von Xanthe Hall und Frederic Jage-Bowler

Der Kinofilm »Oppenheimer« wurde im Sommer 2023 gefeiert – als cineastisches Ereignis; zudem von hoher politischer Aktualität. Aber kann der Film dazu beitragen, die gegenwärtige Debatte um atomare Abrüstung zu befeuern?

Der Kinofilm »Oppenheimer« wurde im Sommer 2023 als ein Ereignis gefeiert. Dass ein Film, der die Geschichte der Entwicklung der Atombombe und dessen Folgen erzählt, uns so aktuell erscheinen würde, war zum Start der Dreharbeiten nicht abzusehen. Die gegenwärtige Brisanz der Atomwaffenthematik beschreibt Regisseur Christopher Nolan in einem Interview mit dem »Bulletin of the Atomic Scientists« wie folgt:

„Ein Teil der Intention hinter dem Film war es, die einzigartige und außergewöhnliche Gefahr von Atomwaffen zu verdeutlichen. Das ist etwas, worüber wir alle ständig nachdenken sollten, worüber wir uns sehr, sehr viele Gedanken machen. Aber natürlich ist es außerordentlich besorgniserregend, dass sich die geopolitische Lage wieder einmal so verschlechtert hat, dass in den Nachrichten darüber gesprochen wird. “

»Oppenheimer« ist ein Film über den »Vater der Atombombe« und dessen schlechtes Gewissen. Die Frage der Verantwortung für die schrecklichen Folgen der Erfindung bleibt im Film aber ungeklärt. Eine der Kernforderungen der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (ICAN) und der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) ist, dass die Atomwaffenstaaten sich endlich ihrer historischen Verantwortung stellen. Kann »Oppenheimer« dazu beitragen, dieses Ziel zu erreichen?

Das Gewissen J. Robert Oppenheimers

Immanuel Kant beschrieb das Gewissen als „das Bewusstsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“, also einen Ort, an dem Handlungen nach moralischen Prinzipien bewertet werden (wohl nicht ganz zufällig folgt der Film über weite Strecken den Konventionen eines »courtroom drama«). Auf Grundlage der kantischen Auffassung kommen einem Atom-Wissenschaftler*innen in den Sinn, an denen sich vielleicht besser nachvollziehen ließe, wie das Gewissen einen Menschen zum Handeln drängte, als ausgerechnet am Fall J. Robert Oppenheimer. Der berühmteste davon – der spätere Friedensnobelpreisträger Josef Rotblat – kommt in Christopher Nolans Film nicht vor, obwohl er auch im Manhattan Projekt arbeitete. Im November 1944 verließ Rotblat das Projekt, als klar wurde, dass die Nazis keine eigene Atomwaffe entwickeln würden. Nach dem Krieg befand Oppenheimer zwar Präsident Truman gegenüber, es klebe „Blut an meinen Händen“. Truman jedoch entlastete ihn – schließlich sei er es gewesen, nicht Oppenheimer, der den Befehl gegeben habe, Hiroshima und Nagasaki zu bombardieren.

Reicht es denn aus, ein Verbrechen nach der Tat zu bereuen? Auch Robert McNamara, Verteidigungsminister unter John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson, hatte in seinem Ruhestand einen Sinneswandel gehabt und erklärt, dass Atomwaffen verbannt werden müssten. Trotzdem konnten viele in der Friedensbewegung ihn nicht als willkommenen Mitstreiter sehen, weil er für Gräueltaten im Vietnamkrieg verantwortlich war und sich nie dafür entschuldigte. Im Film »The Fog of War« erzählt er zwar emotional, dass er – wie jeder Mensch – Fehler gemacht habe, zeigt darüber aber keine Reue und positioniert sich nicht zum damals laufenden Krieg der USA gegen Irak. Auch General Lee Butler, viele Jahre während des Kalten Krieges der Oberbefehlshaber des »US Strategic Command in Europa«, war später der Meinung, Atomwaffen sollten geächtet werden. Von der internationalen Bewegung für nukleare Abrüstung wurden jedoch beide als Sprecher gegen Atomwaffen aufgenommen, um mehr Gehör für die Sache zu finden.

Mit Filmen gegen den Krieg?

Pragmatisch gesehen mag es sinnvoll sein, die Geschichten Einzelner zu erzählen. Das gilt auch für einen Blockbuster, der massiv Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken vermag. Dennoch fragen sich Aktivist*innen bei der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW, die sich jahrein, jahraus mit dem Thema beschäftigen und dabei oft auf Desinteresse stoßen: Transportiert der Film eine Aussage, die für das Anliegen der Abrüstungsbewegung günstig ist? Oder beschäftigen wir uns nur mit dem Schicksal eines weißen Amerikaners, der erst für seine patriotische Errungenschaft angehimmelt, und dann – zu Unrecht – von einem unsympathischen Politiker demontiert wurde? Wo bleibt die Auseinandersetzung mit der heimlichen Hauptfigur des Films: der Atombombe?

Der Film blendet die Auswirkungen der Atombombe beinah komplett aus. Kein einziges japanisches Gesicht ist zu sehen, was zu Recht von aktivistischer Seite kritisiert worden ist. Nur eine verkohlte Leiche, auf die Oppenheimer tritt, und eine Frau, die ihre Gesichtshaut verliert, sind zu sehen. Beide stehen stellvertretend für die Hunderttausenden, die während der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki qualvoll gestorben sind oder traumatisiert überlebt haben. Auch über die »Downwinders« des allerersten, und die Betroffenen der mehr als 2.000 nachfolgenden Atomtests, deren Krankheiten und deren Verlust ihrer heiligen Orte, verliert im Film kein Mensch ein Wort. Als Oppenheimer im Film vorschlägt, Los Alamos den »Indianern« zurück zu geben, ist niemand da, der ihn fragt, was die Native Americans mit einem vollständig verseuchten Gebiet anfangen sollen.

Ein Vollzeitjob für Aktivist*innen

Klar, die Friedensbewegung kann – was IPPNW und ICAN Deutschland gemeinsam getan haben – nach Filmvorstellungen eine Diskussion für Zuschauer*innen anbieten. Aber es wäre ein unbezahlter Vollzeitjob, nach jeder Vorstellung zu versuchen, die Kinobesucher*innen aufzuklären. Die meisten werden wohl nach drei Stunden Film nicht noch eine Stunde diskutieren wollen.

Auf einer ästhetischen Ebene kann man nicht anders, als den Film zu bewundern. Die schauspielerischen Leistungen und filmische Effekte sind beeindruckend. Zu kritisieren wäre am Film hingegen, dass er extrem viel Vorwissen voraussetzt. Für jemanden, der sich mit Oppenheimer, Los Alamos, den Trinity-Test, Hiroshima, Nagasaki und der Geschichte der Atomwaffen jahrelang auseinandergesetzt hat, könnte der Film sehr zu genießen sein. Solch ein Mensch kann jedes »Easter Egg« verfolgen, alle Referenzen verstehen, in den Gedanken die erzählerischen Lücken schließen. Wer das versteht, für den ist offensichtlich, dass Oppenheimer recht hatte, als er meinte, der Bau einer Wasserstoffbombe durch die USA würde zwangsläufig ein sowjetisches Pendant provozieren.

Kann ein Film wie »Oppenheimer« die politische Landschaft wirklich beeinflussen, wie es der 1983 erschienene US-Fernsehfilm »The Day After« (»Der Tag danach«) gemacht hat? Durch diese erstmalige Darstellung eines Atomkrieges wurden Millionen Menschen weltweit so schockiert, dass eine Welle der Empörung ausgelöst wurde. Angeblich soll der damalige US-Präsident Ronald Reagan so mitgenommen gewesen sein, dass er danach Atomwaffen komplett abschaffen wollte. »The Day After« spielte zu einer Zeit, in der die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion einen Höhepunkt erreicht hatten. Heute stehen wir erneut in einer ähnlich gefährlichen Situation, in der in den Medien gefühlt täglich über einen potentiellen Atomwaffeneinsatz geredet wird. Und trotzdem: »Oppenheimer« wird wahrscheinlich nicht die gleiche Wirkung haben. So wird der Film von einer jüngeren Generation rezipiert, der die historischen Details weniger bekannt sind und in der Bewusstsein für die existentielle Bedrohung durch Atomwaffen weniger präsent ist als etwa die Gefahren der Klimakrise.

»Easter Eggs« und Geschichtsklitterung

Der Film lässt viele Fragen unbeantwortet, die für Gesprächsstoff sorgen, die aber schon mit ein wenig Rechercheaufwand beantwortet werden können.1 Daher bereitet es uns keine großen Sorgen, dass der Film vieles unausgesprochen lässt. Denn er weckt das Interesse. Er erzählt eine dramatisch dichte Geschichte über den Kampf um politischen Einfluss in der Wissenschaft und den Versuch, einem Gegner des Rüstungswettlaufs (der wohlgemerkt nicht per se Gegner der Atombombe war) einen Maulkorb zu verpassen. Er zeigt eine patriarchale Welt von Männern, die von ihrem eigenen Image besessen waren und die Konsequenzen ihrer Taten ausblendeten. Hunderttausende Japaner*innen kommen im Film absichtlich nicht vor, denn sie waren für diese Männer nicht wichtig. Hauptsache, US-amerikanische Leben wurden gerettet, auch wenn das nicht stimmte. Wie Oppenheimer im Film sagt: Japan war bereits so gut wie besiegt, als die USA das Land dennoch mit Atomwaffen bombardierten.

Die Frage, ob beim Trinity-Atomtest die Atmosphäre selbst entzündet und damit die Welt zerstört werden könnte, kommt im Film immer wieder vor. Das Risiko war verschwindend gering, aber Oppenheimer sagte zu General Groves im Film, er könne die Gefahr nicht gänzlich ausschließen; das Risiko läge bei „annähernd Null“ und fügte hinzu „was wollen Sie hören“? Worauf Groves antwortete „Null wäre schön“ („Zero would be nice“). Trotzdem wollten die Protagonisten weitermachen. War es denn wert, die Welt zu riskieren, um einen Krieg zu gewinnen? Für die, die nach Macht strebten, war es das augenscheinlich schon. Das Dilemma, dass die Welt zerstört werden kann, besteht mit jedem Tag fort, an dem wir das Glückspiel – oder nennt man es treffender Russisch-Roulette? – spielen, das wir »nukleare Abschreckung« nennen.

Die nukleare Abschreckung hat uns nachweislich doch keinen Frieden gebracht. Sie hat in den meisten Fällen nicht mal den Atomkrieg verhindert. Das war eher Glück – siehe hierzu die Studie von Benoit Pelopidas (Nuclear Knowledges) – sowie bedingt durch heroische Handlungen Einzelner – wie Stanislaw Petrow oder Wassili Arkhipow, die ihre Befehle nicht befolgt haben.

»Oppenheimer« gibt mitnichten akkurat die Geschichte der Atombombe wieder. Aber der Film verhandelt durchaus deren ethische Dimension und schaffte es, ein Mainstream-Publikum anzulocken. Die Atmosphäre zu entzünden, wie vor dem Trinity-Test von einigen Wissenschaftlern befürchtet, bleibt weiterhin hochgradig unwahrscheinlich. Doch wenn die nukleare Abschreckung versagt, zerstören wir trotzdem die Welt, wie wir sie kennen. Dies würde durch den nuklearen Winter geschehen, der einem Atomkrieg folgt. Bis zu fünf Milliarden Menschen würden darin durch Hungersnot sterben. Wir wissen das, weil die Wissenschaft die Folgen eines Atomkrieges erforscht hat.

Dass der Film diese Dimensionen weitgehend ausblendet, bedeutet nicht, dass er ein schlechter Film ist, der politisch folgenlos bleibt. In Zeiten fragmentierter Öffentlichkeit gibt es kaum etwas, das so viele Menschen – über Generationen- und Gesellschaftsgrenzen hinweg – erreicht, wie gutes Mainstreamkino. »Oppenheimer« sensibilisierte ein riesiges Publikum für die Fahrlässigkeit, mit der die Menschheit in das atomare Zeitalter schlitterte. Um die Diskussion über die Zukunft nuklearer Rüstung und Abschreckung wesentlich voranzubringen bedarf es allerdings deutlich mehr. So gesehen ist der Film beides: eine verpasste Chance und ein Anknüpfungspunkt für Alternativen.


1 Auch die IPPNW-Website Atomwaffen A-Z bietet gebündeltes Hintergrundwissen zum Thema.

Zu den Autor*innen:

Xanthe Hall ist Abrüstungsreferentin bei der deutschen Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW).

Frederic Jage-Bowler ist Referent für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit bei der deutschen Sektion der IPPNW.