W&F 2021/1

Zwischen Intervention und Verteidigung

Zeit für eine neue Balance?

von Marius Müller-Hennig

Die Diskussion um Europäische Außen- und Sicherheitspolitik erscheint oft reflexhaft: Einerseits ertönt häufig die Klage über mangelnde politische und militärische Handlungsfähigkeit der EU in beliebigen internationalen Krisen. Andererseits werden weitergehende Souveränitätstransfers nach Brüssel und vertiefte militärische Integration von verschiedenen Seiten skeptisch gesehen bzw. abgelehnt. Bei diesen Diskussionen kommt die Berücksichtigung der historischen Entwicklung und der Pfadabhängigkeiten oft zu kurz. Die Maßstäbe, die in der politischen Bewertung von Erfolg und Misserfolg angelegt werden, erscheinen zudem oft ahistorisch und daher in weiten Teilen unrealistisch.

Im Folgenden werden für den Zweck einer realistischeren Debatte über die Außen- und Sicherheitspolitik der EU auf Basis eines knappen historischen Rückblicks zwei Thesen formuliert. Diese werden dann zu einer alternativen Vision für die Zukunft der militärischen Inte­gration der EU verdichtet: Einer defensiveren und realistischeren Verteidigungsintegration der EU. Einer Integration, die das »interventions-optimistische« Weltbild der 1990er Jahre hinter sich lässt, die Frage nach einer gemeinsamen Verteidigung für die EU in den Vordergrund stellt und die globale Friedenspolitik primär als politisch-diplomatisches und nicht militärisches Projekt begreift.

Historischer Rückblick: Von der Verteidigung zur Intervention

Die Geschichte der europäischen Inte­gra­tion ist hinreichend bekannt: von der EGKS, über EURATOM und EWG zur EG und weiter zur EU. Oftmals übersehen wird, dass bereits zu Beginn dieses Prozesses auch eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) auf der Agenda stand. Sie hatte sogar schon die meisten politischen Hürden genommen, bevor sie 1954 in der französischen Nationalversammlung scheiterte. Ziel des Projektes war es, neue deutsche Truppenkontingente in eine gemeinsame europäische Verteidigung Westeuropas zu integrieren. Die EVG wäre wiederum strategisch der NATO unterstellt gewesen (vgl. Schwabe 2016, S. 231); wenn man so möchte, eine Art europäischer Pfeiler in der NATO. Die Initiative für die EVG kam aus Frankreich und wurde von den USA nachdrücklich unterstützt. Als sie scheiterte, erfolgte die Wiederbewaffnung Deutschlands stattdessen direkt fest integriert in die NATO. Letztere sollte Westeuropa vor einer vermeintlichen sowjetischen Expansion beschützen und gleichzeitig dafür sorgen, dass sich das deutsche Militär nicht wieder zu einer Bedrohung seiner westeuropäischen Nachbarn entwickelte. So leistete die NATO einen indirekten, aber wichtigen Beitrag zur europäischen Einigung: Verteidigung nach außen und Vertrauensbildung nach innen.

Paradigmenwechsel in den 1990er Jahren: Von der Verteidigung zum Krisenmanagement

Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts änderte sich im sogenannten »unipolaren Moment« der USA auch die strategische Polarität für den europäischen Westen. Bis in die 1980er Jahre sah sich Westeuropa als potentieller Schauplatz eines dritten Weltkriegs. Die europäischen NATO-Mitglieder sollten einen Angriff der Sowjetunion und ihrer Alliierten abschrecken und notfalls abwehren können. Priorität war die Verteidigung von Westeuropa. Spätestens mit den Eskala­tionen auf dem Balkan rückten dann Krisenmanagement-Einsätze außerhalb des NATO-Gebiets in den sicherheitspolitischen Fokus des Westens. Auch in der EU stand nun militärische Zusammenarbeit beim Krisenmanagement prominent auf der Agenda. Tatsächlich wurden dann auch in der EU neue Strukturen und Fähigkeiten für diesen Bereich geschaffen1 (ebenso wie im Bereich des zivilen Krisenmanagements). Allerdings zeigt bereits „ein kursorischer Blick auf die europäischen militärischen Kriseninterventionen […], dass die EU ihrer selbst definierten Verantwortung in diesem Bereich seit der ersten Operation Artemis im Osten Kongos 2003 eher langsamer und zurückhaltender nachkommt (Dembinski und Peters 2018, S. 5).

Interventions-Ernüchterung und die Suche nach Exit-Strategien

Insgesamt ist die Bilanz westlicher militärischer Interventionen durchwachsen. Von Afghanistan (2001) über den Irak (2003) und Libyen (2011) bis nach Mali (2013) folgte auf militärische Erfolge des Westens langanhaltende Instabilität. Zu oft endete militärisches Engagement in der Suche nach gesichtswahrenden Exit-Strategien. Es gab zwar auch militärische Einsätze mit positiverer Bilanz, so beispielsweise die NATO-Einsätze IFOR und SFOR in Bosnien und Herzegowina. Auch die EU konnte in mehreren Fällen effektive operative Beiträge im internationalen Krisenmanagement leisten; militärisch beispielsweise in Form der Anti-­Piraterie-Operation »Atalanta«. Insgesamt aber blieb in vielen Konflikten der Eindruck zurück, dass der Westen bzw. die EU nicht in der Lage waren, Frieden und Demokratie dauerhaft zu sichern oder zumindest Stabilität zu schaffen. Hierbei darf man zwar nicht vergessen, dass dieser Politikbereich für die EU völlig neu war und angesichts des rasanten politischen Wandels (deutsche Wiedervereinigung, Transformation der Staaten Mittelosteuropas und die Erweiterungsrunden der EU) mit anderen politischen Prioritäten konkurrierte. Aber selbst wenn die EU in diesem Feld heute schneller zu mehr Entscheidungen käme und über mehr militärische Fähigkeiten verfügte, ist es fraglich, ob sie tatsächlich mehr erreichen könnte. Die Erfahrungen der USA, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs bieten wenig Grund für Optimismus. Sicher ist hingegen, dass die EU an solch einem Punkt bisher nicht angekommen ist. Vor diesem Hintergrund muss man sich fragen, ob die EU und ihre Mitgliedstaaten das »interventions-optimistische« Weltbild der 1990er Jahre nicht ablegen und die eigene Rolle bescheidener (und damit realistischer) konzipieren sollten.

Die Rückkehr der Bündnisverteidigung

Mit der russischen Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine kam die Frage nach der kollektiven Verteidigung des Bündnisgebiets wieder mit Nachdruck zurück auf die sicherheitspolitische Agenda – insbesondere in der NATO. Die EU hingegen blieb bei einem Modell der Verteidigungsintegration in Form der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP), das zum Weltbild der 1990er Jahre passt. Dabei hat sie auf dem Papier durchaus der neuen Entwicklung Rechnung getragen: So wurde in der EU-Globalstrategie von 2016 der Sicherheit der EU (im Sinne von Verteidigung) explizit hohe Bedeutung beigemessen. Seit dem Vertrag von Lissabon verfügt die Union zudem mit Artikel 42(7) EUV zwar über eine explizite Beistandsklausel, praktisch aber zielen die Anstrengungen der EU weiterhin primär auf militärische Zusammenarbeit und Integration im Bereich Intervention bzw. Krisenmanagement.

Vision einer defensiv gedachten Verteidigungsintegration der EU

Ausgehend vom historischen Rückblick werden im Folgenden zwei Thesen zur verteidigungspolitischen Integration im Rahmen der EU und ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) formuliert und zu einer Vision für ihre Weiterentwicklung verdichtet.

Weniger Fixierung auf Krisenmanagement-Einsätze

  • These 1: Europäische Verteidigungsintegration sollte sich von der Fixierung auf Krisenmanagement-Einsätze lösen.

Der Westen insgesamt und die EU im Besonderen sollten den Rufen nach mehr militärischen Interventionen mit pragmatischer – aber nicht dogmatischer – Zurückhaltung begegnen. Die vergangenen dreißig Jahre haben gezeigt, dass westliche Interventionen schon unter wesentlich besseren globalen Rahmenbedingungen als heute vielleicht zunächst militärisch erfolgreich, politisch aber oft nicht nachhaltig waren (s.o.). Der ehemalige Botschafter Singapurs bei den Vereinten Nationen, Kishore Mahbubani, fürchtet, dass die Welt vor einer „besorgniserregenden Zukunft steht, wenn der Westen seine interventionistischen Impulse nicht abschütteln kann“ (Mahbubani 2018, S. 92).

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sind zudem meist nicht hauptverantwortlich für die akuten Kriege und gewalttätigen Konflikte in ihrer Nachbarschaft (auch wenn mit Blick auf die strukturellen Konfliktursachen und historischen Entwicklungen der Einfluss Europas nicht ausgeblendet werden darf). Sie lassen auch kein »Vakuum« entstehen2, wenn sie nicht militärisch intervenieren. Gleichwohl darf das prekäre Instrument der militärischen Intervention auch nicht für jeden Fall kategorisch ausgeschlossen werden: Das Versagen der Europäer in Srebrenica gebietet es, diese Diskussionen in jedem Einzelfall wieder neu, ernsthaft und ehrlich zu führen. In den Fällen aber, in denen sich Europa zur Intervention entschieden hat, wird es die damit zusammenhängende Verantwortung nicht so schnell wieder los. Sowohl diese Verantwortung als auch die Glaubwürdigkeit der EU stehen auf dem Spiel, wenn ihr als intervenierender Dritter frühzeitig der Atem ausgeht – etwas das der EU gerade auf dem Balkan nicht passieren darf. Auch dieser Aspekt der Durchhaltefähigkeit des Engagements ist ein klares Argument für weniger anstatt mehr militärische Interventionen.

Andererseits kann die EU die sicherheitspolitischen Probleme in der Nachbarschaft auch nicht ignorieren. Sie ist durchaus von diesen selbst betroffen. Daher ist es wichtig, die zivilen und militärischen Fähigkeiten der EU zu stärken, mit denen sie im Rahmen von UN und OSZE operative Beiträge zu Krisenmanagement und Konfliktbewältigung leisten kann. Vor allem aber das politische und diplomatische Gewicht gilt es, noch stärker als bisher, gemeinsam in die Waagschale zu werfen, gerade auch im Rahmen von UN und OSZE. So könnten sich die EU-Mitgliedstaaten beispielsweise darauf einigen, ihre jeweiligen nicht-ständigen Sitze im UN-Sicherheitsrat in eine Art »virtuellen ständigen Sitz für die EU« zu überführen. Der europäische auswärtige Dienst (EEAS) könnte dann ein gemeinsames ständiges Sicherheitsratssekretariat für die Mitgliedstaaten und die Union betreiben.

Unabhängig von der Art des Engagements sollten die eigenen Erwartungen den Rahmenbedingungen angepasst werden. Die aktuelle Praxis, den Handlungsdruck einerseits regelmäßig in schrillen Tönen zu beschwören, nur um dann die vermeintlich fehlende Handlungsfähigkeit händeringend zu beklagen, ist kontraproduktiv und demoralisierend. Die EU ist nun einmal kein machtvoller souveräner Staat, sondern erhält Souveränität lediglich im begrenzten Umfang von ihren Mitgliedern. Dies wird auf absehbare Zeit so bleiben. Selbst wenn die Voraussetzungen für Mehrheitsentscheidungen in diesem sensiblen Politikfeld geschaffen wären, sollte man die damit verbundenen Effekte nicht überschätzen, denn „[q]ualifizierte bzw. Mehrheitsentscheidungen zur Beschlussfassung von zivilen Missionen aber auch von militärischen Operationen würden weder das Problem der Personalrekrutierung noch die demokratiepolitischen Vorbehalte in der EU beheben.“ (Bendieck 2020, S. 9) Tatsächlich ist der Rahmen für die GSVP zwar kontinuierlich ausgeweitet worden, die demokratische Kontrolle durch das europäische Parlament blieb hingegen unterentwickelt.3

All dies bedeutet nicht, dass die militärische Integration von Krisenmanagementfähigkeiten zurückgedreht werden sollte. Wie wir in den vergangenen 30 Jahren gesehen haben, führt diese Inte­gration nicht automatisch zu einer Militarisierung des auswärtigen Handelns der EU. Die unterschiedlichen nationalen Interessen führen auf absehbare Zeit eher zu einer Zurückhaltung der EU bei robusten militärischen Einsätzen. Hinzu kommt die innenpolitische Kombination aus pazifistischen politischen Strömungen einerseits und der Scheu anderer politischer Kräfte vor den hohen Kosten und Risiken solcher Einsätze andererseits. Sie bildet in vielen Mitgliedstaaten eine demokratische Sicherung vor allzu leichtfertigen militärischen Interventionen. Die eigentliche Herausforderung scheint eher darin zu bestehen, die Urteilskraft zu entwickeln und den politischen Willen zu generieren, um in den wenigen Fällen, in denen der robuste Einsatz von Militär tatsächlich geboten sein könnte, schnelles Handeln zu ermöglichen.

Defensive EU-Verteidigung

  • These 2: Eine stärkere militärische Integration im EU-Rahmen sollte zukünftig vor allem auf die defensiven Funktionen der Landes- und Bündnisverteidigung fokussiert werden.

Die bisherige Zurückhaltung der EU hinsichtlich einer stärkeren militärischen Integration im Bereich der Landes- und Bündnisverteidigung erscheint unbegründet. Diese muss keineswegs automatisch in Konkurrenz zur NATO stehen; selbst dann nicht, wenn das Ziel eine europäische Armee sein sollte. Genau dies war in den 1950er Jahren in Form der EVG der Plan A für Europa, unterstützt durch die USA. Die EVG versprach einerseits Fähigkeiten zur Verteidigung Europas zu bündeln und andererseits zur Einigung des Kontinents und der dauerhaften Beilegung alter Feindschaften beizutragen. Ein derart integriertes europäisches Militär war als essentieller Bestandteil der NATO-Verteidigung gedacht.

Warum etwas wie die EVG – gegebenenfalls mit Sonderklauseln für die neutralen Staaten ebenso wie für Dänemark – heute nicht einmal mehr denkbar sein sollte, ist nicht einleuchtend. Ein Fokus auf eine militärisch integrierte EU-Territorial- und Bündnisverteidigung könnte sogar deutlich mehr Sinn ergeben als eine Vergemeinschaftung der Interventions­kapazitäten, die bisher im Zentrum neuer Initiativen steht. Bei Entscheidungen über »Out-of-Area«-Einsätze können nationale Einschätzungen und Interessen durchaus stark variieren. Im Falle einer direkten territorialen Bedrohung hingegen – und erst recht im sehr unwahrscheinlichen Fall eines militärischen Angriffs auf einen Mitgliedsstaat – ist es relativ klar, dass es einer kollektiven Antwort der EU bedarf.

Zudem liegen gerade bei den klassischen Fähigkeiten für die Landes- und Bündnisverteidigung die verteidigungsökonomischen Vorteile weiterer Integration auf der Hand. Teure und hochkomplexe Waffensysteme in einer relevanten Stückzahl einsatzbereit zu halten, stellt viele – wenn nicht alle – EU-Mitgliedstaaten vor enorme Probleme. Daher gibt es bereits eine Reihe von bilateralen Integrationsvorhaben zwischen NATO- und EU-Mitgliedern, wie z.B. zwischen Deutschland und den Niederlanden. Würden die EU-Staaten nach einem solchen Muster nicht punktuell bilateral, sondern strukturell EU-weit ansetzen, könnten sie enorme Ressourceneinsparungen erreichen.

Aber auch sicherheitspolitisch könnten mit einer defensiven militärischen Integration im EU-Rahmen wichtige Ziele verfolgt werden: Integrierte Streitkräfte zur Verteidigung könnten gerade für die Staaten, die an der Solidarität ihrer europäischen Nachbarn für den Fall einer unmittelbaren Bedrohung oder eines Angriffs zweifeln, ein starkes Signal der Rückversicherung sein. Darüber hinaus könnte eine leistungsfähigere und gleichzeitig schlankere europäische Säule der NATO ein positives Signal in Richtung Washington und Moskau senden:

  • Nach Washington, dass die Europäer ihre Verteidigung stärker selbst in die Hand nehmen und perspektivisch weniger konventionelle amerikanische Kräfte in Europa stationiert sein müssten.
  • Nach Moskau, dass sowohl der nominelle Umfang der EU-Streitkräfte als auch der konventionelle Fußabdruck der USA in Europa mittelfristig deutlich reduziert werden könnten.

Mit einer solchen Perspektive könnte auch ein Neuanlauf der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa ­angestoßen werden. Dieser wiederum wäre eine wichtige Voraussetzung dafür, endlich auch den Abzug aller taktischen Nuklearwaffen aus Europa vorzubereiten.

Eine konkrete/alternative Vision

Einerseits bedarf es für eine solche Vision der defensiveren Verteidigungsintegration vermutlich der Bereitschaft zu grundsätzlichen Änderungen an den EU-Verträgen. Dies war lange ein großes Tabu, gerade für Frankreich. Präsident Macron hat aber bereits deutlich gemacht, dass er generell bereit wäre, dieses Tabu hinter sich zu lassen (vgl. Macron 2019), um grundsätzlichen Reformbedarf der EU anzugehen; trotz der Erfahrung, dass wichtige europäische Verträge bereits zweimal am »Nein« Frankreichs scheiterten (beim EVG Vertrag 1954 und beim Verfassungsvertrag 2005). Die zweite notwendige Voraussetzung wäre ein deutliches Signal aus den USA, dass eine defensive Verteidigungsintegration innerhalb der EU die NATO nicht schwächt, sondern im Gegenteil von den USA unterstützt wird. Hieran fehlte es in der Vergangenheit. Wenn nun US-Präsident Biden tatsächlich, wie Max Bergmann unlängst im Magazin »Foreign Affairs« gefordert hat, an Stelle des nationalen 2 %-Ziels für Verteidigungsausgaben eine stärkere europäische Verteidigungsintegration unterstützen würde (Bergmann 2021), könnte dies den nötigen Paradigmenwandel in der EU anstoßen.

Militärische Interventionen hingegen gehören stärker als bisher auf den Prüfstand. Eingebettet in entsprechende völkerrechtliche Prozesse und Institutionen, allen voran in der UN und der OSZE, macht es auch zukünftig Sinn, europäisches Militär für Krisenmanagement vorzuhalten und einzusetzen. Als EU-Instrument zur Machtprojektion und zur militärischen Durchsetzung von Interessen außerhalb der genannten völkerrechtlichen Rahmen bleiben militärische Einsätze hingegen höchst fragwürdig. Die Hemmschwelle hierfür ist zu Recht extrem hoch; nicht zuletzt aufgrund der ambivalenten Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte.

Die hier skizzierte Vision für eine militärisch defensivere Vision der Verteidigungsintegration der EU könnte zum Kern eines sicherheitspolitischen »New Deals« in der transatlantischen Verteidigungspolitik werden. Einem »New Deal« der – entgegen der wenig progressiven Skizze von Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer4 – auch friedenspolitisch überzeugt.

Anmerkungen

1) Nach der Etablierung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit dem Vertrag von Maastricht (1993), u.a. in Form des »European Headline Goals« (1999), der Einrichtung des Politischen- und Sicherheitskommittees, des EU Militärausschußes und des EU Militärstabs (2000), den »EU Battle Groups« (2005) sowie dem militärischen Planungs- und Durchführungsstab (MPCC) 2017. Einen hervorragenden Überblick dazu bietet ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages (2018, S. 9f.).

2) So schrieb bspw. Judy Dempsey mit Blick auf die Frage nach einer Intervention in Syrien: „Das Vakuum, das die USA und Europa hinterlassen haben, indem sie sich nicht am Krieg beteiligt haben, zumindest formell, ist grundsätzlich von Iran und Russland gefüllt worden.“ (Dempsey 2018)

3) Siehe bspw. Fisahn und Ocak (2010, S. 17). Tatsächlich gibt es bspw. schon länger die Idee der Einrichtung eines eigenständigen Verteidigungsausschusses im europäischen Parlament, die z.B. von Kiesewetter und Nietan (2015) aufgegriffen wurde.

4) In einer Rede an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg am 17. November 2020 beschrieb die Verteidigungsministerin drei Eckpunkte für einen solchen »New Deal« aus Ihrer Perspektive: 1.) Ausbau der Verteidigungshaushalte auch in Corona-Zeiten, 2.) ein deutsches Bekenntnis zur nuklearen Teilhabe, 3.) Zusammenarbeit beim Thema China, wo es mit deutschen Interessen zusammenpasst (vgl. Kramp-Karrenbauer 2020, S. 10).

Literatur

Bendieck, A. (2020): Stellungnahme. Anhörung des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages zur Mitteilung der Kommission »Mehr Gewicht auf der internationalen Bühne: eine effizientere Beschlussfassung für die GASP«, Ausschussdrucksache 19(21)122, 23.11.2020.

Bergmann, M. (2021): The EU is the military ally the US needs. Foreigen Affairs, 06.01.2021.

Dembinski, M.; Peters, D. (2018): Eine Armee für die Europäische Union? Europapolitische Konzeptionen und verteidigungspolitischen Strukturen. PRIF Report 1/2018, Frankfurt am Main.

Dempsey, J. (2018): Germany’s No-Go Foreign Policy. Carnegie Europe, 17.04.2018.

Fisahn, A.; Ocak, O. (2010): Mit dem Lissaboner Vertrag wurde die EU zur militärischen Macht. In: Becker, P; Braun, R.; Deiseroth, D. (Hrsg): Frieden durch Recht?, Berlin: BWV, S. 122-135. Seitenzahlen im Text gemäß Online-PDF Dokument.

Kiesewetter, R.; Nietan, D. (2015): Verteidigung europäisch gestalten. Deutschland ist der Schlüssel bei der Stärkung kollektiver Sicherheit in Europa. Positionspapier, Europa-Union, 09.03.2015.

Kramp-Karrenbauer, A.(2020): Zweite Grundsatzrede der Verteidigungsministerin. Rede an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr, Hamburg, 17. November 2020. Zitiert gemäß dem veröffentlichten Rede-Manuskript, BMVg.

Macron, E. (2019): Für einen Neubeginn in Europa, Gastbeitrag vom 4. März 2019. Erschienen in 28 europäischen Tageszeitungen.

Mahbubani, K. (2018): Has the West lost it? A provocation. London: Penguin Books.

Schwabe, K. (2016): Jean Monnet. Frankreich, die Deutschen und die Einigung Europas. Baden-Baden: Nomos.

Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages (2018): Sachstand. Die europäische Armee 1948–2018. Konzepte und Ideen zur Vertiefung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik und zur Erhöhung des Grades der Streitkräfteintegration. WD 2-3000-126/18, 18.10.2018.

Marius Müller-Hennig ist Referent für Europäische Außen- und Sicherheitspolitik bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Zuvor war er als Projektleiter der FES in Bosnien- und Herzegowina tätig.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2021/1 »Friedensmacht« EU ? – Zwischen Diplomatie und Militarisierung, Seite 6–9