dringender benötigt wird, als wir in der Folge der Globalisierungsprozesse auf dem Weg in eine Weltgesellschaft sind, die ökonomisch, finanziell, kulturell, ökologisch zusammenwächst und daher der suprastaatlichen Regulierung mehr bedarf denn je – ganz so wie es der Art. 1 Abs. 3. der Charta der VN zur Beseitigung der Kriegsursachen forderte: „eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen, um internationale Probleme wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und humanitärer Art zu lösen und die Achtung vor den Menschenrechten … zu fördern und zu festigen.“

Vergessen wir bei dieser ganzen Debatte nicht, dass internationale Regelungen und Verrechtlichungen längst in unser nationales Recht hineinwirken: Sei es das Asylrecht, das Umweltrecht, oder eben das Völkerrecht, das seit 1945 den Staaten das »ius ad bellum« genommen hat. In den USA wie auch in der Bundesrepublik ist zu beobachten, dass die Demontage des Völkerrechts unmittelbare Konsequenzen hat auch für den Abbau der Rechtsstaatlichkeit in der Binnenstruktur der Staaten. Internationale wie innerstaatliche Regelungen werden aufgelöst, Verfassungs- und Bürgerrechte außer Kraft gesetzt, kurzum: bürgerlich-demokratische, zivile Errungenschaften werden preisgegeben zugunsten staatlicher Willkür. Der Demontage des Völkerrechts und der Rückkehr zum Faustrecht in den internationalen Beziehungen entspricht die Demontage des demokratischen Rechtsstaats in der Innenpolitik.

Rechtsstaatliche Demokratien können es sich um den Preis ihrer eigenen Legitimität nicht leisten, in ihren Mitteln auf das Niveau der von ihnen angeklagten Barbarei herabsteigen – und sei es unter dem Vorwand, die Barbarei zu bekämpfen. Die Anwendung brutaler Gewalt gegen die Verlierer des globalisierten Kapitalismus, die Außerkraftsetzung rechtsstaatlicher Regeln auf allen Ebenen gegenüber dem »Rest« der Welt, wie Sam Huntington formuliert,11 zerstört die moralische Autorität, die die Grundlage demokratischer Systeme ist. Solch brutale Arroganz bestätigt nur die Diagnose eines bin Laden über die moralische Verkommenheit des Westens und produziert jene Terroristen, gegen die zu kämpfen der Westen behauptet. Denn das Faustrecht sichert die Reproduktion des Terrorismus, nicht aber die Sicherheit des Westens, die nur durch Anerkennung der Rechte und der Sicherheit der anderen zu haben sein wird.

Prof. Dr. Werner Ruf lehrt Politikwissenschaft an der Uni-GH Kassel

Anmerkungen

1) George Bush, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Rede vor dem US-Kongreß, Washington DC, 11. September 1990.

2) Werner Ruf, Die neue Welt-UN-Ordnung. Vom Umgang des Sicherheitsrates mit der Souveränität der „Dritten Welt“, Münster 1994, S. 119; vgl. dort auch die Analyse des 2. Golfkriegs.

3) Ernst-Otto Czempiel, Die Reform der UNO. Möglichkeiten und Missverständnisse, München 1994, S. 102f.

4) Heinz Loquai, Der Kosovo-Konflikt: Wege in einen vermeidbaren Krieg, Baden-Baden 2000.

5) Charles Krauthammer, The Unipolar Moment; in: Foreign Affairs, Nr. 1/1991, S. 23.

6) Zitiert nach: Friedenspolitische Korrespondenz Nr. 3/2001.

7) Interview mit Pierre Bourdieu, in: Frankfurter Rundschau, 21. November 2001.

8) Jürgen Habermas, Fundamentalismus und Terror. Interview mit Giovanna Borradori. Zitiert nach: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 2/2002, S. 165 – 178, hier S. 166f.

9) Gerhard Stuby, Internationaler Terrorismus und Völkerrecht; in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 11/2001 S. 1330 – 1341.

10) Zitiert nach: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 3/2002, S. 368.

11) Samuel P Huntington, The Clash of Civilizations; in: Foreign Affairs, Sommer 1993, S. 22 – 49, hier Zwischenüberschrift, S. 39.

Der Artikel ist in »Z«, Zeitschrift für marxistische Erneuerung, Frankfurt a. M., Nr. 2-2002 erschienen. Er wurde für W&F leicht gekürzt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2002/3 Welt(un)ordnung, Seite