Robert Jungk zum Widerstand gegen Atomrüstung, Krieg und Gewalt und für eine humane Zukunft
„Der Aufstand gegen das Unerträgliche“
von Hans Holzinger und Robert Jungk
In Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa und der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen
Hans Holzinger: Vorwort
„Wer lange lebt, hat oft genug erfahren, daß sich zwar nicht alles, aber doch vieles mit der Zeit zum Besseren wenden kann. Das eigene Ende ist unvermeidlich, aber von jedem kreativen, aktiven Menschen geht ein Anstoß aus, der auf unvorhersehbare Weise in die Zukunft weitergeleitet wird.“ Mit diesen Sätzen beendet Robert Jungk seine Autobiographie »Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft« (Hanser 1993). Sie lassen vielleicht erahnen, woraus der Ermutiger die Kraft für sein lebenslanges Engagement geschöpft hat.
Zu warnen vor dem blinden »Fortschritts«-Glauben des naturwissenschaftlich - technischen Zeitalters, das im Irrsinn des nuklearen Wettrüstens wohl seine (bislang) gefährlichste Zuspitzung erfahren hat; zu bekräftigen, daß Friede und Abrüstung »von unten«, von den vielen Menschen, die sich einmischen und wehren, erreicht werden müssen; sowie drittens die feste Überzeugung, daß das »Nein« immer auch ein »Ja« brauche, also die Suche nach einer humanen, von den Menschen selbst gestalteten und bestimmten Gesellschaft – so lassen sich die drei großen Ziele in Robert Jungks Wirken festmachen.
Es war schwierig und faszinierend zugleich, aus dem umfangreichen Werk, das Jungk uns hinterlassen hat, Textpassagen auszuwählen, die Aufschluß geben über sein Friedens-, Politik- und Zukunftsverständnis und seine Biographie als Autor, Wissenschaftskritiker und Mitstreiter der Friedens- und Anti-Atom-Bewegung widerspiegeln. Ich hoffe, daß der vorliegende Band seinem Ziel gerecht und seine Leserinnen und Leser finden wird. Die ausgewählten Texte bleiben notgedrungen fragmentarisch. Sie sollen nicht zuletzt jene, die Jungks Bücher noch nicht kennen, auf diese neugierig machen, und jene, die sie kennen, zum erneuten Lesen anregen. Es lohnt sich allemal.
»Der Aufstand gegen das Unerträgliche« – so lautet der Untertitel jenes Buches »Menschenbeben«, in dem Robert Jungk die weltweite Friedensbewegung der 80er Jahre gegen den Irrsinn des nuklearen Wettrüstens als Beteiligter und engagierter Beobachter sehr eindrucksvoll beschrieben hat. Er sei dieser Textsammlung als Motto vorangestellt.
Zu danken bleibt dem »Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa« für die Idee zu diesem Projekt und den aufgebrachten Mitteln zu seiner Realisierung.
Hans Holzinger, Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen
Salzburg, September 1995
Einleitung
Wir wollen Robert Jungk nicht vergessen. Als uns im letzten Jahr die Nachricht von seinem Tode erreichte, beschlossen wir im Arbeitskreis, durch eine Auswahl aus seinen wichtigsten friedenspolitischen Texten für unsere Mitglieder und die Leserinnen und Leser von W&F sein Andenken lebendig zu erhalten.
Und dies ist mehr als eine bloße Totenehrung. Lest, und ihr werdet seine vielfältig gegenwärtige Bedeutung erkennen. Auch dort, wo wir uns mit Jungk rückbesinnen auf die Anfänge der ungeheuerlichen atomaren Gefahr, hilft es uns, das Ausmaß und die Etappen des Kampfes uns wieder voll zu vergegenwärtigen – jenes Kampfes, denen auch unser Arbeitskreis seinen Namen und sein Wirken verdankt – jenes Kampfes, der durch die größenwahnsinnigen Atomtests des Herrn Chirac gerade in unseren Tagen sich leider wieder als noch völlig aktuell erweist.
Robert Jungk bleibt ein großes Vorbild der Friedensbewegung. Warum? Weil er in schlechthin vorbildlicher Weise die Arbeit des Forschers und des Publizisten mit dem unmittelbaren persönlichen Einsatz des Friedensbewegten verband. Wir haben auch in der Friedensbewegung nämlich viele, die nur lesen, reden und schreiben oder nur an Aktionen interessiert sind. Aber gerade heute, wo die Sachverhalte und die Lösungen komplizierter werden (siehe Jugoslawien!), wo Friedensarbeit mehr denn je mühsame Kleinarbeit ist und selbst Demos meist keine »Massendemonstrationen« mehr sind, ist von uns allen intellektuelle UND Aktionsarbeit gefordert – von jedem/r nach ihren/seinen Kräften.
Und deshalb bleibt Robert Jungk unser großes Vorbild. Er war immer mit dabei, ist immer und immer wieder an der Spitze unserer Demonstrationen mitgegangen, hat uns »einfachen« Bürgerinnen und Bürgern Mut gemacht durch sein Dabeisein, seine mutmachenden Reden, bei denen er kein Blatt vor den Mund nahm, sondern die Herrschaftsverhältnisse, die Rüstungsinteressen, die ideologischen Verharmlosungen des atomaren Abschreckungsdenkens beim Namen nannte.
Dabei war seine größte Leistung, die ihn von den meisten nur-kritischen Linken unterschied, daß er immer auch Wege nach vorn, Auswege, Fortschritte, positive Alternativen und Ansätze aufzeigte. Tief philosophisch verankert war sein Wissen: das bloße Aufzeigen der Misere, der destruktiven Mächte stumpft zuletzt ab, treibt in die Resignation; nur wenn wir auch den Blick und unsere Aktivität auf Ansätze einer humaneren Ordnung richten, bleiben wir wirksam, überzeugen auch andere. Daher erfand er die Methode der »Zukunftswerkstätten«, in denen Menschen sich systematisch bemühen, von der Kritik des Bestehenden zum Entwurf und Inangriffnehmen positiver Alternativen zu gelangen. (Und schon in seiner Emigrationszeit, in den USA, gründete er eine Zeitung, die »good news« verbreitete und damit dem fatalen Trend der Profitpresse entgegenzuwirken suchte, die von der Attraktivität der Horrormeldungen lebt und daher nach dem Prinzip handelt: »bad news are good news and good news are bad news!«)
Heute hätte er mit Emphase auf den weltweiten – nie zuvor so verbreiteten – Widerstand gegen die französischen Atomtests verwiesen und uns zugerufen: Seht den Pyrrussieg Chiracs – er ist in Wahrheit eine große internationale Niederlage Frankreichs!
Fritz Vilmar, Arbeitskreis Atomwaffenfreies Europa
Die Zukunft hat schon begonnen (1952)
Das reiche publizistische Schaffen und politische Wirken von Robert Jungk ist bestimmt vom »Anschreiben« gegen die nukleare Bedrohung sowie gegen die unbedachten Risiken des naturwissenschaftlich-technischen Fortschritts generell. Wenn Günther Anders als »der Philosoph des Atomzeitalters« zu bezeichnen ist, so war Jungk dessen engagiertester und kritischster Berichterstatter. Die Warnungen vor dem nuklearen Wettrüsten leiten auch Jungks Welterfolg als Autor ein. 1952 erscheint das erste Buch »Die Zukunft hat schon begonnen«. Diese Berichte aus amerikanischen Rüstungslaboratorien, über geheime Atomanlagen und Atombombentests erregen Aufsehen weit über den deutschen Sprachraum hinaus. Doch nicht nur der »Griff nach dem Atom«, sondern auch jener nach der Natur, dem Menschen und dem Weltraum ist Gegenstand dieser Abhandlungen, die vor den Gefahren blinder Technikgläubigkeit warnen, und die der Autor insbesondere im »Nachkriegsamerika« ausmacht.
So ist zur Zeit in den Vereinigten Staaten eine Welt im Entstehen, wie es sie nie zuvor gab. Es ist die von Menschen entworfene, im Höchstmaß vorausgeplante, kontrollierte und je nach dem Fortschrittsstand immer wieder »verbesserte« Schöpfung. Sie besitzt ihre besondere Art von Schönheit und von Schrecken. Denn obwohl die menschlichen Schöpfer sich bemüht haben, aus ihrer Kreation Schicksal, Zufall, Katastrophen, Unglück und Tod zu verbannen, so treten die Fortgewiesenen nun verkleidet nur noch viel eindringlicher auf: Kalkulationsfehler der Planstatistiker, Versagen der technischen Apparatur, Unfälle und Explosionen bringen ein Vielfaches an Leid.
Sogar die alten dunklen Mythen vom verschleierten Bild, dessen Vorhang niemand heben darf, von Geistern, Dämonen und verwunschenen Regionen, ja von der Hölle selbst, kommen in dieser scheinbar so genau ausgerechneten, rational entstandenen Welt zu neuer Geltung. Denn der Durchschnittsmensch bewegt sich in der zweiten, künstlich aus der Retorte gewonnenen Natur genauso unsicher wie seine prähistorischen Vorfahren in der primären Natur, weil nur die Spezialisten – und oft nicht einmal sie – die Wesen und Kräfte begreifen, die sie in die Welt gesetzt haben.
Diese »neueste Welt« ist keine ferne Utopie, kein Geschehen aus dem Jahre 1984 oder einem noch ferneren Jahrhundert. Wir sind nicht wie in den Zukunftsromanen von Wells, Huxley und Orwell durch den breiten Graben der Zeit von dem reißenden Tier Zukunft getrennt. Das Neue, Andere, Erschreckende lebt schon mitten unter uns. So ist es, wie alle historische Erfahrung zeigt, immer gewesen. Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: Die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.
In dieser zukunftsbezogenen »neuesten Welt« haben die Grenzen von Tag und Nacht, von Licht und Finsternis keine Gültigkeit mehr. Die Tat des ersten biblischen Schöpfungstages wird von den späten Nachkommen des Prometheus annulliert. Damit der moderne Produktionsprozeß keine Unterbrechung erleide, brennen in den Fabriken von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang die künstlichen »Sonnen« der elektrischen Scheinwerfer. In fast allen großen Städten Amerikas gibt es Markthallen und Drugstores, die verkünden: WIR SCHLIESSEN NIE! Es ist nur noch ein kurzer Schritt zu dem Augenblick, da der bereits in einem kalifornischen Laboratorium entwickelte künstliche »Nordlichteffekt« dem Himmel für immer sein Nachtgewand herunterreißt.
Und so geht es mit jedem einzelnen im heiligen Buche beschriebenen Schöpfungsakt. Der Mensch schafft künstliche Materie, er baut eigene Himmelskörper und bemüht sich dann, sie am Firmament über uns aufgehen zu lassen, er kreiert neue Pflanzen- und Tierarten, er setzt eigene, mit übermenschlichen Sinnesorganen ausgestattete mechanische Wesen, die Roboter, in die Welt.
Nur eines kann er nicht. Es ist ihm nicht gegeben, mit den Worten der Bibel auszurufen: „Und siehe da, es war sehr gut.“ Er darf niemals die Hände in den Schoß legen und sagen, daß seine Schöpfung vollendet sei. Rastlosigkeit und Unzufriedenheit bleiben mit ihm. „Denn hinter jeder Tür, die wir öffnen, liegt ein Gang mit vielen anderen Türen, die wir abermals aufschließen müssen, nur um dort dann wieder hinter jedem einzelnen Zugang weitere Pforten zu abermals neuen Toren zu finden“, sagte ein chemischer Forscher zu mir, einer der gottgleichen Schöpfer des künstlichen Universums. (…)
Es scheint, als sei hinfort der Sinn all dieses Schaffens nur wieder neues Schaffen. Produktion ruft nach immer mehr Produktion, jede Erfindung nach weiteren Erfindungen, die vor den Folgen der vorhergehenden Neuschöpfung schützen sollen. Der Mensch kommt nicht mehr zum Genuß der Welt. Er verzehrt sich in Angst und Sorge um sie. Kein Glücksgefühl und kein »Hosianna« begleiten den neuen Schöpfungsakt.
Diese Unzufriedenheit mit der menschengeschaffenen »neuesten Welt«, die heute in den Vereinigten Staaten oft schon so deutlich empfunden wird, daß sie zu einem Schwelgen in Furcht- und Untergangsphantasien ausartet, scheint mir eines der hoffnungsvollsten Zeichen für die Zukunft Amerikas. Zivilisationspessimismus ist nicht mehr nur die modische Pose eines kleinen Kreises von Künstlern und Intellektuellen, sondern der weitverbreitete Ausdruck tiefer Besorgnis und überall erwachender Kritik geworden.
Noch lebt allerdings dieser Zweifel meist in der gleichen Brust dicht neben dem alten maßlosen Geist eines übermütigen, vieles wagenden und alles erhoffenden Tätertums. Aber je lauter die Glückspropaganda wird, je provokanter das Lächeln der Zufriedenheit und der betonte Stolz auf den »höchsten Lebensstandard der Welt«, desto quälender werden auch die Bedenken.
Es gibt viele, die sich einfach ins Amüsement, in die Sexualität, den Alkohol oder die Neurose flüchten, um mit dem Unbehagen fertig zu werden, die sogenannten »escapists«. Es gibt andere, die resignieren, und einige wenige, die bewußt gegen die Entwicklung zu einem totalitären, inhumanen, technisierten Massenleben ankämpfen. Bestrebungen zur Vermenschlichung der Arbeit, zur Anpassung der Maschinen an die menschliche Psyche, zur Dezentralisierung und Humanisierung der großen Städte sind im Gang.
Aber all das hat vorläufig noch einen spielerischen oder sektiererischen Zug. Die große Geistesänderung, die sich durch Wiederanerkennung menschlicher Begrenzung und das Wiederfinden des Maßes ausdrücken müßte, ist bisher ausgeblieben. Da hilft kein messianisches Predigen, keine Ungeduld. Diese Wandlung kann wohl nur aus bitterster Erfahrung kommen. Erst wenn der krampfhafte Griff nach der Allmacht sich einmal löst, wenn die Hybris zusammenbricht und der Bescheidenheit Platz macht, dann wird Amerika von dem wiederentdeckt werden, den es vertrieben hat: Von Gott.
Aus: Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht. Hier zit. n. Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 24-27.
Abdankung der Kultur (1955)
In seiner Kritik am naturwissenschaftlich-technischen Fortschrittsglauben war Robert Jungk wesentlich vom Denken Albert Schweitzers beeinflußt, über den er 1955 – was nur wenige wissen – eine Biographie verfaßte. Aufgrund der vertraglichen Bindung an den Verlag des ersten Bucherfolges »Die Zukunft hat schon begonnen« mußte diese unter Pseudonym – Jungk wählte den Namen Jean Pierhal – erscheinen. Im Vorwort, das er unter seinem richtigen Namen verfassen durfte, hebt Jungk Schweitzers Kritik am „Versagen der Philosophie“ und der „Abdankung der Kultur“ im naturwissenschaftlichen Zeitalter hervor, eine Kritik, die das Weltbild des Schweitzer-Biographen wohl nachhaltig geprägt hat.
(…) Um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, so stellt Schweitzer fest, habe die Abdankung der Kultur gegenüber der Wirklichkeit begonnen. Kampflos und lautlos habe sich dieses schicksalsschwere Ereignis vollzogen, und die meisten Zeitgenossen hätten es nicht einmal bemerkt. „Wie ging dies zu?“ fragt Schweitzer. Seine Anklage lautet klipp und klar: „Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.“
Nie hätte ich gedacht, daß der freundliche Professor mit dem etwas wirren vollen Haar und dem spitzbübischen Augenzwinkern eine so scharfe Klinge schlagen könnte. Schon um die Jahrhundertwende hatte er dem gedankenlosen Optimismus seiner Zeitgenossen nicht getraut, sondern tief beunruhigt die klaren Vorzeichen kommenden Unheils bemerkt. Der Erste Weltkrieg überraschte ihn darum nicht, sondern schien ihm nur die nun jedermann sichtbare Folge des fortschreitenden Kulturverfalls zu sein. Unmittelbar nach dem Kriege kündigte Schweitzer warnend eine zweite Katastrophe an. Die Selbstvernichtung der Kultur gehe weiter, erklärte er. Das, was von ihr noch stehe, sei nicht mehr sicher, ein neuer Erdrutsch könne es mitnehmen.
Und über drei Jahrzehnte später, als auch die zweite schmerzliche Prophezeiung sich erfüllt hat, stößt Albert Schweitzer dann zum dritten Male seine Warnung aus. Er steht, nun fast achtzig Jahre alt, schon sehr müde, aber doch immer noch aufrechterhalten vom Gefühl der Verantwortung für seine Mitmenschen, in der Aula der Universität Oslo und ruft aus:
„Wagen wir es, der Situation ins Gesicht zu sehen! Der Mensch ist zum Übermenschen geworden. Er ist nicht nur deshalb ein Übermensch, weil er über angeborene physische Kräfte verfügt, sondern weil er darüber hinaus, dank der Errungenschaften der Wissenschaft und Technik, die in der Natur schlummernden Kräfte beherrscht und zu nutzen versteht … Aber der Übermensch … hat sich nicht auf das Niveau übermenschlicher Vernunft erhoben, die dem Besitz übermenschlicher Kraft entsprechen sollte … Der Übermensch wird, im gleichen Maße wie seine Macht sich vergrößert, mehr und mehr ein armer, armer Mensch. Um sich nicht der Zerstörung, die von oben auf ihn herunterprasselt, völlig auszusetzen, muß er sich unter die Erde eingraben wie die Tiere des Feldes … Die wesentliche Tatsache, die unser Gewissen aufrütteln muß und der wir schon seit langer Zeit eingedenk sein sollten, ist, daß wir um so unmenschlicher werden, je mehr wir zu Übermenschen emporwachsen.“
Die Größe Albert Schweitzers zeigt sich nun darin, daß es ihm nicht genügte, seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts besorgt zu beobachten und zu diagnostizieren, sondern auch intensiv über Mittel zu ihrer Heilung nachzudenken. Woran lag es denn, daß die Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts ihre führende kulturgründende Stellung eingebüßt hatte? Wie hatte es kommen können, daß die Naturwissenschaften mit ihrem Riesenkind Technik unmenschlich wurden? Schweitzer glaubte die Ursache des Leidens in einer wichtigen Mangelerscheinung gefunden zu haben: dem Fehlen ethischer Ideen, ohne die keine lebensbejahende, lebenserhaltende und lebensfördernde Kultur gedeihen könne. Aus der Erkenntnis der Welt, wie sie wirklich ist – und um diese Erkenntnis haben sich bisher Philosophie wie Naturwissenschaften hauptsächlich bemüht – sei allerdings keine ethische Weltanschauung zu gewinnen. (…)
Aus: Vorwort zu: Albert Schweitzer. Biographie. Hier zit. n. Neuausgabe 1979, S.8f.
Heller als tausend Sonnen (1956)
Wohl als erster hat Robert Jungk die Geschichte der Atombombe und ihrer Träger beschrieben. Die aus intensiven Recherchen und zahlreichen persönlichen Gesprächen mit Atomforschern zusammengetragenen, 1956 unter dem Titel »Heller als tausend Sonnen« erschienenen Reportagen mach(t)en deutlich, daß sich NaturwissenschaftlerInnen nicht länger auf ihre »Grundlagenforschung« berufen können, sondern Verantwortung zu tragen haben für die technischen, sozialen und politischen Folgen ihres Tuns. »Heller als tausend Sonnen« schildert detailreich den Werdegang der Atomforschung von den ersten Kernspaltungsversuchen über den Bau der ersten Atombombe bis hin zur Entwicklung der amerikanischen Wasserstoffbombe, zu der Präsident Truman 1950 den Startschuß gab.
Drei Widerstände waren es, die ich in fast allen diesen Unterhaltungen zu überwinden hatte. Erstens die Befürchtung des Befragten, durch seine Äußerungen einen oder mehrere seiner noch lebenden Kollegen zu verletzen. (…) Ein zweiter Einwand, den ich hörte, war der, daß ich als jemand, der selbst der »Familie der Atomphysiker« nicht angehörte, unmöglich ihre wahre Geschichte erfassen könnte. Das mochte am Anfang meiner Recherchen wirklich so sein. Je weiter ich aber in die Materie eindrang, desto klarer wurden mir die persönlichen und historischen Bezogenheiten dieser Menschen, ja es stellte sich heraus, daß ich schließlich mehr Übersicht über den Gesamtablauf dieses Schicksals einer besonders wichtigen und einflußreichen Gruppe besaß als die meisten einzelnen, die mir ihre Erlebnisse und Ansichten anvertrauten. Denn sie hatten ja – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – nur den eigenen Abschnitt des Geschehens sehen können, während der Chronist aus seiner Kenntnis zahlloser Einzelheiten die Verknüpfung der Ergebnisse und ihre, den Handelnden selbst meist unbekannte, wechselseitige Einwirkung aufeinander übersah. Oft blieb es daher nicht nur bei einer Unterhaltung mit den Befragten. Ich mußte, geleitet durch die Angaben eines zweiten und dritten, wieder zu meinem ersten Unterredner zurück, um Klarheit über gewisse Punkte zu erhalten, die er selbst aus seiner mangelnden Kenntnis des Gesamtbildes für unwichtig gehalten und daher gar nicht erwähnt hatte.
Eine dritte Schwierigkeit, der ich begegnete, war die bei zahllosen Wissenschaftlern vorherrschende Einstellung, die private, die menschliche Geschichte der Wissenschaftler sei doch unwichtig. Was zähle, sei nur ihre objektive Leistung. Hier zeigte sich eine Haltung, die recht eigentlich viele der in diesem Buche beschriebenen Gewissensqualen und Tragödien heraufbeschworen hat. Der Wissenschaftler, der meint, daß er – oder seine Kollegen – nichts anderes sei als ein »Werkzeug der Erkenntnis«, dessen persönlicher Charakter, dessen Ambitionen, Hoffnungen und Zweifel »nichts bedeuteten«, denkt in Wahrheit unwissenschaftlich. Denn er ignoriert einen wichtigen, vielleicht den ausschlaggebenden Teil des wissenschaftlichen Experimentes, nämlich sich selbst, oder glaubt, ihn willkürlich ausschalten zu können. Nur durch diese künstliche, erzwungene und unnatürliche Loslösung der wissenschaftlichen Forschungsarbeit von der Wirklichkeit des einzelnen Menschen konnten ja überhaupt Monstren wie die Atom- und Wasserstoffbomben entstehen. (…)
Viele Forscher denken heute nicht mehr so. Sie wissen, daß sie nicht nur »Gehirne«, sondern ganze Menschen mit ihren Schwächen, ihrer Größe und ihrer Verantwortung sind. Dieser großen Gewissenskrise in ihrer Entstehung, im Versuch ihrer Meisterung nachzuforschen und sie dann trotz vieler einander widersprechender Aussagen so wahrheitsgetreu wie möglich aufzuschreiben, das war mein Bemühen.
Aus: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 20-22.
In einer Neuauflage dieses Buches in den 60er Jahren würdigt Jungk insbesondere auch jene, die sich nicht nur sehr bald von der militärischen Nutzung der Atomspaltung distanzierten, sondern vor deren Gefahren auch öffentlich warnten, etwa im Zusammenschluß der von Albert Einstein und Bertrand Russel gegründeten Pugwash-Bewegung.
Im Juli 1957 trafen also hier in diesem altertümlichen Nest an der Meeresenge von Northumberland zweiundzwanzig »Männer guten Willens aus Ost und West« ein, um unter sich, ohne zu starren Stundenplan und vor allem ohne Einsichtnahme der Öffentlichkeit, also ohne Furcht vor Beobachtung, alle möglichen Wege für eine Atomabrüstung zu debattieren. Ähnliche Konferenzen finden seither jährlich ein- bis zweimal statt. Es gab Treffen in Kanada, England, Österreich, aber auch in der Sowjetunion, in Jugoslawien und den USA. Allen war die verhältnismäßig kleine Anzahl von Eingeladenen und die bewußte Ausschaltung von Presseberichterstattern gemeinsam.
An den »Pugwash-Treffen« nahmen aber nicht nur Atomphysiker, sondern auch Biologen, Völkerrechtler, Militärwissenschaftler, Soziologen, Historiker teil. Auf diese Weise werden bei diesen Veranstaltungen nicht nur Brücken von der »offenen Welt des freien Westens« zu der »geschlossenen und dirigierten Welt des Ostens« geschlagen, sondern auch wichtige und fruchtbare Verbindungen zwischen hochspezialisierten Wissensgebieten. Ohne besondere Absicht dienen diese Veranstaltungen damit dem heute überall spürbar werdenden Zug zu einem neuen Universalismus, der den »Fachmann« nur noch als eine besonders überentwickelte Seite des »ganzen Menschen« gelten läßt.
Die Referate und ein Teil der Debatten werden jeweils in einem Band gesammelt, der jedoch nicht in Buchform veröffentlicht, sondern nur als vertrauliches Zirkular an die Regierungen der mit Atomfragen beschäftigten Länder gesandt wird. Dies mag manchen Leuten als ein etwas mageres Resultat erscheinen. Aber geistige Erleuchtung kann nun einmal nicht so geschwind »angeknipst« werden wie elektrisches Licht. Neue Gedanken, die der durch die Kernspaltung und ihre Konsequenzen geschaffenen »radikal veränderten Wirklichkeit« gerecht werden, können nur allmählich entstehen. Auch sie müssen erst sorgfältig auf dem Versuchsfeld der Diskussion »getestet« werden, auch sie haben erst durch eine lange Reihe von Experimenten zu gehen, ehe sich ihre Richtigkeit erweist.
Noch langsamer vielleicht bewegt sich der »Strom«, der in solchen geistigen Zentralen erzeugt wird, durch die »Drähte« der Mitteilung in Zeitung, Zeitschrift, Buch und Gespräch. Ganz allmählich und auf kaum wahrnehmbare Weise dringen Ideen überall ein, werden Allgemeingut, bestimmen die Handlungsweise derer, die an der Macht sind.
Man hat oft ein wenig mitleidig, ja geradezu spöttisch über die Bemühungen der Wissenschaftler gesprochen, die versuchten, den in ihren Laboratorien geborenen Dämon »Atomwaffe« wieder zu zähmen. Aber versuchen wir uns einmal vorzustellen, was geschehen wäre, wenn die Atomwissenschaftler nach 1945 über die erschütternde Natur ihrer Erfindung geschwiegen hätten oder wenn sie gar auf diese ihre Leistung stolz gewesen wären. Dann hätte die Öffentlichkeit vielleicht den Untergang von Hiroshima fast ebenso schnell vergessen wie den Untergang von Coventry, Hamburg und Dresden. Das Publikum hätte nicht einmal geahnt, in welch neue Ära der unerhörten Gefahren es eingetreten war. Dies aber hätte bedeuten können, daß die Regierungen, ungehindert durch eine erschreckte und daher vorsichtig gewordene öffentliche Meinung, der Versuchung, gewisse »gordische Knoten« der Politik mit atomaren Schwertstreichen zu durchschlagen, nachgegeben hätten. Gewiß, die Atomforscher haben ihr Ziel einer wirklichen Kriegsächtung nicht erreicht. Aber sie haben doch durch ihre wiederholten Warnungen mehr als einmal fatale Ereignisse, die in einen neuen großen Krieg hineinzuführen scheinen, bremsen helfen.
Aus: Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe, München 1990, S. 376f.
Strahlen aus der Asche (1958)
„Strahlen aus der Asche«, der 1958 erschienene, in viele Sprachen übersetzte Bericht Robert Jungks über die Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki wird zum mahnenden Zeugnis wider den Irrsinn des nuklearen Wettrüstens. Über zahlreiche Gespräche mit Überlebenden, den »hibakusha«, rekonstruiert der Autor das von der US-Army lange Zeit beschönigte Ausmaß der Zerstörung und schildert insbesondere die Langzeitfolgen der radioaktiven Verstrahlung. Drei kurze Textausschnitte sollen Einblick geben in dieses wichtige, im Grunde – so ist aus der Autobiographie Jungks zu erfahren – als Beitrag gegen die Mitte der 50er Jahre einsetzenden Atomwaffenaspirationen Westdeutschlands und das »kollektive Wegschauen« der Bürger verfaßte Buch (Trotzdem, S. 305f.). Der ungeschminkten Beschreibung der »Katastrophe« folgen Reflexionen über die Bedeutung von »Hiroshima« für die Anti-Kriegsbewegung sowie für Jungks weiteres politisches Engagement.
(…) Fotoreporter Haruo Hioshyi von Hiroshimas bedeutendster Lokalzeitung »Chugoku Shimbun« ist damals mit seiner Kamera kreuz und quer durch die verwüstete Stadt gezogen, aber auf den Auslöser drückte er nur ganz selten. „Ich schämte mich, im Bilde festzuhalten, was meine Augen da sehen mußten“, hat er mir später erklärt.
Hätte er seine edle Scheu nur überwunden! Der Nachwelt wäre dann eine zutreffendere Vorstellung von der Wirkung der »neuen Waffe« vermittelt worden, als es jene vielverbreiteten Fotos vermögen, die das Hiroshima nach der Katastrophe fast immer als menschenleere Trümmerwüste zeigen. Denn es war kein schneller, kein totaler Tod, kein Massenherzschlag, kein plötzliches Ende mit Schrecken, dem diese Stadt verfiel. Solch gnadenvoll geschwindes Auslöschen, wie es selbst gemeinen Verbrechern zuteil wird, ist den Männern, Frauen und Kindern von Hiroshima nicht gewährt worden. Sie waren zu qualvoller Agonie, zu Verstümmelung, zu endlosem Siechtum verurteilt. Nein, Hiroshima war während der ersten Stunden und auch noch Tage »danach« kein stiller Friedhof, nicht stumme Anklage nur, wie es die irreführenden Ruinenbilder vermuten lassen, sondern eine Stätte hunderttausendfacher Bewegung, millionenfacher Marter, morgens, mittags, abends erfüllt von Geheul, Geschrei, Gewimmer und verstümmeltem Gewimmel. Alle, die noch laufen, gehen, humpeln oder auch nur kriechen konnten, suchten nach irgend etwas: nach ein paar Tropfen Wasser, nach etwas Nahrung, nach Medizin, nach einem Arzt, nach den jämmerlichen Resten ihrer Habe, nach einem Unterschlupf. Und nach den Unzähligen, die nun nicht mehr leiden mußten, nach den Toten. (…)
(…) Viele Bewohner von Hiroshima können jetzt von sich sagen, ihre »Taschen seien warm« vom frischverdienten Geld. Fast jeden Abend gehen die großen Flutlichtlampen über dem diamantförmigen neuen Baseballstadion strahlend auf, und dennoch sind die Tribünen bei Nachtspielen fast immer ausverkauft. Hiroshima ist mit seinen 51 Lichtspieltheatern die Stadt mit der zweitgrößten »Kinodichte« Japans.
Sollte man, so fragen sich einige der eifrigsten Förderer des »neuen Hiroshima«, nun nicht einmal einen Strich unter die Vergangenheit ziehen und versuchen, »jenen Tag« endlich ganz zu vergessen? Sie würden am liebsten sogar das Symbol des »Pikadon«, das kahle Gerüst der »Atomkuppel« (die bisher nicht unter Denkmalschutz steht) abreißen, damit der Anblick dieser Ruine die zukunftsfreudigen Neubürger Hiroshimas nicht länger auf traurige Gedanken bringe.
Doch eine solche »Zerstörung der Zerstörung« würde gerade in Hiroshima ihren beruhigenden Zweck nicht erreichen. Überall sonst auf der Welt können sie vielleicht so tun, als sei der letzte Krieg schon ein Stück Geschichte, und daher sogar die Möglichkeit eines neuen Krieges in ihre Kalküle einbeziehen. Aber hier in Hiroshima hat die Vergangenheit noch nicht aufgehört, hier bringt sie sich unaufhörlich, mit jedem Strahlenkranken, dessen Leiden nach jahrelanger Gnadenfrist neu aufflackert, wieder in Erinnerung.
Hiroshima mahnt zum Frieden, nicht etwa, weil es das Wort »Heiwa« (Frieden) wie ein Reklameetikett auf alles und jedes klebt, sondern weil es eine ganz schwache Ahnung davon gibt, wie diese unsere Erde nach einem Atomkrieg aussehen würde. Es bliebe vermutlich keine völlig ausgestorbene, menschenleere Wüste zurück, sondern ein einziges, riesiges Spital, eine Welt der Kranken und Versehrten. Noch Jahrzehnte, Jahrhunderte nach dem letzten Schuß müßten die Überlebenden an einem Streit zugrunde gehen, dessen Ursachen sie oder ihre Nachkommen dann vermutlich schon längst vergessen haben.
Nicht die monumentalen Repräsentationsbauten sind Hiroshimas Mahnmale, sondern die Überlebenden, in deren Haut, Blut und Keimzellen die Erinnerung an »jenen Tag« eingebrannt ist. Sie sind die ersten Opfer einer ganz neuen Art von Krieg, der niemals durch Waffenstillstands- oder Friedensverträge abgeschlossen werden kann, des »Krieges ohne Ende«, der, über seine Gegenwart hinausgreifend, auch die Zukunft in den Kreis der Zerstörung hineinzieht. (…)
(…) Der Autor muß bekennen, daß die Bemühung, die Nachkriegsgeschichte Hiroshimas kennenzulernen und aufzuschreiben, auch seinem eigenen Leben einen neuen Sinn gegeben hat. Als ich nach Hiroshima reiste, kam ich als Reporter, der die interessante Geschichte einer fremden Stadt aufschreiben wollte. Aber je länger ich mich mit dieser Story beschäftigte, um so klarer wurde mir, daß ich nicht außerhalb und über ihr stand, sondern ein Teil von ihr war.
Auch ich bin nämlich ein »Überlebender«, der, wenn es das Schicksal nicht zufällig anders gewollt hätte, in einem der Massenvernichtungslager des Dritten Reiches umgekommen wäre. Und nun suchte ich am anderen Ende der Welt, am Rande Ostasiens, Antwort auf eine Frage, die mir mein eigenes Leben gestellt hatte. Diese Frage heißt: „Was haben wir, die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs, bisher getan, um unsere Rettung zu rechtfertigen?“ Ich hatte die Tatsache, verschont geblieben zu sein, jahrelang genauso gedankenlos hingenommen wie viele andere. Dann aber traf ich die Atomopfer von Hiroshima und erhielt durch sie eine Vorahnung des neuen Unheils, das auf uns zukommt. Seither weiß ich, daß wir, die Generation derer, die »noch einmal davongekommen sind«, unsere ganze Kraft darauf verwenden müssen, daß unsere Kinder nicht nur so zufällig überleben wie wir. Finde jeder seinen Weg, für die Bewahrung des Lebens zu kämpfen. Nur ernst muß es ihm sein.
Aus: Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt. Hier zit. nach Heyne-Neuausgabe München 1990, S. 30f., S.312f., S. 317.
Drei Kräfte im Kampf gegen die atomare Gefahr (1961)
Immer weniger hält es Jungk am Schreibtisch. Er beteiligt sich an Demonstrationen und Kundgebungen, etwa an der Ostermarsch-Bewegung gegen die Atomrüstung. In unzähligen Versammlungen warnt er vor der atomaren Gefahr und ruft zum Widerstand auf. Der folgende Textausschnitt, der einer in einer JUSO-Broschüre festgehaltenen Rede aus dem Jahr 1960 entnommen ist, argumentiert an einem Beispiel gegen die Resignation der BürgerInnen gegenüber den Herrschenden und ihrer Militärtechnokratie, ein Anliegen, das immer stärker Jungks Äußerungen bestimmt und bereits den »Zukunftsdenker« andeutet. Als die »drei Kräfte im Kampf gegen die atomare Gefahr« benennt er Wissen, Kritik und Widerstand sowie die Gestaltung von Zukunftsentwürfen.
Liebe Freunde, vor allen Dingen auch liebe Freunde aus dem Ausland!
Manchmal kommt man sich sehr alleine vor und dann geschieht so etwas wie heute Abend hier. Das ist einmal, daß Freunde aus dem Ausland hier mit einem sitzen und daß man merkt, daß man nicht so allein ist, daß man Teil eines Freundschaftskreises ist, eines Kreises von Menschen, die es in der ganzen Welt heute gibt, die vernünftig sind und die es wagen, gegen zwei Dinge anzugehen : Einmal gegen die Regierungen, die sie verketzern, zum zweiten aber, und das scheint mir das Wichtigere, gegen die Resignation. Ich glaube, mehr noch als die Atombombe gefährdet uns heute die Resignation. Die Resignation, die uns einflüstert, es hat doch alles keinen Zweck. Die Zukunft entwickelt sich mechanisch, sie entwickelt sich, ohne daß wir etwas dazu tun können, um sie zu gestalten. Sie geht, sie treibt wie ein führerloses, jedenfalls nicht von uns gelenktes Schiff, wie ein Zug, der ins Dunkle rast, einem Ende zu, und wir haben gar keine Macht darüber, wir können nichts tun.
Der Anti-Atomkampf ist erfolgreich
Ich stehe nun hier, weil ich glaube, wir können etwas tun. Es ist nicht einfach, aber wir müssen es versuchen. Und es ist keineswegs so, wie viele Leute glauben, daß die Anti-Atombewegung bisher keine Erfolge hatte. Gäbe es die Anti-Atombewegung in der ganzen Welt nicht, so wären die Dinge heute schon viel weiter auf die Spitze getrieben, so wären wir vielleicht heute schon nicht mehr am Leben. Das klingt wie eine Behauptung nur, und ich möchte Ihnen dazu eine Geschichte erzählen, ein historisches Ereignis, das viel zu wenig bekannt ist. Ich selbst verdanke diese Information dem englischen Nobelpreisträger Philipp Noel-Baker. Er hat sie mir vor zwei Jahren auf der sogenannten Pugwash-Konferenz in Kitzbühel erzählt. (…)
Im Indochchina-Krieg war die Festung Dien-Bhien-Phu von Kommunisten belagert, die französische Besatzung war eingeschlossen und stand vor der Kapitulation. Damals hieß es in der ganzen Welt, wenn diese Festung fällt, dann fällt ganz Süd-Ostasien an den Kommunismus. Man sprach davon (in der Zeitschrift »Times« z.B. ), daß diese Festung wie ein Pfropfen in einem bereits unter schwerem Wasserdruck stehenden Damm steckt und daß man alles tun müsse, um zu verhindern, daß dieser Pfropfen herausspringe. Denn dann würde der ganze Damm gegen den Kommunismus zerstört und die Kommunistische Flut würde sich über ganz Asien ergießen. (Das ist nicht der Fall gewesen. Man spricht heute von ähnlichen Dingen im Zusammenhang mit Berlin. Man möchte immer gern übertreiben und behaupten, diese eine Sache hätte den Untergang der freien Welt zur Folge.)
Ein Atomkrieg wurde verhindert
In dieser, von der eigenen Propaganda hochgespielten Situation, in dieser psychologischen Lage, verlangte der französische Oberbefehlshaber, General Ely, von den Amerikanern eine taktische Atombombe zur Entlastung der belagerten Festung. Er wollte sie einsetzen, um dann in die Bresche hineinzuspringen und die Front wieder herzustellen und die Kommunisten wieder zu vertreiben. Sein Vorgesetzter in der Befehlslinie war Admiral Redford, der Chief of Joint Staff. Dieser amerikanische Admiral, ein Heißporn, hat damals von sich aus gleichfalls den Einsatz der taktischen Atombombe empfohlen. Er mußte sich aber glücklicherweise an Präsident Eisenhower wenden, und Eisenhower, an dem man viel kritisieren kann, hat doch in diesem einen Fall gezeigt, daß er ein überlegender Mensch ist. Ich bin nicht sicher, daß Truman so ruhig geblieben wäre. Er war jemand, der zu sehr brüsken Entschlüssen fähig war und manchmal sehr unvernünftige Entscheidungen getroffen hatte. Eisenhower hat sich diese Sache überlegt und sich gesagt, ich muß fairerweise zunächst einmal meine englischen Verbündeten konsultieren. Er hat Eden gefragt, ob die Engländer einverstanden wären, daß eine solche taktische Atombombe in Indochina eingesetzt würde. Und jetzt kommt der Punkt, auf den ich hinaus will. Jetzt kommt das, wovon ich sprechen möchte und weshalb bereits Erfolge der Anti-Atombewegung erzielt worden sind. Eden hat damals dem Präsidenten Eisenhower erklärt: „Selbst wenn der Einsatz dieser taktischen Bombe unsere Situation in Asien retten würde, kann ich den Einsatz dieser Bombe vom englischen Standpunkt aus nicht erlauben. Unsere öffentliche Meinung würde den Einsatz dieser Waffe nicht gutheißen können, und ich kann infolgedessen meine Zustimmung nicht geben.“
Ich erzähle Ihnen das, um Ihnen zu zeigen, daß die Atomgegner durch ihren Protest, durch ihren sichtbaren Widerstand gegen die Atomrüstung erreicht haben, daß ein konservativer, also ein ihnen parteimäßig entgegengesetzter Ministerpräsident, nicht wagen konnte, im Namen des englischen Volkes dem Einsatz einer Atomwaffe zuzustimmen. Hätte Eden sich damals einverstanden erklärt, wäre diese Bombe geworfen worden, und wir wären sofort in den Atomkrieg hineingeschlittert.
Aus: Robert Jungk / Fritz Vilmar: In der Todeskurve. Eigenverlag, Frankfurt 1961, S. 5-7.
Den Frieden antizipieren (1970)
Unter Hinwendung zu der in den 60er Jahren an Bedeutung gewinnenden Zukunftsforschung – 1965 gründet Robert Jungk sein erstes Institut für Zukunftsfragen in Wien – fordert der unermüdliche Mahner vor den Gefahren des nuklearen Wettrüstens zivile Lookout-Institutionen und Zukunftsprogramme zur Sicherung des Weltfriedens. „Wer den Frieden will, muß den Frieden vorbereiten und nicht den Krieg“, heißt es in einem 1970 erscheinenden Aufsatz, in dem Jungk sechs, sein Politikverständnis treffend widerspiegelnde Prioritäten für eine weltweite Friedensgestaltung anführt und einen »aktiven Pazifismus« einfordert.
(…) Wer den Frieden will, muß den Frieden vorbereiten und nicht den Krieg. Das heißt, der Mensch hat die Reihenfolge der Prioritäten, in denen er auf Grund seiner neuen Weltkenntnis handeln könnte, zu verändern und antizipatorisch Zielmodelle einer besseren Welt sowie Strategien, die zu ihrer Verwirklichung führen können, zu entwickeln: nicht nur mit konstruktiver Phantasie, sondern auch mit einem mit Datendichte, Konkretheit und Präzision befähigten Apparat. Nur wenn derartige konkrete, wahrscheinliche, mögliche, durch Fakten gestützte Modelle als Gegenstücke zu den Modellen der Denkfabriken wie Rand u.a.m. von friedlichen Denkfabriken entwickelt werden, wird es möglich sein, die Vorherrschaft des militärisch-industriellen Denkens wirksam zu bekämpfen. Vergessen wir eines nicht: nur derjenige, der Modelle formt, der sie so genau, so präzise und mit einem solchen Maß an Wissen und Brillianz zu formulieren versteht, wie es die Wirtschafts- und Militärstäbe heute können, deren Fähigkeiten man gar nicht hoch genug einschätzen kann, wird Einfluß gewinnen können. Heute ist es so, daß auf der einen Seite hochentwickelte, in der Technik außerordentlich brilliante und vorwärtsweisende Arbeit getan wird und auf der anderen dem nichts vergleichbares gegenübersteht; dadurch ist es beinahe unausweichlich, daß die Welt in eine große Kaserne verwandelt wird, daß die Welt nichts anderes mehr antizipieren kann als Konflikte (…). Es fragt sich nur: Wo sind die Gegenmodelle, wo die Gegenauffassungen?
Ich möchte hier nur anführen, welche Modelle, welche Zielvorstellungen von zivilen Institutionen von der Art, wie ich sie vorschlage, zuerst erarbeitet werden müßten. Dabei möchte ich eine andere Reihenfolge der Prioritäten anführen, als sie bis jetzt gültig ist.
- Die Beseitigung der Armut und des Hungers in der Welt.
- Die Weiterentwicklung der dritten Welt.
- Die Fragen der wirtschaftlichen und politischen Mitbestimmung weiter Kreise.
- Die Möglichkeit einer Hebung des Bildungsniveaus und damit eine Hebung der Entscheidungsfähigkeit vieler.
- Die Entwicklung sinnvoller Arbeitsmöglichkeiten in einer Epoche der Automation.
- Die Erfindung neuer Methoden der internationalen Zusammenarbeit zur friedlichen Lösung von Interessenkonflikten.
Zu allen diesen Vorschlägen, die von friedlichen Denkgruppen erarbeitet werden sollten, ließen sich ganz konkrete Gedanken äußern. Gewiß wurde darüber schon viel gesprochen, doch was ich vorschlage, ist eine neue Methode, und zwar in folgender Richtung:
1. Die Debatte über diese Themen muß auf einem höheren Niveau der Informiertheit erfolgen als bisher; sie müßte durch Institutionen unterstützt werden, die wie die Planungsstäbe von Industrie und Militär über eigene Möglichkeiten der selbständigen Datenaufnahme und Datenverarbeitung verfügen. Derartige »Lookout«-Institutionen, die ausschließlich nicht-kriegerischen Aufgaben zu dienen hätten, sind die unentbehrliche Voraussetzung konkreter Friedensplanung; sie sind längst überfällig.
2. Bei der Vorbereitung solcher Friedensmodelle und Friedensstrategien dürfte sich die Phantasie nicht von der Fülle der Fakten erdrücken lassen. Das Abhängigkeitsverhältnis des sozialen Erfinders von den Fakten wäre mit der des Bildhauers von seinem Material zu vergleichen, aber nur bis zu einem gewissen Punkt: denn durch die Herausarbeitung, durch die Erfindung neuer Konzepte könnte sich Material zur Verwertung erst anbieten, das bisher überhaupt nicht betrachtet wurde. Ich meine, daß z.B. gewisse psychologische Probleme und psychische Fakten heute von denen, die sich mit der Zukunft befassen, nicht als Fakten anerkannt werden, das ist ihnen zu »luftig«, das nehmen sie noch nicht wahr, und sie sehen nicht, daß sie diese psychologischen Gegebenheiten in ihre Modelle hineinnehmen müßten.
Gerade bei diesem Erfinden, bei dieser Kombination von Phantasie und Fakten bietet sich die Möglichkeit an, radikale, interessante, wenn man will, auch »verrückte« Ideen durchzuspielen mit diesem neuen Apparat, mit all diesen neuen Techniken, mit denen man versucht, zukünftige Situationen heute schon im Spiel, im Studium oder mit Hilfe von neuen Geräten faktisch und nah vorzustellen.
(…)
Aus: Antizipation des Friedens. In: Oskar Schatz (Hg.): Der Friede im nuklearen Zeitalter. Eine Kontroverse zwischen Realisten und Utopisten. München 1970, S. 188-190.
Der Atomstaat (1977)
Die Erkenntnis, daß friedliche und militärische Nutzung der Atomenergie nicht von einander zu trennen sind, macht Jungk zum Fürsprecher auch jener Bewegung, die sich Mitte der 70er Jahre mit dem Widerstand gegen neue Atomkraftwerke in der BRD bildet und unter dem Motto »Atomkraft – Nein danke« den generellen Ausstieg aus der Atomindustrie fordert. Das 1977 erscheinende Buch »Der Atomstaat« – es wurde 1994 übrigens ins Tschechische übersetzt – thematisiert die Risiken von Atomkraftwerken, Wiederaufbereitungsanlagen und Uranlagerstätten sowie die Auswirkungen der notwendigen »Schutzmaßnahmen« auf die demokratische Gesellschaftsordnung. »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg« heißt es im Vorwort zu diesem Buch, das nicht nur durch die sich häufenden Fälle des Schmuggels von waffenfähigem Plutonium seine Aktualität behalten hat.
Mit der technischen Nutzbarmachung der Kernspaltung wurde der Sprung in eine ganz neue Dimension der Gewalt gewagt. Zuerst richtete sie sich nur gegen militärische Gegner. Heute gefährdet sie die eigenen Bürger. Denn »Atome für den Frieden« unterscheiden sich prinzipiell nicht von »Atomen für den Krieg«. Die erklärte Absicht, sie nur zu konstruktiven Zwecken zu benutzen, ändert nichts an dem lebensfeindlichen Charakter der neuen Energie. Die Bemühungen, diese Risiken zu beherrschen, können die Gefährdungen nur zu einem Teil steuern. Selbst die Befürworter müssen zugeben, daß es niemals gelingen wird, sie ganz auszuschließen. Der je nach Einstellung als kleiner oder größer anzusehende Rest von Unsicherheit birgt unter Umständen solch immenses Unheil, daß jeder bis dahin vielleicht gewonnene Nutzen daneben verblassen muß.
Nicht nur würde eine durch technisches Versagen, menschliche Unzulänglichkeit oder böswillige Einwirkung hervorgerufene Atomkatastrophe unmittelbar größten Schaden stiften, sondern über Jahrzehnte, Jahrhunderte, unter Umständen sogar Jahrtausende weiterwirken. Dieser Griff in die Zukunft, die Angst vor den Folgeschäden der außer Kontrolle geratenen Kernkraft, wird zur größten denkbaren Belastung der Menschheit, sei es als Giftspur, die unauslöschlich bleibt, sei es auch nur als Schatten einer Sorge, die niemals weichen wird.
Solch dunkle Möglichkeiten müssen auch den Befürwortern der Atomindustrie bekannt sein. Sie sind allerdings überzeugt, sich und ihre Mitbürger schützen zu können, indem sie Sicherheitsmaßnahmen einführen, wie sie es nie zuvor gab. Müßte dieser Schutz nur technischer Natur sein, dann wäre er vor allem ein Problem der Ingenieure und – wegen seiner besonders hohen Kosten – der Ökonomen. Aber diese Erfindung der Menschen muß ja zudem so streng wie keine andere vor den Menschen selbst bewahrt werden: vor ihren Irrtümern, ihren Schwächen, ihrem Ärger, ihrer List, ihrer Machtgier, ihrem Haß. Wollte man versuchen, die Kernkraftanlagen dagegen völlig immun zu machen, so wäre die unausweichliche Folge ein Leben voll Verboten, Überprüfungen und Zwängen, die in der Größe der unbedingt zu vermeidenden Gefahren ihre Rechtfertigung suchen würden.
Diese Konsequenzen klarzustellen und über sie nachzudenken, ist sowohl für die Gesellschaft wie für jeden einzelnen dringlich, da die sozialen und politischen Wirkungen der Kernkraft bisher hinter dem Studium der biologischen und ökologischen Effekte zurückstanden. Die folgende Schrift will dazu den Anstoß geben. Sie ist in Angst und Zorn geschrieben. In Angst um den drohenden Verlust von Freiheit und Menschlichkeit. In Zorn gegen jene, die bereit sind, diese höchsten Güter für Gewinn und Konsum aufzugeben. Man wird mit Sicherheit den Einwand erheben, über diese Problematik müsse ohne Emotionen geschrieben und gesprochen werden. Das ist die heutige Version der biedermeierlichen Beschwichtigung: „Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.“ Wer den Ungeheuerlichkeiten, die der Eintritt in die Plutoniumzukunft mit sich bringen muß, nur mit kühlem Verstand, ohne Mitgefühl, Furcht und Erregung begegnet, wirkt an ihrer Verharmlosung mit. Es gibt Situationen, in denen die Kraft der Gefühle mithelfen muß, eine Entwicklung zu steuern und das zu verhindern, was nüchterne, aber falsche Berechnung in Gang gesetzt hat.
Auf solch einer irrigen Kalkulation beruhte die Vorstellung, daß die zerstörerische Wirkung der Atombombe – wenn überhaupt – nur in Auseinandersetzungen zwischen Staaten ins Spiel gebracht würde. Seit kurzem aber müssen wir auf Grund eingehender Untersuchungen annehmen, daß auch innergesellschaftliche Konflikte die gefürchtete »nukleare Schwelle« einmal überschreiten könnten. Atomsabotage und Atomterror können nicht mehr ausgeschlossen werden, sobald die Menge der bei der Kernkraftproduktion anfallenden Spaltstoffe immer größer wird. Und das wird schon sehr bald der Fall sein. Besonders erschreckend ist die Einsicht, daß Gangster, Putschisten oder Terroristen mit einer solchen Waffe, wenn sie einmal in ihre Hände geriete, vermutlich viel skrupelloser umgehen würden als Staatsmänner und Generalstäbler. Die radikale Atomabrüstung, die unmittelbar nach den Schreckensstunden von Hiroshima und Nagasaki verlangt wurde, müßte daher jetzt, da die Ausweitung der »friedlichen Kernkraft« das Risiko von Atom-Bürgerkriegen näherbringt, mit noch weitaus berechtigterer Sorge gefordert werden.
Nur wer sich Illusionen über die nukleare Zukunft hingibt, kann alle Gefahren des Mißbrauchs ausschließen. Die Vision von der perfekten inneren Sicherheit ist ein pures Wunschgebilde. (…)
Aus: Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. Hier zit. nach rororo-TB-Ausgabe, Hamburg 1979, S. 9-11.
Die Sehnsucht nach Frieden (1981)
Frieden kann nur von unten geschaffen werden. Diese tiefe Überzeugung bezieht Robert Jungk insbesondere auf die Entspannung zwischen Ost und West sowie die Überwindung des Kalten Krieges. „Wenn es in den letzten 25 Jahren doch wenigsten Ansätze zu einer Entspannung und erste, wenn auch ganz ungenügende Kontroll- und Begrenzungsabkommen gegeben hat“, so führt er in einem von Stefan Hermlin einberufenen Treffen deutscher SchriftstellerInnen aus Ost und West im Jahr 1981 aus, „dann war dies weitgehend eine Folge all jener Kontakte, Initiativen, Gespräche und Konzepte, die von – und das ist wichtig – Nichtdiplomaten, von politischen Amateuren eingeleitet und fortgeführt wurden“. In seiner Rede bei diesem Treffen, das zu den Geburtsstunden der neuen Friedensbewegung der 80er Jahre zählt, weist Jungk auf die Notwendigkeit einer kritischen Gegenöffentlichkeit in Ost und West hin, er scheut dabei nicht, auch Kritik am Gastgeberland DDR zu üben. Im zweiten hier ausgewählten Ausschnitt der Rede warnt Jungk die Friedensbewegung davor, sich auf die Irrlogik des Raketenzählens der »Westentaschenstrategen« einzulassen.
(…) Die Menschen sind aufmerksamer geworden, sie sind klüger geworden, sie lassen sich nicht mehr irreleiten. Sie wissen, was geschieht, und sie haben Erfahrungen. Und es gibt heute fast niemanden mehr, der das nicht wüßte, der nicht erfahren hätte, daß ein Krieg, wenn er heute stattfinden würde, ein Krieg wäre, der nicht wie die früheren Kriege einmal wieder überwunden werden könnte, sondern dessen Folgen Jahrhunderte, Jahrtausende dauern, ja vielleicht das Ende der Geschichte bedeuten würde. All das wissen die Menschen heute. Und weshalb wissen sie es? Ich glaube, sie wissen es, weil doch in den letzten zehn, zwanzig Jahren eine ganze Reihe von Kommunikationsnetzen über die Erde gespannt worden sind. Es gibt die offiziellen Kommunikationsnetze des Radios und des Fernsehens, es gibt aber auch, und das halte ich für so wichtig, die vielen inoffiziellen Kommunikationsnetze. Es gibt die Kommunikationsnetze der Freunde in Ost und West, es gibt die unsichtbaren Kommunikationsnetze von einem Land zum anderen, in denen man sich zuflüstert, wie es wirklich aussieht.
Es hat sich im Westen – ich kann das nicht in bezug auf Ihr Land beurteilen, aber es wäre gut, wenn es das auch hier geben könnte – so etwas wie eine Gegenöffentlichkeit zu entwickeln begonnen, die dadurch, daß sie das sagt, was die offiziellen Kommunikationsnetze nicht wagen zu sagen, echtes Vertrauen bildet, weil sie die unterschlagene Wahrheit bekanntmacht. Wenn ich nämlich das Wort »Vertrauen« höre und gleichzeitig weiß, daß schon ein kritisches Wort bestraft werden kann, dann habe ich zu denjenigen, die ein solches kritisches Wort bestrafen, kein Vertrauen mehr, und das ist doch wohl verständlich. (…)
(…) Ich meine aber, wir würden zu wenig tun, wenn wir hier diese strategischen Spiele weiterspielen würden, wenn wir uns als Westentaschenstrategen verstehen würden. Ich meine, was wir hier entwickeln sollten, wäre doch etwas, was uns immanent fehlt. Es wäre humanistische Phantasie, und es wäre etwas, was in Diskussionen fast überhaupt nicht mehr vorkommt, nämlich Menschlichkeit. Menschlichkeit steckt nicht in Zahlen und Statistiken und Aufrechnungen, die man der einen oder anderen Seite macht. Menschlichkeit bedeutet Mitleid, bedeutet Zärtlichkeit, bedeutet die Beobachtung des Gesichts des Menschen, das bedeutet in der Vorstellung die Vorausnahme des schrecklichen Schicksals der Menschen, wenn wir diese Menschen aus Fleisch und Blut über den Waffen und über dem strategischen Kalkül vergessen. Im Mittelpunkt dieser Veranstaltung sollte der Mensch, sollten die Menschen und ihre Aktionen stehen. Und es tut mir eigentlich leid, daß in einem Land wie der DDR – bei diesem Treffen – es nicht auch zu einer Begegnung mit durchschnittlichen Menschen kommen kann, mit diesen Menschen, mit diesem Volk, das die schwersten Opfer tragen muß, wenn es zu einem Krieg kommt, mit diesem Volk, dessen Sehnsucht nach Frieden so stark ist und dessen Sehnsucht so wachsen muß, daß der Krieg vielleicht verhindert werden kann. (…)
Aus: Berliner Begegnungen zur Friedensförderung. Protokolle des Schriftstellertreffens vom 13./14. Dezember 1981. Hier zit. nach Zukunft zwischen Angst und Hoffnung. Heyne, München 1990, S. 246-249.
Menschenbeben (1983)
Vorne mit dabei ist Robert Jungk auch, als sich der Widerstand gegen die geplante Stationierung neuer atomarer »Mittelstreckenraketen« in ganz Westeuropa zur breiten Massenbewegung formiert. Er setzt große Hoffnungen in diese »Überlebensbewegung«, die sich in den Demonstrationen Hunderttausender in vielen europäischen Städten ebenso manifestiert wie in den gewaltfreien Blockadeaktionen an den Stationierungsorten wie Mutlangen, Greenham Common oder Comiso. »Menschenbeben« lautet der Titel jenes Buches, in dem Jungk sehr ergreifend diesen Widerstand als Beteiligter und engagierter Beobachter dokumentiert. In der Einleitung zu »Menschenbeben« weist Jungk auf das allmähliche Wanken der alten Festungen der Militärtechnokratien hin und hofft insbesondere auf die Abspringer, Umkehrer und Umdenker innerhalb der Herrschaftssysteme.
(…) Ich habe mich auf die Suche gemacht nach all jenen Orten, an denen sich der Protest am eindrucksvollsten manifestierte, wollte Menschen finden, die sich von den scheinbar erstarkten politischen und technischen Machtsystemen nicht länger einschüchtern ließen, hoffte, deutliche Anzeichen für eine mögliche Rettung aus der großen Not zu entdecken.
Jetzt, da ich diesen Erfahrungsbericht niederschreibe, bin ich trotz mancher Enttäuschungen zuversichtlicher als zu Beginn meiner »Expedition«. Die sich so stark geben, sind in Wahrheit schwächer als sie auftreten, und diejenigen, die meinen, sie seien zur Ohnmacht verurteilt, sind stärker als sie vermuten. Die Mächtigen von heute sind geplagt von inneren Widersprüchen, verwirrt durch Irrtümer, tief verunsichert von nagenden Zweifeln. Sie können keine anziehenden, glaubhaften Zukunftsbilder mehr entwerfen, weil sie nur noch so tun, als glaubten sie an ihre Schlagworte vom unversiegbaren Reichtum, an ihre Versprechung demokratischer Freiheit, die sie selber ständig verletzen.
Diese innere Gefährdung der Herrschaftsysteme nimmt in dem Maße zu, wie das tägliche Umfeld, in dem sie leben, ihnen feindlicher wird. Die zunehmende Ablehnung der Bevölkerung genügt zwar noch nicht, die Organisationen und Installationen, durch die sie sich gefährdet sieht, zu beseitigen. Aber sie reicht jetzt schon aus, die »weichen Bestandteile« dieser harten Apparate, nämlich ihre denkenden und manchmal auch fühlenden Mitarbeiter, zunehmend zu beeinflussen. Die Ministerien, Verwaltungsgebäude, Kasernen, Kraftwerke, Chemiefabriken, Startbahnen, Manövergelände, Arsenale, Testanlagen, Raketenstellungen, Sende- und Lauscheinrichtungen, Laboratorien und Deponien werden physisch immer stärker befestigt und isoliert. Doch die Insassen dieser heutigen Festungen und Sperrkreise können nicht so vollständig abgeschirmt werden, daß jeder Einfluß von ihnen ferngehalten wird.
Im Brüsseler Hauptquartier der NATO sah ich auffällige Warnplakate angeschlagen, in denen für einen zum internen Gebrauch hergestellten Walt-Disney-Film geworben wurde. Sein Thema: die eindringlichste Warnung an das Personal vor schädlichen Außeneinflüssen. Dieser Isolierungsversuch und viele andere sind ziemlich aussichtslos. Man kann Menschen vielleicht gegen feindliche Ideologien immun machen. Aber ihren Lebensinstinkt wird man nicht dauerhaft betäuben, ihren Überlebenswillen nicht für immer brechen können. (…)
„Eine von uns, die sich kompromißlos für den Frieden einsetzen kann, hat das Gewicht von mindestens zehntausend anderen Frauen, die nicht so weit gehen wollen“, sagte mir eine der Engländerinnen, die seit vielen Monaten den amerikanischen Luftstützpunkt Greenham Common belagern. Das klingt überheblich, aber sie brachte es mit so ruhiger Selbstverständlichkeit hervor, daß ich tief beeindruckt war.
Nicht nur Zerstörer leben unter uns, sondern auch Lebensretter. Wüchse ihre Zahl so sehr, daß sie die künftige Entwicklung entscheidend beeinflussen, dann könnte ihnen glücken, was Revolutionen bisher noch nie gelang: die Besserung der Verhältnisse durch die Besserung der Menschen. Ein großes Beben geht durch die ganze Welt. In immer neuen Stößen erschüttert es das Bestehende. Und wenn es auch vorübergehend zu verebben scheint, irgendwo und irgendwann hebt sich der Boden abermals. Die Angst, der Zorn und die Hoffnung der Bedrohten schaffen unaufhörlich Unruhe. Das ist ein andauerndes und weit umfassenderes Phänomen als die bisherigen Revolutionen. Ich nenne es »Menschenbeben«.
Aus: Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche. Bertelsmann, München 1983, S. 12-14.
Es geht auch ohne Waffenproduktion (1984)
Die Verquickung von Rüstung und Wirtschaftsinteressen sind mehrfach Thema in Robert Jungks Stellungnahmen. So setzt er Hoffnungen in Rüstungskonversionsinitiativen, die nur durch die Einbindung der Arbeiterschaft und Gewerkschaften in die Friedensbewegung gelingen könnte. In einem Beitrag für den Fischer Öko-Almanach berichtet Jungk von ersten, konkreten Konversionsprojekten, zeigt aber auch die Schwierigkeiten der Umsetzung auf. Die Konversion der Waffen könne nur erfolgreich sein, wenn es zugleich zu einer grundlegenden »geistigen Konversion« komme, so der Tenor des folgenden Textausschnitts.
Es geht also bei der »Friedens-Konversion« um mehr als um Abrüstung. Auch um mehr als um wirtschaftliche Umverteilung, nämlich um eine viel umfassendere »Bekehrung« von einem harten an Quantität, Erfolg und Machtzuwachs orientierten Wirtschafts-(und Lebens-)stil zu einer allmählichen Verbesserung der Lebensqualität, die auf einer grundlegend anderen Haltung und Zielsetzung basierend einen Frieden anstrebt, in dem der Krieg des Menschen gegen die Natur, die Aggression des Stärkeren gegen den Schwächeren, die Macht der Wenigen über die Vielen abgebaut wird.
Rüstung wird in diesem Zusammenhang als die unaufhörlich weitergehende Zuspitzung eines in permanenter Unruhe lebenden Systems verstanden, das ohne Drohung, Druck und Zerstörung nicht existieren zu können meint. Solange diese periodisch wiederkehrenden Vernichtungsperioden noch neue Prosperität vorbereiteten und nachfolgende Epochen des Aufbaus und der Regeneration ermöglichten, wurden sie weitgehend hingenommen und nur von Minderheiten bekämpft. Die ganz andere neue und einzigartige Situation im Atom- und Raketenzeitalter ist darin zu sehen, daß nun bei einem größeren Konflikt mit großer Wahrscheinlichkeit unumkehrbare, nie wiedergutzumachende Schädigungen entstehen, so daß das gewohnte Wechselspiel von Krieg und Frieden dann nicht mehr weitergehen kann.
Diese besondere Lage muß bedacht werden, wenn man über die konkreten und praktischen Möglichkeiten der Rüstungskonversion spricht. Sie ist – darüber soll man sich nicht täuschen, darüber auch nicht verzweifeln – bisher noch nicht mehr als zweidimensionale »Wirklichkeit«. Denn sie existiert zwar in Entwürfen und Plänen, im Druck und auf Papier, als Vorstellung und immer häufiger auch als Wille. Wer aber nach greifbaren Resultaten Ausschau hält, das heißt nach einstigen Waffenschmieden, in denen tatsächlich schon Pflugscharen statt Schwerter hergestellt werden, der sucht vergeblich. All die hoffnungserregenden Konversionsmodelle, die in den Büchern, Artikeln und Debatten vorgestellt werden, sind bisher »Luftschlösser« geblieben. Es fehlte zu ihrer Verwirklichung an Geldmitteln, an entschlossenen Promotoren, an weitsichtigen Förderern, an opferbereiten Mitarbeitern. (…)
Ist »Rüstungskonversion« also vielleicht nichts anderes als eine der vielen utopischen Ideen, die an der Praxis scheitern müssen? Das könnte so ausgehen, muß aber nicht. Denn hier kommt den Vorkämpfern dieses Gedankens vielleicht nun die außerordentliche Weltsituation (…) zu Hilfe und zeitigt außergewöhnliche Entwicklungen. Denn die Aufklärungsarbeit der Friedensbewegung hat inzwischen sowohl Arbeitnehmer wie Arbeitgeber erfaßt. Die einen wie die anderen beginnen sich darüber klar zu werden, daß entweder die durch Rüstung, Nachrüstung, Nachnachrüstung, Nachnachnachrüstung usw. enorm gesteigerte Verschwendung von Geldmitteln und Ressourcen oder ein Versagen der Kontrollen zur Beherrschung der immer komplexeren und potenteren Waffensysteme uns alle – auch die Entscheidungsträger! – in Katastrophen von unerhörter Dimension und praktisch unbegrenzten Nachwirkungen hineinführen müssen. In dem Maße, wie diese dunklen Möglichkeiten immer wahrscheinlicher werden, setzt eine Konversion ganz anderer Art in den großen Herrschaftsapparaten der Arbeitnehmer wie der Arbeitgeber ein. Es handelt sich um eine geistige Konversion, wie sie oft bei einzelnen in besonders kritischen Situationen bei Todeskrankheit oder Todesgefahr plötzlich eintreten kann.
Eine solche »Umkehr« der Machteliten wäre so gut wie sicher, sobald das Furchtbare tatsächlich eintrete. Nur käme sie dann zu spät. Die Hoffnung, daß Einsichtige die Katastrophe antizipierend die »Sachzwänge«, in deren Griff sie zu sein meinen, plötzlich abschütteln, und mit ihren bisherigen Gewohnheiten brechend einen radikal anderen Weg einschlagen, darf nicht in routinierter Skepsis einfach als »unwahrscheinlich« abgetan werden. Vielmehr sollten diejenigen, die schon jetzt erkannt haben, daß es »unmöglich weitergehen kann«, sich besonders um die scheinbar Unbelehrbaren bemühen, wissend, daß auch in vielen von diesen äußerlich so sicher auftretenden heute schon Zweifel rumoren. Davon können ihre Psychiater berichten, weil sie gelegentlich Einsicht in das haben, was »hinter der Maske« vorgeht.
Eine Art Schrittmacherfunktion im Konversionsprozeß hat heute schon die Wirtschaftskrise. Sachverständige bei Unternehmern wie bei Arbeitgebern beginnen zu erkennen, daß Rüstung nicht Arbeitsplätze schafft, sondern vernichtet, weil sie einen wachsenden Teil des finanziellen und geistigen Kapitals der Gesellschaften der Wirtschaft und allen sozialen oder humanisierenden Bemühungen entzieht, um sie an eine letztlich unproduktive Aufgabe zu verschwenden. Wachsende Rationalisierung, die besonders in der Rüstungsindustrie vorangetrieben wird, ist eine der Folgen des Kapitalmangels und führt zu immer unerträglicher werdender struktureller Arbeitslosigkeit. Da die Mittel zur Unterstützung der gewaltig wachsenden Zahl von »Unproduktiven« auf die Dauer nicht ausreichen werden, muß dann endlich ernsthaft über neue »sozial nützliche« Arbeitsbeschaffung nachgedacht werden.
(…)
Eine »Garantie« dafür, daß ein solcher Umschlag tatsächlich eintritt, gibt es selbstverständlich nicht. Denkbar, ja sogar wahrscheinlicher ist die »erprobte Lösung« der Diktatur kleiner Machteliten, die mit der Verelendung und vielleicht sogar dem Untergang zahlloser Menschen in allen Teilen der Welt (UNO-Prognosen sprechen von einer Milliarde Arbeitslosen im Jahre 2000!) bezahlt werden müßte. Ein solcher »Technofaschismus« (im Westen wie im Osten) ist aufgrund der »Verbesserung« der nach innen gerichteten Waffen der Unterdrückung der »inneren Nachrüstung« also durchaus möglich und eine Weile haltbar. Nur dürfte er – wenn geschichtliche Erfahrungen und sozialpsychologische Erkenntnisse richtig sind – durch Konflikte an der Spitze sich dann doch früher oder später selbst ruinieren.
Damit es zu einer solchen Entwicklung nicht erst kommt, wird das von einer Friedensbewegung sich zu einer Überlebensbewegung und Erneuerungsbewegung hin entwickelnde »Menschenbeben« eine Stärke und Dauer entwickeln müssen, die der Größe und Einzigartigkeit der alle heute und in Zukunft Lebenden bedrängenden Gefahren entsprechen sollte. Auch hier müßte eine »Konversion« eintreten, die resignierte, passiv gewordene, verwöhnte, egoistisch, kurzfristig denkende Zeitgenossen so wandelt, daß sie die Prüfungen der Zukunft nicht nur ertragen lernen, sondern hoffend auf Geburtswehen einer menschlicheren Gesellschaft verstehen und durchstehen.
Aus: Es geht auch ohne Waffenproduktion. In: Fischer Öko-Almanach 84/85. Frankfurt 1984, S. 353-359.
40 Jahre Hiroshima (1985)
Mit Recht wird Robert Jungk als Mitbegründer des kritischen Wissenschaftsjournalismus im deutschsprachigen Raum bezeichnet. Einen eindrucksvollen Eindruck in sein Denken geben die Kolumnen, die er seit 1972 regelmäßig für die Zeitschrift »bild der wissenschaft« verfaßt, bis ihm 1987 aufgrund seiner kritischen Beiträge auch gegen die sogenannte »friedliche« Nutzung der Atomenergie die Zusammenarbeit aufgekündigt wird. Stellvertretend für die vielen, unter dem Titel »Und Wasser bricht den Stein« 1986 gesammelt herausgegebenen Berichte und Kommentare, die immer wieder auch zu Rüstungsfragen Stellung nehmen, sind Ausschnitte aus seinen Reflexionen zu »40 Jahre Hiroshima« vorgestellt, in denen Jungk u.a. die sozialpsychologischen Aspekte der Atombombe und ihrer Erbauer analysiert und zugleich eine neue, lebensbejahende Forschung und Technik einfordert.
(…) Von den zahlreichen Büchern, die sich mit den Atomphysikern beschäftigt haben, hat mir das Werk des an der University of Sussex lehrenden Physikers und Psychologen Brian Easlea mit dem Titel »Fathering the Unthinkable« die überraschendste Aufklärung vermittelt. Der Autor, dessen Arbeit von seinen Berufskollegen als »peinlich« verketzert wurde, versucht darin nachzuweisen, daß die Atombombe das Endprodukt des Männlichkeitswahns sei, der sich aus Neid und Schwäche die weibliche Natur unterwerfen wolle. Er zeigt an der Ausdruckswiese der Forscher, die voller sexueller Anspielungen ist, wie sehr ihre ganz privaten Probleme zur Antriebskraft ihrer grandiosen und zugleich monströsen Leistungen wurden.
So ist es für ihn kein Zufall, daß Oppenheimer und Teller als die »Väter« der Atom- und Wasserstoffbombe bezeichnet werden, daß die Hiroshimabombe »Little Boy« getauft wurde und Teller auch die erste erfolgreiche Zündung der H-Bombe mit dem Jubeltelegramm „It's a boy“ („Es ist ein Knabe“) meldete.
Es war also eine Art Geburtstagsfest, das vor vierzig Jahren in Los Alamos gefeiert wurde, und nur wenige unter den Teilnehmern ahnten damals schon, daß letztlich auch sie selber Opfer ihrer ohne weibliche Hilfe zustandegekommenen »Geschöpfe« werden würden. Zunächst allerdings durften sie ihren Triumph, ihren frischen Ruhm, ihre neugewonnene Stellung in der Gesellschaft genießen. Sie wurden gefeiert, umworben, als Angehörige des plötzlich wichtigsten, einflußreichsten Berufsstandes beneidet. Erst nach und nach entdeckten sie, daß man sie auch fürchtete, ja sogar haßte, und daß man ihnen nur schmeichelte, um sich ihrer zu bedienen.
Die Vorstellung einiger der hervorragendsten Rüstungsforscher, daß sie nun nach dieser kriegerischen Episode wieder zu ihrer ruhigen selbstbestimmten Wahrheitssuche zurückkehren könnten, erwies sich sehr schnell als Illusion. Denn der so erfolgreiche neue Forschungsstil, den sie geschaffen hatten, nahm ihnen die alte Freiheit. Individuelle Forschung mit »Wachs und Bindfaden« – das war nicht mehr »in« und nun kaum mehr möglich. Die in den Rüstungslaboratorien entstandenen »Projektwissenschaften« mit ihrem Teamwork, ihren kostspieligen Instrumenten, ihrer straffen Organisation waren ohne staatliche Mittel nicht lebensfähig. Damit aber mußte der Einfluß von Instanzen wachsen, denen es in erster Linie nicht um Wahrheit, sondern um Macht ging, nicht um Erkenntnisse, sondern Erzeugnisse. Für die Freiheit angetreten, hatten die Forscher ihre Freiheit verloren.
Das »Manhattan Project«, dessen erfolgreicher Abschluß die meilenhohen Rauchpilze und Menschenhetakomben von Hiroshima und Nagasaki waren, hatte gezeigt, daß bei gezieltem Einsatz von genügend intelligenten Köpfen, Instrumenten und Geldmitteln Erfindungen in beschleunigtem Tempo erzwungen werden konnten. Diese Einsicht war fast so wichtig – manche meinten, sogar noch wichtiger – wie das Produkt, die neue Superwaffe. Denn diese Entwicklung schien zu verheißen, daß der wissenschaftlich-technische Fortschritt in Zukunft keinem glücklichen Zufall mehr überlassen werden müsse, sondern systematisch erzeugbar sei.
In einer Gesellschaft, deren Entscheidungsträger gewillt wären, diese neue gesellschaftliche Antriebskraft für lebenserhaltende Ziele einzusetzen, könne eine solche geplante und organisierte Kollektivforschung allgemeinen Wohlstand und Frieden bringen – so sah der Traum der Projektforscher in West und Ost aus. Aber sie rechneten in ihrer politischen Unerfahrenheit nicht damit, daß diese perfektionierten »Fortschrittsmaschinen« in ganz andere Richtungen gelenkt würden, nämlich zu jenen Bestimmungen, denen sie ihr Entstehen und ihre ersten Bewährungsproben verdankten: der Herstellung von militärischer, staatlicher, wirtschaftlicher Macht.
So ist vierzig Jahre nach Hiroshima die große Mehrheit derer, die sich der Forschung und Entwicklung widmen, unmittelbar auch in zahlreichen mittleren oder kleineren aus öffentlichen oder industriellen Quellen unterstützten Laboratorien, zu Mitarbeitern an Vorhaben geworden, die sie persönlich nicht gutheißen können. Aber es bleibt ihnen, wenn sie nicht »Aussteiger« oder »Eigenbrötler« werden wollen, nichts anderes übrig, als an Arbeiten mitzuwirken, auf deren Nutzung sie wenig oder gar keinen Einfluß haben, ja deren Zielsetzung sie oft nicht einmal kennen. (…)
Der nukleare Rüstungswettlauf, dessen dröhnendes Startsignal die Katastrophe vom 6. August 1945 war, hat inzwischen ungleich weitergreifende, noch radikaler wirkende Massenzerstörungsmittel hervorgebracht als den »kleinen Jungen« von damals: bösartige Riesen, reißende Ungeheuer, Heuschreckenschwärme und Vernichtung. (…)
Die »Bombe« – und das ist wohl ihre tiefste Wirkung – hat die Menschen so sehr verunsichert wie nichts zuvor. Die Zukunft – seit jeher als Zeit der Hoffnung empfunden – ist nun mit Furcht und Schrecken besetzt. Diese dunkle Wolke am Horizont einer jeden bewußten Existenz kann, ja muß immer wieder zeitweilig vergessen werden. Verschwinden könnte sie nur, wenn etwas ähnlich Einmaliges und Unerhörtes geschähe wie die Entdeckung der Atomkernspaltung und die dann daraus folgende Entwicklung von »endgültigen Waffen«.
Es ist aus solcher Überlegung heraus in Forscherkreisen immer häufiger von einem großen »Projekt« die Rede, das durch eine Zusammenführung von Wissenschaftlern vieler Disziplinen und Nationen in einem »crash program« überzeugende Lösungen zur Verhütung des atomaren Holocaust entwickeln sollte.
Doch halt: Ist dies nicht einmal mehr der Ausdruck jenes Geistes, der alles für machbar hält? Kommt da nicht wiederum jener typisch maskuline Hochmut zum Ausdruck, den Brian Easlea als eine Art »Erbsünde« der neuzeitlichen Wissenschaft ansieht? Ein solches »Anti-Hiroshima-Programm« wird trotz derartiger Bedenken vermutlich nicht in allzu ferner Zukunft versucht werden. Es entspricht eben einer Mentalität, die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts begonnen hat. Und sie hat in der Tat erstaunliche, im letzten halben Jahrhundert allerdings auch immer öfter abscheuliche Resultate gezeitigt.
Kann man denn Geschichte »machen«? Ist das Schicksal beherrschbar? Wird man es beeinflussen, ja sogar steuern können? Ganz auszuschließen ist das nicht. Und wenn die vielfachen Krisen, die unsere »p.h. (post Hiroshima) Welt« erschüttern, als Folge verantwortungslosen Drauflosforschens und ungenügend durchdachten technischen Handelns sich noch weiter verschärfen, werden für einen globalen Krisenstab vielleicht auch die notwendigen Mittel und Vollmachten erteilt.
Wichtiger und wohl letztlich erfolgversprechender wäre es, wenn die zu erwartenden vertieften und vermehrten Krisen nicht nur wissenschaftliche Superprojekte und gewaltige Aktionsprogramme gebären würden, sondern ein grundsätzlich anderes Denken.
Ansätze dazu sind heute schon hier und dort zu finden. Die »Ökophilosophie« des Norwegers Arne Naess (Oslo) und des aus Polen stammenden Engländers Henryk Skolimovski (Oxford) weist, ähnlich wie schon Erich Fromm und vor ihm bereits Albert Schweitzer, darauf hin, daß nur eine ganz entschiedene Abkehr von allen Formen todbringenden Denkens und Handelns Rettung bringen kann.
Es wird das dringendste Projekt einer neuen Generation von Denkern und Forschern sein, solche Ideen im Kontext der heutigen Möglichkeiten weiterzudenken und in Zusammenarbeit mit ihren Zeitgenossen zu konkretisieren. Welch faszinierende Aufgabe! Neben ihr löst sich die »süße Technik« der Gewalt, von deren Verführungskraft Oppenheimer sprach, in eine stinkende, giftige Wolke auf, die dann auf immer verschwinden sollte.
Aus: bild der wissenschaft, Juli 1985; hier zit. nach Und Wasser bricht den Stein. Freiburg 1986, S. 220-223.
Die innere Aufrüstung (1987)
Scharfe Töne gegen die Rüstungsforscher schlägt Jungk angesichts des Bekanntwerdens des Star-War-Programms SDI an, das nicht nur für ihn eine weitere, gefährliche Eskalation des Wettrüstens bedeutet. In einem Vortrag an der Technischen Hochschule in Zürich prangert er die »Todeswissenschaften« und ihre Helfershelfer an, warnt aber zugleich vor der »inneren Aufrüstung« gegen jene, die Widerstand leisten. Der ausgewählte Textabschnitt endet – einmal mehr – mit der Aufforderung, dem »Nein« ein »Ja« folgen zu lassen. Mit seinem Freund Hans-Peter Dürr spricht Robert Jungk von einer »World Peace Initiative« (WPI), die dem SDI-Programm entgegengestetzt werden sollte.
Es ist heute so, daß die Militärs bis in die Grundlagenforschung hinein immer mehr Kontrolle zugestanden bekommen, sie immer mehr benutzen. Auch die offene internationale Grundlagenforschung wird mittlerweile für militärische Zwecke, meist ohne Wissen der Wissenschaftler benutzt. (…)
Wir sollten hier nicht nur über Megatonnen sprechen, nicht nur über die mögliche Zerstörungsstärke, sondern auch fragen: Welche ökonomischen, welche machtpolitischen und welche karrierepsychologischen Motive und Personen treiben den Rüstungswettlauf an? Es wird meiner Ansicht nach zuwenig gefragt: „Wer steckt dahinter, wer will da die Geschäfte machen, welche machtpolitischen Ziele werden damit verfolgt?“ Es ist ja nicht so, daß Herr Reagan oder Herr Gorbatschow wirklich wollen, daß diese Bomben wirklich explodieren, daß ihre Waffen wirklich angewendet werden. Sondern man will das Geschäft immer weiter machen, weil es nichts gibt, was schneller veraltet als diese kostspieligen Waffen, weil es nichts gibt, womit man so schnell und sicher so viel Geld verdienen kann. Und das ist es, was sie wirklich wollen: Sie wollen machtpsychologisch auf diese Art und Weise Druck ausüben auf den Rest der Welt.
Sie rüsten aber nicht nur nach außen, sondern auch nach innen auf. Es wird viel zu wenig gesehen, daß als Parallelentwicklung zur äußeren Aufrüstung in unseren Gesellschaften eine immer stärkere innere Aufrüstung auftritt: Daß man (um die Unbequemen, die diesen Kurs nicht mitmachen wollen, zu überwachen und um diese Leute jederzeit im Griff zu haben), eine ganz neue Technologieentwicklung in Gang bringt. Das eröffnet der Industrie wiederum einen neuen Markt und kann nur gestoppt werden, wenn man das ganze Wettrennen als Fehler erkennt, als Fehlentwicklung der Geschichte. Wenn man fordert, daß das alles endlich aufhört.
Nun meine ich, es genügt nicht nur, nein zu sagen. Der zweite unentbehrliche Schritt ist der Kampf für ein »ja« zu einer ganz anderen Zukunft. Wir müßten einen Wettlauf in die andere Richtung starten, nämlich einen Wettlauf auf eine menschlichere, umweltfreundlichere Welt hin. Man sollte sich zusammensetzen, um unter Mitwirkung von Wissenschaftlern und Technikern große, konstruktive Gegenprojekte zu beginnen und sich zu überlegen: Welches sind die vierzig, fünfzig Probleme der Menschheit, die in die größte Krise der Geschichte geraten ist (z. B. Hunger, Umwelt, menschliche Beziehungen)? Da muß gemeinsame Forschungsarbeit auf nationaler wie internationaler Ebene geleistet werden, um dem SDI eine WPI – eine (»World Peace Initiative«) entgegenzusetzen. Oder zumindest eine EPI – eine »European Peace Initiative«. Denn ich frage mich, wie viele meiner Freunde in Frankreich, Italien, Skandinavien usw., ob es sinnvoll ist, daß Europa den Amerikanern und Japanern weiterhin hinterherläuft, anstatt einen eigenen Weg mit Hilfe einer umwelt- und menschenfreundlicheren Wissenschaft und Technologie zu gehen?
Ich meine also, man sollte nicht ausschließlich von Waffen und ihren Wirkungen sprechen, sondern auch vom Herzen oder vom Gehirn und von der Frage, ob das Herz oder das Gehirn unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Systemen und Zwängen überhaupt noch so funktionieren können. Denn was geschieht mit denen, die sich dem Rüstungswahnsinn entziehen wollen, die noch ein Herz, die noch einen Kopf haben? Sie werden einfach hineingezwungen in die Drohsysteme, sie müssen entweder schizophren sein, indem sie sagen: „Ich mach in diesem System zwar äußerlich mit, versuche aber dennoch im Geheimen oder privat, meinen eigenen Weg zu gehen“, oder aber sie resignieren und machen ganz im System mit. Ich meine, sie sollten Widerstand riskieren und keine Kompromisse machen. Denn die führen nicht weit: Wir haben seit vierzig Jahren gesehen, daß all die kleinen Versuche, die Welt ein bißchen besser zu machen, gar nicht dazu führten, sondern von denjenigen, die die alte Richtung weiter verfolgen, als Entschuldigung benutzt wurden mit dem Argument: „Wir erlauben das ja auch, wir erlauben so ein bißchen Widerstand, wir erlauben so ein bißchen Dissidenz. Wir sind frei, wir sind offen.“ Und so können die Promotoren der Großtechnologie und der Machttechnologie ihr System weiter vorantreiben. Ich bitte alle: Lassen Sie es nicht bei den Worten, sondern handeln Sie!
Aus: Die innere Aufrüstung. In: Paul Feyerabend u.a. (Hg.): Leben mit den acht Todsünden der zivilisierten Menschen? Verlag der Fachvereine, Zürich 1987, S. 207-212.
Zukunftsbezogene Friedensarbeit (1989)
In einem Vortrag vor Mitgliedern der Deutschen Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner aus dem Jahr 1989 betont Jungk ebenfalls die Notwendigkeit, der Friedensbewegung eine »Zukunftspolitik« zur Seite zu stellen.
Wir sollten ruhig ein bißchen stolz auf unsere heutigen Erfolge sein und uns nicht immer selber einreden, was wir gemacht haben, sei unwichtig. Wir haben Sand in die Maschinerie geworfen. Wir haben Bewußtsein verändert. Das ist wichtig genug.
Aber noch ist die Friedensbewegung eine Bewegung, die keine Horizonte eröffnet und Zukunftsperspektive gibt, sondern bestenfalls die Perspektive, wir wollen etwas verhindern. Wir wollen etwas aufhalten. Das genügt nicht mehr. Nein, es geht eigentlich um viel mehr. Das ist eben anders als seinerzeit, als ich 1929 mit 16 Jahren Pazifist geworden bin. Da konnte man nur gegen Krieg sein. Heute geht es darum: Haben wir eine Zukunft oder haben wir keine Zukunft? Und wie soll diese Zukunft aussehen?
Das ist die Grundfrage: Wie können wir neben unserem Nein, das so stark sein soll wie immer und sich noch verstärken soll, auch ein Ja entwickeln? Wie können wir erreichen, daß die friedliche Welt so anziehend ist wie das, womit junge Menschen sich heute beschäftigen und begeistern? Zum Beispiel wie Weltraumfahrt, Fußball, technische Spielereien und Computer.
Wir müssen es fertigbringen, den Militaristen und ihren stillschweigenden Anhängern das Monopol auf den Enthusiasmus, das Monopol auf die Zukunftsfreude und die Zukunftsplanung zu nehmen. Wir müssen ganz konkret eine Zukunftspolitik entwickeln. (…)
Wo, wie, was wären die konkreten Ziele einer zukunftsbezogenen Friedensarbeit? Da wäre die Frage nach der Architektur, nach den Ansätzen einer sanften, statt der gigantischen, brutalen Technik; die Versuche Energie zu schaffen, die der Umwelt und den Menschen nicht schadet; andere Energietechnik, Solartechnik, Windtechnik und Biomasse. Das sind gemeinsame Versuche, wo man miteinander arbeiten und basteln kann. In Dänemark können Arbeitslose, die sich für die Entwicklung der Windenergieprogramme einsetzen wollen, zu ihrer Arbeitslosenunterstützung zusätzlich etwas verdienen, weil sie als Pioniere neuer Energieformen nicht mehr als »Rest der Gesellschaft« behandelt werden.
Ich frage mich, ob wir diejenigen, denen man die Arbeit genommen hat, nicht einfach als Reservearmee des Kapitalismus versorgen, sondern als Pioniere in Experimenten neuer Art einsetzten sollten. Ich könnte mir vorstellen, daß aus Arbeitslosen Andersarbeitende werden könnten. Vorläufer einer anderen, humaneren Gesellschaft. Auch das ist eine Frage, mit der sich die Friedensbewegung beschäftigen muß.
Schließlich meine ich, daß die Friedensbewegung in einer ganz anderen Weise als bisher versuchen müßte, auf die Medien Einfluß zu nehmen. Nun werden manche sagen: wir kommen nicht an die Rundfunkanstalten ran und können nicht mit unseren Vorstellungen in die Medienwelt eindringen. Ich glaube, daß das eine Entschuldigung, eine Ausrede ist. Es gibt heute den Anfang von nichtstaatlichem Rundfunk, der bisher ausschließlich vom Kommerz genutzt wird. Es muß möglich sein, daß man in »Offenen Kanälen« mit eigenen Sendern, mit eigenen Videoproduktionen Friedensthemen an die Öffentlichkeit bringt. Wir müssen die Medienfrage ernst nehmen (…).
Wir müssen hier eine Art von Pionierstellung haben. Die Sorge um die Zukunft der Welt besteht auch darin, daß wir Lehrer werden für die, die nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Das ist eine große und wichtige Aufgabe und nicht etwa Arroganz und Anmaßung, wenn wir das versuchen. Es sind einfach zuwenig Menschen, die das tun. (…)
Aus: Damit wir nicht untergehen. Texte von Robert Jungk, ausgewählt von Matthias Reichl. Edition Sandkorn, Linz 1991, S. 40-42.
Hoffnung auf Volksdiplomatie (1990)
In einem gemeinsam mit der Bibliothek für Zukunftsfragen herausgegebenen »Katalog der Hoffnung« begrüßt Jungk die beginnenden Reformbestrebungen in den staatssozialistischen Ländern als großen Schritt in Richtung Überwindung des Kalten Krieges, plädiert aber zugleich für die Intensivierung der »Volksdiplomatie«, die allein den Entspannungsprozeß unumkehrbar machen könne.
In einigen Ländern des Ostens haben politische Entwicklungen begonnen, die man vor kurzer Zeit noch für undenkbar gehalten hätte. Die Reformen von oben, wie sie in der UdSSR, in Polen, in Ungarn und nun auch in der DDR begonnen haben, beschleunigen die sozialen Bewegungen in diesen Ländern, vor allem auch in den Teilrepubliken der Sowjetunion, und es will scheinen, als habe die jeweilige Staats- und Zentralmacht alle Mühe, diesen Bewegungen hinterherzukommen. Der Prozeß ist völlig offen, was heute zu beschreiben und zu analysieren ist, kann morgen schon überholt sein, im Guten wie im Bösen. Dennoch erfüllen die Vorgänge Menschen in aller Welt mit Hoffnungen. Dabei scheint uns die Frage, ob das große Zukunftsmodell des Sozialismus »am Ende« ist und »abgewirtschaftet« hat, gar nicht die entscheidende zu sein. Wichtiger ist wohl, daß sich die Reformbewegung »von oben« gar nicht anders erklären läßt, als im Wechselspiel mit den Bewegungen »von unten« – allerdings wissen wir von diesen Bewegungen viel zu wenig. Man kann (und konnte) das Leben auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs« nicht wirklich kennenlernen durch Urlaubsreisen und während einer Einkaufsfahrt, wie sie über die östereichisch-ungarische Grenze seit einiger Zeit möglich ist. Es sind persönliche Begegnungen notwendig, Aufenthalte in Familien, Schüleraustausch, Begegnungen von Sportlern, Studenten, Schriftstellern und Künstlern, von Pfarrgemeinden oder Betriebsgruppen. Erst solche Begegnungen ermöglichen es, die Vorgänge in den sozialistischen Ländern wirklich zu beurteilen und genauer zu erfahren, welche Triebkräfte und welche Gefährdungen in den gegenwärtigen Öffnungs- und Entspannungsprozessen wirksam sind. Und hinzu kommt, daß nur solche Begegnungen es erlauben, wechselseitige Feindbilder abzubauen, Vorurteile und falsche Vorstellungen über das Leben und die Menschen im jeweils anderen Teil der Welt zu korrigieren. Daran läßt sich die Hoffnung knüpfen, daß auch im Prozeß der globalen »Entspannung« zwischen den Machtblöcken ein Wechselspiel zwischen offiziell-diplomatischen Prozessen und einer sozialen Bewegung in den jeweiligen Völkern entsteht, das die immer wieder stockenden, immer von Stillstand und Abbruch bedrohten Verhandlungsrunden der Diplomaten und Minister, der Militärs und Bürokraten vorantreibt. Hoffnung besteht auch, daß in solchen direkten Begegnungen der »Volksdiplomatie« etwas Bleibendes geschaffen wird, Erfahrungen, die eine Neu- und Wiederauflage des »Kalten Krieges« zumindest erschweren werden, sollten die Reformprozesse umschlagen.
Begriffe wie »Volksdiplomatie« und »Entspannung von unten« sind zunächst in bezug auf die Ost-West-Beziehungen geprägt worden. Doch gibt es tief eingefressene Feindbilder auch bei Menschen, die im gleichen Land leben, die einander täglich begegnen können: bei Juden und Arabern in Israel, bei Katholiken und Protestanten in Irland, bei Weißen und Schwarzen in Südafrika. Auch da ist »Entspannung von unten« bitter notwendig; und es gibt Initiativen, die hier Zeichen setzen.
Aus: Katalog der Hoffnung. 51 Modelle für die Zukunft. Luchterhand, Berlin 1990, S. 143f.
Rede gegen den Krieg. Stellungnahme zum Golfkrieg (1991)
Der Golfkrieg war für Robert Jungk die »bisher gefährlichste Episode« im Konflikt zwischen reichem Norden und armem Süden. Während andere über die Rechtmäßigkeit der Militärintervention gegen den Irak debattierten, erinnerte er die Friedensbewegungen daran, sich des größeren Zieles eines weltweiten Verbots der Rüstungsproduktion sowie des Engagements für konstruktive Friedensideen zu besinnen. Die im folgenden wiedergegebene Rede hielt Jungk am 2. Februar 1991 in Wien. Ihr angeschlossen ist eine nachdenkliche Tagebuchnotiz des 78-Jährigen über das Dilemma des ständigen »Zupät-Kommens« von Antikriegsbewegungen wie jener gegen den Golfkrieg.
Acht Thesen
Erste These: Ein hundertjähriger weltweiter Konflikt hat begonnen.
Der Golfkrieg ist die bisher gefährlichste Episode in einem fünfzig-, vielleicht sogar hundertjährigen Konflikt zwischen der armen Mehrheit und der reichen Minderheit einer rapide anwachsenden Weltbevölkerung.
Zweite These: Geduld und politische Phantasie gegen sture Gewalt.
Nur mit sehr viel Geduld, Scharfsinn und politischer Phantasie kann diese weltweite Auseinandersetzung zwischen Süden und Norden gedämpft und einer großen Anzahl von notwendigen Lösungen nähergebracht werden.
Dritte These: Die Friedensbewegung als »dritte Macht“.
In der Friedensbewegung findet sowohl die Angst der Völker wie ihre Sehnsucht nach einer humanen Zukunft ihren Ausdruck. Sie ist nicht nur eine »Anti«-Bewegung, sondern auch eine »Pro«-Bewegung. »Wir sind das Volk« – mit dieser Parole protestierten Millionen.
Vierte These: Waffen und Heere können keinen Frieden gründen.
Nach zwei Weltkriegen, in denen Millionen starben, sind wir nun in den dritten großen Krieg hineingeraten. Solange es Waffen und Streitkräfte gibt, wird eine gute Zukunft nicht möglich sein. Daher ist das Verbot der Rüstungsproduktion und die Kontrolle aller Rüstungen das erste und dringendste Ziel der Friedensbewegungen.
Fünfte These: 1991 ist nicht 1939.
Gegen Hitler hatte der Einsatz von Waffen noch einen politischen Sinn. Aber in den seither vergangenen fünf Jahrzehnten haben sich die Waffen zu Massenvernichtungsmitteln entwickelt, die einen »Sieg« unmöglich machen, sondern eskalierend zu einer Bedrohung der Menschheit und ihrer natürlichen Lebensgrundlagen werden müssen.
Sechste These: Die Friedensbewegten als Verteidiger der Zukunft.
Die neuen sozialen Bewegungen (Ökobewegung, Frauenbewegung, Bürgerinitiativen und Friedensbewegung) fühlen sich durch ihre Regierungen nicht mehr vertreten. Sie nehmen ihr Schicksal mehr und mehr in die eigenen Hände. Allein in der Dritten Welt gibt es seit Anfang der siebziger Jahre tausende regionale und lokale Bewegungen, die sich von den zentralen, meist militärisch dirigierten Gewalten ihrer Länder losgesagt haben. Immer mehr Menschen in allen fünf Erdteilen erleben sich als Gestalter einer anderen, lebensfreundlicheren Gegenwart und als Bewahrer der Zukunft.
Siebente These: Österreichs Rolle als Friedensstifter.
In diesen großen Konflikt haben Gemeinden, Regionen und kleine Länder eine besondere Rolle zu spielen. Ihre größere Menschennähe und Überschaubarkeit kann bewirken, daß sie die wirklichen Bedürfnisse und Wünsche der Menschen besser kennen als die Großmächte. Österreich, das sich wie andere westliche Nationen durch Waffenexporte mitschuldig am Ausbruch des Golfkrieges gemacht hat, muß durch Rückkehr zur integralen Neutralität und das Setzen immer neuer Friedensbeispiele die Schuld seiner skrupellosen Wirtschaftsverbrecher wiedergutzumachen versuchen.
Achte These: Das neue Jahrtausend wird eine neue Zivilisation gründen.
Wir – besonders die jungen Menschen – brauchen begeisternde Ziele. Wir sollten heute schon im Zusammenwirken vieler Bürger und aller Völker gedanklich und experimentell eine neue Zivilisation vorbereiten, die auf Solidarität, Humanität und Kreativität gegründet ist. Dieser Traum kann der Wirklichkeit näherkommen, wenn wir nicht resignieren, wenn wir nicht aufgeben.
Mit „Gebt nicht, gebt niemals auf!“ enden meine Ausführungen.
Tagebuchaufzeichnung 4. Februar l99l:
Die Friedensbewegung ist wieder da, das war der entscheidende Satz der Rede, die ich eine Woche vor Ablauf des Ultimatums vor Tausenden Demonstrationsteilnehmern am Marienplatz vor dem Münchner Rathaus wagte.
Daß diese Behauptung stimmt, haben seither Hunderte Ereignisse in allen Städten der »ersten Welt« bewiesen. Aber die vorgestrige »Großveranstaltung« am Heldenplatz in Wien war nur durchschnittlich besucht. Und fast überall beginnt der spontane Protest wieder abzuflauen.
Wie kann der Einfluß der vielen, die entsetzt sind über die unintelligente Gewaltpolitik ihrer Regierungen, zu einem stetigeren und verläßlicheren Faktor werden? Oder soll man die Gangart des sporadischen empörten Aufwallens als die echtere, weil nicht gesteuerte Antwort akzeptieren? Mit dieser Frage habe ich mich in der vergangenen Nacht herumgequält und noch keine Antwort gefunden. Da sind auf der einen Seite die »professionals« des Verderbens, die festangestellt unermüdlich »ihre Pflicht tun«. Auf der anderen Seite die vielen Betroffenen, die – fast immer schon zu spät – auf die Straße gehen und dann nach ein paar Wochen schon fast alle zu Hause bleiben. Können sie, können wir diesen Konflikt je für uns entscheiden?
Rede bei einer Veranstaltung in Wien, Heldenplatz, 2.2.1991. Aus: Ich will reden von der Angst meines Herzens. Autorinnen und Autoren zum Golfkrieg. Luchterhand-Literaturverlag, Frankfurt 1991.
Schafft Friedensinseln, schafft Friedensschauplätze (1991)
Vielleicht wie eine Antwort auf die Ohnmacht der Proteste gegen den Golfkrieg zu lesen ist der folgende, die Utopie einer weltweiten Arbeit für den Frieden formulierende Text, den Jungk für die Schweizer Zeitschrift »Constructiv« verfaßt hat. Er belegt einmal mehr die Überzeugung des Zukunftsdenkers, daß wir es uns nicht leisten können, im Kritisieren zu verharren, sondern daß es gilt, konstruktive Ideen zu entwickeln und für diese Verbündete zu suchen.
Wir werden überschüttet mit verfälschten Berichten von Kriegsschauplätzen im Nahen Osten. Was können wir gegen Verzweiflung und Resignation setzen? Wie gelingt es uns mit unserer Ohnmacht fertigzuwerden? Mit Protest! Gewiß, aber genügt das? Jetzt schon bereiten sie einen »Frieden« vor, der wiederum auf Waffen und die langdauernde Präsenz fremder Truppenverbände gegründet sein soll.
Wir sollten uns, wo immer es geht, zusammenfinden und als Gegengewicht jetzt schon Umrisse künftiger friedlicher Zusammenarbeit mit den Menschen im Nahen Osten und darüber hinaus in anderen Ländern der Dritten Welt entwerfen. Von solchen Friedensschauplätzen müßten wir Nachrichten an die vielen Menschen schicken, die nur noch Verbrechen und Unheil von der Zukunft erwarten.
Wir stehen erst am Anfang eines Konfliktes, der Jahrzehnte, vielleicht sogar ein Jahrhundert dauern kann. Konflikt muß aber nicht Krieg bedeuten, sondern kann eine gemeinsame Anstrengung sein, die Gerechtigkeit anstrebt und im Geiste einer Schicksalsgemeinschaft vor sich geht, die weiß, daß die Eskalation der Gewalt den Untergang aller bedeuten muß.
Unter uns und mit uns leben viele Menschen aus anderen Ländern und Erdteilen. Wir sollten sie nicht als Last ansehen, sondern als Helfer zum Verständnis einer kommenden Zeit, in der die Zahl der Afrikaner, Asiaten und Lateinamerikaner die der Europäer und Amerikaner um ein Vielfaches übersteigen wird.Mit ihnen sollten wir auf unseren Friedensinseln möglichst konkrete Konzepte entwerfen:
- für Zukünfte ohne Hunger und Entbehrungen;
- für Zukünfte, in denen wir unsere Kräfte zur Regeneration der zerstörten Landschaften und Siedlungen zusammenspannen, statt uns gegenseitig aufzureiben;
- für Zukünfte, in denen nicht nur einige Wenige, sondern möglichst viele mitbestimmen können;
- für Zukünfte, die dem Leben und der Gesundheit gewidmet, nicht länger von Untergangsangst überschattet sind.
Auch wenn wir mitten in düsterer Gegenwart das zunächst nur sagen und aufschreiben, können doch von solcher friedlicher auf eine gute Zukunft gerichteten gedanklichen Zusammenarbeit Einflüsse ausgehen, die das Handeln vieler, die jetzt noch passiv bleiben, beeinflussen und derart radikal andere Wirklichkeiten vorbereiten.
Solche »Friedensinseln« sind Experimente, die Hoffnung schaffen und damit erste Schritte in eine neue Welt von morgen wagen. Es lohnt sich, gemeinsam diese Versuche zu beginnen, statt in Traurigkeit zu versinken oder sich in ohnmächtiger Wut zu verzehren.
Aus: Damit wir nicht untergehen. Texte von Robert Jungk. Ausgewählt von Matthias Reichl. Edition Sandkorn, Linz 1991, S. 48f.
Gemütsfaschismus und Technofaschismus (1991)
Den gefallenen Mauern zwischen Ost und West folgten neue. Wachsende Ausländerfeindlichkeit, zunehmender Rassismus, verschärfte Asylgesetze – und zuletzt – Mordanschläge auf Ausländer und Asylwerber sind traurige Facetten des kalten Friedens nach der großen Wende. In einer Analyse der neuen rechtspopulistischen Bewegungen mit Führern wie Schönhuber oder Le Pen stellt Robert Jungk Bezüge her zwischen unserer kalten, der einseitigen Rationalität verpflichteten Gesellschaft, in der alle »funktionieren« müssen, und einem neuen – sozusagen als Ventil fungierenden – »Gemütsfaschismus«, der von den neuen Rechten salonfähig gemacht werde. Wirksamer Antifaschismus müsse daher, so Jungks Warnung, die Gefühle und Sehnsüchte der Menschen ernst nehmen und diesen konstruktive Artikulationsmöglichkeiten schaffen.
Es ist eines der großen Verdienste des Seelenforschers Wilhelm Reich, daß er 1934 angesichts der Machtergreifung des Nationalsozialismus nicht nur wirtschaftliche und nationale Bedrängnisse für den Erfolg des »Führers« verantwortlich machte, sondern auch seelische Defizite, die der »Retter« Adolf Hitler auszugleichen versprach.
Wenn heute im Zeichen ökonomischer Hochkonjunktur Vertreter faschistischer oder faschistisch beeinflußter Programme Zulauf erhalten, dann sollte man sich an diese – vor allem von der Linken – zu wenig beachteten Erkenntnisse über die »Massenpychologie des Faschismus« erinnern. Weiter verbreitet noch als die durch Rationalisierung und rücksichtslose Strukturveränderungen bewirkte materielle Arbeitslosigkeit ist meiner Ansicht nach die »seelische Arbeitslosigkeit« von Millionen, die in der von Technokraten verwalteten Konsumgesellschaft weder Lebenssinn noch Möglichkeiten eines sie erfüllenden Engagements entdecken. Desillusion und Resignation beherrschen die Stunde. Wer auf überzeugende Weise dem entgegenarbeitet, indem er an Selbstbewußtsein, unterdrückte Wut und so etwas wie einen Gemeinschaftsgeist appelliert, gewinnt Anhänger. Sie brauchen Begeisterung, sei sie auch irregeleitet, dringender als Brot. (…)
Wer je eine Versammlung der Anhänger Le Pens, eine der biergeschwängerten Massenversammlungen zu Füßen von Franz Josef Strauß oder dem »neuen Franz« Schönhuber erlebt hat, weiß, wie hoch da die Gefühle gingen und gehen. Da fühlt sich niemand mehr einsam, unterdrückt, zum vernünftigen Tun vergattert, sondern als Teil einer singenden, brüllenden, klatschenden Gemeinschaft von Patrioten, die ihren »Mann« stellen und von einer weisungsgebenden Figur auf den Heilsweg geführt werden.
Und am nächsten Tag? Da werden sie wieder zu grauen Mäusen, zu gehorsamen Bürokraten, folgsamen Angestellten, fleißigen Lohnbeziehern. Genau wie das Management sich seine Hand- und Kopflanger wünscht. Der Gemütsfaschismus, den die Neuen Rechten zum politisch ernstzunehmenden Faktor gemacht haben, korrespondiert exakt mit dem Technofaschismus der Industriegesellschaft, indem er kompensatorisch befriedigt, was im kalten, rationalen, entfremdeten Alltag der Produktionsuntertanen und ihrer anonymen Manager vernachlässigt wird. (…)
Gegen diese Entwicklung, die dem einzelnen immer weniger Möglichkeit gibt, seine individuelle Persönlichkeit durchzusetzen, und ihn zum Mitmacher, ja zum Mitschuldigen an einer auf künftige Katastrophen hinsteuernden Entwicklung macht, haben die neuen sozialen Bewegungen der letzten zwanzig Jahre gekämpft und zunehmend Anhänger gewonnen. Ihre zunehmend techno-kritische, antikapitalistische Haltung muß den Technokraten Sorgen bereiten. Nachdem sie die Arbeiterbewegung durch Beteiligung an der ökologischen und imperialistischen Ausbeutung der Welt korrumpiert und weitgehend ruhiggestellt hatten, mußten sie gegen die Herausforderungen der Studentenbewegung, Ökobewegung, Friedensbewegung, Frauenbewegung, Arbeitslosenbewegung eine politische Bewegung finden, die nicht nur den Wirtschaftsinteressen nutzen, sondern auch die Gemüter der von Zweifeln, Angst, Unsicherheit Bedrängten gefangennehmen könnte.
In den neuen faschistischen Bewegungen haben sie nun so etwas entdeckt, und es steht zu erwarten, daß die Mächtigen nach anfänglichen Zweifeln (wie sie übrigens zunächst auch gegen die Nazis bestanden) den neuen »Führern« genügende Finanzmittel zur Verfügung stellen werden, damit sie die vom Technofaschismus um ihre Persönlichkeitskräfte Gebrachten über den Gemütsfaschismus erneut gleichschalten. Während sie selbst, die wahren »Führer«, anonym bleiben, dürfen populäre Massenredner und Agitatoren deutlich hervortreten, Sympathien gewinnen und die Bürger von ihren wirklichen Interessen ablenken.
Ein wirksamer Kampf gegen den Gemütsfaschismus verlangt die kritische Aufdeckung der Macht, die der Technofaschismus heute schon in Arbeits- und Konsumwelt übt. Doch dazu müßte noch etwas Wichtigeres kommen: Die Gegner des Technofaschismus, die Grünen und die Linken, müssen sich darum bemühen, den Bürgern nicht nur materielle oder ökologische Verbesserungen anzubieten, sondern die Visionen einer humanen Gesellschaft, für die sich die Menschen begeistern können. Mit „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ hat die Arbeiterbewegung Millionen in Bewegung gebracht. Mit Tarif- und Lohnkämpfen allein können die Herzen der Menschen nicht gewonnen werden. Wer den »Wärmestrom« des Sozialismus versiegen läßt, kann nicht hoffen, denen, die mit der »heißen Luft« eines verquasten Patriotismus falsche Wärme vortäuschen, erfolgreich Widerstand zu leisten.
Erfolgversprechender Antifaschismus darf die Emotionen der Menschen nicht vernachlässigen. Sie auf ernstzunehmende und ehrliche Weise anzusprechen und politisch einzusetzen, ist die Aufgabe einer nicht nur soziologisch, sondern auch psychologisch denkenden neuen politischen Generation, die lesen und diskutieren, aber auch zuhören und mit den Menschen sprechen kann. Nur so werden wir dem neuen Faschismus widerstehen und ihn überwinden.
Aus: Martin Kirfel und Walter Oswalt (Hg.): Die Rückkehr der Führer. Modernisierter Rechtsradikalismus in Westeuropa. Europa-Verlag, Wien 1991, S. 6-7.
Ausgewählt und kommentiert von M.A. Hans Holzinger.
Er ist wiss. Mitarbeiter der Robert-Jungk-Bibliothek für Zukunftsfragen (Imbergstr. 2, A-5020 Salzburg. Tel. (00 43-06 62) 87 32 06, Fax: 87 12 96) und seit vielen Jahren in der Friedensbewegung engagiert.