von Heidrun Zinecker

Kaum eine Debatte wird gegenwärtig intensiver geführt, als die um die Zulässigkeit oder Notwendigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine. Die Autorin dieses Gastbeitrags versucht sich an einer detaillierten Auseinandersetzung mit in der Debatte vorgebrachten Argumenten, weshalb Waffenlieferungen nicht erfolgen sollten und tritt an, diesen mit Gegenargumenten zu begegnen. Dabei schält sie vier grundlegende Kritiken heraus: Kritik an logischen Inkonsistenzen, Kritik an der dahinterstehenden Friedensethik bzw. Friedenspolitik, Kritik an der „Überzeichnung“ des atomaren Risikos und nicht zuletzt Kritik am Hoffen auf innerrussische politische und ökonomische Kriegsbeendigungsgründe.

Vorbemerkung

Der völkerrechtswidrige russische Angriffskrieg gegen die staatlich souveräne Ukraine ist eine entscheidende historisch-politische Zäsur1, die als »Zeitenwende« und »Epochenbruch« bezeichnet werden kann. Denn damit muss die nach 1990 sorgsam hergestellte und auf Frieden sowie Abrüstung ausgerichtete europäische Sicherheitsarchitektur als gewaltsam zerstört gelten. Im Herzen Europas wird dieser ansonsten neue Kalte Krieg gleichzeitig durch einen heißen in Frage gestellt: Mit seinen gravierenden globalen Konsequenzen (Nahrungsmittelkrise, Hunger, Energie, Klima, ukrainischer Exodus usw.) hat dieser nun nicht nur für die europäische, sondern auch für die weltpolitische (hier nicht zuletzt die sicherheitspolitische) Ordnung desaströse Konsequenzen. Die damit verbundenen politischen Herausforderungen sind genauso komplex wie kompliziert und in ihren gesamten Dimensionen noch unabsehbar. Niemand (auch die Verfasserin nicht) weiß bisher, wie ihnen in Gänze richtig zu begegnen ist. Gleichwohl muss sich schon jetzt jede(r) Politiker*in ihnen gegenüber verorten und entsprechend handeln. Das allerdings ist eine Crux. Doch eines sollte schon jetzt problemlos möglich sein: bereits sichtbare Fehlschlüsse zu korrigieren. Hierzu will der vorgelegte Aufsatz, ausgehend von einer linksdemokratisch-verantwortungsethischen Position des »defensiven Realismus«, einen Beitrag leisten und den von ihr, kontextuell begründet, aber ohne Anspruch auf terminologische Sauberkeit, unter der Bezeichnung »Ukraine-Pazifist*innen« zusammengefassten Sprecher*innen vier Gegenargumente entgegenhalten.

Aus Platzgründen wird dabei auf Ausführungen zur innenpolitischen Situation in der Ukraine verzichtet. Nur dies: Auch sie ist komplex. Die Verfasserin hält die Ukraine für noch keine vollständige Demokratie, aber für einen Staat, der das entscheidende Stück des Weges dahin bereits gegangen ist. Insbesondere Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit, fragwürdige historische »Helden«, aber auch (wiewohl wenige) Einflüsse von Putin-Anhänger*innen beschädigen diesen Weg gegenwärtig noch, auf dem sich das Land, ganz im Unterschied zum autokratischen, ja diktatorisch regierten Russland, gleichwohl befindet. Dass diesem Weg im Kontext des jetzigen Krieges ganz neue Beschränkungen auferlegt sind, versteht sich. Dazu gehört auch die jetzt eher ruhende Aufarbeitung des vornehmlich vor 2019 (also vor der Zelenskij-Regierung) bestehenden, wiewohl auch damals schon untergeordneten politischen Einflusses nazistischer Organisationen und Parteien, der staatspolitisch aber inzwischen überwunden ist: Nazismus ist in der Ukraine weder Regierungs- noch Parlamentspolitik! Von Putin aber wird er dennoch nicht nur als fortlaufend und gravierend, sondern als sogar konstitutiv für das ukrainische Staatswesen aufgebauscht. Das nun dient dem russischen Staatspräsidenten als Ausgangsbasis für sein – zentrales – »Entnazifizierungsargument«, das er vor allem gegenüber der eigenen Bevölkerung zur Legitimation seines Krieges nutzt. Doch nichts von dem rüttelt daran, dass das Land seit Russlands Überfall einen gerechten und dem Völkerrecht nach gerechtfertigten Verteidigungskrieg führt. Von der ukrainischen Seite wird der Krieg um den Erhalt von staatlicher Souveränität und bereits erreichten demokratischen Fortschritts geführt.

Adressat*innen der Argumentation

Hauptadressat dieses Aufsatzes ist die deutsche Leser*innenschaft, darunter jedoch weder die Unterstützer*innen des ukrainischen Verteidigungskrieges noch die – quantitativ viel weniger bedeutsamen – des russländischen Aggressionskriegs. Erstere muss man nicht mehr überzeugen, bei letzteren lohnt wahrscheinlich nicht einmal der Versuch. Die Verfasserin respektiert, dass Menschen, die, ob philosophisch und/oder religiös unterlegt, seit jeher eine pazifistische Grundhaltung besitzen, diese hinsichtlich des ukrainischen Verteidigungskrieges beibehalten. Dieser Respekt schließt indes die Überzeugung ein, dass in bestimmten Kontexten durchaus auch grundlegende Prinzipien hinterfragbar sind. Aber das ist, zugegeben, ein enorm hoher Anspruch. Doch nicht diesen genuinen Pazifist*innen gilt der Fokus des vorliegenden Artikels, sondern jenen (philosophisch bzw. religiös) nicht-genuinen, in der Regel wohlmeinenden, jedoch logisch-inkonsistent und in Kurzschlüssen pazifistisch argumentierenden Ukraine-Pazifist*innen. Auch sie sind untereinander sehr verschieden:

  • Das ist zunächst ein Teil der Partei DIE LINKE. Sprecher*innen dieser Position stechen hervor mit ihrem stets als Erstes gebetsmühlenartig bemühten (Alibi-)Satz, der russische Krieg sei ein Angriffskrieg und völkerrechtswidrig, dem dann direkt, ebenso gebetsmühlenartig, die aber besonders ausführlich und dezidiert vorgetragene „ja-aber-die-NATO-Passage“ nachfolgt.
  • Zu den Ukraine-Pazifist*innen gehören weiterhin (in ihrem jeweiligen Fach/Spezialisierung bewährte) Intellektuelle, die nun auch in den öffentlich-rechtlichen Medien und anderen seriösen journalistischen Formaten, über ihre eigene Spezialisierung hinaus, der Öffentlichkeit diesen Krieg erklären wollen. Das tun sie, ohne die dafür nötige Ukraine- oder Russland-Expertise zu besitzen, ukrainisch oder russisch zu verstehen, Berichte von ukrainischen Betroffenen, die Verlautbarungen der Regierungen oder auch journalistischen Berichte in beiden Staaten zur Kenntnis nehmen und in der Regel auch ohne auf größere Kenntnisse in Kriegs- oder Friedenstheorien zurückgreifen zu können. Sie haben aber dennoch eine ganz einfache und schnelle Lösung parat: sofortige, und zwar bedingungslose (!) Friedensverhandlungen, ja ein entsprechender Druck des Westens auf beide (!) Kriegsseiten.
  • Schließlich geht es der Autorin auch, ja vor allem um diejenigen stilleren Beobachter*innen, die zwar dem Verteidigungskrieg der Ukraine Sympathie entgegen bringen, aber aus der Befürchtung oder Angst heraus, der russische Angriffskrieg könne sich durch sie (auch atomar) vertiefen und territorial erweitern, westliche Waffenlieferungen ganz oder teilweise ablehnen.

Diese neuen Pazifist*innen eint, dass sie subjektiv-positiv ein Ende des Krieges und der mit ihm verbundenen Menschenopfer wollen. Von den konsequenten Unterstützer*innen der Ukraine unterscheidet sie jedoch, dass sie einen unrealistischen Weg dahin vorschlagen. Es sind aber sie, die, neben den Unterstützer*innen des Verteidigungskriegs, in einem größeren Segment der deutschen Bevölkerung Meinungsführerschaft besitzen.

Das „Ukraine-pazifistische“ Argument in aller Kürze

Pointiert zusammengefasst lautet das grundsätzliche Argument der Ukraine-Pazifist*innen: Es sei das Eindringen der NATO (vor allem über ihre Osterweiterung) in die geopolitische Interessensphäre Russlands, das den Russland-Ukraine-Krieg entscheidend provoziert habe. Daran hätte Deutschland als Mitglied der NATO Anteil. Zudem sei es auch die NATO (und in ihr Deutschland) mit ihrer Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine, die diesen Krieg nunmehr aufrechterhalte, zuspitze und dabei mehr und mehr Menschenleben, ja sogar die Gefahr seiner Erweiterung in einen globalen Atomkrieg in Kauf nehme. Daher sei dafür einzutreten, den Krieg durch äußeren Druck zugunsten von unverzüglichen Verhandlungen über einen bedingungslosen Frieden auf die russische wie die ukrainische Seite zu beenden. Diese Funktion komme dem Westen zu. Da dabei Putin so zufriedengestellt werden müsse, dass er nicht das Gesicht verliert, mithin mit dem Resultat zufrieden ist, sollte sich dieser Druck zwar auch auf Russland, aber in erster Linie auf die Ukraine richten, die militärisch sowieso nicht gegen Russland gewinnen könne. Putin selbst und die von ihm ausgehende außenpolitische Aggressivität dagegen sei ein allein russländisches Problem und dessen Lösung könne folglich auch nur ein russländisch-innenpolitisches Unterfangen sein. Insofern sei die positive Verzahnung von durch den Westen herausgeforderten Friedensverhandlungen, die den akuten Kriegskonflikt beenden helfen solle, mit einem russländisch-innenpolitischen Protest, dem die generelle Einhegung seines Aggressionsdranges zu überlassen sei, ausschlaggebend.

Dagegen nun argumentiert der hier vorgelegte Text in vier Gegenreden.

I. Inkonsistenzen und kausallogische Fehlschlüsse

1. NATO-Hauptschuld anstatt komplexer Situationsanalyse

In der Regel messen die Ukraine-Pazifist*innen der NATO die Hauptschuld oder zumindest eine überwiegende Schuld am Russland-Ukraine-Krieg zu. Davon leiten sie dann alles andere ab. Oft, nicht immer, wird dieser »Schuld« im Vergleich zur Völkerrechtswidrigkeit und Brutalität des russischen Angriffskrieges (auch gegenüber der ukrainischen Zivilbevölkerung) ein sogar höheres oder wenigstens gleich großes Gewicht zugemessen. Da das Vordringen der NATO in die russländische geopolitische Interessensphäre die entscheidende Kriegsursache sei, sei sie auch »automatisch« und quasi per definitionem maßgeblich für einen Friedensschluss. Wie und warum, über welchen konkreten Zusammenhang, sagen sie aber nicht.

Wenn denn dieses Argument überhaupt zuträfe, ließe sich dagegen schon einmal einwenden, dass nach Erkenntnissen der Friedensforschung selbst entscheidende Kriegsursachen nicht beseitigt werden müssen, um Frieden herzustellen. Das hat unter anderem der Friedensschluss mit zahlreichen bewaffneten Befreiungsbewegungen dokumentiert, die oft ja in erster Linie wegen Armut und sozialer Ungerechtigkeit auf das Schlachtfeld oder »in die Selva« gezogen sind und mit denen später (dennoch) ein Frieden geschlossen werden konnte, obwohl, ja weil mit ihm die (ungerechten) Strukturen gerade nicht angetastet wurden.

Doch ob im Fall des Russland-Ukraine-Konfliktes die NATO-Osterweiterung oder ein etwaiges Eindringen des Westens in die geopolitische Interessensphäre Russlands überhaupt Kriegsursache ist oder nur ein Vorwand – die Antwort auf diese Frage muss gewiss bedachtsam abgewogen werden.

Für das Argument „NATO-Osterweiterung als Vorwand“ spricht, dass

  • es zum Zeitpunkt des Kriegsbeginns keinerlei NATO-Mitgliedschaft der Ukraine gab,
  • die Ukraine bekanntermaßen schon seit dem Budapester Memorandum 1994 keine Atomraketen mehr hat,
  • die von Russland unterschriebene NATO-Russland-Akte von 1997 den „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit“ festschrieb. (Allerdings folgte ihr, neben Verstößen gegen diese Akte von beiden Seiten, die NATO-Gipfelerklärung von 2008, in der dann Georgien und auch der Ukraine ein NATO-Beitritt in Aussicht gestellt wurde. Aber auch das konterkariert nicht das grundsätzliche Argument, denn eine tatsächliche Aufnahme beider Staaten wäre hochgradig voraussetzungsreich gewesen, und auch die Ukraine erfüllte und erfüllt mehrere dieser Voraussetzungen nicht.)

Außerdem ergibt es sich daraus nicht logisch, warum dann Russland im Februar 2022 gerade das Nicht-NATO-Land Ukraine überfallen hat, statt beispielsweise die baltischen Staaten, die da tatsächlich (schon) NATO-Mitglieder waren (das aber würde dann genau die Umkehrung bedeuten – dass die Ukraine überfallen wurde, gerade weil sie kein NATO-Staat war). Auch das aus der NATO-Osterweiterung zuweilen abgeleitete atomare Zweitschlag-Argument sticht insofern nicht, als es dafür eine solche Osterweiterung gar nicht gebraucht hätte, da Atomwaffen auch »ganz woanders«, auf U-Booten oder an Langstreckenflugzeugen, installiert werden können. Entscheidend bei der Bewertung dieser Frage ist ohnehin, dass ja auch Putin selbst das NATO-Osterweiterung-Argument nicht als alleiniges vorbringt, sondern ganz andere Begründungen »darüber legt«, wobei die mit ihnen angesprochenen Erklärungen (vgl. weiter unten) zum Teil sogar noch länger zurück datieren als die mit Estland, Lettland und Litauen ja erst ab 2004 vollzogene und für Russland entscheidende NATO-Osterweiterung.

Denkbar ist aber ebenso, dass das NATO-Argument auch bei Putin selbst nur ein abgeleitetes ist: Spätestens seit Barack Obamas These von »Russland als bloßer Regionalmacht« sah sich Putin gehalten, Russlands eigenen (imperialen) Super- und Großmachtstatus »nachzuweisen«. Er tat das zunächst eher verborgen und in einer vom Westen unterbelichteten Brisanz über das Vehikel der These einer multipolaren Welt (anstelle der unipolar herrschenden USA), die nun zu gestalten sei. Dabei stehe Russland (vielleicht in Kooperation mit China) die politische Führungsrolle zu. Angesichts seiner ungeteilten Anerkennung der US-Hegemonie war dem Westen ein solcher Multipolaritätsgedanke eher fremd (und wurde von seinen Politiker*innen eher selten aufgegriffen), sodass er darin auch keine eigene (demokratische) Führungsrolle übernahm.2 In Putins im Wesentlichen von Alexander Dugin (2013) übernommenen Konzept (S. 126 f.) 3 kommt der Westen, das heißt die USA und die EU, auch nur am Rande vor, als einer unter acht (!) Polen. Mehr noch, zur gleichen Zeit wurde von Putin und seinen Ideologen dem Westen permanente »hybride Kriegsführung« unterstellt, sodass »als Antwort darauf« der Krieg auch für ihn bindend würde. Denkt man beides zusammen, so ergibt sich, dass der Westen innerhalb Dugins-Putins multipolarem Weltbild zwar (am Rande) präsent war, als solcher Russland aber schon damals störte und daher – eben auch durch Krieg – zurückgedrängt gehörte.

Für das Vorwand-Argument sprechen schließlich auch Putins eigene Kriegsursachenbehauptungen, die ihrerseits ja gerade nicht das NATO-Argument in den Vordergrund stellten: Zum einen sticht hier Putins hobby-historische These heraus, nach der die Ukraine von Russland erschaffen worden und nur als Bestandteil der Sowjetunion Nation geworden sei, ja letztlich als souveräner Staat gar nicht existiere, weil es das historische Russland darstelle (vgl. z.B. Putin 2021; überzeugend dazu Plokhys Gegendarstellung 2022). Zum anderen ist, nicht nur in seinem Multipolaritätskonzept, augenfällig, dass Putin schon seit Beginn seiner Präsidentschaft Internationale Politik, darunter Außenpolitik, als Geopolitik versteht. Auch hierfür finden sich die Grundlagen bei Dugin. Dessen sich auf einen »geographischen Determinismus« gründende geopolitisch-kriegsaffine Ideologie („Der Krieg ist unsere Mutter“ vgl. Dugin 2015, 53 ff.) spiegelt sich in Putins Aussagen »eins zu eins« wider. Dugins „Grundlagen der Geopolitik: die geopolitische Zukunft Russlands“ erschien schon 1997, und sein Lehrbuch „Geopolitika“, datiert von 2011, gilt als die »Bibel« der russischen Geopolitik.4 Es steht also zu vermuten, dass Putin als Staatspräsident (spätestens zu Beginn seiner zweiten Amtszeit, wahrscheinlich aber auch schon zuvor) mit diesen beiden – historischen bzw. geopolitischen – »Theorien« ausgerüstet war.

Doch ob abgeleitet oder nicht, wichtig ist hier vor allem, dass auch Putin selbst das NATO-Argument als eine seiner Begründungen für seine »militärische Spezialoperation« vorbringt und dass eine NATO-Osterweiterung faktisch natürlich stattgefunden hat, sodass das NATO-Argument auch nicht gar zu leichtfertig als Vorwand abgetan werden sollte, sondern vielmehr als Kriegsursachenargument zu überprüfen ist.

Für das „Kriegsursachenargument“ spricht, dass

  • Putin in seiner ersten Amtszeit als Staatspräsident – da schwankte oder balancierte er noch zwischen liberalen und imperialen Interessen – durchaus Überlegungen explizierte, Russland über die EU oder die NATO in die westliche, insbesondere europäische Sicherheitsarchitektur einzubinden.5 Anfangs, in Putins erster Amtsperiode, hatte sich der Westen diesen »Testversuchen« gegenüber auch aufgeschlossen gezeigt. Die Gründung des NATO-Russland-Rates (1997/2002), der eine Sicherheitspartnerschaft mit Russland eröffnen wollte, fiel in diese Zeit. Danach und ab der »Wasserscheide« der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, der die oben genannte NATO-Gipfelerklärung von 2008 nachfolgte, hat sich der Westen dann immer stärker und am Ende merklich von Putin distanziert.
  • Doch in der gesamten Zeit bedienten sich die Regierungen westlicher Staaten der Sprache der Politik des (moralisierenden) »Demokratie-Exports« als Ordnungskonzept (basierend auf Liberalen Theorien der Internationalen Beziehungen), die dem von Putin zu diesem Zeitpunkt klar bevorzugten geopolitisch orientierten (Neo-)Realismus diametral entgegenstand. Auf (neo-)realistische Argumente des Westens hätte Putin da vielleicht sogar noch angesprochen, auf liberale, als Autokrat, der er war, keinesfalls. Die »liberalen Ordnungsmuster«, die der Westen (auch) nach Russland zu exportieren trachtete, waren dort also ein Exportgut ohne Nachfrage.6

Nachfolgend haben dann Putins Russland und der Westen (dieser bis zum Kriegsausbruch allerdings nicht immer mit einer Stimme) in ihren Beziehungen eine Art »Tit for Tat« betrieben, wobei »freundliche« und »feindliche« Spielzüge in sich jeweils inkonsequent waren und sich die »feindlichen« mit der Zeit gegenseitig eskalierten.

Es sollte sichtbar geworden sein, dass zwar eine starre Gegenüberstellung des »NATO-als-Vorwand-Arguments« und des »NATO-als-Kriegsursachenarguments« fehl am Platze ist, das Vorwand-Argument jedoch stichhaltiger zu sein scheint. Eine diesbezügliche Entscheidung bzw. eine ausgewogene Gewichtung beider Zugänge im Sinne objektiver Kriegsursachenforschung steht natürlich noch aus. Erfahrungsgemäß braucht es dafür historische Distanz. Von den Gegner*innen westlicher Waffenlieferungen für die Ukraine wird aber das NATO-Argument, und das höchst dezidiert, als das alleinige oder maßgebliche herausgepickt.

2. Gegen selektive Gewaltlegitimität

Während »alte«, genuine Pazifist*innen schon immer den Dienst an der Waffe verweigert und Waffengewalt schlechthin abgelehnt haben (eine Position, die die Verfasserin respektiert), haben einige der neuen Ukraine-Pazifist*innen, insbesondere aus den Reihen der Partei DIE LINKE, früher durchaus den bewaffneten Kampf, also Waffengewalt, unterstützt, etwa bei Befreiungsbewegungen (FSLN, FMLN, URNG, MPLA, FRELIMO, SWAPO oder ANC mit Umkhonto we Sizwe usw.), aber auch – dies völlig zu Recht – den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion gegen Hitlers Nazideutschland positiv konnotiert. Zum Teil tun sie Ähnliches, parallel zu ihrem Pazifismus in der Ukraine-Frage, auch noch heute: So heißt DIE LINKE bzw. Teile von ihr noch immer bewaffnete Kurden, den kolumbianischen ELN oder auch die palästinensische Hamas gut, auch wenn das im Widerspruch zur eigenen pazifistischen Programmatik steht. Fast ist sich die Verfasserin sicher, würde sich jetzt Kuba oder Venezuela gegen einen US-amerikanischen Angriff bewaffnet wehren, begrüßte DIE LINKE trotz dieses ihres programmatischen Pazifismus‘ auch diesen Kampf. Nur bei der Ukraine scheint das nicht zu gehen. Wird da nicht mit zweierlei Maß gemessen? Liegt da nicht der Gedanke nahe, dass jene Bewegungen »ganz weit weg« sind, die Ukraine aber räumlich so nah ist? Oder ist einer solchen Unterstützung lediglich ein »Sozialismus« (ohne Demokratie) würdig, die Verteidigung von staatlicher Souveränität, Einhaltung des Völkerrechts und mehr Demokratie in Europa aber nicht?7

Die Ukraine-Pazifist*innen neigen darüber hinaus dazu, in nahezu sämtlichen weltpolitischen – manchmal auch regionalen, nationalen und gar lokalen – Konstellationen den USA bzw. der NATO die Verantwortung für fast alle Problemlagen zuzuweisen. Daraus ergibt sich quasi-deterministisch deren grundsätzliche »Schuld« „an allem“. Mit dieser Sicht werden nicht nur die USA bzw. die NATO vom internationalen Akteur zur – alleinigen oder entscheidenden – Struktur erhoben, auch alternative oder abweichende Strukturkomponenten werden so ignoriert. Struktur jedoch ist nie platt-eindimensional, sondern in sich komplex, plastisch, oft rhizomatisch, stets also multipel und mehrdimensional und geht im konkreten Fall über das NATO-Problem hinaus. Diese Linken bedienen sich aber genau dieses orthodoxen Struktur-Determinismus‘, auch und gerade im Fall des Russland-Ukraine-Kriegs. Zudem wird von ihnen vergessen, dass es ja immer die Akteure sind, die diese Strukturen prägen und aktiv gestalten und sogar über sie erheben können (Revolutionen wären andernfalls gar nicht erklärbar). Folglich besitzen sie weitgehende Handlungsautonomie. Das gilt für alle Akteure, folglich auch für die NATO.

Was nun die als omnipräsentes Grundübel angesehenen USA betrifft, so hat sich deren außenpolitisches Wirken tatsächlich so manches Mal statt friedens- viel eher kriegsfördernd ausgewirkt (Guatemala, Vietnam, Grenada, Irak und Libyen seien hier beispielhaft genannt). Logisch unklar ist aber, warum aus dieser Erfahrung automatisch auf Späteres und einen ganz anderen Kontext geschlossen werden kann. Wollte sie außenpolitisch klug vorgehen, sollte auch eine parteipolitische LINKE strategische Unterschiede z.B. zwischen den verschiedenen US-Administrationen registrieren: So waren zweifellos der »Big Stick« oder die »Domino-Theorie« etwas anderes als die »Dollar-Diplomatie« oder die »Menschenrechtspolitik« eines Jimmy Carter. Diese Unterschiede zwischen den z.T. erheblich differierenden US-amerikanischen außenpolitischen Strategien missachten aber DIE LINKEN immer wieder Bei ihnen verschwimmen sämtliche US-Präsidentschaften und ihre Strategien in der einen »Soße« des als unwandelbar-böse wahrgenommenen US-Imperialismus. Das erinnert ein wenig an die Naivität von Kindern, die ganz eindeutig und auf immer und ewig das »Böse« und das »Gute« bestimmt wissen wollen. Dieselbe wenig differenzierte Herangehensweise an US-amerikanische Außenpolitik scheint nun bei gerade im Russland-Ukraine-Krieg wieder auf. Daher verstehen die Ukraine-Pazifist*innen auch nicht oder können nicht verstehen, dass auch die USA adäquate Politik machen konnten und können, ob als Alliierter im II. Weltkrieg oder eben auch im jetzigen Russland-Ukraine-Krieg.

Die Verfasserin, die bei all ihrer Wertschätzung für politische Demokratie und deren Verteidigung nie eine Freundin des liberalen »Demokratie-Exports« war, will mit diesen Aussagen beileibe nicht die Rede von den USA als Reich des Guten oder als ewiger Friedensengel schwingen (dann wäre sie ja nicht weniger naiv als die von ihr kritisierten LINKEN), sondern das Interessenargument setzen. Denn auch für den Russland-Ukraine-Krieg geht es ihr weniger um moralische Bewertung der USA als um die Feststellung schnöder Interessenüberlappung, im gegebenen Fall bei der Zurückdrängung eines Aggressor-Staates, der Demokratie und staatliche Souveränität in Frage stellt. Nicht also weil die USA schlechthin »altruistisch« geworden wären, sondern aufgrund eigener Interessen handeln sie im Kontext des Russland-Ukraine-Krieg, der Situation adäquat, responsiv und insofern auch legitim und die – in Bezug auf Waffenlieferungen ohnehin vorsichtigere – Bundesrepublik nicht minder. Eigentlich ergäben sich hieraus sogar für jede linke Politik, zumindest punktuelle, wiewohl ungewohnte Allianzmöglichkeiten. Westliche Waffenlieferungen an die Ukraine sind auch kein Paternalismus, weil sie ja dem Wunsch der Ukraine entsprechen, wohingegen ein Druck des Westens gegen den Willen der Ukraine, wie etwa für bedingungslose Friedensverhandlungen, paternalistisch wäre. Dass solche Waffenlieferungen allein an die Verteidigung des Territoriums des Staates gebunden sein müssen, der überfallen wurde (und nicht darüber hinausgehen dürfen), versteht sich von selbst.

Erkennt man hingegen gerechte Kriege (bellum iustum) als legitim an (vgl. dazu auch die These des „just war pacifism“ z.B. bei Patterson 2018), so ist man damit durchaus in guter Gesellschaft – der eines Platon, Aristoteles, Zweiten Vatikanischen Konzils und ja, auch in der von Marx, Engels und Lenin. Gewiss, letztere drei bezogen den gerechten Krieg nur auf die Arbeiterklasse bzw. den Sozialismus. Nicht zuletzt internationale Vereinbarungen wie die UN-Charta lassen gerechte Verteidigungskriege explizit zu.8

3. Gegen Inkonsistenz in der Argumentation

Es sind, wie erwähnt, auch und gerade Putins eigene Diskurse, die weit über das NATO-Argument hinausgehen. Sie spiegeln seine Motive, Interessen und auch seine Kausalitätsbehauptungen wider. Die Verfasserin bescheidet sich an dieser Stelle mit den Putin’schen Diskursen als Beleg für die inkonsistente Argumentation auch der Ukraine-Pazifist*innen deshalb, weil ja auch sie diese zur Grundlage ihres »NATO-Kriegsursachenarguments« nehmen, sagen sie doch, der Krieg sei ausgebrochen, weil sich Putin vom Westen/der NATO gedemütigt gefühlt habe, weil jener seine »legitimen« geopolitischen Interessen verletzt habe. Insofern versucht die Verfasserin, Putin und dessen (un-)freiwilligen Legitimator*innen mit den »eigenen Waffen« zu schlagen, ja sie und ihn zu »verstehen« statt durch äußere Kriterien »vorsätzlich ins Abseits zu stellen«.

Die von den Ukraine-Pazifist*innen bemühte These (siehe oben) ähnelt in ihrem zweiten Teil Putins Argument und lautet:

Der Krieg Russlands gegenüber der Ukraine sei (zwar) ein ungerechter Angriffskrieg, dafür sei aber allein oder hauptsächlich das Eindringen der NATO in die russländische geopolitische Interessensphäre ursächlich.

Um diese These kausallogisch9 nachweisen zu können, müssten die Pazifist*innen zeigen können, dass tatsächlich nur die NATO-Bedrängung ursächlich für den Krieg war und nichts bzw. niemand anderes(r). Dafür müssten sie aber mindestens zwei methodischen Voraussetzungen gerecht werden. Erforderlich wären:

  • über eine in sich logische Kausalkette zwischen Ursache und Folge mit dazwischen liegenden aufeinander schlüssig aufgebauten Kettengliedern10 nachweisen zu können, dass »NATO« (a.) tatsächlich zu »Krieg« (x) führt (dafür diente dann die politikwissenschaftliche Methode des »process tracing« in einer »within-case«-Analyse);
  • in der Lage zu sein, wenigstens insoweit bekannt, andere/alternative Ursachenbehauptungen auszuschließen.

Zu 1): Ein solches »process tracing« liegt nach Wissen der Verfasserin bisher nicht vor. Daher tritt in den Statements der Ukraine-Pazifist*innen eine bizarre Argumentationslücke bzw. fehlende Eineindeutigkeit auf: Entweder wird behauptet, angesichts der Bedrängung Putins durch die NATO habe dieser ja gar nicht anders handeln können als kriegerisch, „weil er ja keine andere Wahl gehabt hätte“, dann aber wäre sein Krieg ja gerecht/legitim, was wiederum von den Pazifist*innen (zu Recht) ausgeschlossen wird. Oder aber sein Krieg wäre eine Aggression, mithin laut Definition ungerecht, egal welche Rolle dabei die NATO gespielt haben mag. Zugleich impliziert das »Nato-Argument« der neuen Pazifist*innen eine seltsame Nicht-Autonomie von Handeln gegenüber Strukturen: Böse/ungerechte/frustrierende Strukturen zwangen diesen Putin quasi-deterministisch zu genau diesem Handeln und nur zu diesem. So abhängig war und ist er also von der NATO! Doch wie viele Staatenlenker*innen reagierten auf ähnliche Strukturen nicht mit Krieg!

Auf der Suche nach den für »process-tracing« unabdingbaren strukturellen Zwischengliedern ist im entsprechenden Narrativ der Pazifist*innen zwischen a. und x aber nichts zu entdecken, kein einziges vermittelndes Moment, es sei denn ein psychologisches: Putins/Russlands Demütigung und daraus folgender Frust. Jede/r seriöse Gewaltspezialist*in mit elementaren psychologischen Kenntnissen weiß aber, dass Frust nicht notwendig in Aggression umschlägt (Selbstkontrolle!) und Aggression nicht notwendig in Gewalt (Selbstkontrolle + Fremdkontrolle), denn letztere kann ja z.B. auch in verbale Bahnen gelenkt werden. Mehr noch, Putin hätte diesbezüglichen Frust auch in anderes Handeln umleiten können, etwa indem er sich auf einen Wirtschaftskrieg gegenüber den Westen beschränkt und/oder sich (zusammen mit diversen Entwicklungsländern und/oder China, z.B. die BRICS) bemüht hätte, in internationalen Institutionen Russland-freundlichere Verregelungen zu erwirken, oder indem er ohne gleichzeitigen Krieg die Gas- und Öllieferungen in den Westen gestoppt hätte. Er hat sich aber stattdessen zur Gewalt, und zwar in Form eines völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen sein Nachbarland, entschieden. Die Demütigungsthese ist logisch also nicht hinreichend schlüssig.

Zu 2): Die Ukraine-Pazifist*innen haben auch nicht die zu ihrer NATO-als-Ursache-Behauptung alternativen Ursachen falsifiziert. Putin selbst führt sie an (wobei als a. die NATO-Osterweiterung gelte):

b. Die Ukraine sei kein Staat, denn sie sei ursprünglich-historisch Teil Russlands. (Staatsargument)

c. Russland sei der legitime Erbe/Sachverwalter des russischen Imperiums (ob als Zarenreich oder Sowjetunion) und müsse frühere »Größe« wiederherstellen. (Imperiales Argument)

d. Die (ethnischen) Russen im Donbass müssten vor ukrainischer »Ausrottung«/»Knechtung« gerettet werden. (Rettungsargument)

e. Die Ukraine sei ein Nazi-Staat, und um den dortigen Nazismus zu beseitigen, müsse dieser zerstört werden, weil sonst Entnazifizierung nicht gelänge. (Entnazifizierungsargument)

f. Der Westen (USA und im Gefolge EU, Deutschland) setze in der internationalen Politik Unipolarität, das Erstrebenswerte sei aber Multipolarität, und zwar ohne den Westen oder mit ihm in einer lediglich untergeordneten Rolle. (Multipolaritätsargument)

g. Der Westen sei dekadent (Konsumismus, LBGTI/z.B. „perverse“ Gays, „vorsätzliche Geschlechtsangleichung“, Kulturlosigkeit oder Deutschland als der von Staatswegen ewige und fortdauernde Hort des Nazismus). Er müsse daher vernichtet oder wenigstens zurückgedrängt werden. (Dekadenzargument)

h. Russland sei durch den Westen aus der europäischen Sicherheitsarchitektur ausgeschlossen worden. (Ausschlussargument)

i. Die Ukraine sei nur Spielball des Westens und deren Krieg ein »Stellvertreterkrieg«, was hieße, dass Russland zwar in der Ukraine, aber eigentlich nicht gegen sie, sondern in Wirklichkeit gegen den Westen kämpfe. (Spielballargument)

Die Liste b -> i ließe sich möglicherweise noch fortsetzen. Doch schon bis hierher sind es acht zum NATO-Argument alternative Einlassungen, die von Putin vorgelegt werden. Die Ukraine-Pazifist*innen, die Putin ja »verstehen« wollen, nennen in der Regel aber nur das NATO-Argument als entscheidend und ignorieren damit seine Argumente b -> i. Insofern ist, ironischerweise Putins Argumentation »multikausal«, wenn auch in sich nicht konsistent, während die Ukraine-Pazifist*innen monokausal (nur mit der NATO) argumentieren! Multikausalität statt Monokausalität erfordert kombinatorische statt lineare Logik. Aus kombinatorischer Logik ergäbe sich die folgende »Gleichung«:

a + b + c + d + e + f + g + h + i -> x (Krieg).

Sie bedeutet: Alle Variablen a -> i wären nach offizieller russischer Diktion Ursachen für Russlands Ukraine-Krieg. Insofern wäre jede Variable notwendig und keine für sich genommen hinreichend. Natürlich wäre es in dieser Kausalkette auch möglich, die einen Variablen kausal stärker zu gewichten als andere, worauf hier jedoch aus Darstellungsgründen verzichtet wird. Bei Putin scheint es jedoch so zu sein, dass er das NATO-Argument vor allem außenpolitisch vorbringt, innenpolitisch aber eher das Entnazifierungs- und Rettungsargument, letzteres eingebunden in das imperiale Argument. Letzteres wird im Übrigen neuerdings mit dem – auch in der Ukraine zu verteidigenden – »Russkij Mir« theoretisch aufgeladen: Ihm gemäß sei Russland überall dort, wo Russen leben.

Gezeigt werden konnte also, dass die Argumentationskette der Ukraine-Pazifist*innen weder über »process-tracing« noch durch Falsifizierung anderer/alternativer Argumente nachgewiesen werden kann. Daher scheint es nicht gerade logisch und klug zu sein, wenn in dieser Weise argumentiert wird.

II. Das friedensethische und -politische Argument

Die Ukraine-Pazifist*innen aber »wissen« oft genau, wie das Russland-Ukraine Problem zu lösen ist, sogar unverzüglich: „Beide Staaten sollten einfach Frieden schließen, jetzt, sofort!“. Weithin bekannt ist, dass dies aber gegenwärtig keine der Kriegsseiten ernsthaft tun will, sodass entsprechende diplomatische Initiativen (wie auch Putins diesbezügliche Schutzbehauptungen) bestenfalls einen „Placebo-Effekt“ (Müller 2022) zeitigten. In entsprechenden Verhandlungsangeboten der Gegenseite wird zudem in der Regel eine Falle vermutet, weil ihr nur Siegfrieden als Verhandlungsziel unterstellt wird.

Noch ärgerlicher im Narrativ der Ukraine-Pazifist*innen aber ist, wenn sie beim Begriff »Friedensabkommen« eine bloße – äußere – Form für den (einen) Inhalt nehmen, sodass es in ihrer Rede zur beliebig interpretierbaren Worthülse degeneriert. Auffällig ist dabei, dass sie entsprechenden Fragen eines Moderators oder einer Moderatorin in Interviews oder Talk Shows immer wieder ausweichen! Dies lässt vermuten, sie wüssten selber nicht, welchen Inhalt sie meinen oder wollten ihn nicht offenlegen, um sich nicht angreifbar zu machen.

Was ist davon im Einzelnen problematisch?

1. Friedensethisch

  • das kontextuell inadäquate philosophische Argument: Ukraine-Pazifist*innen stellen, ihrer Grundüberzeugung entsprechend, den Schutz des Lebens (auch der Verteidigung von Demokratie und souveräner Staatlichkeit gegenüber) als übergeordnetes Interesse auf und fügen hinzu, Waffen zerstörten menschliches Leben, egal von welcher Seite sie in einem Krieg »angelegt« werden und geschossen werde auf beiden Seiten. Deshalb sollten auch beide Seiten einlenken, indem sie eigene »claims« aufgeben, mit der Ukraine also auch der Staat, der diese »claims« dem Völkerrecht entsprechend beanspruchen darf. Oder, schlimmer noch, allein die Ukraine sollte »claims« aufgeben und kapitulieren. Diese solle also Eigeninteressen aufgeben, Putins Befindlichkeiten und Interessen hingegen müssten anerkannt werden. Der Verfasserin sind unzählige russische Statements bekannt, in denen damit gedroht wird, dass Russland nach der Ukraine nicht nur Moldova, das Baltikum oder Polen, sondern auch Deutschland in den kriegerischen Fokus nehmen will, zumal letzteres von ihm als »ewiges« Nazi-Land stilisiert wird, das nun seinen »ewigen Nazi-Impetus« der Ukraine »aufzwinge«. Die Pazifist*innen stellen somit, zumindest implizit, die Ukraine (das überfallene Opfer) Russland (dem Täter/Aggressor) gleich.
    Logisch zu Ende gedacht hieße diese pazifistische Überzeugung dann jedoch auch, entweder grundsätzlich jede Aggression hinzunehmen oder gegenüber bewaffneten Armeen ausschließlich friedlich zu remonstrieren, um so, etwa so wie es Gandhi einst tat, der Weltöffentlichkeit die Ungerechtigkeit des Gegners vorzuführen und jenen auf diese Weise zur »Selbstbesinnung« zu zwingen. Da aber, wie die Bilder aus der Ukraine eindrücklich zeigen, die Ukraine nicht Indien zu Gandhi-Zeiten ist und russische Panzer und Raketenwerfer dort augenscheinlich (leider) nicht friedlich (mit dem eigenen unbewaffneten Körper) aufzuhalten waren, bliebe den Pazifist*innen logisch also nur die Hinnahme des Resultates der russischen Aggression. Die Verfasserin denkt nicht, dass sich alle Pazifist*innen dieser logischen Konsequenz bewusst sind, wenn sie auf dieser Basis den unverzüglich und bedingungslos zu schließenden Frieden für die Ukraine (und sei es durch deren Kapitulation der Ukraine) einfordern.
    Die Forderung nach einem diesbezüglichen Druck des Westens, nicht die pazifistische Meinungsäußerung schlechthin, deutet auf einen solchen – verstörenden – Paternalismus hin, den Pazifist*innen bei anderen stets – zu Recht – kritisieren. Und dass bei einer Hinnahme von völkerrechtswidrigen Aggressionen Nachahmern Tür und Tor geöffnet würde, weil die dann ja davon ausgehen dürften, dass auch die ihrige militärisch unbeantwortet bliebe, sei nur am Rande erwähnt.
    Schließlich, auf die Frage, was denn geschehen solle, wenn trotz eines solchen westlichen Drucks weder Russland noch die Ukraine substanzielle Friedensverhandlungen wollten, bleiben die Pazifist*innen die Antwort, soweit die Verfasserin sehen kann, schuldig.
    Ihre Antwort bleibt aber auch dann aus, wenn die Frage erhoben wird, wer genau es denn eigentlich sein sollte, der diesen »Verhandlungsdruck« ausüben sollte: die UNO, die eigenes Peace-making oder auch Peacekeeping immer nur dann umsetzen kann, wenn die entsprechende kriegführende Seite das auch ihrerseits will oder die westlichen Staaten, nun etwa mit Sanktionen gegenüber der Ukraine, etwa mit einer Drohung der Nichtaufnahme in die EU? Beides wäre absurd;
  • das spezifische Deutschland-Argument: Einige Ukraine-Pazifist*innen führen auch aus, dass sich vor allem Deutschland aus dem Konflikt heraushalten solle.
    Dafür werden verschiedene Begründungen angeführt:
    • das »Entbehrungsargument«, etwa mit dem Verweis auf das eigene Frieren im Winter wegen der Gaskosten oder die Finanzmittel, die anderenfalls den Deutschen (etwa für Soziales), und zwar automatisch, verlorengingen. Es sei ja der Krieg der Ukraine und nicht der eigene! Doch mit diesem Argument, mithin wenn heutige soziale Schieflagen in Deutschland allein oder in erster Linie dem Ukraine-Krieg bzw. entsprechenden deutschen Waffenlieferungen und sogar den wirtschaftlichen Sanktionen gegenüber Russland angelastet werden, verliert gerade DIE LINKE ihr (soziales) Alleinstellungsmerkmal statt es gerade hier hervorzukehren und sich für eine soziale Besserstellung der sozial Abgehängten einzusetzen! Denn wenn sie bei ihrer These, diese Schieflage läge am Krieg, mithin an der Unterstützung des ukrainischen Verteidigungskrieges durch Deutschland, stehenbleibt, kann sie sich ja gerade nicht mehr offensiv dafür einsetzen, dass die damit in Deutschland verbundenen sozialen Lasten ja auch sozial gerechter verteilt und nicht bei den Ärmeren abgeladen werden könnten (und das nicht nur über die Besteuerung von Zufallsgewinnen oder Preisdeckel für Öl- und Gaspreise!).
    • das historisch, aus der Verantwortung für den II. Weltkrieg abgeleitete »Vermittlerargument«, bei dem Deutschlands – quasi-deterministisch – aus seiner Vergangenheit heraus, zumal in einen völlig anderen, ja diametral entgegengesetzten Kontext, in eine Vermittlerrolle gedrängt wird. Hierbei wird ausgeblendet, dass aus Deutschlands Verantwortung für den II. Weltkrieg auch der gegenteilige Schluss gezogen werden kann, in den Augen der Verfasserin gar muss, mithin dass es nun eine ähnliche Rolle zu spielen hat wie im II. Weltkrieg die Alliierten; oder
    • das »atomare Argument«, mithin die Befürchtung vor der eigenen Involvierung in einen Atomkrieg (vgl. dazu unter III.).

Die Ukraine indes sieht die Bedeutung ihres Verteidigungskrieges anders: nicht nur als eigenen Krieg, sondern auch als einen für die europäische Demokratie und den Respekt vor Völkerrecht. Sie versteht sich als Vorposten im Kampf für beides, der sie deshalb sei, weil sie »zufällig« an der Grenze zu Russland liegt. Falls entsprechende Waffen nicht geliefert würden, würde sie dabei allein gelassen.

Dem/der aufgeklärten Beobachter*in sollte klar geworden sein: Im Russland-Ukraine-Krieg geht es um weit mehr als nur um die Einverleibung der Ukraine. Es geht in ihm auch um die (außenpolitische) Macht von Demokratie vs. Autokratie bzw. Diktatur und insofern auch um die Sicherheit der Bundesrepublik und ihrer Bürger/innen. Das aber ist auch seinerseits von eminenter friedensethischer Relevanz.

2. Friedenstheoretisch und -politisch

Natürlich werden das Ende des Russland-Ukraine-Krieges höchstwahrscheinlich Friedenverhandlungen konstituieren. Kaum jemand bezweifelt das, erst recht nicht der Westen. Doch von den Ukraine-Pazifist*innen wird zum einen nicht Frieden von Waffenstillstand (der noch kein Frieden ist) unterschieden und zum anderen die »Form« Friedensvertrag bereits als Inhalt verkauft. Jede(r) Friedensforscher*in weiß indes: Friedensverträge können höchst Verschiedenes beinhalten und können sowohl für

  1. Siegfrieden bzw. Kapitulation als Nullsummenspiel (z.B. Versailler Friedensvertrag 1919 oder der Friedensvertrag mit der LTTE in Sri Lanka), wobei ansonsten nicht jede/r Siegfrieden/Kapitulation friedensvertraglich besiegelt wurde, als auch
  2. asymmetrischen Kompromiss zugunsten der einen oder anderen Seite, als auch für einen
  3. symmetrischen Kompromiss, bei dem beide Seiten gleichviel gewinnen und verlieren,

stehen.

Wünschenswert für die Ukraine und den Westen ist natürlich, wenn nicht der Sieg der Ukraine, so doch ein asymmetrischer Kompromiss zu ihren Gunsten. Ein symmetrischer Kompromiss ist jedoch realistischer, ein asymmetrischer Kompromiss zu Gunsten Russlands nicht ausgeschlossen. Ein symmetrischer Kompromiss unterstellt, dass beide Seiten »etwas« verlieren, im besten Fall sind Zufriedenheit und Unzufriedenheit auf beiden Seiten gleichmäßig verteilt.

Unter den neuen Pazifist*innen finden sich aber insbesondere Verfechter*innen der Option 1) (Siegfrieden bzw. Kapitulation). Dabei prädominiert erstaunlicherweise das Argument, es sei die Ukraine, die, um Opfer zu vermeiden, kapitulieren müsse. Im Weiteren wird dann dazu ausgeführt, dass, um Menschenleben zu retten, alles andere zweitrangig sei, selbst die ukrainische Staatlichkeit. Ganz abgesehen davon, dass diese Forderung per se von keinem Staat erfüllt werden kann, da er dann ja keiner mehr wäre, wird von den Pazifist*innen auch noch anderes verkannt: Die Ukraine, sollte sie einen »Friedensvertrag als Kapitulation« abschließen, würde dann zweifellos in den Aggressor-Staat Russland eingegliedert, und zwar ohne autonome oder gar föderale Rechte, oder sie würde zum russländischen Protektorat erklärt. Und es ist keinesfalls damit zu rechnen, dass das von den ukrainischen Bürger*innen hingenommen würde. In der Folge könnte ein Bürgerkrieg drohen, der am Ende nicht weniger, sondern möglicherweise sogar mehr Menschenopfer forderte als der jetzige zwischenstaatliche Krieg. Von einer solchen Gefahr aber hat die Verfasserin Pazifist*innen kaum reden hören. Rational und auch friedensethisch kann man die Ukraine also nicht auffordern, sich dem Aggressor zu ergeben, und von Russland kann man, wenn man rationaler Logik folgt, eine (formale) Kapitulation kaum erwarten. Insofern ist im Russland-Ukraine-Krieg die Option 1) höchst unwahrscheinlich.

Bei Option 2) und 3) muss davon ausgegangen werden, dass sich gegenwärtig weder Russland noch die Ukraine in einer militärisch derart aussichtslosen Situation befinden, dass sie sich auf den Verzicht ihrer ursprünglichen Ansprüche einlassen würden. Anders gesagt, um sich auf eine dieser beiden Optionen einzulassen, müsste mindestens eine der Seiten so stark verloren und so wenig Aussicht auf Besserung ihrer militärischen Situation haben, dass sie nun bereit wäre, qua Friedensvertrag merkliche Verluste hinzunehmen, und zugleich müsste die andere mit einem »halben« Sieg zufrieden sein. Die Situation ist aber gegenwärtig auf keiner Seite militärisch so aussichtslos. Es ist auch nicht abzusehen, dass sich das in nächster Zeit grundlegend ändert.

Um eine der Kompromissoptionen durchzusetzen, ist, so zeigt es die Empirie (vgl. z.B. Zinecker 2007, 733 ff.) aber ein militärisches Patt („mutual hurting stalemate“ nach Zartman 2001) bzw. ein längerer Stellungskrieg, in dem es keine Chance mehr auf einen Bewegungskrieg gibt, wesentliche Voraussetzung für friedensstiftende Verhandlungen. Doch selbst dies reichte noch nicht aus: Als weitere Voraussetzung müsste noch Kriegsmüdigkeit sowohl von Armee als auch von Zivilbevölkerung hinzukommen (nach Zartman zusammen mit dem „mutual hurting stalemate“ Bedingung für den „ripe moment“ für Friedensverhandlungen). Denn damit eine solche Kriegsmüdigkeit auftritt, müssten nicht nur militärische Erfolge systematisch ausbleiben, sondern auch die Hoffnung auf sie. Beides aber ist zurzeit nicht gegeben.

Wenn denn diese Voraussetzungen auf beiden Seiten bestehen, werden sie sich ernsthaften Friedensverhandlungen mit Kompromisscharakter zuwenden. Ein erster Meilenstein auf diesem komplizierten Weg wäre ein (partieller) Waffenstillstand, der aber noch nicht Frieden bedeutet. Der zweite Meilenstein wäre, eventuell mit Hilfe internationaler Mediator*innen, ein Verhandlungskonzept zu entwickeln. Hierbei wären die Seiten zunächst gehalten, ihren jeweils eigenen Kompromisshorizont zu bestimmen, der besagt, wie weit sie in Friedensverhandlungen gegebenenfalls zurückstecken würden bzw. was sie in diesen unbedingt erreichen wollen. Das schließt nicht aus, sondern ein, dass sich dieser Kompromisshorizont im Zuge der Verhandlungen auch noch ändern kann, da ja die Handelnden, als rationale Akteure, die sie sind, auf sich in dieser Zeit möglicherweise noch ändernde Gegebenheiten flexibel reagieren müssen.

Ausgangsbasis für die Konzipierung von Friedensverhandlungen ist der jeweils eigene Anspruchshorizont. Im Fall der Ukraine implizierte das die Frage, ob sie als einen solchen Horizont ihr ursprüngliches Ziel aufrechterhalten wird, den status quo ante von Anfang 2014, also den von vor der Krim-Annexion, wieder herzustellen und die ganze Ukraine von russischer Besatzung zu befreien, oder ob sie von vornherein darauf verzichtet und, wie das schon einmal der Fall war, bereit wäre das Krim-Problem zu vertagen. Anschließend würde eine entsprechende Entscheidung über die Territorien der heutigen sogenannten »Volksrepubliken« Luhansk und Donezk fallen müssen. In jedem Fall wird der avisierte Kompromisshorizont geringer bemessen sein als der Anspruchshorizont. Sobald fixiert, müsste beides noch im Vorfeld der Verhandlungen einander gegenübergestellt werden. Das würde »im Stillen«, allein auf der eigenen Seite, geschehen. Zwischen beiden Horizonten würde die Grenze eigener Kompromissbereitschaft liegen. Insofern ist zu erwarten, dass beide Seiten mit einem maximalem Anspruchshorizont und entsprechenden Forderungen in die Verhandlungen eintreten, um diese dann – bis zur Grenze ihres Kompromisshorizontes – zurückzuschrauben. Das ist in Friedensverhandlungen völlig normal und, anders als von der/dem Einen oder Anderen suggeriert, keineswegs überzogen. Bei den Aushandlungsprozessen der Verhandlungsmasse wird es nicht nur um Territorialgebiete gehen, sondern z.B. auch um Sicherheitsgarantien (durch andere Staaten) oder -zonen, Amnestien oder der Verzicht auf juristische Verfolgung von Kriegsverbrechen oder auf Reparationen usw.

Um all dies an einem fiktiven Beispiel konkret zu machen, wird im Folgenden angenommen, dass die Ukraine mit der Maximalforderung ihrer völligen Befreiung von russischen Truppen in die Verhandlung geht, aber als möglichen ersten Kompromisshorizont im Hinterkopf haben könnte, die Krim zu opfern, und als zweiten vielleicht sogar die sogenannten »Volksrepubliken« (aber nicht die gesamten Oblasti, d.h. nur in den Grenzen der Kontaktzone nach 2014). Dann würde Russland als seine Maximalforderung die Einverleibung der Ukraine in sein »imperiales Reich« und deren Verzicht auf eigene Staatlichkeit aufstellen, von deren Nicht-Mitgliedschaft in der NATO ganz zu schweigen. Als ersten eigenen Kompromisshorizont würde es später möglicherweise auf diese Forderung verzichten, aber immer noch sehr weite Teile des ukrainischen Territoriums für sich beanspruchen, weitere als es zurzeit besetzt. Nun könnte es sein, dass Russland zwar dies nicht erreicht, es aber mindestens den gesamten Donbass, also zuzüglich zum Territorium der »Volksrepubliken« auch die gesamten Oblasti Luhansk und Donezk, für sich einfordert. Die Ukraine könnte dann im Gegenzug auf die Rückgabe des Südens bestehen. Wenn sich Russland darauf jedoch nicht einließe, könnte sie, als weiteren Kompromiss, zwar den Süden abgeben, aber nur mit Ausnahme Odessas und des dortigen Hafens. Russland wiederum könnte darauf bestehen, dass die Ukraine definitiv nicht nur nicht in die NATO geht, sondern auch nicht in die EU. Das aber müsste die Ukraine ablehnen und daher im Gegenzug zugestehen, von seiner Forderung an Russland nach Ahndung der russischen Menschenrechtsverletzungen vor internationalen Strafgerichtshöfen Abstand zu nehmen.11

Vielleicht aber will die Ukraine auch gerade dies nicht, sodass sie es stattdessen vorzieht, ihre Forderung nach Reparationszahlungen aufzugeben, zumal wenn ihr ein westlicher »Marshallplan« in Aussicht stünde. Dass am Ende vielleicht gar die Teilung Kiews in eine russische und eine ukrainische Zone im Raum stehen könnte, mag man gar nicht denken.

Ein wichtiges Moment für Friedensverhandlungen wurde in den bisherigen (fiktiven!) Ausführungen aber noch ignoriert: der militärische Ausgangshorizont. Er ist quasi zwischen Anspruchshorizont und Kompromisshorizont geschaltet, korrigiert letzteren nach unten und bemisst sich nach den militärischen Positionen beider Seiten zu Beginn der Verhandlungen. Um zu vermeiden, dass dieser den Kompromisshorizont zu weit nach unten korrigiert, sind im Verhandlungsvorfeld die militärisch bestmöglichen Ausgangsbedingungen vonnöten. Diese Überlegung entspricht nicht nur im Wesentlichen Zartman (2001) und auch den Ergebnissen der Friedensforschung der Verfasserin selbst. Sie wird inzwischen, wenn auch noch vereinzelt, auch im Kontext des Ukraine-Krieges zu Bedenken gegeben, wie von der Russland-Expertin der SWP Sabine Fischer (2022). Genau hier kommen die westlichen Waffenlieferungen ins Spiel, denn erst sie ermöglichten eine merkliche Verschiebung des militärischen Ausgangshorizonts zugunsten der Ukraine und somit auch einen günstigeren Kompromisshorizont für sie. Wenn der Westen also jetzt an die Ukraine Waffen liefert, dann geht es ihm nicht darum, deren Sieg über Russland zu ermöglichen, was ihm aber von Ukraine-Pazifist*innen zuweilen unterstellt wird, sondern lediglich um die Verschiebung des militärischen Ausgangshorizonts zugunsten der Ukraine. Das meinte wohl auch Bundeskanzler Scholz mit seiner Aussage: Russland dürfe nicht gewinnen. Dass die Ukraine siegen solle, sagte er bekanntlich nicht.

Erst mit einem für die Ukraine zufriedenstellenden militärischen Ausgangshorizont rückten ernsthafte Friedensverhandlungen und vielleicht auch Frieden (Verhandlungen können ja auch scheitern) in Reichweite, dann mit sogar weniger Menschenopfern als bei einem Siegfrieden Russlands. Insofern ist das diesbezügliche Handeln der Bundesrepublik keinesfalls militaristisch, sondern verhindert größere Menschenopfer, auch dadurch, dass auf diese Weise über machbare schnellere und größere militärische Fortschritte der Ukraine ein langwieriger Abnutzungskrieg mit den ihm entsprechenden Opfern vermieden werden könnte. Eine genaue Aufrechnung der möglichen Opfer bei beiden Optionen ist hier weder möglich noch grundsätzlich friedensethisch angesagt. Klar aber ist, dass die These, Menschenopfer seien – überhaupt und allein – durch die Verweigerung westlicher Waffenlieferungen reduzierbar, nicht haltbar ist.

Das Szenario ist fiktiv, keine Prognose, im besten Fall plausibel. Die Realität wird wohl noch komplexer ausfallen, nicht nur was die Aushandlung des Konfliktgegenstandes betrifft, zumal davor zumeist (mehrere) Dialogrunden nötig sind, in denen die Chancen für eine Verhandlung vorab sondiert werden. Doch gezeigt werden sollte mit diesem fiktiven Beispielszenario ja auch nur, dass ein Frieden, selbst wenn ihn denn beide Seiten wollten, weitaus schwieriger und langwieriger herzustellen ist, als es sich anscheinend viele Pazifist*innen vorstellen. Er ist eben mehr als zwei Unterschriften oder ein Händedruck.

III. Das atomare Argument

Bei so viel Kritik am neuen Pazifismus darf natürlich am atomaren Argument, insbesondere an dem der Kernwaffen, nicht vorbeigegangen werden. Menschen haben Angst vor nuklearer Bedrohung, und viele führt gerade diese – starke – Befürchtung zu Pazifismus. Es wäre also ausgesprochen unlauter, sie einfach vom Tisch zu wischen. Doch um das atomare Argument entsprechend zu gewichten, braucht es die immer wieder strapazierte »NATO-Schuld« am Ausbruch des Krieges als Begründung überhaupt nicht. Denn zwischen (vermeintlicher) »NATO-Ursünde« und jetziger Waffenlieferung liegt nicht nur ein langer Zeitraum, beides kann auch logisch ohne einander gedacht werden, ganz ohne kausale Verbindung.

Diejenigen in der und um DIE LINKE(n), die meinen, dass die Gefahr eines Atomkrieges nicht durch vernünftiges Handeln eingedämmt werden kann, müssen sich auch den Verweis auf Kubas Raketenkrise gefallen lassen, als ein Chruschtschov trotz der unmittelbaren Nähe der Atommacht USA auf der kubanischen Insel seine eigenen Atomraketen aufstellen wollte, das aber, wie bekannt, von Kennedy und auch von Chruschtschov selbst abgewendet werden konnte. Mehr noch, wenn für die Pazifist*innen die Gefahr eines Atomkrieges alles änderte, müssten sie dann, wollten sie stringent bleiben, auch generell, also nicht nur gegenwärtig, sondern auch für die Zukunft von jeglicher Unterstützung von Krieg und Gewalt Abstand nehmen, falls Atommächte und deren Interessensphären im Spiel sind, was sie in der Mehrheit der Fälle aber sein würden.

Aber klar ist auch: Putin weiß das in seiner atomaren Macht liegende Abschreckungs- bzw. Drohpotenzial »hervorragend« zu nutzen. An dieser Stelle sei an die »madman-Theorie« (vgl. z.B. Sciutto 2020) erinnert. Sie, erstmals vorgetragen von Daniel Ellsworth 1959 und später in einem Gespräch mit H.R. Haldeman im Kontext des Vietnam-Krieges von Richard Nixon, auf sich selbst bezogen, übernommen, insinuiert: Ein Präsident kann sich auch als »verrückt/mad« nur gebärden, ohne es zu sein, sodass gerade auf dieser Grundlage seine nukleare Strategie als ständig präsentes Drohszenario und Erpressung perfekt funktioniert (was ihm aber später auch kaum Rückzugsmöglichkeiten aus seinem Erpressungsspiel bietet). Das vermutet die Verfasserin auch bei Putin.

Grundsätzlich gibt es in Bezug auf einen Kernwaffeneinsatz Russlands im Ukraine-Krieg zwei mögliche Varianten russischer Reaktion:

  • Wird Putin statt Rationalität Irrationalität oder Affekthandeln unterstellt, dann fragt sich, ob westliche (darunter schwere) Waffen in der Ukraine tatsächlich einen Unterschied machen. Die Verfasserin kann sich nur schwerlich vorstellen, dass gerade ein irrationaler oder im Affekt handelnder Putin, akribisch, gewissermaßen mit dem Millimetermaß und dies auch noch ununterbrochen überprüfte, wie »schwer« die westlichen Waffen gerade sind und wie weit sie reichen, und dass er dabei für sich sogar ganz exakte Kriterien festlegte und befolgte, wann seine diesbezügliche Schmerzgrenze überschritten ist. Ein irrationaler Putin würde Atomwaffen vielmehr immer dann nutzen, wenn er gerade, aus welchem aktuellen Grund auch immer, besonders frustriert ist.
  • Geht man indes davon aus, dass Putin ein rational denkender »madman« ist, der nur vorgibt, irrational zu handeln, in Wirklichkeit aber, wenn auch möglicherweise innerhalb eines irrationalen Weltbildes, (militärisch) rational handelt, dann wäre von Folgendem auszugehen: Im Falle, dass er über den Gebrauch von strategischen Kernwaffen nachdenkt, würde er dann den Zweitschlag der Gegenseite einkalkulieren, der ja auch wesentliche Teile seines eigenen Landes vernichten würde. Daraus ergäbe sich für den Westen und für Putins Russland eine lose-lose-Situation, die letzterem, zumal in seinen Großmachtambitionen, nichts brächte. Nutzte Putin dagegen nur Kurzstreckenraketen, die er ja nicht nur von russländischem Territorium, sondern auch von der Krim aus oder generell von Land, See (U-Boote) und Luft starten könnte (von der Variante Kaliningrad, wo schon Hyperschallraketen stationiert wurden, ganz zu schweigen), würde die Ukraine, zumindest in wesentlichen Teilen, atomar verwüstet, und somit weitgehend unbrauchbar, um mit ihr Russland zum Imperium zu erheben.

Gewiss, insbesondere die erste These ist alles andere als tröstlich, wenngleich beachtenswert. Tröstlich ist auch nicht, dass die Wahrscheinlichkeit des Einsatzes chemischer und biologischer Waffen auf russländischer Seite höher ist als die der nuklearen. Auch könnten militärisch instrumentalisierte Atomkraftwerke eine größere Rolle spielen als atomare Waffen. Das aber wird weitaus seltener von den Pazifist*innen ins Gespräch gebracht als die Gefahr von Atomwaffen.

Es ist auch kaum vorstellbar, dass im Falle, dass Putin, ob von Frust überwältigt oder von kühl kalkulierten Interessen ausgehend, dieser bei einem Atomschlag gerade Deutschland ausnimmt, weil es sich doch der Lieferung schwerer Waffen verwehrt hatte. Auch das ist wenig plausibel, ganz abgesehen davon, dass von den jetzt über 50 »Ramstein-Staaten« der eine oder andere Deutschlands Rolle übernehmen könnte und für Russland der Effekt womöglich der gleiche wäre. Doch Deutschlands Austritt aus dieser Koalition würde ebenso bedeuten, dass es der Rolle einer europäischen Führungskraft nicht mehr gerecht werden und entsprechendes Vertrauen verspielen würde. Das bezöge sich auch nicht nur auf die NATO, sondern auch auf die EU.

Risiko und Nutzen im Einzelfall auszutarieren, ist schwierig genug. Leichtfertigkeit, Übermut und Begeisterung über deutsche Lieferungen schwerer Waffen, fehlende Ausdifferenzierung sind hier genauso fehl am Platze wie ihre pauschale Verurteilung: Und ja, auch vom Richtigen ist nie alles gut.

Man kann nämlich, auch ganz ohne zur diesbezüglicher USA- bzw. NATO-Kritik in Widerspruch zu geraten, trotzdem bundesdeutsche Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien oder auch vom den von den USA, unter falschem Vorwand, vom Zaun gebrochenen Irak-Krieg verurteilen. Von einstigen Angriffskriegen der USA bzw. der NATO den (Kurz-)Schluss zu keiner oder nur halbherziger Unterstützung der Ukraine zu ziehen, ist logisch haltlos.

IV. Das innenpolitische und ökonomische Argument

Das innenpolitische bzw. -ökonomische Argument bringen Pazifist*innen seltener vor, wenn sie deutsche Waffenlieferungen in die Ukraine verurteilen und stattdessen einen sofortigen Frieden ohne Vorbedingungen insinuieren. Es findet sich aber bei ihnen durchaus und bedeutet dann: Putins Aggressionsdrang sei, zumindest im Ineinandergreifen mit bedingungslosen (!) Friedensverhandlungen, innenpolitisch beizukommen. Ökonomisch könnten es Sanktionen richten (die aber auch nicht den Boykott russischen Gases und Erdöls einschließen dürften). Wenn all das zusammenspielte, wäre nicht nur der jetzige Ukraine-Krieg schnell vorbei, auch künftige russländische Aggressionen seien dann unwahrscheinlich. Dagegen argumentiert dieser Abschnitt, indem er aufzeigt, dass innenpolitische (und ökonomische) Alternativen gegenüber Putins Diktatur und Russlands Krieg in nächster Zeit wenig aussichtsreich, ja unwahrscheinlich sind, zumindest im erhofft-positiven Sinne.

Zunächst: Russland hat – und das kommt in Putins Narrativen selbstverständlich nicht vor – mit der Aggression in der Ukraine über die außenpolitisch-militärische Karte unter anderem versucht, von seinen innenpolitischen und wirtschaftlichen Problemen abzulenken, ja diese zu kompensieren. Wenn »Heldensiege« am Horizont aufscheinen, sind viele Menschen, auch und gerade in Russland, gern bereit, den Gürtel enger zu schnallen, chronischen Produktivitätsrückstand, ja Armut zu erdulden (Rentner*innen, dörfliche Peripherie), auf politische Freiheit zu verzichten, Morde an Oppositionellen »zu übersehen« und einen Präsidenten auf Lebenszeit zu tolerieren, wenn nicht gar gutzuheißen, weil sie sich Stabilität auf andere Weise nicht vorstellen können: Meinungsfreiheit könnte ja auch den Kampfgeist schmälern! Und Putins Ablenkungspropaganda fruchtet, wie man sieht, zumindest solange militärische Erfolge nicht systematisch ausbleiben. (Etwas weniger fruchtet sie inzwischen allerdings gegenüber den von Putin avisierten Partnerstaaten wie insbesondere Indien, aber auch China oder dem einen oder anderem Staat Zentralasiens.)

Demoskopische Untersuchungen zeigen, dass die russische Bevölkerung zu 70 bis 80 % hinter Putins Ukraine-Krieg steht. Auch wenn bei deren Antworten oft die Angst Pate gestanden haben mag (niemand geht gern für 15 Jahre hinter Gitter), gibt es keine(n) ernsthafte(n) Spezialist*in, die/der nicht eine Mehrheit von Putin-Unterstützern vermuten würde. Daran dürften auch neuerdings vorsichtig vorgetragene Proteste eines Jawlinskis von der Jabloko-Partei bzw. von Moskauer oder Petersburger Lokalpolitikern nicht viel ändern. Dies nun wirft Zweifel an der Feststellung auf, nur Putin sei der Schuldige, das russische Volk aber nicht. Wie viele Putin aus Überzeugung unterstützen und wie viele aus Angst, ist schwer zu sagen. Das tut aber insofern nichts zur Sache, als davon weder die Einen noch die Anderen lautstark öffentlich gegen Putins Ukraine-Krieg protestieren, auf die Straßen gehen, gar Putin stürzen wollen. Die politische Regime-Opposition ist (leider) marginal, trotz ihrer Opferbereitschaft. Sollte sich Putin angesichts fortdauernder substanzieller militärischer Erfolge der ukrainischen Armee zu einer Generalmobilmachung gezwungen sehen (was nach seinen eigenen Worten nicht anstehe), mag sich das Blatt wenden, aber wahrscheinlich ist auch das nicht.

Nicht unerwartet ist in diesem Zusammenhang, dass eine Mobilisierung zugunsten von Putins Ukraine-Krieg ebenso wenig stattfindet: Die Menschen in Russland sind größtenteils apolitisch und an ihrer Ruhe interessiert. Der Spruch „Kak nibud‘ polutschitsja!“ (Irgendwie bekommen wir es hin!) bringt diese Haltung auf den Punkt. Zudem ist es gerade der Chauvinismus und damit einhergehendes – vermeintliches – Heldentum, »ernährt« durch Putins auf historische Wurzeln verweisendes Entnazifizierungsargument, was eine Massenmobilisierung gegen Putins Krieg und Autoritarismus verhindert.

Westliche Wirtschaftssanktionen sind hochwichtig, zeitigen aber nur teilweise und bestenfalls langfristig Wirkung. Putin antwortet auf sie mit der Wirtschaftsstrategie der Importsubstitution. Dass diese Strategie historisch weltweit gescheitert ist, weiß man aus entsprechenden politökonomischen Analysen, doch scheiterte eben auch sie nur längerfristig. Zur Not ermöglichen Russland Rohstoffrenten »trickle-down«-Effekte, auch jetzt noch, wenigstens solange das Land für seine Rohstoffe außerhalb des Landes Abnehmer findet. (Ob China auch tatsächlich ein solcher stabiler Abnehmer sein wird, kann man nicht wissen.) Allein, Rohstoffrenten, auch das zeigt die historische Erfahrung, lösen nie das wirtschaftliche Entwicklungsproblem, setzen sie doch wirtschaftlich-technologische Entwicklungssprünge nicht nur nicht in Gang, sondern verhindern sie. »Rentseeking« über Rohstoff- oder traditionellen Agrarexport hat nicht nur als Kehrseite Marginalität und damit verminderte Nachfrage, es verunmöglicht auch systematisches ökonomisches Wachstum über exportorientierte Wirtschaftspolitik. Denn Renten und deren Überschuss bieten keinen Anreiz, den gewohnten Pfad zugunsten einer – riskanten und von Renten ungetrübten – kapitalistischen Marktwirtschaft zu verlassen. Sie machen vielmehr »faul«. Da sich das Streben nach ökonomischer Autonomie, wie es Russland im Kontext des Ukraine-Kriegs anstrebt, letztlich nur über die Reduktion von Abhängigkeit vollziehen kann, die wiederum nur über Handelsvorteile funktionieren würde, welche aber ihrerseits, zumindest teil- und -schrittweise, durch westliche Sanktionen ausgehebelt werden, kann Russland längerfristig nicht auf der Gewinnerseite stehen.

Russlands ökonomische Elite gliedert sich nach Meinung der Verfasserin in Oligarchie und Staatsklasse. Die Staatsklasse bezieht ihren Gewinn auf der Basis von Staatsämtern, gewissermaßen von Putins Gnaden, und erst auf dieser Basis aus der Wirtschaft. Sie wird ihre eigenen ökonomischen Interessen nicht mit einem Eintreten gegen den Krieg gefährden. Die Oligarchie, die auf den Staat nicht notwendig angewiesen ist, zieht sich nach Europa, Israel oder in die USA zurück und wird sich folglich nur in Ausnahmefällen ernsthaft für Putins Sturz engagieren.

Es bleiben die Armee bzw. die Generalität oder auch der Geheimdienst, wobei, gelinde ausgedrückt, beider Interessen nicht identisch sind. Hier mag sich, gerade bei militärischen Verlusten, Widerstand herausbilden. Ob ein solcher aber zu einem Putsch gegen Putin führen wird, ist schwer abzuschätzen. Zu bedenken ist hier auch, dass Militärputsche historisch nie Demokratie etabliert haben und in der Regel mit dem Ziel erhöhter militärischer Effektivität und Effizienz von Diktatur vollzogen wurden, was einen Frieden im Ukraine-Konflikt noch stärker außer Reichweite geraten ließe. Kaum wird von den Ukraine-Pazifist*innen auch gesehen, dass es in Russland viele Politiker*innen gibt, denen Putin militärisch noch viel zu wenig radikal und nationalistisch, politisch zu wenig autokratisch und sein Krieg zu wenig effizient, ja zu wenig siegreich ist. Dass unter den in den berüchtigten Talkshows eines Solowjows auftretenden russischen Politiker*innen nunmehr, seit den militärischen Erfolgen der Ukraine im Osten des Landes Mitte September 2022, auch kontrovers gestritten wird, berechtigt nicht notwendig zu größerer demokratischer Hoffnung. Denn diese Politiker*innen argumentieren (ähnlich dem tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrov) noch nationalistischer und militaristischer als Putin selbst, und sie könnten sich mit etwaigen Militär-Putschisten verbünden. Das Ergebnis wäre fatal.

Daraus ergibt sich: Für eine Beendigung des Krieges ist jetzt, neben und stärker noch als westliche Sanktionen, die aber nur partiell und bestenfalls langfristig wirken, immer noch das Militärische entscheidend, das heißt das Schlachtfeld und damit auch die militärische Unterstützung der Ukraine durch den Westen. Nur so werden die Ukraine und Putins Russland, auf jeweils diametral gegensätzliche Weise natürlich, an den Verhandlungstisch geführt. Erst dann würde ein stabiler Frieden möglich. Anderenfalls ist, trotz gegenwärtig sichtbarer militärischer Erfolge, selbst eine militärische Niederlage der Ukraine nicht völlig auszuschließen und der Krieg, ob als Stellungskrieg oder dominanter Partisanenkrieg, als langwierig-zäh (»protracted«) und endemisch wahrscheinlich. Doch auch solcherart Kriege können, wie z.B. Kolumbien mit seinen zwischen 1958 und 2018 fast 9 Millionen Opfern12 demonstriert hat, extrem opferreich sein. Mehr noch, der Ukraine-Krieg kann, auch wenn sich etwa Russland bei anhaltenden militärischen Niederlagen ohne Friedensabkommen zurückzöge, nach einer Pause, wieder von neuem aufflammen. Das könnte sich sogar mehrfach wiederholen. Inwieweit auch in einer solchen Situation westliche Waffenlieferungen zielführend wären, ist spekulativ. Doch entsprechend zukünftige, zum status quo alternative Szenarien müssen vom Westen schon jetzt antizipiert werden, will er nicht, wie im Februar 2022, ein weiteres Mal vom Geschehen überrascht werden. Dazu gehört auch, dass er sich schon jetzt mit einer – wann und wie auch immer sie anbrechen wird – möglichen Post-Putin-Ära und damit verbundenen Alternativen auseinandersetzt. Dass diese Ära friedlicher, ja demokratischer sein würde als die jetzige, ist wünschenswert, aber beileibe nicht sicher.

Schluss

In diesem Aufsatz sollte gezeigt werden, dass die Forderung „Keine schweren Waffen für die Ukraine!“ von den Pazifist*innen weder leichtfertig vorgebracht wird noch einfach abzutun ist, aber eben auch nicht stichhaltig ist und auch keine Lösung des Problems darstellt. Sie ist vielmehr kontraproduktiv, denn einen Frieden in der Ukraine wird oder würde sie nicht näherbringen, eher weiter in die Ferne rücken. Der nicht-genuine, in sich inkonsistente, wiewohl in der Regel wohlmeinende Pazifismus im Kontext des gegenwärtigen Russland-Ukraine-Krieges ist daher nicht zielführend. Der durch den Krieg in Europa nachgerade umgestülpten Sicherheitsarchitektur kann eben nicht mit früher gängigen und der Friedensdividende untergeordneten institutionellen Mitteln begegnet werden. KSZE und nachfolgende OSZE waren gewiss entscheidend vor dem durch den Ukraine-Krieg eingeleiteten Epochenbruch, doch mit ihm hat sich ihre Wirkmächtigkeit weitgehend überlebt. Neue internationale Institutionen und Foren werden notwendig. Auch wenn sie gegenwärtig noch unrealistisch sein mögen – konzeptionell sollte über sie schon jetzt nachgedacht werden. Und schließlich: Substanziell neue Gegebenheiten erfordern immer profundes Umdenken, wie schwierig und schmerzhaft es auch sein mag. Umdenken (Verlernen) ist stets schwieriger als Neudenken (Lernen). Das macht auch vor pazifistischen Überzeugungen nicht halt. Das aber soll keineswegs heißen, dass Pazifismus keine gute Vision sei, sondern, dass er, würde er denn allenthalben obwalten, den unvergleichlichen Vorzug besäße, dass Angriffskriege nicht mehr stattfänden und auch Verteidigungskriege somit nicht mehr nötig wären.

Die Verfasserin bedankt sich für die äußerst anregenden und hilfreichen Kommentare der Redaktion von Wissenschaft & Frieden sowie bei Petra Gerber, Werner Karp und Martin Malek für ihre wertvollen Hinweise zu früheren Versionen des Textes.


Anmerkungen

1 Als diese Zäsur wird hier der großangelegte, wiewohl als »spezielle Militäroperation« apostrophierte Überfall Russlands auf ukrainisches Territorium beginnend mit dem 24. Februar 2022 angesehen. Das schließt ein, dass dessen Vorläufer, ob auf der Krim oder im Donbass, mindestens auf das Jahr 2014 zurückgehen. In der russischen Auslegung wird der (Euro-)Maidan vom Februar 2014 als Beginn eines ukrainischen Bürgerkriegs betrachtet, und es wird ihm als primäres Ziel die Entfernung Putins von der Macht und ein Regimewechsel in Russland unterstellt. Parallel dazu wird dem Westen eine weltweite hybride Kriegsführung unterstellt (vgl. z.B. Tsygankov 2015, 5 ff.). Damit wurde der Überfall schon mindestens acht Jahre zuvor ideologisch und (pseudo-)theoretisch vorbereitet.

2Waren zunächst, aufgrund ihrer Distanz zur US-Unipolarität, insbesondere Schwellen- und Entwicklungsländer (BRICS) vom Multipolaritätskonzept angetan, regen Russlands innere prekäre (sozio-)ökonomische Lage, fehlende politische Führungsmacht und nunmehr zunehmenden militärischen Misserfolge inzwischen vor allem die Diktaturen unter ihnen dazu an, sich um das »russische Modell« zu scharen. Heutzutage will das Gros der Schwellen- und Entwicklungsländer Putin weder verprellen noch hofieren.

3 Zwar hat Putin den Soziologen Dugin vermutlich nie zitiert, doch fungierte der immerhin als Berater der ideologischen Abteilung von Putins Partei »Edinaya Rossiya«. Nach einer Zeit der Distanz zwischen beiden (Dugin wurde da als Professor für Internationale Politik an der Moskauer Lomonossov-Universität geschasst), bejubelte Dugin ab 2014Putin wieder als die „Sonne“ und den „Zaren“ Russlands. War Dugin in den 1990er Jahren Mitglied in einer von den Begründern selbst als »Schwarzer-Orden-SS« bezeichneten Gruppierung und späterer Ko-Vorsitzender der Nationalbolschewistischen Partei Russlands, gilt Iwan Iljin, den Putin nun ausnehmend gern als Quelle angibt, als faschistischer Philosoph schlechthin. Ihn allerdings zitierte Putin nicht nur mehrfach, er legte 1999 sogar Blumen an seinem Grab nieder. Dass Putin schon 1993 seine Faszination für Pinochet in Chile erklärt hatte, ist bekannt und passt perfekt ins Bild.

4 Übrigens wird Geopolitik in Russland inzwischen als eigenständige Wissenschaft (mit eigener Methodik) (Isaev 2016, 2021) als eine selbstständige(s) Disziplin oder Fach angesehen (vgl. Muchaev 2016, 6, 13; Gadshiev 2016, 23) oder wenigstens als eigenständige Subdisziplin der Politikwissenschaft, das die internationalen Beziehungen „determiniere“ (vgl. Muchaev 2016, 22) und damit letztlich über der IB stehe, weil es ja eine Meta-Ebene und die Symbiose mehrerer Wissenschaften (Geographie, Geschichte, IB, internationale Ökonomie und Militärstrategien) darstelle (vgl. Isaev 2016, 22 f.). Damit könne die IB (lediglich) als „angewandte Geopolitik“ (vgl. Gadshiev 2016, 44) verstanden werden. Die Verfasserin beobachtet in Russland nicht nur eine schrittweise Vereinnahmung der IB durch die Geopolitik, sondern (an den Universitäten) auch deren tendenzielle Verdrängung durch letztere.

5 Wie ernst sie tatsächlich gemeint waren oder nur als Test zu verstehen waren, bleibt Forschungsgegenstand.

6Seit Beginn des Ukraine-Krieges argumentiert nun auch der Westen selbst weitgehend IB-(neo-)realistisch.

7DIE LINKE befindet sich hier in einem mehrfachen Dilemma: In ihrem Gros folgt sie mit eherner Konsequenz ihrem programmatisch pazifistischen Kurs, jedoch dies noch zu einer Zeit, da es angesichts des durch den Ukraine-Krieg eingeleiteten Epochenbruchs einer neuen Programmatik bedürfte. Diese aber kann sie so schnell gar nicht konzeptualisieren, selbst wenn sie es denn wollte. Die sich in ihr abzeichnenden Zerfallserscheinungen haben nicht zuletzt mit diesem Dilemma zu tun.

8 Nicht nur linke Politiker*innen, sondern auch konservativere waren in der Frage des »gerechten Krieges« inkonsistent: Letztere haben einerseits, etwa im Fall der NATO-Bombardierung in Belgrad, im Irak- oder Libyen-Krieg (hier ohne Deutschlands Beteiligung), den »gerechten Krieg« als Argument in Anschlag gebracht, andererseits aber bewaffneten Befreiungsbewegungen in Afrika oder Lateinamerika dieselbe Legitimität aberkannt. Beim Massaker in Ruanda haben übrigens beide, Konservative(re) wie Linke, weggeschaut.

9 Der Gebrauch strukturell-kausaler Termini bei Diskursen sei hier als Kunstgriff verstanden, der, wie erwähnt, dadurch legitimiert ist, dass diese Diskurse auch und gerade von einigen Pazifist*innen für Fakten genommen werden.

10 Die Kombination verschiedener (struktureller) erklärender Variablen in der folgenden Erklärungskette stellt keineswegs Handlungsautonomien und Interaktionen von Akteuren in Frage, sondern geht lediglich davon aus, dass Handeln zu einem bestimmten Moment immer zur Struktur, mithin zu strukturellen Faktoren, gerinnt.

11 Im Übrigen können Friedensverhandlungen oft auch nur unter der Bedingung zum Erfolg gebracht werden, dass in ihnen oder in ihrem Kontext Kriegsverbrechern Amnestie gewährt wird. Denn ein Aggressor wird, wenn er nicht gerade militärisch kapitulieren muss, ein Friedensabkommen, in dem es um die Beschränkung seiner (Straf-)Freiheit, gar um seinen Kopf geht, schwerlich unterschreiben. Das mag einem nicht gefallen, aber die Erfahrung zeigt es.

12 Dies allerdings in innerstaatlichen Konflikten, die trotz des FARC-Abkommens noch immer nicht zu Ende sind.

Zitierte Literatur

Dugin, Aleksandr (2011): Geopolitika. Moskau.

Dugin, Aleksandr (2013): Die Vierte Politische Theorie. London.

Dugin, Aleksandr (2015): Russkaja vojna. Moskau.

Fischer, Sabine (2022): In „hart aber fair“, unter: https://youtu.be/eWISONhhBy8.

Gadshiev, Kamaludin (2016): Geopolitika. Moskau.

Isaev, Boris (2016): Geopolitika. St. Peterburg.

Muchaev, Raschid (2016): Geopolitika. Moskau.

Müller, Harald (2022): „Putin ist ein Wiedergänger Hitlers“. Interview von Andreas Schwarzkopf. FR online, 01.06.2022. Unter: https://www.fr.de/politik/ukraine-krieg-russland-harald-mueller-interview-putin-ist-ein-wiedergaenger-hitlers-91586179.html.

Patterson, Colin (2019): Just War Pacifism: Must it be a Contradiction in Terms? Studies in Christian Ethics, Vol. 32, No. 3, S. 370-386.

Plokhy, Serhii (2022): Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde. Hamburg.

Putin, Vladimir (2021): Ob istoritscheskom edinstve russkich i ukrainzev, unter: http://kremlin.ru/events/president/news/66181.

Sciutto, Jim (2020): The Madman Theory. New York.

Tsygankov, Pavel (2015): Vvedenie. „Gibridnye vojny“: ponjatie, interpretazii i real’nost‘. In: Tsygankov, Pavel (Hrsg.): „Gibridnye vojny“ v chaotizirujuschtschemsja mire XXI veka. Moskau, S. 5-28.

Zartman, William (2001): The Timing of Peace Initiatives: Hurting Stalemates and Ripe Moments. The Global Review of Ethnopolitics, Vol. 1, No. 1, S. 8-18.

Zinecker, Heidrun (2007): Kolumbien und El Salvador im longitudinalen Vergleich. Ein kritischer Beitrag zur Transitionsforschung. Baden Baden.

Zur Autorin:

Heidrun Zinecker war bis zu ihrem Eintritt in den Ruhestand W-3-Professorin für Politikwissenschaft/Internationale Beziehungen an der Universität Leipzig und davor Senior Researcher an der Hessischen Stiftung Konflikt- und Friedensforschung in Frankfurt a. Main.

Zu ihren Forschungsgebieten zählten Kriegs-, Gewalt-, Friedens- und Transformationsforschung (insbesondere zu Lateinamerika) und russländische Außenpolitik. Sie hat von 1977 bis 1982 an der Philosophischen Fakultät der Leningrader Staatlichen Universität studiert und später Forschungs- und Lehraufenthalte an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR (1985) und der Lomonossov-Universität (2016) in Moskau absolviert.

Zurzeit engagiert sie sich u.a. für ukrainische Flüchtlinge.