Zwei Friedensprozesse
Nordirland im Schatten seiner »Friedensstifter«
von Marcel M. Baumann
Der vorliegende Beitrag versteht sich als kritische Bestandsaufnahme des nordirischen Friedensprozesses, der als Erfolgsmodell für alle »ungelösten« innerstaatlichen Konflikte der Welt gilt. Regelmäßig werden Vergleiche und Analogien mit dem Baskenland, Sri Lanka und vor allem mit dem Nahen Osten hergestellt. Nordirland wird zum »Role Model«, der Friedensprozess zur weltweiten Folie konstruktiver Konfliktbearbeitung. Im vorliegenden Beitrag wird dagegen die Gegenthese zum »Role Model Nordirland« begründet und – ausgehend vom Verständnis von Friedensforschung als kritischer Wissenschaft – auf vorhandene Missstände im Friedenskonsolidierungsprozess hingewiesen.
Dies führt die Analyse auch zu einer durchaus ambivalenten Einschätzung der Rolle der Friedensforschung im nordirischen Konflikttransformationsprozess. Diese Einschätzung beruht vor allem auf den sehr geringen Fortschritten auf dem Feld der Vergangenheitsbearbeitung: Anstatt eines sozialen Konsenses im Umgang mit den Opfern des Bürgerkrieges und eines nachhaltigen Prozesses gegenseitiger Aussöhnung kam es in den letzten Jahren zur Institutionalisierung einer »Friedensindustrie«. Und an dieser Friedensindustrie haben sowohl die »Friedensstifter« als auch die politische Elite einen gewinnbringenden Anteil.
Globale Faszination
„We became the spoiled white children of Europe and the world has been fascinated about us“ (Derick Wilson. In: Baumann 2008). Diese Aussage von Derick Wilson, der für die UNESCO in Belfast arbeitet, drückt die globale Faszination aus, der sich Nordirland seit dem Ausbruch des gewaltsam ausgetragenen, inner-staatlichen Konfliktes im Jahr 1968 ausgesetzt sah. Der Nordirlandkonflikt ist der am intensivsten erforschte Konflikt der Welt. Wahrscheinlich existieren mittlerweile mehr Einzelpublikationen (Bücher, Artikel u.a.) als Einwohner Nordirlands. Diese globale Faszination hat seit Beginn des Friedensprozesses noch zugenommen. Der Trend zur »Nordirlandforschung« wird sich vermutlich sogar verstetigen: Spätestens seit Mai 2007 steht Nordirland als Erfolgsmodell für die Lösung innerstaatlicher Gewaltkonflikte in den Geschichtsbüchern, die in der Zukunft geschrieben werden. Denn 10 Jahre nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens (April 1998) kam es zur als historisch einzustufenden ersten gemeinsamen Regierungsbildung der Protagonisten des Nordirlandkonfliktes: die Democratic Unionist Party (DUP), welche stets für die radikale und kompromisslose pro-britische Haltung stand, und die Sinn Fein-Partei, der politische Arm der Irish Republican Army (IRA), nahmen am 8. Mai 2007 die gemeinsame Regierungsarbeit auf. Damit wurde der politische Friedensprozess nachhaltig konsolidiert.
Jedoch nur der »politische« Friedensprozess: jener, für den sich vor allem die politische Prominenz, die externen »Friedensstifter« und die auf Kabinettsposten schauenden nordirischen Politiker interessieren. Jene politische Erfolgsgeschichte, die sich so viele gleichzeitig auf ihre Fahnen schreiben möchten. „Nicht ganz geheuer“ beurteilt daher der Journalist Pit Wuhrer die nordirische Gesamtsituation. Er zitiert hierzu die Aussage von Bernadette Devlin-McAliskey, einer republikanischen Aktivistin. Sie kritisierte vehement, dass der politische Frieden den gesellschaftlichen Friedensprozess ignoriert habe: Es gibt zwei Friedensprozesse. Der eine oben, gesteuert von den Briten, die alle in Verhandlungen zwangen, die ihrer Meinung nach relevant waren. Und der unten, der zwischen den Gemeinschaften (in: Freitag, 17.8.2007).
Für den »zweiten Friedensprozess« habe sich bisher kaum jemand interessiert. Auch die mediale Aufmerksamkeit richtete sich vor allem auf die makropolitischen Erfolge, nicht auf die untere gesellschaftliche Ebene des Friedens. Ein »neues Nordirland« scheint entstanden zu sein; eines, in dem der Weg hin zu mehr Frieden, Fortschritt und Gerechtigkeit scheinbar unumkehrbar geworden ist.
Jedoch paart sich die Aufhebung der Sprachlosigkeit auf der politischen Ebene mit einer fortdauernden Sprachlosigkeit auf der gesellschaftlichen Ebene. Die Paradoxie des »neuen Nordirlands« besteht darin, dass sich beide Gemeinschaften weiterhin »nichts zu sagen haben«; die Nachkriegsgesellschaft lässt sich bestenfalls als gewaltlose, aber nicht als friedliche Koexistenz beschreiben. Vielmehr verweisen die sozialen Ordnungsstrukturen auf den Zustand eines unabgeschlossenen Friedensprozesses, d.h. auf eine prekäre Post-Konflikt-Gesellschaft, die sich durch Situationen unsicherer, instabiler innergesellschaftlicher Lebensverhältnisse auszeichnet. Die Strukturmerkmale und fragile innere Verfasstheit einer prekären Post-Konflikt-Gesellschaft können unter der Theorie »freiwillige Apartheid« subsumiert werden. »Freiwillige Apartheid« beschreibt jene Zwischenwelten, in denen weder Krieg noch Frieden herrschen und sich auf der gesellschaftlichen Ebene ein unabgeschlossener Friedensprozess verfestigt (siehe: Baumann 2008).
Der politische Friedensprozess hat sich noch nicht positiv auf den »zweiten Friedensprozess« ausgewirkt, wobei der wichtigste Faktor, der dem Prozess der Auflösung freiwilliger Apartheid entgegenwirkt, die Persistenz gewaltkodierter Erinnerungen beider Gemeinschaften bildet. Hierin besteht das große Versagen des politischen Friedensprozesses: Es fehlt bislang an nachhaltigen Strategien konstruktiver Vergangenheitsbearbeitung. Dies kann sich langfristig auf der Ebene der Gesellschaft destruktiv auswirken, denn die Gesellschaft bzw. die Zivilgesellschaft wird irgendwann beginnen, kritische Fragen an die politische Ebene zu stellen: ca. 1.800 Todesfälle sind immer noch nicht aufgeklärt. Deren Familien und Hinterbliebenen suchen nach Antworten.
Jenseits des Erfolgsmodells: Versäumnisse von Politik und Wissenschaft
Glaubt man den Berichten von Amnesty International, Human Rights Watch und anderen Organisationen, so standen die »Schuldigen« am Nordirlandkonflikt von Anfang an fest: die protestantische Gemeinschaft, die britische Regierung und vor allem die nicht-staatlichen Kriegsakteure der protestantischen Seite, nämlich die Ulster Volunteer Force (UVF) und die Ulster Defence Association (UDA). Rhetorisch untermauert wurde dieses stets mit einer Dämonisierung der UDA und der UVF: Sie wurden als »Todesschwadrone« bezeichnet und in eine Reihe gestellt mit faschistischen Bewegungen in England oder mit dem Ku-Klux-Clan in den USA, während die IRA »verstanden« und als »Bewegung« bezeichnet wird.
Vor allem Amnesty International wurde seit den 1970er Jahren als verlängerter Arm oder als »Propaganda-Maschine« von Sinn Fein bezeichnet. David Trimble brachte diesen Vorwurf einmal auf eine harte und griffige Formel: »human rights industry«: „Eine der größten Flüche dieser Welt ist die Menschenrechtsindustrie. (…) Sie rechtfertigt terroristische Akte und endet in der Komplizenschaft am Mord unschuldiger Opfer“ (in: The Guardian, 29.1.2004).
Diese analytische »Blindheit« taucht auch bei Wissenschaftlern auf. Ein Beispiel dafür ist der bekannte Anthropologe Jeffrey Sluka, der über die „loyalistischen Todesschwadrone“ geforscht hat. Seine Analysen gehen in emphatische Beschwörungen und offene Parteinahme über: „Ich sollte der Welt über die Menschen berichten, von denen sie sagten sie seien die vergessenen Opfer eines Krieges, Hunderte von unschuldigen katholischen Zivilisten, die in sektiererischen Angriffen getötet wurden, d.h. für die politische Ermordung aus keinem anderen Grund ausgewählt als dass ihre Religionszugehörigkeit sich von der ihrer Mörder unterschied. Dieses Kapitel stellt meine Antwort auf diese Deutung vor. Ich habe die loyalistischen Todesschwadrone erforscht, weil die an der Forschung Teilnehmenden, denen ich im Zuge meiner Feldforschung in Belfast verpflichtet war, solche Forschung wollten, und weil ich – mit ihnen sympathisierend – gegen den Terror schreiben wollte, der ihre Leben zerstörte“ (Sluka 2000: 128).
Der einzige positive Aspekt in den Analysen von Sluka, denen ich jeden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit abstreite, liegt darin, dass er keinen Hehl aus seiner Voreingenommenheit macht, die er als Sympathie bezeichnet. Sluka hat die UDA und die UVF »erforscht«, ohne jemals mit einem Mitglied dieser Gruppen gesprochen zu haben. Er hat sich nie die Frage gestellt, warum die UDA und die UVF das Mittel der Gewalt wählten. Und er hat nie versucht, die Motive der UDA und der UVF zu hinterfragen – geschweige denn zu verstehen. Stattdessen beruft er sich in seiner Recherche auf Textmaterialen und Broschüren von Gerry Adams und Sinn Fein. Die große Mehrheit der Scientific community, Amnesty International und andere Organisationen, die es gemeinsam erreicht haben, die Deutungshoheit über den Nordirlandkonflikt zu behaupten, hatten stets eine politische Agenda verfolgt, die immun gegen jede andere Perspektive auf den Nordirlandkonflikt war: „Sinn Fein hat die Geschichte Ulsters entführt“, schreibt der Journalist Peter Taylor und stellt sehr kritische Fragen: „Was ist mit dem »Bloody Friday« von 1972, als die Autobomben der IRA in Belfast neun Menschen tötete? Mit dem Kingsmill-Massaker von 1976, als eine IRA-Einheit in Süd-Armagh zehn protestantische Arbeiter niederschoss, die in einem Minibus von der Arbeit kamen? Der Bombenanschlag auf das La Mon Restaurant 1978, als eine Brandbombe der IRA 12 Protestanten tötete? Was mit Enniskillen 1987, als eine IRA-Bombe 11 Protestanten während einer Remembrance Day-Zeremonie tötete?“ (in: The Sunday Times, 5.8.2007).
Die IRA ist als „Verteidigungsarmee der katholischen Gemeinschaft“ für den Tod von mehr Katholiken verantwortlich als die Polizei und die Armee zusammengenommen (siehe: Fay et al. 1998). Außerdem wurde stets ignoriert, dass neben der Vertreibung von Katholiken aus ihren Wohngebieten auch Protestanten aus ihren Häusern vertrieben wurden: in Nord-Belfast wurden weit mehr Protestanten aus ihren Häusern vertrieben als Katholiken, viele ehemals gemischte Gebiete sind heute ausschließlich von Katholiken bewohnt.
Aus der Perspektive eines Friedensforschers sollte man sich in allen Konfliktsituationen davon verabschieden, die »Wahrheit« erforschen zu wollen und nach »Schuldigen« zu suchen – das sollte man lieber den Jeffrey Slukas, Amnesty International u.a. überlassen. Stattdessen besteht die zentrale Herausforderung darin zu versuchen, die Motive, Hintergründe und Motivationen aller Konfliktparteien zu verstehen. Dazu gehört auch die protestantische Perspektive auf den Nordirlandkonflikt.
Etablierung von Opferhierarchien
In der Wahrnehmung beider Gemeinschaften existiert eine emotionale Hierarchisierung von Opfern, indem eine Unterscheidung zwischen »legitimen« und »illegitimen« Opfern getroffen wird: „Wir sind die alleinigen legitimen Opfer“. Nur Angehörige der eigenen Gemeinschaft, die durch Gewalt ums Leben kamen, werden als legitime/echte Opfer akzeptiert. Dies erklärt sich aus der unbezahlten vergangenheitspolitischen Hypothek der Nachkriegsgesellschaft, welche in den zuwiderlaufenden kulturellen und sozialen Gedächtnissen besteht: Während die katholisch-republikanische Gemeinschaft die getöteten Sicherheitskräfte und deren Angehörige nicht als legitime/echte Opfer betrachtet, werden die ums Leben gekommenen IRA-Kombattanten und deren Familien von der protestantisch-unionistischen Gemeinschaft nicht als legitime/echte Opfer anerkannt. Von ihren Kollektivgedächtnissen geprägt, erweisen sich beide Gemeinschaften als exklusive Wir-Gruppen, die unfähig zur Akzeptanz einer breiten, inklusiven Opferwahrnehmung sind. Dadurch werden die Nachkriegsstrukturen freiwilliger Apartheid vertieft.
Auch lassen sich verschiedene wissenschaftliche Analysen zitieren, die dazu beitragen, das Denken in Opferhierarchien zu vertiefen anstatt es kritisch zu reflektieren oder nach Auswegen zu suchen. So erschien z.B. im Jahre 1999 das Buch »Lost Lives: The stories of the men, women and children who died as a result of the Northern Ireland troubles«, das von David McKittrick, Seamus Kelters, Brian Feeney und Chris Thornton herausgegeben wurde. Im Jahre 2001 erschien eine aktualisierte Neuauflage. Die Publikation geht auf ein sieben Jahre dauerndes Projekt zurück, welches das Ziel verfolgte, alle Individuen, die als Folge des Nordirlandkonfliktes ums Leben kamen, zu dokumentieren. Im Umschlagstext des Buches wird das zentrale Anliegen des Projektes skizziert: „Alle Opfer sind hier versammelt: der RUC-Offizier, der junge Soldat, der Freiwillige der IRA, der loyalistische Paramilitär, die katholische Mutter, der protestantische Arbeiter, das Neugeborene. Keiner darf ignoriert werden.“ Das Buch wurde zu einem internationalen Besteller – hoch gelobt und mit Preisen ausgezeichnet: „Das bedeutendste Einzelwerk in der Journalismusforschung und Historiographie, das jemals in diesem Land erschienen ist. In seinem enzyklopädischen Detailreichtum, in seiner überragenden Integrität und in seinem moralischen Mitgefühl kann es zur einflussreichsten Studie der irischen Geschichte werden, die jemals vorgestellt wurde“ (Kevin Myers, Rezension in der »Irish Times«).
Trotz dieser Auszeichnungen muss man das »Lost-Lives«-Projekt kritisch hinterfragen, vor allem hinsichtlich der Beurteilung bzw. Qualifizierung der Opfer. So werden z.B. alle Vertreter von Sinn Fein, die ums Leben kamen, als »Zivilisten« klassifiziert. Daraus wird dann in verschiedenen Opfer-Statistiken abgeleitet, dass die protestantischen Gruppen für die überwiegende Mehrheit der »zivilen Opfer« des Nordirlandkonfliktes verantwortlich sind. Natürlich wäre es naiv zu behaupten, alle Sinn-Fein-Mitglieder sind gleichzeitig IRA-Mitglieder, aber die »Lost-Lives«-Autoren behaupten durch die Klassifizierung als »Zivilisten« implizit, dass keiner der Sinn-Fein-Mitglieder gleichzeitig Mitglied der IRA war. In der Tat sind Sinn Fein und die IRA zwei verschiedene Organisationen, doch sie können nicht getrennt voneinander betrachtet werden, denn es existieren zahlreiche Überschneidungen und Doppelmitgliedschaften. Auch die Mitglieder der UVF und UDA waren keine Zivilisten. Ihnen war bewusst, dass sie durch ihre Gewaltaktionen selbst getötet werden können. Keiner hat sich jemals als Zivilist betrachtet. An dieser Stelle wird vom »Lost-Lives«-Projekt mit zweierlei Maß gemessen.
Ein weiterer, damit zusammenhängender Kritikpunkt lässt sich am Fall »Jim Ferguson« erläutern: Der protestantische Jugendsozialarbeiter Ferguson wurde während heftiger Gewalteskalationen in Ost-Belfast im Mai 2002 in den Rücken und ins Bein geschossen. Er wurde angeschossen, als er versucht hatte, Jugendliche von den Gewalteskalationen fernzuhalten. Neben Ferguson wurden im gleichen Gebiet noch vier weitere Protestanten angeschossen, wofür die IRA beschuldigt wurde. Nach einem langen Krankheitsverlauf und mehreren Operationen starb Jim Ferguson am 6. Mai 2006 an den Spätfolgen seiner Verletzungen. Nimmt man die »Lost-Lives«-Grundlage – „all casualties are here“ – ernst, dann müsste auch Jim Ferguson in der Dokumentation der Opfer auftauchen. Doch er findet keine Erwähnung. Ist er also kein legitimes bzw. echtes Opfer?
Die Aufgabe der Friedensforschung ist es, hier den Finger in die Wunde legen und kritische Fragen zu stellen: Was für einen Wert hat die Unterscheidung von Opfern nach Adjektiven: zivil versus militärische Opfer oder »unschuldige« Opfer? Wenn man von »unschuldigen Opfern« spricht, gibt es dann auch »schuldige Opfer«? Und sind »zivile« Opfer die besseren/legitimen Opfer – im Unterschied zu Polizisten u.a.? Diese Fragen wurden im nordirischen Friedensprozess bisher weder gestellt und schon gar nicht beantwortet, da bislang kein konstruktiver Prozess der Vergangenheitsbearbeitung initiiert wurde. Stattdessen wurde eine funktionierende »Friedensindustrie« geschaffen.
»Friedensindustrie«: die Industrialisierung freiwilliger Apartheid
Die Ausmaße der »Friedensindustrie« sind mittlerweile enorm – mit wachsender Tendenz: die staatliche Agentur Northern Ireland Council for Voluntary Action (NICVA) verwaltet die Belange von mehr als 1.300 Gruppen und der so genannte Community Relations Council zählt mehr als 130 Einzelorganisationen (vgl. Moltmann 2004). Insgesamt beschäftigt dieser Sektor ca. 30.000 Beschäftige, während im Vergleich dazu lediglich 28.000 Beamte, 16.000 Polizisten und 16.000 Krankenschwestern in Nordirland beschäftigt sind.
Seit dem Beginn des Friedensprozesses im Jahre 1994 – in jenem Jahr begannen die Waffenstillstände der nicht-staatlichen Kriegsakteure – hat die Europäische Union mehr als eine Milliarde Euro an »friedensbildenden Maßnahmen« für die 1,7 Millionen Einwohner Nordirlands bereitgestellt. (siehe den kritischen Beitrag »Peace in Ulster is a £1bn industry« in: Belfast Telegraph, 16.11.2005). Die große Mehrheit der Organisationen verfolgt in ihren friedenspraktischen Aktivitäten kein gemeinsames Ziel, während sich die Mehrzahl ohnehin darauf beschränkt, die Symptome des Konflikts zu bearbeiten (Moltmann 2004: 244ff.). Dies führt dazu, dass zwar ein enormer finanzieller Aufwand betrieben wird – durch die britische Regierung und die Europäische Union, jedoch keine wesentliche Veränderung in den verfestigten Strukturen freiwilliger Apartheid erreicht wird. Die gesellschaftlichen Interaktionsmuster ethnopolitischer Schließung werden nicht ernsthaft angegangen. Im Gegenteil: Im Jahre 2001 kam Peter Shirlow in einer Längsschnittstudie in Nordbelfast zum beunruhigenden Ergebnis, dass die Kategorie »Sectarianism« nicht etwa in ihrem Ausmaß schwächer geworden ist, sondern im Gegenteil stetig größer wird (Shirlow 2003). Das Endresultat ist die nordirische »Friedensindustrie« als »self-fulfilling prophecy«: Wissenschaftliche Recherche, administrative Förderung, praktische Arbeit und mediales Wohlgefallen bilden inzwischen eine sich selbst tragenden Symbiose – die »Friedensindustrie«, die zudem zu einem gewichtigen wirtschaftlichen Faktor geworden ist. Schätzungen zufolge sind hier bereits mehr Menschen beschäftigt als im Sicherheitsbereich (Moltmann 2004: 242f.).
Die so entstehende Symbiose basiert auf der Industrialisierung freiwilliger Apartheid: Jene Akteure, die im nordirischen Konflikttransformationsprozess als NGOs intervenieren, erkennen, dass ihre Legitimationsgrundlage als Organisation komplett wegfallen würde, wenn die fragile Zwischenwelt, in der Zustände freiwilliger Apartheid bestehen, durch einen dauerhaften und verlässlichen Frieden abgelöst würde. Ihre Existenzgrundlage besteht nur so lange, wie die grundlegenden Eigenschaften der Interventionen dazu beitragen, dass die freiwillige Apartheid zwischen den Gemeinschaften aufrechterhalten bleibt. Es besteht also keine Motivation zu einer konstruktiven Verarbeitung der Gewalt-Vergangenheit.
Konstruktive Vergangenheitsbearbeitung als soziale Anerkennung
„Wir befinden uns nun in Nordirland in einer neuen Ära. Es ist schon länger her, dass die Menschen beschlossen haben voranzugehen und das Vergangene hinter sich zu lassen“ (Edwin Poots. In: Belfast Telegraph, 9.8.2007). Diese Aussage machte der DUP-Politiker Edwin Poots, als er mit der Frage nach Aufarbeitung der Vergangenheit konfrontiert wurde. Seine Argumentation steht repräsentativ für den Habitus der politischen Elite: eine zwangsverordnete Strategie der Amnesie prägt den makropolitischen Konsens der politischen Elite. Das Thema »Vergangenheitsbearbeitung« steht derzeit ziemlich weit unten auf der Tagesordnung.
Eine effektive Strategie der Vergangenheitsbearbeitung kann im Prozess der sozialen Anerkennung gesehen werden. Das Prinzip der »Anerkennung« bildete den Kern der akademischen Debatte zwischen der amerikanischen Philosophin Nancy Fraser und dem Frankfurter Soziologen und Philosophen Axel Honneth über die Frage des Verhältnisses von »Umverteilung« und »Anerkennung« (Fraser & Honneth 2003). Fraser kritisierte, dass sich die öffentliche und philosophische Debatte in den letzten Jahren einseitig in Richtung auf Fragen der Anerkennung verschoben habe, während Fragen der Umverteilung dagegen zunehmend vernachlässigt wurden. Aus soziologischer Sicht hat die wechselseitige Anerkennung eine große Bedeutung für die Stabilität sozialer Beziehungen – eine solche Stabilität würde den Dynamiken freiwilliger Apartheid entgegenlaufen und damit dazu beitragen, die diskriminierenden Opfer-Hierarchisierungen zu überwinden. Konstruktive Vergangenheitsbearbeitung müsste hier ansetzen und auf der Ebene der Gemeinschaften einen deliberativen Prozess organisieren, der die Gemeinschaft dazu in die Lage versetzt, den Opferstatus der anderen Gemeinschaft anzuerkennen – nicht nur den eigenen (vgl. Baumann 2008).
Nach Honneth erfolgt Anerkennung in einer sozialen Auseinandersetzung. Dabei geht es sowohl um die gegenseitige bzw. soziale Anerkennung von (ethnopolitischer) »Identität« als auch um die Anerkennung divergierender bzw. diametraler Konfliktlinien innerhalb der Akteurskonstellation der Post-Konflikt-Gesellschaft: d.h. die beiden Konfliktparteien erkennen sich und ihre jeweilige Sichtweise auf den Konflikt als gleichberechtigt an. Auf dieser Basis kann der Prozess der Vergangenheitsbewältigung beginnen. Er braucht jedoch verlässliche Institutionen, z.B. eine »Wahrheitskommission« nordirischen Zuschnitts.
Jedoch ist das Thema Vergangenheitsbearbeitung ein Dorn im Auge der politischen Elite – vor allem für die DUP und Sinn Fein, da es die mühsam erreichten Fortschritte und die hart erkämpften Ministerposten gefährden würde. Konstruktive Vergangenheitsbearbeitung ist darüber hinaus eine Bedrohung für die »Friedensindustrie«, deren Existenzberechtigung durch die Auflösung freiwilliger Apartheid wegfiele. Deshalb sind viele zufrieden, mit der »Zwischenwelt« (Baumann 2008), in der sich Nordirland befindet: die britische und irische Regierung können sich regelmäßig durch politisches Krisenmanagement auszeichnen, während sehr viele Arbeitsplätze in der Friedensindustrie von der Existenz der Zwischenwelt abhängen.
Literaturverzeichnis
Baumann, Marcel M. (2008): Zwischenwelten: Weder Krieg, noch Frieden. Über den konstruktiven Umgang mit Gewaltphänomenen im Prozess der Konflikttransformation. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Fay, Marie Therese/Morrissey, Mike/Smyth, Marie (1998): Mapping Troubles-Related Deaths in Northern Ireland 1969-1998. London-Derry: INCORE.
Fraser, Nancy/Honneth, Axel (2003): Einleitung. In: Dies. (Hg.): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S.15-128.
Moltmann, Bernhard (2004): Die »Friedensindustrie« als Konfliktmotor? Das Beispiel Nordirland. (unter Mitarbeit von Marcel M. Baumann). In: Kurtenbach, Sabine /Lock, Peter (Hrsg.): Kriege als (Über)Lebenswelten. Schattenglobalisierung, Kriegsökonomien und Inseln der Zivilität. Bonn: Dietz, S.236-248.
Shirlow, Peter (2003): „Who Fears to Speak“. Fear, Mobility, and Ethno-sectarianism in the Two „Ardoynes“. In: The Global Review of Ethnopolitics, 3 (1), S.76-91.
Sluka, Jeffrey (2000): „For God and Ulster“: The Culture of Terror and Loyalist Death Squads in Northern Ireland. In: Sluka, Jeffrey (Hrsg.): Death Squad: The Anthropology of State Terror, University of Pennsylvania Press: Philadelphia, S.127-157.
Marcel M. Baumann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau und am Arnold-Bergstraesser-Institut für Kulturwissenschaftliche Forschung.