Analyse und Kommentar

Das Pendel schwingt weiter

Zu den iranischen Protesten vom September/Oktober 2022

von Tareq Sydiq

Aktuell erlebt Iran große und kraftvolle soziale Proteste, ausgelöst durch den Tod von Jina/Mahsa Amini – die politische Führung scheint der Protestwelle zunehmend machtloser gegenüberzustehen. Unser Gastautor analysiert die Ursprünge der Proteste und wirft einen Blick auf die Möglichkeiten und die Unerschrockenheit der Protestierenden gegenüber der zu erwartenden Gewalt gegen sie. Seine These: Gewalt als Mittel der Systemstabilisierung verliert an Wirksamkeit.

Während sie am Grab ihrer Mutter stand, hielt sie ihre abgeschnittenen Haare in der linken Hand, der Kopf unverschleiert. Ihre Mutter, Minoo Majidi, war zuvor in Kermanshah von Sicherheitskräften erschossen worden – auf einer Demonstration anlässlich der Tötung von Jina / Mahsa Amini, vermutlich durch die Moralpolizei. Jina/Mahsa stammte aus Saqqez, knapp 300km von Kermanshah entfernt, wo die jüngste Protestwelle im Iran ihren Ursprung nahm.

Beide Städte liegen in den mehrheitlich kurdisch bewohnten Provinzen West-Irans, wo die ersten Menschen auf die Straße gingen – und wo die Auseinandersetzungen mit dem Staat bislang besonders blutige Züge annahmen: Ein großer Teil der Verhaftungen und Tötungen durch Sicherheitskräfte fand hier statt. Dass Proteste ausgerechnet hier ihren Anfang nehmen würden, konnte bis vor kurzem kaum jemand erahnen; zwar streikten und protestierten Kurd*innen in den letzten Jahren regelmäßig, etwa 2018, doch wurden diese Proteste in den politischen Zentren des Landes kaum wahrgenommen, und Solidarisierung durch Protestierende in Städten wie Teheran und Isfahan blieb weitgehend aus.

Die Tochter der ermordeten Minoo Majidi protestiert am Grab ihrer Mutter – ein Symbol für den umfassenden Widerstand, der in dieser Protestwelle geleistet wird.

Repressive Gewalt wird disproportional gegen ethnische Minderheiten ausgeübt

Gleichzeitig war die Gewalt nicht neu; bereits während der Proteste ab Dezember 2017 wurde repressive Gewalt disproportional im Westen des Landes und gegen ethnische Minderheiten ausgeübt. Die bereits stark unter Druck stehende kurdische Zivilgesellschaft wurde so erneut zum Ziel staatlicher Gewalt, ohne dass sie einen landesweiten Resonanzraum in der iranischen Mehrheitsbevölkerung finden konnte.

Warum also konnten die Proteste sich diesmal viel weiter ausbreiten? Zum einen, weil sie schlicht nicht neu sind, sondern sich aus existierenden Protestbewegungen speisen. Erst im Mai diesen Jahres wurden Mitglieder der Lehrergewerkschaft nach Protesten verhaftet. Zeitgleich gab es in Abadan nach einem Bauunglück Antikorruptionsproteste, seit letztem Jahr nahmen Umwelt- und Wasserproteste erneut zu, und sogar Anti-Taliban Proteste unter anderem von Geflüchteten waren zeitweise präsent. Viele der Protestbewegungen existieren seit Jahren; auch die in den aktuellen Protesten zentralen Anti-Hijab-Proteste können neben ihrer jahrzehntelangen Geschichte beispielsweise auf die Teheraner Enghelab Street Proteste 2017 blicken, als Frauen wie Vida Mohaved ihren Hijab abnahmen. Was diese aktuellen Proteste nun auszeichnet: In ihnen kommen alle diese verschiedenen Mobilisierungen zusammen.

Vereint in der Ablehnung des Systems

Dies war zum anderen möglich, weil gerade die Übergriffe der Moralpolizei Menschen aus unterschiedlichen Klassen, ethnischen Zugehörigkeiten und räumlichen Zusammenhängen zusammenzubringen scheinen. Mutmaßlich hatte jeder Mensch im Iran schon einmal mit dieser Behörde zu tun, entweder direkt durch Verhaftungen oder Bußgelder für Frauen, oder indirekt dadurch, dass festgenommene und drangsalierte Frauen aus den Polizeistationen abgeholt werden mussten. Das heißt nicht, dass feministische Themen damit automatisch Massen mobilisieren können; sie können aber als Querschnittsthema bereits mobilisierte und politisierte Gruppen zusammenbringen. Wichtig ist jedoch: Dass Jina / Mahsa Kurdin war, bringt unterschiedliche politische Themen zusammen, ihre Mehrfachmarginalisierung schweißt ansonsten nicht immer vereinte Gruppen zusammen in ihrer Ablehnung des Systems.

Genau auf eine solche Herausforderung hat die Regierung bislang keine Antwort – weder eine politische noch eine repressive. Denn die Islamische Republik hat seit 2017 eine ganze Bandbreite an Antworten auf Protestbewegungen ausprobiert: Sie einzelne Kommunikationsdienste blockiert, wie im Laufe der 2017/18er Proteste, sie hat auf massive Gewalt bei gleichzeitiger Internetsperre gesetzt, wie 2019, sie hat infolge einer öffentlichen Kampagne 2020 einzelne Todesstrafen zunächst ausgesetzt und dann kürzlich in Haftstrafen umgewandelt, und sie hat schlicht versucht, Proteste öffentlich herunterzuspielen und zu ignorieren. Keiner dieser Ansätze hat die Proteste beenden können – jedes Mal kamen sie wieder, ein wenig lauter, ein wenig radikaler, ein wenig größer.

Kurzfristiger Machterhalt auf Kosten langfristiger Stabilität der Macht

Machthabende im Iran trafen 2009 eine bis heute wirkmächtige politische Entscheidung: Sie setzten auf das Überleben des Systems auf Kosten seiner politischen Flexibilität und Stabilität. Für autoritäre Machthabende stellen beispielsweise Wahlen eine solche Abwägung dar: Je kompetitiver diese sind, desto legitimer und responsiver kann der Staat agieren, je geschlossener diese sind, desto geringer die Sorge vor Abspaltungen innerhalb des Machtzirkels, die einen Umsturz begünstigen könnten. Die Entwicklungen der letzten Jahre gingen zunehmend zugunsten von Geschlossenheit des inneren Zirkels auf Kosten der Stabilität des Systems als Ganzem (vgl. Sydiq 2022a).

Das politische System des Irans konnte so seine Macht stets kurzfristig gegen Massenproteste sichern – zu loyal die ernannten Generäle, Paramilitärs und Revolutionsgarden, um hier einen Umsturz zu verwirklichen. Die politische Führung kann aber immer seltener Projekte verwirklichen, die solche Proteste langfristig verhindern würden und der breiten Unzufriedenheit etwas entgegensetzen könnten. Die Wahlen 2020 und 2021 besiegelten diesen Prozess, als die »Konservative Fraktion« so gut wie konkurrenzlos bei den Wahlen antrat und damit Wahlen und Wahlkämpfe als Ventil für politische Unzufriedenheit redundant gestaltete (vgl. ebd).

Gewalt verliert zunehmend ihre Wirkung

Dies jetzt wieder herzustellen, fällt den Machthabenden nun dafür umso schwerer. Selbst die gewaltsame Niederschlagung der Proteste kann Protestierende kaum noch abschrecken, als Mittel der Systemstabilisierung verliert es an Wirksamkeit (siehe Sydiq 2022b). Je mehr Gewalt sie anwenden, desto radikaler werden die Proteste, die gegenseitigen Reaktionen spitzen sich wie bei einem Pendel zu. Wenn die iranische Regierung nicht schnell politische Antworten auf politische Forderungen findet, kann sie sich einer Protestbewegung gegenübersehen, die zu groß ist, um sie niederzuschlagen. Wenn nicht dieses Mal, dann beim nächsten Pendelschwung.

Allein schon, weil ihre Gewalt immer weniger abschreckt. Auch das zeigte das Bild von Minoo Majidis Tochter so eindrücklich: Ausgerechnet hier, im Westen des Landes, wo der Staat ein besonders militarisiertes Gesicht zeigt, begannen die Proteste, hier wurden Barrikaden auf den Straßen errichtet und Sicherheitskräfte vertrieben. Und ausgerechnet an einem Grab, also einem der wenigen Orte, an dem auch radikale Regimegegner noch Rücksicht auf religiöse Sitten nahmen, nahm sie ihr Kopftuch ab. Das sind Bilder, die kaum eine Gewalteskalation je wieder einfangen kann.

Literatur

Sydiq, T. (2022a): Warum Irans Führung die Hände gebunden sind. Zenith Magazin, 28.06.2022. URL: https://magazin.zenith.me/de/politik/proteste-und-reform-iran

Sydiq, T. (2022b): Autoritäre Interessenaushandlung: Wie Iraner*innen Politik innerhalb autoritärer Rahmenbedingungen gestalten. Wiesbaden: Springer.

Tareq Sydiq

Tareq Sydiq ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Konfliktforschung in Marburg. Vor kurzen erschien seine Promotionsschrift »Autoritäre Interessenaushandlung. Wie Iraner*innen Politik innerhalb autoritärer Rahmenbedingungen gestalten« bei Springer. Seit 2022 koordiniert er das Netzwerk »Postcolonial Hierarchies in Peace and Conflict«.