von Hannes Jung
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat auch für den Wissenschafts- und Kulturbetrieb deutliche Folgen. Doch manche sanktionierenden oder boykottierenden Maßnahmen schaden aktiv einer Chance auf friedensfördernden Austausch. Gerade in der Teilchenphysik sind die Konsequenzen davon zu spüren. Hannes Jung berichtet von den Auswirkungen am Großforschungszentrum DESY und von der Kampagne »Science4Peace«.
Seit vielen Jahren, auch zu Zeiten des Kalten Krieges, gab es regen wissenschaftlichen Austausch zwischen anderweitig einander kriegerisch gegenüberstehenden Staaten – auch und im Besonderen in der Elementarteilchenphysik. Einer der zentralen Orte für solche Kooperation, der immer wieder mit besonders spektakulären Erkenntnissen bekannt wurde, ist das CERN in Genf. Diese Großforschungseinrichtung wurde 1954 von Staaten gegründet, die noch einige Jahre zuvor im Krieg gegeneinander standen. Das CERN wurde ein Symbol der »Science4Peace«-Idee (Wissenschaft für den Frieden): Wissenschaftler*innen aus unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlichen Hintergründen und unterschiedlichen politischen Vorstellungen, sollten gemeinsam an Projekten zusammenarbeiten, die ausschließlich friedliche Ziele verfolgen.
Austausch und Kooperation
Eine andere dieser Einrichtungen in Deutschland ist das DESY (Deutsches Elektronen Synchrotron) in Hamburg. Selbst während des Kalten Krieges konnten hier Forscher*innen aus sozialistischen Ländern mit Forscher*innen aus dem Westen sehr erfolgreich, gut und friedlich zusammenarbeiten. Es war für mich als Doktorand bei DESY 1985 eine außergewöhnliche Erfahrung, Kolleg*innen aus der DDR, Polen, der Sowjetunion und vielen anderen Ländern kennenzulernen, mit ihnen zusammenzuarbeiten und als Freunde zu gewinnen. Science4Peace war für mich und ganz viele meiner Kolleg*innen selbstverständlich, und wir waren sehr stolz, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Noch im November 2021 habe ich zusammen mit Kolleg*innen bei DESY ein Seminar mit dem ehemaligen Direktor des CERN, Rolf Heuer, unter dem Titel »Science bridging cultures and nations« (Die Wissenschaft, die Kulturen und Nationen verbindet) organisiert, in dem Rolf Heuer sehr überzeugend und euphorisch die Science4Peace Idee vertrat [1].
Der Krieg gegen die Ukraine verändert alles
Für mich sehr plötzlich und überraschend änderte sich mit dem Beginn des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine auch diese grundsätzliche Haltung der Institute und des deutschen Wissenschaftsbetriebs. Schon einen Tag nach dem Überfall haben die deutschen Wissenschaftsorganisationen eine Erklärung veröffentlicht (erstaunlich wie schnell das ging), in der steht „… (es) wird jedoch empfohlen, dass wissenschaftliche Kooperationen mit staatlichen Institutionen und Wirtschaftsunternehmen in Russland mit sofortiger Wirkung bis auf weiteres eingefroren werden“ [2].
In einer internen Mitteilung des DESY-Direktoriums vom 1. März 2022 heißt es, dass alle Gäste von russischen und belarussischen Instituten ihre Arbeit binnen weniger Tage beenden müssen und neue Publikationen mit Beteiligung russischer und belarussischer Institute nicht mehr genehmigt werden. Ich war schockiert – solch eine Zeitenwende um 180 Grad hätte ich nie erwartet. Innerhalb von zwei Tagen haben Wissenschaftler*innen von DESY und CERN daraufhin einen Brief an das DESY-Direktorium verfasst, um gegen die unserer Meinung nach stark überzogenen und kontraproduktiven Reaktionen zu protestieren. Für uns war und ist es immer noch nicht akzeptabel, dass man alle russischen und belarussischen Kolleg*innen unter Generalverdacht stellt und sogar Publikationen verbietet.
Am 15 März wurden die Sanktionen von DESY auf der Webseite veröffentlicht: Demnach darf es keine gemeinsamen Publikationen geben, und „Beschäftigte des DESY werden nicht an Konferenzen teilnehmen, die von russischen oder belarussischen Instituten mitorganisiert werden oder auf denen Redner*innen von russischen oder belarussischen Instituten angekündigt werden.“ [3] Diese Sanktionen waren für mich und einige Mitstreiter*innen so nicht hinnehmbar, da sie kontraproduktiv sind und keinen Druck auf die russische Regierung ausüben, sondern nur die Kommunikation zwischen Wissenschaftler*innen schwierig und in einigen Fällen unmöglich machen. Sie betreffen oft Kolleg*innen, die unsere Verurteilung des Krieges teilen und ihr eigenes Wohlergehen gefährdet haben, indem sie ihre Meinung öffentlich geäußert haben. Diese Sanktionen werden russische und belarussische Wissenschaftler*innen isolieren und sie von internationalen Diskussionen in der Wissenschaft und anderswo entkoppeln. Daher sahen wir uns dazu gezwungen, das Science4Peace-Forum [4] zu gründen und eine Petition [5] zu verfassen, um die Direktor*innen der Großforschungseinrichtungen DESY und CERN und die verschiedenen Aufsichtsgremien der großen CERN-Experimente aufzufordern, doch besonnen auf den Krieg zu reagieren und vor allem nicht sämtliche Kontakte und Verbindungen zwischen Wissenschaftler*innen abzubrechen.
Science4Peace als Idee verteidigen…
Im Science4Peace-Forum treffen sich regelmäßig Wissenschaftler*innen aus mehreren vorwiegend europäischen Ländern, darunter auch Kolleg*innen aus Russland, um Kontakt zu halten und um zu überlegen, wie man in der gegenwärtigen Situation zusammenarbeiten kann. Das Science4Peace-Forum arbeitet auf einer von den Forschungsinstitutionen unabhängigen Webseite. Inzwischen hat der E-Mail-Verteiler des Forums mehr als 100 Einträge.
Das übergeordnete Prinzip von »Science4Peace« hat besonders in Zeiten des Krieges große Bedeutung: gerade jetzt ist es wichtig, jungen Wissenschaftler*innen eine Perspektive in attraktiver und zukunftsorientierter Forschung zu bieten und damit eine ernstzunehmende Alternative zu Dual Use und militärischer Forschung zu schaffen. Beim Sommerstudent*innenprogramm von DESY konnten in der Vergangenheit junge Student*innen aus vielen Ländern zwei Monate zusammen lernen, sich austauschen und an friedlichen Forschungsprojekten arbeiten. In diesem Jahr durften zum ersten Mal keine Student*innen aus Russland teilnehmen. Welch ein eine groteske Botschaft wird diesen jungen Leuten übermittelt.
Gerade in Zeiten von Spannungen und Kriegen muss sich Science4Peace behaupten und bewähren und Auswege aufzeigen. Gerade in diesen Zeiten muss es möglich sein, mit Wissenschafter*innen, die sich alle zu friedlicher Nutzung ihrer Wissenschaft bekannt haben (denn dies steht als Artikel 2 Absatz 1 in der CERN-Konvention [6], die jede*r Nutzer*in unterschreiben und leben muss), zusammenzuarbeiten und im Gespräch zu bleiben. Die Wissenschaft muss, ähnlich wie Musik und Kunst, eine Brücke bauen und Gesprächsmöglichkeiten aufzeigen.
Wenn nirgend wo sonst mehr geredet werden kann, bieten Wissenschaft und Kunst Sprachen zur Verständigung. Wir müssen unserer jüngeren Generation ein Beispiel geben, dass man sich friedlich auseinandersetzen kann oder auch um die richtige Position streiten kann, um schließlich die besten Antworten auf die drängenden Fragen der Welt zu erreichen. Bricht diese Kommunikation zusammen, werden wissenschaftliche Systeme gegeneinander in Stellung gebracht, so facht dies Konflikteskalation nur weiter an – dies kann nicht unser Ziel sein.
Science4Peace ist also mehr denn je gefragt, wir müssen Mauern einreissen, statt neue Grenzen und eiserne Vorhänge aufzubauen und andere auszugrenzen – erst recht, wenn sie sich der friedlichen Nutzung der Wissenschaften verschrieben haben.
Fußnoten/Links:
[1] https://indico.desy.de/event/32037/
[3] https://particle-physics.desy.de/e283270/e312773/
[4] https://science4peace.com/
Zum Autor:
Hannes Jung, ist emeritierter Wissenschaftler bei DESY und Privatdozent an der Universitat Hamburg. Er hat am CERN als Wissenschaftler gearbeitet, und verbrachte lange Zeit im europäischen Ausland, in Schweden, Frankreich und der Schweiz. Sein Speziaglebiet ist experimentelle und theoretische Elementarteilchenphyisk
Homepage: https://www.desy.de/~jung/
Kontakt: hannes.jung@desy.de