Dossier 31

Haager Friedenskongress 1999

von Jost Dülffer / Jürgen Scheffran / Götz Neuneck / Gert Sommer / Christine Schweitzer / Joseph Rotblat

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit der NaturwissenschaftlerInnen-Initiative Verantwortung für Friedens- und Zukunftsfähigkeit, den Juristinnen und Juristen gegen atomare, biologische und chemische Waffen (IALANA), der IPPNW
und den Pädagoginnen und Pädagogen für den Frieden.

Haager Friedenskonferenz 1999

Willkommen zur Konferenz

Wir laden Sie hiermit ein, sich Hunderten von Organisationen und Tausenden Menschen aus der ganzen Welt in Den Haag, Niederlande, vom 11. bis zum 15. Mai 1999 anzuschließen, um die »Agenda für Frieden und Gerechtigkeit von Den Haag« für das 21. Jahrhundert zu schaffen. Zivilgesellschaft, Regierungen und internationale Organisationen werden Friedens- und Gerechtigkeitsinitiativen dieses Jahrhunderts neu bewerten, die Erfolge und Misserfolge beurteilen und festlegen, welche nächsten Schritte wir als Partner für ein friedensreicheres 21. Jahrhundert unternehmen können.

Graça Machel, First Lady, Südafrika
Professor Joseph Rotblat, Nobelpreisträger 1995
Mr. José Ramos-Horta, Nobelpreisträger 1996<
Übersetzung aus dem Englischen Heike Webb, Diplom-Übersetzerin, Bonn

An den Veranstaltungen in Den Haag – 11. bis 15. Mai – nehmen neben friedenspolitisch tätigen Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt auch VertreterInnen von Regierungen teil. Die Veranstaltungen laufen auf verschiedenen Ebenen ab: Neben Vollversammlungen, Workshops, Anhörungen, Lesungen, Podiumsdiskussionen und Gesprächen am Runden Tisch gibt es kulturelle Angebote wie Filme, Fotoausstellungen, Musik-, Tanz- und Theaterdarbietungen. Darüber hinaus bietet das Niederländische Kongresszentrum den Friedensorganisationen die Chance für interne Treffen und organisationsspezifische Aktionen, die Möglichkeit zur Selbstdarstellung, für Infostände , den Verkauf von Materialien etc.

zum Anfang | Der Weg zur Haager Friedenskonferenz

von Jost Dülffer

„Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren infolge irgendeiner neuen Entdeckung… Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teil hervorgerufen durch das System der Rüstungen bis aufs Äußerste…“

Das sind Worte aus dem Manifest eines russischen Zaren, mit dem vor Hundert Jahren zur ersten Haager Friedenskonferenz eingeladen wurde. Sie formulieren eine Einsicht, die sicher seitdem deutlich an Gewicht gewonnen hat. Dass Rüstungen allein nationale und internationale Sicherheit nicht schaffen können ist weitgehend Allgemeingut der internationalen Politik. Wir blicken heute auf ein breites Geflecht von internationalen Vereinbarungen zur Rüstungsbegrenzung und Abrüstung, doch das Wettrüsten geht auch zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges weiter. Die Hoffnungen Anfang der neunziger Jahre auf eine Friedensdividende, auf eine umfassende Abrüstung, auf eine friedliche Welt wurden gedämpft. Die Rüstungsexporte nehmen seit drei Jahren wieder stark zu. Zwar scheint die Gefahr eines Krieges zwischen Großmächten – dauernd präsent in den ersten 90 Jahren dieses Jahrhunderts – heute gebannt, aber die Welt ist nicht friedlicher geworden und der Militäreinsatz als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist auch für die Politik unseres Landes wieder zur realen Möglichkeit geworden. Aus der Haager Friedenskonferenz, ihrem Entstehen, ihrem Verlauf und den Ergebnissen, können immer noch Lehren gezogen werden.

„Der 18. Mai 1899! Dass es ein weltgeschichtliches Datum ist, welches ich mir da niederschreibe – von dieser Überzeugung bin ich tief durchdrungen“, notierte Bertha von Suttner, die große Pazifistin, in ihr Tagebuch. „Es ist das erste Mal, dass die Vertreter der Regierungen zusammenkommen, um die »Mittel zu suchen«, der Welt einen dauerhaften, wahrhaften Frieden zu sichern.“ Sie war drei Tage vorher aus Wien nach Den Haag aufgebrochen, „zur Stätte, wo der Frieden geboren werden soll. Das ist wohl das schönste Reiseziel, welches das Schicksal meinem jahrelangen Ersehnen und Hoffen bieten konnte.“

In der Tat eröffnete an jenem 18. Mai 1899 der niederländische Außenminister de Beaufort eine internationale Konferenz wie es sie in dieser Art noch nicht gegeben hatte. Offizielle Vertreter aus 26 Staaten, zumeist führende Diplomaten, aber auch Völkerrechtler, Militärs und sogenannte Friedensfreunde fanden sich zusammen. Akkreditiert waren alle Großmächte Europas und die anderen damals selbständigen Staaten dieses Erdteils, dazu die Vereinigten Staaten, Japan, Siam, China und Persien.

Zum Präsidenten gewählt wurde ein alter Karrierediplomat, der russische Botschafter in London Baron de Staal, denn Zar Nikolaus II. hatte zu dem Treffen eingeladen. In seiner Eröffnungsrede meinte der Präsident, der Name Friedenskonferenz, „welchen der Instinkt der Völker, die Entscheidungen der Regierungen vorwegnehmend, unserer Zusammenkunft gegeben hat, bezeichnet zu Recht den Hauptgegenstand unserer Bestrebungen; die »Friedenskonferenz« darf der ihr anvertrauten Mission nicht untreu werden, sie muss ein greifbares Resultat hervorbringen, welches die ganze Welt vertrauensvoll von ihr erwartet.“

Hoffnung für Pazifisten

Zunächst einmal traf diese Hoffnung auf die Pazifisten zu. Neben der Baronin Suttner zum Beispiel auf den russichen Staatsrat und Warschauer Bankier Jan de Bloch, einen wohlhabenden Mann, der im Eisenbahnbau sein Geld gemacht und kurz zuvor ein monumentales sechsbändiges Werk unter dem Titel »Der Krieg« vorgelegt hatte, das auch heute noch lesenswert ist. In ihm suchte er mit statistischem und volkswirtschaftlichem Material zu beweisen, dass ein künftiger Krieg wegen der fortschreitenden technischen Waffenentwicklung ein immer kostspieliger werdendes Unterfangen sein würde. In einem solchen Krieg – und der Verlauf des Ersten Weltkrieges gab ihm schließlich recht – sei mit einem schnellen Sieg nicht zu rechnen, sondern die Fronten würden schnell erstarren; die defensiven Fähigkeiten würden die offensiven übersteigen; der Krieg werde somit die nationalen Volkswirtschaften zerrütten. Der würdige und wohlhabende Sechziger verteilte in der niederländischen Hauptstadt Broschüren mit seinen Thesen, hielt Vorträge über die »Utopie des Krieges« und ließ sich gern als Experten feiern.

Voll Hoffnung war zum Beispiel auch William T. Stead, ein britischer Journalist. Dieser »Apostelkopf mit grauem Vollbart« war zuvor unermüdlich durch die Hauptstädte Europas gezogen und hatte für die Friedensidee geworben; jetzt organisierte er in Den Haag eine effektive Berichterstattung, die nicht nur in seinem Heimatland wirkte.

Zum Beispiel auch der greise Henri Dunant, Begründer des Roten Kreuzes,. Er suchte in Korrespondenz mit Suttner die Haager Szene zu beeinflussen; führende französische wie amerikanische Pazifisten gesellten sich dazu.

Und schließlich Leonore Selenka, eine Münchner Professorengattin. Sie kam in die niederländische Hauptstadt um dem Präsidenten eine weltweite Sympathiekundgebung von Frauenvereinigungen zu überbringen, die wenige Tage vor Beginn der Konferenz gleichzeitig in den meisten Teilnehmerstaaten getagt hatten. Drei Millionen Frauen sollen durch diese Kundgebung repräsentiert worden sein – eine dänische Frauenadresse hatte allein 230.000 Unterschriften gebracht, eine amerikanische über eine Million. Auch so etwas hatte es noch nicht gegeben.

Was sich in Den Haag versammelte und für drei Monate tagte, war jedoch keine Versammlung der internationalen bürgerlichen Friedensbewegung, sondern eine Staatenkonferenz, zu der die Pazifisten nur eine Begleitmusik spielen konnten. Aber sie stand eben nicht wie andere Friedenskonferenzen am Ende eines blutigen Krieges und sollte die Bedingungen zwischen Siegern und Besiegten aushandeln, sondern sie wurde mitten im Frieden einberufen (der natürlich auch damals durch internationale Krisen bedroht wurde).

Der russische Zar als Initiator

Die Idee ging auf den russischen Zaren Nikolaus II. zurück, einen jungen und unsicheren Mann, der dennoch oder gerade deswegen im August 1899 ein Manifest veranlasst hatte, das mit praktischer Politik wenig zu tun zu haben schien (siehe Kasten). Die Meinung eines Otto von Bismarck, der von der friedenserhaltenden Kraft der Waffen überzeugt war, spiegelte sich darin gewiss nicht wieder. „Fürst Bismarck ist seit 28 Tagen todt!“ soll daher – das berichteten die Hamburger Nachrichten – jemand, der dem Hause des Reichskanzlers sehr nahestand, das Zarenmanifest kommentiert haben.

Weltfremd oder realistisch? Das war bei dieser zaristischen Diagnose der internationalen Staatengesellschaft die Frage. Sicherlich hatte der autokratische Herrscher aller Reußen gute Gründe für eine Abrüstungsinitiative. Allem Anschein nach gab Kriegsminister Kuropatkin im Frühjahr 1898 den entscheidenden Anstoß – ein Mann, der später im Russisch-Japanischen Krieg 1904/5 entschlossen die militärische Expansion seines Landes verteidigte.

Hintergründe

Auch 1898 waren die Spannungen in Ostasien gestiegen (nicht zuletzt nach dem deutschen Erwerb des Kolonialstützpunktes Kiautschou); die russische Ostasienflotte sollte gegen den weltpolitischen Erzrivalen Großbritannien verstärkt, die Truppenzahl in Ostsibirien drastisch erhöht werden. Und es drohte ein qualitativer Rüstungsschub: Deutsche und Franzosen hatten ein neues Schnellfeuergeschütz in ihren Armeen eingeführt, die Österreicher wollten ein Gleiches tun. Lohnte es sich da nicht – so Kuropatkin –, mit diesen westlichen Nachbarn über ein Nichtrüstungsabkommen zu verhandeln, das dem finanzschwachen Russland wenigstens neue Ausgaben ersparte? Man hätte doch zehn Jahre lang auf die Einführung des neuen Schnellfeuergewehres verzichten können. Schließlich kam der Gedanke auf, allgemein die Beendigung des Wettrüstens anzuregen.

Kaiser Wilhelm II. kommentierte dann auch nach der Veröffentlichung des Zarenmanifestes zutreffend: „Die ganze Elukubration scheint mir möglicherweise der grimmen Noth entsprungen, dass Russland die »Puste« finanziell auszugehen anfängt.“ – auch wenn er selber und die deutsche Reichspolitik, die Wettrüsten als eine Probe für die gesamtgesellschaftliche Leistungsfähigkeit betrachteten, ebenfalls in solche Not gerieten. Denn beim Flottenbau würden die Briten im kommenden Jahrzehnt diesen Test gewinnen, zugleich aber würden die internationalen Spannungen insgesamt durch das Wettrüsten zu Wasser und dann auch zu Lande zunehmen.

Die Finanzschwäche Russlands war jedoch im Allgemeinen in der wirtschaftlichen Entwicklung begründet. Das Riesenreich mit all seinen menschlichen und materiellen Ressourcen hatte sich im Vergleich zu Westeuropa und Amerika noch kaum industriell entwickelt. Vor allem mit französischen Anleihen konnte der „geborgte Imperialismus“ (Dietrich Geyer) an einen Landesausbau gehen, der eine Art kolonialer Entwicklung auf eigenem Territorium zu leisten hatte. Finanzminister Sergej Witte war die treibende Kraft: Den Eisenbahnbau in Mittel- und Ostasien und die Industrialisierung hielt er für die wichtigsten Methoden, um die Existenz Russlands als Großmacht im kommenden Jahrhundert zu sichern. Auch wenn sich Witte später von der Zareninitiative distanzierte (sie sei dilettantisch), so hatte sie doch ihren tieferen Grund gerade in der Prioritätenentscheidung: Landesentwicklung statt Wettrüsten.

Ein dritter Strang kam hinzu: Am Tag der Veröffentlichung des Zarenmanifests begab sich Nikolaus II. von St. Petersburg nach Moskau, um dort ein Denkmal Alexanders III. zu enthüllen, der nunmehr als »friedensbringender Zar« gefeiert wurde, da er die Lehren aus dem blutigen Russisch-Türkischen Krieg gezogen habe. Das war ein wenig an den Haaren herbeigezogen, ebenso wie die Initiative Alexanders II. von 1868 für eine Humanisierung überpointiert wurde (sie hatte 1874 zu einer Konferenz in Brüssel geführt).

Aber mit Recht konnte man bis zu Zar Alexander I. zurückgehen: Er hatte nach den napoleonischen Kriegen das von ihm begründete System einer »Heiligen Allianz« der Herrscher, Völker und Heere für einen stabilen Frieden in Europa auch mit dem Mittel der Abrüstung zu erreichen gesucht. Es müsse ein neues Mittel gefunden werden, schrieb der Zar 1816 an den britischen Außenminister Lord Castlereagh, die Dauerhaftigkeit der neuen Ordnung und die Befriedung der Völker ohne Furcht in völliger Sicherheit herzustellen. Darum solle man gleichzeitig die bewaffneten Kräfte aller Art reduzieren: Solange man diese „im Kriegszustand“ aufrechterhielte, werde „die Glaubwürdigkeit der bestehenden Verträge vermindert und eine schwere Last auf die Wohlfahrt und Unabhängigkeit der Völker“ gelegt.

Damals kam nichts dabei heraus, weil Castlereagh hinhaltend reagierte und der österreichische Staatskanzler Metternich befand, die Russen müssten wohl aus eigenem Interesse ihre überwältigende Armee aus dem letzten Krieg verringern. Es gab also tatsächlich 1898 eine russische Herrschertradition der Friedensstiftung durch Abrüstung. Zwar gab die wirtschaftliche Lage des Riesenreichs den Ausschlag, aber dahinter steckte ein genuiner, zum Teil religiös verbrämter Friedenswunsch.

Für Nikolaus II. war noch ein viertes Moment bestimmend. Seit 1889 erstarkte die Friedensbewegung, die auf Weltfriedenskongressen, bei Treffen der Interparlamentarischen Union und der Sozialistischen Internationalen von sich reden machte. Der Zar hatte Jan de Blochs Werk über den Krieg gelesen und war von den dort ausgemalten Schrecken beeindruckt; man brachte ihm auch die Verhandlungsergebnisse der letzten internationalen Friedenskongresse nahe. Die Pazifisten und Internationalisten vertrauten auf die zunehmende Bedeutung einer Weltöffentlichkeit. Also bot sich dies auch für den Zaren an. Im autokratischen Russland glaubte man sich um die Jahrhundertwende noch von derartigen Einflüssen frei; stärkte man im Westen jene friedensgeneigten Strömungen, brauchte dies im eigenen Land keine Folgen zu haben. Gerade die undiplomatische Art, das Manifest kurz nach der Übergabe an die ausländischen Diplomaten in der Presse zu veröffentlichen, spricht für dieses Motiv. Es war ein Appell über die Regierungen hinweg an die Völker.

Ob Außenminister Murawjew es wirklich, wie der deutsche Botschafter berichtete, ernsthaft gemeint hat, „dass (der Vorschlag) eine mächtige Waffe und ein gewaltiges Agitationsmitttel aus der Hand der Sozialdemokratie nimmt, die behauptet, die Regierungen opferten ihren eigennützigen Rüstungsplänen den Wohlstand ihrer Völker“, sei dahingestellt. Wilhelm II. jedenfalls befürchtete: „Er hat unseren Demokraten und Opposition eine brillante Waffe in die Hand gegeben zum agitiren!“

Reaktionen

Allerdings war es für die Sozialdemokratie nicht ganz leicht, darauf zu reagieren, dass der falsche Mann (fast) das Richtige gesagt hätte. Die sozialdemokratische Bremer Bürger-Zeitung legte dann auch den zaristischen Abrüstungsvorschlag wortwörtlich dem SPD-Abgeordneten Wilhelm Liebknecht für eine Haushaltsdebatte im Reichstag in den Mund und stellte sich die Reaktionen von den Konservativen bis hin zu den Liberalen vor:

„Satz für Satz versuchte man, ihn niederzubrüllen und niederzulachen. In patriotischer Entrüstung rang Herr v. Stumm die Hände, und Liebermann v. Sonnenberg warf von Zeit zu Zeit ein überzeugtes Pfui dazwischen. Höhnisch lächelnd hörte am Bundesrathstische der Kriegsminister zu und erklärte dann in kurzen, schneidenden Worten, er brauche nichts zu erwidern, da solches Zeug doch niemand ernst nehme. Herr von Manteuffel schnarrte etwas von vaterlandsloser Sozialdemokratie, Herr von Bennigsen hielt darauf eine staatsmännische Rede über den segensreichen Einfluss der Militärausgaben auf die Volkswohlfahrt, und zum Schluss erhob sich Eugen (Richter) und rühmte von den Freisinnigen, dass auch sie für ein starkes Heer eintreten und jeden Mann und jeden Groschen bewilligt hätten, es sei ihnen nur um das Septennat, um die Form zu thun gewesen.“

Die Sozialdemokraten blieben skeptisch. Abrüstung sei nur möglich auf der Grundlage der allgemeinen Volksbewaffnung in Form einer Miliz, hieß es kommentierend und wenig später: „Die kapitalistische Produktionsweise wird nach wie vor zu Kriegsexplosionen münden und nach wie vor in wahnsinnigen Rüstungen das Mark der Völker verzehren.“ Aber: „Nun kommt ein Zar zu dem Eingeständnis, dass wir recht haben!“

Wie es die Sozialdemokraten befürchtet hatten, geschah es wirklich: Die anderen Regierungen waren mehr oder weniger entsetzt; sie erklärten das Ganze – ohne öffentlich das Prestige des Zaren anzutasten – für utopisch, unpraktisch, undurchführbar. Am Deutlichsten sagte es die deutsche Reichsleitung, welche die Grundlagen des Staates durch den Zarenvorschlag gefährdet sah. Was Nikolaus eigentlich vorgeschlagen hatte, bedurfte also nach und nach der abschwächenden Deutung: Völlige Abrüstung meinte er sicherlich nicht, sondern man solle nur die Möglichkeit der langsamen Reduzierung prüfen, vielleicht noch den Verzicht auf bestimmte Rüstungsproduktionen, ein »Einfrieren« wie es heutzutage heißt.

Ergebnisse

Die diplomatischen Vorgespräche ergaben jedenfalls schon vor dem 18. Mai 1899: An Abrüstung dachte keine Großmacht. So wurde am Ende der ersten Haager Konferenz, die dann offiziell nicht mehr Abrüstungskonferenz, sondern Friedenskonferenz hieß, nur ein unverbindlicher Wunsch verabschiedet, die Fragen weiter zu studieren. Immerhin konnten sich die Delegierten bei bestimmten Kriegsformen, über deren Erfolgsaussichten in der Zukunft noch kein sicheres Urteil möglich war, zu Vereinbarungen durchringen:

Für fünf Jahre wurde ein Verbot ausgesprochen, „Projektile und Explosivstoffe aus Ballons oder auf andere entsprechende neue Arten“ abzuwerfen – ein Luftkriegsverbot, das stillschweigend am Ende der Periode auslief und 1907 erneuert wurde. Permanent verboten wurden für alle Vertragsparteien einerseits „die Verwendung von Projektilen, die als einziges Ziel haben, erstickende oder gesundheitsschädigende Gase zu verbreiten“, der Gaskrieg also, andererseits die Verwendung von abgeplatteten Gewehrgeschossen (Dum-Dum-Geschosse, die besonders große Wunden rissen).

Man kodifizierte auch das Land- und Seekriegsrecht, eine Vorstufe für die 1907 beschlossene und bis heute gültige Haager Landkriegsordnung. Sie sollte freilich erst dann angewendet werden, wenn der Frieden gescheitert, der Krieg im Gange war. Aber man suchte mehr und mehr nach einem Programm, das mit Frieden etwas zu tun hatte. Die Wünsche richteten sich auf die friedliche Beilegung internationaler Konflikte, auf Schiedsgerichte, Vermittlung und internationale Untersuchungsausschüsse.

Die Frage, ob man Schiedsgerichte für bestimmte Konfliktfälle obligatorisch machen sollte, ließ sich 1899 noch nicht beantworten. Aber man schuf im Haager Schiedsgerichtshof eine erste internationale Institution zur Streitbeilegung. Gegen den erbitterten Widerstand vor allem von deutscher Seite konnte nicht mehr vereinbart werden als eine Liste von Schiedsrichtern, der sich Streitparteien bedienen konnten. Tatsächlich geschah dies vor dem Ersten Weltkrieg in einer ganzen Reihe von Fällen, die aber mit den konkreten Kriegsgefahren der Zeit wenig zu tun hatten.

Sechs Jahre später – die Revolution in Russland, eine folge des Russisch-Japanischen Krieges 1904/5, war noch nicht vollständig niedergeschlagen – schlug die zaristische Regierung eine neue Haager Konferenz vor. Trotz oder gerade wegen des nun in vollem Gange befindlichen maritimen Wettrüstens wurde die Abrüstungsfrage schon vor dem Zusammentritt einer neuen Konferenz vertagt – in Formeln eines ‚Begräbnisses erster Klasse‘.

Dennoch tagte vom 15. Juni bis zum 18. Oktober 1907 eine neue Konferenz aller damals als unabhängig angesehenen Staaten (inklusive Lateinamerikas). Ihre Bedeutung lag vor allem in der weiteren Kodifikation des Kriegsrechts. Die Friedensfreunde wollten ein Schiedsgerichtsobligatorium zunächst auf unbedeutende Themen beschränken; sollte es sich im Verlauf der Zeit bewähren, könne man es hoffentlich auf größere Themen ausweiten.

Wieder war es die deutsche Reichsleitung, prinzipiell von der absoluten Souveränität der Großmächte überzeugt, die gegen alle solche Vorschläge Front machte und den Fortschritt verhinderte. Zwar wurden fünfzehn internationale Konventionen beschlossen, aber keine einzige griff nachhaltig in die Konflikte und Gegensätze der Staatengesellschaft ein. Der Weg in den Ersten Weltkrieg wurde nicht aufgehalten.

Die Teilnehmer wollten sich etwa 1915 zu einer dritten Haager Konferenz zusammensetzen, doch da tobte der Krieg schon, den man zu Recht den »großen Krieg« nennt oder die Urkatastrophe unseres Jahrhunderts.

Dr. Jost Dülffer ist Professor für neuere Geschichte am Historischen Seminar der Universität Köln.

Das Zarenmanifest

„… Im Namen des Friedens haben große Staaten mächtige Bündnisse miteinander geschlossen. Um den Frieden besser zu wahren, haben sie in bisher unbekanntem Grade ihre Militärmacht entwickelt und fahren fort, sie zu verstärken, ohne vor irgendeinem Opfer zurückzuschrecken.

Alle ihre Bemühungen haben dennoch nicht das segensreiche Ergebnis der ersehnten Friedensstiftung zeitigen können. Da die finanziellen Lasten eine steigende Richtung verfolgen und die Volkswohlfahrt an ihrer Wurzel treffen, so werden die geistigen und physischen Kräfte der Völker, die Arbeit und das Kapital zum großen Teile von ihrer natürlichen Bestimmung abgelenkt und in unproduktiver Weise aufgezehrt. Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren, infolge irgendeiner neuen Entdeckung auf diesem Gebiet… Die wirtschaftlichen Krisen sind zum großen Teil hervorgerufen durch das System der Rüstungen bis aufs Äußerste, und die ständige Gefahr, welche in dieser Kriegsstoffansammlung ruht, machen die Heere unserer Tage zu einer erdrückenden Last, welche die Völker mehr und mehr nur mit Mühe tragen können. Es ist deshalb klar, dass, wenn diese Lage sich noch weiter so hinzieht, sie in verhängnisvoller Weise zu eben der Katastrophe führen werde, welche man zu vermeiden wünscht und deren Schrecken jeden Menschen schon beim bloßen Gedanken schaudern macht…

Durchdrungen von diesem Gefühl, hat seine Majestät geruht, mir zu befehlen, dass ich allen Regierungen, deren Vertreter am kaiserlichen Hof beglaubigt sind, den Zusammentritt einer Konferenz vorschlage, welche sich mit dieser ernsten Frage zu beschäftigen hätte. Diese Konferenz würde mit Gottes Hilfe ein günstiges Vorzeichen des kommenden Jahrhunderts sein…“

(Ausschnitte aus dem Zarenmanifest vom 24. August 1898, verkündet von Außenminister Graf Murajew)

zum Anfang | Neue Konfliktlinien an der Schwelle zum 21. Jahrhundert
100 Jahre Krieg – und kein Ende?

von Jürgen Scheffran

Den Schrecken des Krieges zu beenden oder zumindest zu mildern – dies war eine Motivation für der Haager Friedenskonferenz von 1899. Die Realität des 20. Jahrhunderts sah jedoch anders aus. Mit hunderten von Kriegen fällt die Bilanz der letzten hundert Jahre grausig aus. Die zweite Haager Konferenz (1907) sowie eine vorgesehene dritte (1915) konnten dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs und dem folgenden Abschlachten nichts entgegensetzen. Zwar wurden mit der Festlegung der Haager Landkriegsordnung, der Einrichtung eines Gerichtshofs für die Beilegung internationaler Streitfälle und dem Einsatzverbot für bestimmte Waffen (Giftgas) Ansätze zur »Zivilisierung« der Kriegführung unternommen. Im Kellogg-Briand-Pakt verzichteten gar 63 Staaten auf Krieg als Instrument der Politik und der auf der Weltabrüstungskonferenz von 1932 vorgestellte Hoover-Plan sah die schrittweise Abschaffung offensiver Waffen vor.

Doch gegen nationalen Taumel, totalen Krieg und technische Massenvernichtung konnte das zarte Friedenspflänzchen nichts ausrichten. Die fortwährende Steigerung der Vernichtungsmittel erreichte mit der Zerstörung mitteleuropäischer Städte durch Brandbomben und Raketen sowie im Einsatz der Atombombe gegen die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki ihren schrecklichen Höhepunkt. Der größte Land-, Luft- und Seekrieg der Geschichte richtete auch die größten Verheerungen an und forderte die größten Opfer an Menschenleben (27 Mio. Soldaten und 25 Mio. ZivilistInnen). Der Anteil der getöteten ZivilistInnen hatte sich gegenüber dem Ersten Weltkrieg von 5 auf 50 Prozent erhöht. Der Krieg entwickelte sich zum globalen totalen Krieg, der alle gesellschaftlichen Bereiche umfasste. Die Kriegskosten stiegen ins Uferlose und ließen einen militärisch-industriellen Komplex zurück, der sich nicht abschaffen lassen wollte.

Erst nach der Besinnungslosigkeit des Zweiten Weltkriegs und dem dadurch ausgelösten Schock kehrte eine gewisse Besinnung dahingehend ein, dass es nicht im Interesse der Völker sein kann, sich gegenseitig zu vernichten. Die erstarkte Friedensbewegung und Bestrebungen zur Friedensförderung wie die Gründung der Vereinten Nationen gerieten jedoch in den Strudel des Ost-West-Konflikts, in dem die beiden Supermächte die Welt in Einflusssphären teilten und alle gesellschaftlichen Ressourcen dem Wettrüsten unterordneten. Wissenschaft und Technik ermöglichten immer ausgeklügeltere Waffensysteme, deren Zerstörungswirkung die des gesamten Zweiten Weltkriegs um mehr als das Tausendfache übertraf und die mehrfache Zerstörung des Planeten in den Bereich des Möglichen rückte.

Mit der Beendigung des Kalten Krieges und der Vereinbarung von Abrüstungsverträgen zwischen den ehemaligen Kontrahenten ging eine kurze Tauwetterperiode in den internationalen Beziehungen einher, die mit dem zweiten Golfkrieg 1991 und weiteren Konflikten (Jugoslawien, Somalia, Zentralafrika, Tschetschenien, Nahost, Südasien) jedoch rasch wieder in einer Überhitzung endete. An der Schwelle zum 21. Jahrhundert ist die Abrüstungspolitik in der Krise und immer noch sind dutzende von Kriegen und hunderte größerer Konflikte zu verzeichnen, die auf komplexe Weise mit dem Ursachen- und Wirkungsgeflecht der globalen Probleme verbunden sind (Bevölkerungswachstum, Armut und Unterentwicklung, Umweltzerstörung und Ressourcenverknappung, Migration und Flucht, Gewalt und Krieg). Neue Risiken und Instabilitäten für die internationale Sicherheit sind auf allen Ebenen erkennbar. Die Kriege der Gegenwart werden eher mit Messern, Äxten und Pistolen ausgetragen während die noch verbleibende Supermacht USA die gesamte Hochtechnologieentwicklung einplant um die vermeintlichen Schlachten der Zukunft auf der Erde und im Weltraum zu schlagen.

Häufigkeit und Verteilung
von Konflikten

Die Bilanz des 20. Jahrhunderts ist auch hinsichtlich der Kriegshäufigkeit ernüchternd. Seit 1889 hat es kein Jahr mehr gegeben, in dem nicht ein neuer nationaler oder internationaler Konflikt begonnen wurde. Nach den beiden Weltkriegen nahm die Zahl laufender Konflikte pro Jahr sogar noch zu, was auch damit zusammenhängen mag, dass die Zahl staatlicher Akteure sich vervierfacht hat. Die Zahl neubegonnener Konflikte erreichte 1964 einen Höhepunkt von 25.1 In den fünf Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehr Konflikte verzeichnet als in jeder früheren vergleichbaren Periode, insgesamt 398 internationale und 263 nationale Streitigkeiten bis 1995. In 387 Konflikten wurde Gewalt eingesetzt (darunter 104 Kriege), 274 verliefen ohne Gewalt. Ab 1969 wurden mehr gewaltsame interne als zwischenstaatliche Konflikte registriert, die ein höheres Gewaltpotential aufwiesen.2 Nach einer anderen Zählweise waren seit 1945 weltweit 194 Kriege zu verzeichnen, im Mittel kam ein Krieg pro Jahr hinzu. Im Jahr 1996 waren es weltweit 28 Kriege und 21 bewaffnete Konflikte unterhalb der Kriegsschwelle, die insgesamt 6,7 Millionen Tote und ein Vielfaches an Verwundeten forderten.3 Im Gefolge der Ereignisse von 1989 stieg die Zahl der bewaffneten Auseinandersetzungen noch einmal deutlich an, um nach einem Maximum im Jahr 1993 wieder abzufallen. In den letzten Jahren wurden mehr Kriege beigelegt als neue begonnen wurden.

Die allermeisten Konflikte fanden in den Regionen des Südens statt, zumeist zwischen Entwicklungsländern. Besonders betroffen war die Konfliktregion Naher Osten/Nordafrika, die seit dem Zweiten Weltkrieg Schauplatz von 53 Kriegen war. In Süd- und Südostasien sowie Subsahara-Afrika fanden zwischen 1945 und 1996 47 bzw. 43 Kriege statt. Es folgt Mittel- und Südamerika, mit 31 Kriegen (Globale Trends 1998). Dagegen ging in Ostasien nach den Kriegen der sechziger Jahre die Anwendung organisierter militärischer Gewalt zurück. Auch in anderen Weltregionen war seit 1960 ein Trend zu abnehmender Kriegshäufigkeit zu beobachten. In Europa gab es bis 1989 47 unfriedliche Auseinandersetzungen, darunter 20 latente Konflikte oder Krisen und acht Kriege (Pfetsch 1989). In Südosteuropa und den angrenzenden Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens brachen mit dem Zerfall der Vielvölkerstaaten Sowjetunion und Jugoslawien etwa ein Dutzend neuer Kriege aus. In einigen Konflikten waren bzw. sind die Großmächte (Großbritannien, Frankreich, USA, UdSSR/Russland) stark beteiligt, die bestimmte Regionen als ihre Machtsphären betrachteten. Immerhin waren 43 Staaten nie in Konflikte verstrickt und weitere 25 Nationen nur in nicht-gewaltsame (Pfetsch 1998).

Neue Konfliktmuster und knappe Ressourcen

Die Welt ist nach 1945 zwar nicht friedlicher geworden, doch hat sich gegenüber der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg das Konfliktverhalten zwischen Staaten geändert. Während zuvor Rivalitäten zwischen Staaten dominierten, die nationale Machtinteressen ohne Hemmungen mit Waffengewalt durchsetzten, begann sich nach dem Krieg in den Industrieländern die Erkenntnis durchzusetzen, dass Interessen auch friedlich und gemeinsam mit anderen erreicht werden können. Auch weiterhin ging bei den allermeisten Konflikten der Streit um Territorien und Grenzen sowie interne Macht. Viele bewaffnete Konflikte waren eine Folge der Unabhängigkeit früherer Kolonien und der Inanspruchnahme des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Zahlreiche Konflikte der neunziger Jahre weisen ein hohes Maß an innerstaatlicher Gewalt auf, die die Entstehung von Bürgerkriegsgesellschaften und einen Verfall der Staatlichkeit zur Folge hat. Autoritäre Herrschaftscliquen und schwache Regierungen sind den Problemen von Unterentwicklung, Armut und Umweltzerstörung wie auch dem Modernisierungsdruck nicht gewachsen und unfähig, den Bevölkerungen ihrer Länder ein Minimum an Mitsprache und Lebensqualität zu garantieren. Als Abwehrreaktion werden alte Traditionen, Fundamentalismen und Feinbilder beschworen, die ethnischen Konflikten und einem »Kampf der Kulturen« Vorschub leisten. Der Konfliktaustrag ist mit einer Eigendynamik und Chaotisierung der Kriegführung, der weiteren Zerstörung sozialer Zusammenhänge und der Zerrüttung von Wirtschaft und Gesellschaft verbunden, die eine Lösung der zugrundeliegenden Probleme nahezu unmöglich machen (Globale Trends 1998).

Auch in den Industrieländern ist im Gefolge der Modernisierung und Globalisierung ein Einflussverlust des Nationalstaats zu verzeichnen, der zum einen auf die Schaffung internationaler Institutionen, Regime und Entscheidungsstrukturen zurückzuführen ist, zum anderen auf die Konzentration von Macht in den Händen international agierender privater Akteure (Konzerne, Interessengruppen, Mafia), die teilweise wenig auf demokratische Entscheidungen Rücksicht nehmen und ihre Interessen notfalls auch mit dem Mittel der Gewalt durchsetzen. Die empirisch begründete These, dass Demokratien untereinander keine Kriege führen, bedarf unter diesem Blickwinkel einer neuen Beurteilung, zumal auch für Demokratien wie die USA Gewalt gegenüber den politisch weniger entwickelten Staaten des Südens weiterhin als legitimes Machtmittel gilt.

Um das Besondere an der heutigen Konfliktlage zu verstehen ist es hilfreich, sie in den Kontext der bisherigen Menschheitsentwicklung einzuordnen, die durch Machtkämpfe um natürliche und gesellschaftliche Ressourcen geprägt wurde. Am Beispiel der Ressource »Territorium« wird deutlich, dass der Charakter der Konflikte sich mit dem fortschreitenden Grad der Nutzung oder Übernutzung dieser Ressource gewandelt hat. Zu unterscheiden sind die für jeden Entwicklungsgang eines Systems typischen Phasen Wachstum, Stagnation, Zerfall.

  1. Wachstum, Expansion, Machtgewinnung: Solange Menschen in immer neue Regionen expandieren konnten, waren Konflikte vorherrschend, die die Verteilung des neu »eroberten« Gebietes und die damit verbundene Macht betrafen. Im 19. Jahrhundert gerieten der imperialistische Expansionsdrang und die territoriale Aufteilung der Welt an die Nationalstaaten an ihre Grenzen. Zu spät gekommene Staaten wie Deutschland oder Japan versuchten bis ins 20. Jahrhundert hinein vergeblich, die Aufteilung mit Gewalt zu ihren Gunsten zu verschieben.
  2. Stagnation, Umverteilung, Identitätssicherung: Der Zweite Weltkrieg markiert das Ende der territorialen Expansionsphase und die Fixierung der Aufteilung, wobei die alten Kolonialmächte durch die Entkolonialisierung an Einfluss verloren. In der Stagnationsphase des Ost-West-Konflikts versuchten die Supermächte, die Machtverteilung in den Weltregionen auf militärischem und politisch-ideologischem Wege zu ihren Gunsten zu verschieben. Für Deutschland und Japan dagegen wurden Machtzugewinne nicht territorial, sondern in der technisch-ökonomischen Entwicklung und über politische Einigungsprozesse erreicht. Bei der Bildung neuer oder dem Zerfall alter Staaten stand die Frage der Orientierung und Identititätssicherung entlang der bestehenden globalen Machtstrukturen im Vordergrund, zunächst entlang der Ost-West-Achse, nach 1989 entlang der Nord-Süd-Achse (Zentrum-Peripherie).
  3. Zerfall, Risiko, Existenzgefährdung: Bei weiter anhaltender Wachstumsdynamik steigt der Druck auf die enger werdenden territorialen Grenzen, wodurch der Zerfall sozialer, ökonomischer und politischer Strukturen befördert wird. Es geht bei Konflikten in der Risikogesellschaft immer weniger um die Eroberung neuer Räume und immer mehr um die Verteilung von Mangel und Risiko. Am Stärksten werden die ohnehin schon marginalisierten Schichten in Nord und Süd betroffen, für die es um das Überleben geht, während privilegierte Schichten versuchen, ihre Macht und ihren Reichtum abzusichern.

Entsprechende Phasen können im Prinzip auch für andere Ressourcen identifiziert werden, insbesondere für die natürlichen Ressourcen Wasser, Nahrung, Energie, Biodiversität, Rohstoffe, wobei für jede Ressource eine Differenzierung hinsichtlich ihrer Relevanz vorzunehmen ist.

Die hier skizzierte Einteilung ist nicht streng chronologisch zu verstehen, denn bis heute findet eine Durchmischung aller drei Konfliktphasen statt. Allerdings gewinnen mit wachsender Verknappung Risiko- und Existenzkonflikte an Bedeutung, die sich vorwiegend an den Rändern der Weltgesellschaft abspielen und von der Öffentlichkeit oft verdrängt werden. Schließlich ist die Phaseneinteilung nicht als Naturgesetz zu verstehen. Zerfallsbedingte Konflikte müssen nicht über die Gewaltschwelle eskalieren, wenn sich weltweit eine Kultur des Friedens durchsetzt, die das Instrumentarium einer »nachhaltigen Friedensstiftung« weiterentwickelt, von präventiver Diplomatie und Konfliktvermittlung bis zu Maßnahmen der gesellschaftlichen und ökonomischen Friedenskonsolidierung. Voraussetzung ist, dass die Grundbedürfnisse für alle Menschen gewährleistet sind und die materielle Basis des Friedens gesichert ist, d.h. es muss mit den natürlichen Ressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung »vernünftig« gehaushaltet werden, wodurch die zerfallsbedingten Konflikte an Bedeutung verlieren.4 Bislang ist die Dynamik zur Erzeugung neuer Konflikte jedoch weiterhin ungebrochen, wie am Beispiel der Umweltkonflikte zu zeigen ist.

Naturzerstörung
und Umweltkonflikte

Bereits heute sind eine Reihe von Konfliktfällen zu beobachten, bei denen Umweltzerstörung ein wesentlicher Konfliktfaktor ist. Das Schweizer Environment and Conflicts Project (ENCOP) fand heraus, dass von den 51 Kriegen des Jahres 1992/1993 immerhin 22 (43 Prozent) eine Umweltdimension hatten bzw. teilweise durch Umweltveränderungen induziert waren. Betroffen sind vor allem Subsahara-Afrika sowie Süd- und Südostasien, wo der Anteil bei mehr als 50 Prozent lag.5 In dem Abschlussbericht des Projekts wurden 42 Fallstudien von Umweltkonflikten ausgewertet und drei Mustern von konfliktträchtigen Umweltveränderungen (Naturkatastrophen, nationale und internationale Opferzonen, Allmend-Effekt) zugeordnet.6 In der Synthese des ENCOP-Projekts heißt es (S.329):

„Die biologischen Grundlagen des menschlichen Daseins sind seit kurzem der Erschöpfung nahe. Eine weitere Steigerung der Weltgetreideernte war zum Beispiel seit 1990 nicht mehr möglich. Selbst Trinkwasser, eine einst in scheinbar unerschöpflicher Fülle vorkommende Ressource, wird an immer mehr Orten knapp. Raum, Nahrung, Wasser und weitere knappe Güter werden damit vermehrt zu Konfliktgegenständen unter Gruppen, die um ihr Überleben, um die Erhaltung ihrer traditionellen Lebensformen oder die Anhebung ihres Lebensstandards kämpfen. Es ist für die Gegenwart von grundlegender Bedeutung und für die Zukunft überlebenswichtig, diese Konflikte in ihren … Ursachen besser zu verstehen, um sie entschärfen, soweit wie möglich lösen oder wenigstens unter Vermeidung von Gewaltexzessen überstehen zu können.“

Einige Beispiele für umweltbedingte Konflikte, die nicht den Charakter von Kriegen haben, aber teilweise dennoch durch ein hohes Gewaltpotential geprägt sind, sollen im Folgenden die allgemeinen Zusammenhänge verdeutlichen.

  • Wasserkonflikte in Nahost: Israel bezieht mehr als 60 Prozent seines Wassers aus Gebieten außerhalb seiner international anerkannten Grenzen, zu einem erheblichen Teil auch aus der besetzten Westbank, wo der Pro-Kopf-Verbrauch der jüdischen Siedler etwa viermal so hoch ist wie bei den Arabern. Wiederholt waren Wasserreservoirs und Wasserleitungen Ziele militärischer Operationen. Der Erfolg von Verhandlungen wird vom weiteren Friedensprozess mitbestimmt. Die Wasserversorgung Ägyptens hängt zu 97 Prozent vom Nil und damit von den Oberanliegern Sudan und Äthiopien ab; Zuteilungsquoten sind seit langem umstritten. Das türkische Staudammprojekt an Euphrat und Tigris ist von Zwangsumsiedlungen und ethnischen Säuberungen begleitet und macht Syrien und Irak von der türkischen Wasserzuteilung abhängig.
  • Umweltflucht in Afrika: Der afrikanische Kontinent ist bereits in starkem Maße von ökologischen Problemen (Wassermangel, Desertifikation, Abholzen von Regenwäldern) betroffen, die durch eine globale Klimaerwärmung weiter verschärft werden. Millionen von Umweltflüchtlingen wandern in die Städte und benachbarte Länder aus, wo sie die sozialen Probleme verschärfen und Konflikte verursachen. Ein Beispiel ist die Vertreibung von 60.000 Menschen aus Mauretanien und dem Senegal zwischen April und August 1989, die teilweise auf die Übernutzung und Verödung der Böden im ehemals fruchtbaren Tal des Senegal-Flusses zurückzuführen ist. Am Horn von Afrika (insbesondere in Somalia) bewirkte eine Kombination verschiedener Fluchtursachen (Krieg, Unterdrückung, Hunger, Dürre) eine Destabilisierung der politischen Lage, die zum Eingreifen der Vereinten Nationen beitrug.
  • Massaker in Ruanda: Zwischen 1950 und 1994 stieg die Bevölkerung Ruandas von 2,5 auf 8,8 Millionen, die Pro-Kopf-Produktion sank zwischen 1960 und den frühen neunziger Jahren um fast die Hälfte. Das knapper werdende Land wurde immer weiter aufgeteilt. Die hohe Bevölkerungsdichte und die schlechte Ernährungslage verschärften den bereits bestehenden Konflikt zwischen Hutu und Tutsi und trugen zum Ausbruch der Gewalt bei, der auf das Nachbarland Zaire ausstrahlte und dort zur Destabilisierung beitrug.
  • Landflucht in Pakistan: Die Umwelt Pakistans leidet unter dem hohen Bevölkerungswachstum, der Bodenerosion, dem Wassermangel, der starken Entwaldung und dem Verlust landwirtschaftlicher Nutzfläche. Eine kleine Schicht der Gesellschaft versucht, die Kontrolle über die lebenswichtigen Naturressourcen (Wälder, Ackerland, Wasser) zu sichern. Aufgrund der verringerten landwirtschaftlichen Produktion wandern Menschen in die Städte oder in durch Naturkatastrophen (Überflutung) gefährdete Gebiete ab. Aufgrund der fehlenden städtischen Versorgung (u.a. mit Wasser und Elektrizität) ist es in Städten wie Karachi und Islamabad zu Protesten und gewaltsamen Zusammenstößen zwischen ethnischen Gruppen oder mit der Polizei gekommen.
  • Überschwemmungen in Bangladesh: Aufgrund seiner hohen Bevölkerungsdichte und seiner Lage in einem Überschwemmungsgebiet ist Bangladesh extrem anfällig gegenüber den Risiken der regionalen und globalen Umweltzerstörung. Verarmte Menschen ziehen in überflutungsgefährdete Regionen. In den letzten vier Dekaden wanderten Millionen von Menschen aus Bangladesch auch in die angrenzenden Gebiete Indiens aus, wodurch dort gewalttätige Unruhen gefördert wurden. Bei einem Anstieg des Meeresspiegels und einer Zunahme von Wirbelstürmen und Überschwemmungen als Folge der globalen Erwärmung würden große Teile Bangladeschs überschwemmt, was Millionen Menschen das Leben kosten kann und den Druck zur Auswanderung verstärkt.
  • Austrocknung des Aralsees: Die Versalzung und Austrocknung des Aralsees, der mehr als 75 Prozent seines Volumens eingebüßt hat, ist eine ökologische Katastrophe mit schwerwiegenden Folgen für Wirtschaft und Gesellschaft. Die Gesundheit von 50 Millionen Menschen verschlechterte sich, Folgeschäden wurden auf 37 Mrd. Rubel geschätzt. Afghanistan, Iran, Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan sind zusätzlich betroffen durch die Schädigung der Zuflüsse Amu-Darja und Syr-Darja. Wassermangel hat in der Region zu Auseinandersetzungen zwischen den ehemaligen Sowjetrepubliken geführt, aber auch zum regionalen Wassermanagement beigetragen.
  • Öl im Kaukasus: Die neuen Staaten im Kaukasus und in Zentralasien haben nach dem Zerfall der Sowjetunion große Erdöl- und Gasvorkommen übernommen, die mit Hilfe westlicher und östlicher Geldgeber rasch erschlossen werden sollen. In dieser Schlüsselregion zwischen Europa, Asien und Nahost kämpfen Staaten wie Russland, USA, Türkei, China, Indien, Pakistan, Iran und Irak um politischen und wirtschaftlichen Einfluss, der sich in einem Wettlauf um die besten Zugriffsmöglichkeiten auf Öl und Gas manifestiert. Konkrete Konflikte gibt es um die besten Transportwege (insbesondere Pipelinerouten), den rechtlichen Status des Kaspischen Meeres oder die Embargopolitik der USA gegenüber Iran.
  • Unruhen in Haiti: Einstmals reich bewaldet, hat Haiti heute fast seine gesamte Waldfläche (bis auf 2 Prozent) und einen großen Teil seines Mutterbodens eingebüßt. Die Getreideproduktion lag Anfang der neunziger Jahre um ein Drittel unter dem Wert von Mitte der siebziger Jahre, sodass die pro-Kopf zur Verfügung stehende Menge deutlich gesunken ist. Der Verlust von Wäldern und Boden in ländlichen Gebieten schaffte eine ökonomische Krise, die soziale Unruhen und internationale Migration (Exodus der »boat people«) hervorbrachte. Durch die Last einer irreversibel geschädigten Umwelt wird der gesellschaftliche Aufbauprozess stark behindert.
  • Der Landlosen-Konflikt in Chiapas/Mexiko: Der Aufstand der Zapatistischen Nationalen Befreiungsarmee (EZLN) in der Provinz Chiapas im Januar 1994 war ein Ergebnis der wachsenden Unzufriedenheit unter Landarbeitern, die neben anderen Gründen (etwa den voraussehbaren Folgen des mexikanischen NAFTA-Beitritts) auch durch die wachsende Knappheit von landwirtschaftlichen Nutzflächen bedingt war. Konfliktgegenstand war eine gerechtere Verteilung von Landrechten gegenüber den Eliten, die sich die Kontrolle über die besten Landflächen im Staat verschafft hatten.
  • Fischereikriege: Der Streit um Fangquoten im Atlantik hat gezeigt, dass durch die Verknappung biologischer Ressourcen auch zwischen Industrieländern gewaltsame Auseinandersetzungen möglich sind. So brachte im Frühjahr 1995 die kanadische Marine im Nordatlantik vor der Küste Neufundlands einen spanischen Fischtrawler auf, weil er wegen des Rückgangs von Fischbeständen gegen die Fangbestimmungen für den Grönland-Heilbutt verstieß. Eine weitere vehemente Auseinandersetzung wird zwischen den USA und Kanada um die Fangrechte an Lachs im Pazifik ausgetragen.

Dr. Jürgen Scheffran ist wissenschaftlicher Referent der interdisziplinären Arbeitsgruppe IANUS an der TU Darmstadt.

zum Anfang | Virtuelle Rüstungen
Die Waffensysteme des 21. Jahrhunderts oder die USA rüsten mit sich selbst

von Götz Neuneck

Das 21. Jahrhundert ist nicht mehr fern. Auch deshalb lohnt sich ein Blick in Stanislaw Lems Klassiker »Waffensysteme des 21. Jahrhunderts« aus dem Jahr 1983.7 Der Science-Fiction Autor wirft darin einen Blick auf die Entwicklungen eines rasant fortschreitenden Wettrüstens: Die Rede ist da von Anti-Antiraketen, Laserbomben, Mikroarmeen und folgender Technologiefalle: „Dass alle Kräfte in neue Umrüstungen investiert wurden, darüber entschieden nicht mehr Regierungen, Staatsmänner, der Wille der Generalstäbe, die Interessen der Monopole oder auch andere Interessengruppen, sondern (…) die Angst, dass auf die Erfindungen und Techniken, die die endgültige Überlegenheit verteilen, als erster jemand anderer stoßen wird.“8 Ein Blick in die sicherheitspolitischen Debatten dieser Tage, in strategische Dokumente und Rüstungspläne insbesondere der Führungsmacht bestätigt eben jenes Bild. Virtuelle Gegner und übersteigerte Bedrohungen bilden die Legitimation für enorme Rüstungsanstrengungen, bei denen die nächste Drehung der Rüstungsspirale schon vorweggenommen scheint: Da die angenommenen Gegner bald über dieselben Technologien wie die USA verfügen werden, muss jetzt der nächste Schub vorbereitet werden.

Nach Jahren des Übergangs nehmen die US-Strategiepläne für den Beginn des 21. Jahrhunderts Gestalt an. Im Mai 1997 hatte Verteidigungsminister Cohen den »Quadrennial Defense Review« QDR dem U.S.-Kongress überstellt, die Grundlage für die amerikanische Militärstrategie bis zum Jahre 2015 und die Rechtfertigung für die künftigen Militärausgaben. Der QDR ist der Rahmen für die nationale Militärstrategie und bildet die Planungsgrundlage für die regionale Militärpolitik und die globalen Strategieziele. Schlüsselbegriffe sind »robuste regionale Präsenz« der US-Streitkräfte, militärische Überlegenheit und eine Nutzung der technologischen Vorsprünge, die jeden potentiellen Rivalen oder regionalen Hegemon entmutigen sollen. Als Handlungsgrundlage werden drei Elemente hervorgehoben: »Shape-Prepare-Respond«.

Bei seiner letzten Budgetvorstellung führte Cohen aus: Die neue Militärstrategie der USA solle „das internationale, sicherheitspolitische Umfeld in günstiger Weise für die amerikanischen Interessen gestalten, willens und fähig sein, auf das volle Spektrum von Krisen zu antworten und jetzt für eine ungewisse Zukunft vorbereitet sein“.9 Der QDR warnt vor neuen gleichrangigen Rivalen auf der Weltbühne und der Verbreitung von neuen revolutionären Waffen und Militärstrategien, an denen die USA allerdings selbst arbeiten oder deren Einführung bereits von den USA angekündigt wird.

Nach den Aussagen vieler Militärexperten werden die Entwicklungen in zentralen Hochtechnologiebereichen – insbesondere bei den Informations- und Kommunikationstechnologien, den Sensortechnologien, der Datenverarbeitung und bei neuen Waffenprinzipien – zu einer »Revolution im Militärbereich« (RMA, Revolution in Military Affairs) führen. Zur Zeit werden vom Pentagon organisatorische, technologische und operative Maßnahmen geprüft und umgesetzt.

Das US-Militär soll auch in Zukunft in der Lage sein, zwei regionale Kriege gleichzeitig und unabhängig voneinander führen zu können. Nicht Abschreckung eines gleichwertigen Gegners, sondern globale militärische Überlegenheit ist offenbar das Ziel. Umgesetzt werden sollen technologisch insbesondere die Vorgaben der Studie »Joint Vision 2010«. Die Joint Chiefs of Staff veröffentlichten 1996 ein Konzept, das angibt, wie die US-Streitkräfte unter den technologischen und politischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu kämpfen haben.10 Die Kriegführung des Jahres 2010 stützt sich auf die verbesserten Kommando- und Führungsmöglichkeiten des Informationszeitalters. Die Gegner der Zukunft sollen auf allen Ebenen des militärischen Spektrums „dominiert werden“: „Die Dominanz des Spektrums wird das Schlüsselelement sein, das wir für unsere Streitkräfte im 21. Jahrhundert suchen.“11 Weiter wird als Ziel formuliert: „Wir müssen Informationsüberlegenheit haben: die Fähigkeit einen ununterbrochenen Strom von Daten zu sammeln, zu verarbeiten und zu verteilen, während wir die Fähigkeit des Gegners, dies zu tun, ausnutzen oder unterbinden.“ Die Basis dafür bilden:

  • Ein verbessertes C2-Netz, das die Informationsdominanz gewährleistet.
  • Dominante »Manöverfähigkeit« für weit verteilte Verbundkräfte zu Lande, zu Wasser, in der Luft und im Weltraum.
  • Präzisionseinsätze mittels eines »Systems der Systeme«, das eine dynamische Zielerfassung, den Einsatz zielgenauer Waffen und die Schadensbewertung ermöglicht.
  • Die volle Kontrolle und der Schutz des Gefechtsfeldes inkl. einer wirksamen Luft- und Raketenabwehr.
  • Das Zusammenführen der Informations-, Logistik- und Transporttechnologien, um eine schnelle Krisenreaktion zu gewährleisten.

Anfang des Jahres erklärte Präsident Clinton, dass ab dem Haushaltsjahr 2000 die Militärausgaben wieder steigen werden: „Wir wollen, dass unsere Streitkräfte bis ins nächste Jahrhundert die bestausgerüsteten der Welt bleiben.“ Ab dem nächsten Jahr sollen zusätzlich 100 Mrd. $ für die Modernisierung der US-Streitkräfte aufgewendet werden. Erstmals seit der Hochrüstungsphase in den 80er Jahren steigen die Ausgaben damit wieder drastisch an.12 Gründe für diese Trendwende sind der innenpolitische Druck, der Wille zum Erhalt der Einsatzbereitschaft global agierender Interventionsstreitkräfte, die Integration von Hochtechnologien in den Militärapparat (»Revolution in Military Affairs«) und die ehrgeizigen Strategieziele der USA für das 21. Jahrhundert.

Als Beispiel des künftigen amerikanischen Verhaltens könnten die Militärschläge der USA im Mittleren Osten dienen: Nach 1991, 1993 und 1996 flogen die USA Luftangriffe gegen Ziele im Irak. Mitte Dezember 1998 wurden bei der Operation »Wüstenfuchs« in vier Nächten über 400 Tomahawks auf ca. 100 Ziele abfeuert. Zweck war laut Clinton „die nuklearen, chemischen und biologischen Waffenprogramme des Irak und seine militärische Fähigkeit zur Bedrohung seiner Nachbarn anzugreifen.“ Die Angriffe, die mit dem Counterproliferationskonzept der Clinton-Administration durchgeführt wurden, erfolgten ohne UN-Mandat und in einer Situation, in der die UNSCOM-Inspektion nicht mehr entscheidend weiterkam. Ca. 1 Mrd. $ wurden aufgewendet, 600 bis 1.600 Menschen getötet, ohne dass ein nennenswerter politischer Effekt zu verzeichnen wäre. Im Gegenteil: Diese einseitige Aktion nährt die weltweite Befürchtung, dass die USA in Zukunft unilateral auf der Grundlage ihrer militärischen und technologischen Überlegenheit agieren könnten.

Die Strategie globaler militärischer Überlegenheit führt nach Auffassung einiger Beobachter dazu, dass Gegner, die militärisch nicht mehr mit den USA konkurrieren können, sich auf andere Kampfformen verlegen. So rechnet man damit, dass Terroristen B- und C-Waffen einsetzen werden. In den nächsten Jahren sollen ca. 10 Mrd. $ zur Bekämpfung des Terrorismus ausgegeben werden. Das Programm umfasst organisatorische und technologische Maßnahmen sowie den Schutz von Computer- und Informationsnetzwerken.7

Eine wesentliche Triebkraft der US-Projekte ist die Befürchtung, dass Länder, die sich ebenfalls auf Dual-use-Technologien stützen, die USA gefährden könnten. Ziel bleibt die technologische Führerschaft der USA auf wichtigen Gebieten. Neben der Forcierung der Dual-use-Technologien werden fünf Schlüsselfelder der künftigen Kriegführung identifiziert, die Ziel und Motor militärischer und technologischer Anstrengungen sind:

  1. Eine nahezu perfekte Echtzeitkenntnis über den Gegner und deren Weitergabe an alle Teilstreitkräfte.
  2. Der unverzügliche, global abgestimmte Einsatz regionaler Streitkräfte in entscheidenden Kampfhandlungen.
  3. Der Erwerb einer Vielfalt militärischer Fähigkeiten, die für Aktionen am unteren Ende des Spektrums militärischer Operationen taugen und es erlauben, militärische Ziele mit einem Minimum von Verlusten und beiderseitigen Schäden zu erreichen.
  4. Die Kontrolle über die Weltraumnutzung.

5. Maßnahmen gegen die Bedrohung außerhalb der USA stationierter Truppen durch Massenvernichtungswaffen, ballistische Raketen und Marschflugkörper.

Counterproliferation

Vom Pentagon wird zur Begründung der Counterproliferations-Initiative CPI auf das gestiegene Risiko hingewiesen und darauf, dass es US-Truppen in künftigen Konflikten mit Gegnern zu tun haben könnten, die über Massenvernichtungswaffen (MVW) und Trägersysteme verfügen. Die CP-Initiative stellt eine militärische Ergänzung der bisherigen Nichtverbreitungspolitik dar. Die CPI ergänzt Maßnahmen der Prävention durch offensive und defensive »Schutzmaßnahmen«, die in der Verantwortung des Pentagon liegen.

Seit 1993 wurde eine Reihe von Maßnahmen zur institutionellen Absicherung der CPI eingeleitet. Diverse Studien (u.a. von den JCS) wurden angefertigt. Die Verdreifachung des Personals des Non-Proliferation Center (NPC) der US-Geheimdienste wurde beschlossen, um mit Mitteln der militärischen Aufklärung nicht nur Daten über die Proliferation von MVW bereitzustellen, sondern auch die Vorbereitungen militärischer Gegenmaßnahmen zu unterstützen. Ein Komitee identifizierte acht funktionelle Gebiete für die Counter-Proliferation: Nachrichtendienstliche Ermittlungen, Gefechtsfeldaufklärung, passive Verteidigung, aktive Verteidigung, Counterforce-Fähigkeiten, Unterstützung von Inspektionen, Unterstützung der Exportkontrolle und Counter-Terrorismus. Das Komitee schlug Technologieprogramme vor, die für die amerikanischen Nichtverbreitungsbemühungen genutzt werden sollen. Fast 90% der F&E-Gelder fließen dabei in den Bereich der Raketenabwehr.

Die Abwehr
von ballistischen Raketen

Präsident Clinton kündigte Anfang Januar nicht nur eine drastische Erhöhung des US-Rüstungsetats an. Die USA wollen auch etwa 7 Mrd. Dollar (über 11,6 Mrd. DM) zusätzlich zu der mobilen Raketenabwehr (Theater Missile Defense, TMD) in die Entwicklung eines landesweiten Raketenabwehrsystems (National Missile Defense, NMD) im Rahmen des »3Programms« verteilt auf die nächsten 6 Jahre investieren. Bis 2005 sollen damit insgesamt 10,5 Mrd. Dollar für den SDI-Nachfolger NMD ausgegeben werden. Zweck dieses Systems ist die Abwehr von begrenzten oder unautorisierten Angriffen von Raketen aus den Kernwaffenstaaten sowie die Kompensation der angeblich steigenden Bedrohung aus den »Schurkenstaaten«. Eine Stationierungsentscheidung soll im Juni 2000 getroffen werden.

Seit Ronald Reagans SDI-Initiative haben die USA ca. 55 Mrd. Dollar für diverse Raketenabwehrprojekte ausgegeben, bisher ohne sichtbaren Erfolg. 3-4 Mrd. Dollar werden pro Jahr für diese Projekte veranschlagt, ein Drittel für NMD und zwei Drittel für TMD. Bis zum Jahr 2005 sollen die Jahresausgaben für NMD verdreifacht werden. Wenn die in der Entwicklung befindlichen Systeme gebaut werden sollten, dürften die Kosten weiter ansteigen. Für NMD und TMD dürften die USA in den nächsten fünf Jahren an die 30 Mrd. Dollar ausgeben.

Die Clinton-Administration hatte seit 1996 zunächst die Entwicklung der Abwehr von Kurz- und Mittelstreckenraketen, TMD, vehement gefördert als ihre Vorgänger unter Reagan und Bush, die die Verteidigung des Kontinents ins Zentrum ihrer Politik stellten. Die heutigen Entwicklungsprogramme für diese mobile »Theater Missile Defense« umfassen sowohl die Verbesserung von vorhandenen Systemen als auch die Neuentwicklung von Flächenverteidigungssystemen der Armee und der Navy. Fünf Systeme befinden sich bereits in der Entwicklung. Neben der Verbesserung von radargelenkten Abwehrsystemen, die in niederer Höhe agieren und aus der Luftverteidigung (PATRIOT, MEADS) stammen, befindet sich auch eine Flächenverteidigung in der Entwicklung. Die Systeme THAAD der Army und »Upper Tier« der Navy sollen Raketen in der Mittelphase ihres Fluges durch direkte Treffer abfangen, was ein höchst kompliziertes Unterfangen ist. Mit finanzieller und technischer Unterstützung der USA arbeitet Israel seit 1988 an der ARROW.

Die Clinton-Administration hat bezüglich NMD erklärt, dass die Abfangraketen auf US-Territorium auf 100 Exemplare beschränkt werden, so wie dies der ABM-Vertrag u.a. vorschreibt. Diese Systeme werden eingebunden in ein »Space and Missile Tracking System« SMTS, das aus vorhandenen und noch zu stationierenden Frühwarnsatelliten besteht. Seit 1970 melden die DSP-Satelliten Raketenstarts aus einer geostationären Umlaufbahn. Im Rahmen des neuen »Space-Based Infrared System« SBIRS sollen bis zu 30 Satelliten diese Aufgaben übernehmen. Vier SBIRS-High-Satelliten sollen DSP ersetzen. Ca. 16-24 SBIRS-Low-Satelliten sollen die Verfolgung aus niedrigeren Umlaufbahnen übernehmen. Bodenradars vervollständigen das Warn- und Verfolgungssystem. Die diversen geplanten Systeme sind kombinierbar, sodass durch ihr Zusammenschalten eine umfangreiche globale Abwehrkapazität aufgebaut werden kann. Mit der Errichtung eines funktionierenden NMD-Systems sind die Tage des ABM-Vertrages gezählt. Möglicherweise erfolgt noch eine Nachbesserung, die die Sicherheitsbelange Russlands mit einbezieht; die Weichen für das Ende der klassischen Abschreckung sind jedoch gestellt, wenn massive Abwehrkapazitäten eingeführt werden

Kriegführung
aus dem Weltraum

Regionale und insbesondere globale militärische Operationen können nur im Zusammenhang mit weltraumgestützten Aufklärungs- und Frühwarnsystemen durchgeführt werden. In der »National Security Strategy« von 1997 wird US-Präsident Clinton zitiert: „Wir sind verpflichtet, unsere Führerschaft im Weltraum zu erhalten. Ungestörter Zugang zum und Nutzung des Weltraums ist wesentlich, um Frieden zu erhalten und die nationale Sicherheit der USA ebenso zu schützen wie die zivilen und kommerziellen Interessen.“14 Die Möglichkeiten, moderne Satelliten zur Unterstützung militärischer Operationen einzusetzen, sind von den USA vor allem während des 2. Golfkriegs 1991 demonstriert worden. Er gilt als der erste »Weltraumkrieg«. Die Weiterentwicklung der US-Weltraumsysteme wird seitdem weiter energisch vorangetrieben. Fortschritte bei dem Navigationssystem GPS, der Satellitenkommunikation, den Aufklärungssatelliten und den Anti-Satellitenwaffen sind nötig, wenn die Super- und Weltraummacht das Ziel ihrer »Full-Spectrum«-Dominanz im nächsten Jahrhundert erreichen möchte.15

Kriegführung in Städten
(Urban Warfare)

Nach Militärmeinung werden militärische Bodenoperationen in urbanen Siedlungen und Städten in Zukunft wahrscheinlicher werden: „Das neue Terrain der Megastädte, das ungewohnt für moderne Streitkräfte ist, ist nicht das offene Gelände, auf dem die konventionelle Überlegenheit begründet ist.“16 Das Pentagon hat die Industrie aufgefordert, für »Urban Warfare« geeignete High Tech-Ausrüstung zu entwickeln, u.a. Anti-Scharfschützensysteme, Freund/Feind-Erkennung, Sensoren um Gegner in geschlossenen Räumen und hinter Mauern zu erkennen, Roboter, die in unübersichtliches Gelände und in Häuser vordringen können, nichttödliche Granaten etc.

Kriegführung in küstennahen Bereichen (Littoral Warfare)

Unter »Littoral Warfare« wird die Seekriegsführung in Küstenregionen verstanden: „Die globale Bedrohung hat sich mit dem Ende des Kalten Krieges auf regionale Konflikte und Krisenherde verschoben, die sich überwiegend an den Küsten der Weltmeere abspielen und auf die von See aus eingewirkt werden kann.“17 In Küstennähe finden sich wichtige Wirtschaftszonen, Erdöl- und Erdgasinfrastruktur und Verkehrsadern. Die US-Marine richtet sich darauf technologisch und militärisch eigenständig ein, indem sie dort Präzisionswaffen, Aufklärung, Luftabwehr und den koordinierten Streitkräfteeinsatz vorantreibt. Sie setzt das Konzept der »information superiority« um, in dem alle Sensoren, Führungssysteme und Waffensysteme aller Teilstreitkräfte in einem steuerbaren Einsatzverbund (Network-Centric-Warfare) zusammengefasst werden. Der Verband verfügt über drei Netz-Systeme:18 Das »Informationsnetz« sammelt, verarbeitet und verteilt die Daten, die die Sensoren des »Sensor-Netzes« (land-, luft-, see- und weltraumgestützte Plattformen) aufnehmen. Das »Engagement-Netz« soll zum synchronisierten und präzisen Waffeneinsatz befähigen.

Information Warfare

In vielen militärischen Bereichen werden in den Industrienationen große Fortschritte erwartet; die eigentliche Revolution dürfte aber durch die Integration der einzelnen Systemkomponenten (»systems of systems«) den USA vorbehalten bleiben. Dort wird das angestrebte globale Führungssystem bereits mit C4ISR (Command, Control, Communication, Computers, Intelligence, Surveillance and Reconnaissance) bezeichnet. Nach Aussagen vieler Studien wird die Nutzung dieser Kapazitäten zu einer neuen Art der Kriegführung (»Information Warfare«) und einer Veränderung des Kriegsbildes führen. Computer, Datenverarbeitung und Expertensysteme sind auf dem »Schlachtfeld der Zukunft« überall vorhanden, um die horrenden Mengen von Nachrichten in Form von Daten, Bildern etc. von verschiedensten Sensoren (Satelliten, Flugzeuge, unbemannte Flugkörper) auszuwerten und weiterzuleiten. Von einem Luftwaffenlabor wird beispielsweise ein »Virtual Reality Command and Control (C2) System« entwickelt, das in Minuten eine konkrete Bedrohung analysiert und die Truppen und Flugzeuge für einen Gegenschlag zusammenstellt. Das Zusammenführen und Koppeln solcher Teilsysteme schafft ein globales Aufklärungs- und Reaktionssystem (»System of Systems«), bei dem jedes beliebige Ziel global umgehend aufgeklärt und bekämpft werden soll. Eigene Verluste sollen dabei ebenso minimiert werden wie der Personal- und Materialeinsatz. Dieses Konzept führt weg von teuren, ständig bereitgehaltenen Massenheeren und hin zu einer schlagkräftigen und überlegenen High-Tech-Armee, die sich moderner Informationstechnologien ebenso bedient wie des Weltraums. Die Konsequenzen der Einführung vieler dieser Hochtechnologien für Führung, Streitkräftestrukturen, zivile Infrastrukturen und nicht zuletzt für die internationale Rüstungskontrolle sind jedoch unklar.

Beim »Digital Battlefield Concept« der US-Armee geht es darum, computergestützt eine unmittelbare Verbindung von Aufklärung und kämpfenden Einheiten herzustellen, um so den Einsatzbereich und die Wirkung konventioneller Waffen zu erhöhen. Ein Kommandeur auf dem »Schlachtfeld der Zukunft« soll vollständige Kenntnisse über sämtliche Abläufe in einem Umkreis von 100 km erhalten. Soldaten sollen in das digitalisierte Netzwerk einbezogen werden (»Soldier Systems«). Ein US-Großverband (Force XXI) ist bereits mit Technologien dieser Art ausgerüstet und hält Übungen in der Mojave-Wüste ab.

»Information Warfare« umfasst mindestens sieben Varianten. Elemente des »Command and Control (C2)-Warfare« wurden während des Golfkrieges 1991 angewandt, als es den USA gelang, das C2-Netz der irakischen Armee auszuschalten. Unter »Information-Based Warfare« wird der Bereich der Spionage und Aufklärung ebenso verstanden wie die digitale Vermessung des Terrains eines Gegners durch Satelliten. Der elektronische Kampf (»Electronic Warfare«) ist den direkten Kriegshandlungen zuzurechnen: Sender werden gestört, Sendeanlagen bombardiert. Die »psychologische Kriegführung« versucht die Moral der Bevölkerung zu schwächen. In den Zeiten des Fernsehens und des Internets liegt es nahe, dass diese publikumswirksamen Medien in Zukunft stärker zu Zwecken der psychologischen Einwirkung benutzt werden.19 Über das Eindringen in Computernetze durch Hacker und das Einschleusen von Viren oder »trojanischen Pferden« wird immer wieder berichtet. Geheimdienste machen sich diese Fähigkeiten in gleicher Weise zu nutze –sei es, dass sie sich des Wissens der Hacker bedienen, sei es, dass sie eigene Hacking-Aktionen starten. Die futuristische Variante wird als »Netwar« bzw. »Cyberwar« bezeichnet. Während der Netwar gegen die IT-Strukturen der Zivilgesellschaft (z.B. auch NGOs) gerichtet ist, bezieht sich der Cyberwar auf die IT-Aktivitäten des Gegners. Es wird nicht ausgeschlossen, dass ein Netwar die Wirkung eines Nuklearkrieges erzielen könnte. In diesem Zusammenhang hat die Diskussion um die Frage, wie die Informations-Kriegführung der Zukunft aussehen könnte, weitreichende Bedeutung für Gesellschaften, deren Funktionieren auf der Basis von Informationsinfrastrukturen fußt.

Die Befürchtung, dass neben Hackern, Kriminellen und Geheimdiensten auch Terroristen aktiv werden könnten, zeigt sich in der zunehmenden Aufmerksamkeit, die in den USA dem Thema »cyberterrorism« gewidmet wird. Die USA verfügen allerdings selbst über die Mittel und das Wissen, um in fremde Netze einzudringen: So gelang es amerikanischen Agenten in das interne Computernetz der EU einzudringen und ökonomische und politische Geheimdaten zu kopieren. Im August 1994 wurde der französische Premierminister Balladur Opfer eines Lauschangriffes des US-Lauschsystems Echelon.20 Dem deutschen Windenergieanlagenproduzent Enecon wurden durch eine Abhöraktion der USA die Daten eines Alternativstromverfahrens entwendet.21 Zweck des Abhörsystems der National Security Agency sind nicht nur Informationen im Bereich Terrorismus, Rauschgift und Proliferation, sondern auch zunehmend Wirtschaftsdaten.

Technologien
des 21. Jahrhunderts

Der Beginn des 21. Jahrhunderts ist wenige hundert Tage entfernt, sodass es fast müßig ist, über die Waffensysteme des nächsten Millenniums zu spekulieren: Sie sind in der Planung. Hält der technologische Fortschritt weiter an, so werden aber auch in den nächsten 20 bis 50 Jahren weitere rüstungsrelevante Technologien entstehen und für militärische Zwecke verwendet.

Nukleare, biologische
und chemische Waffen

Die Potentiale in klassischen Bereichen wie Nuklear- und Hochenergiephysik sind nicht ausgeschöpft. Der Kernteststoppvertrag verbietet zwar die Durchführung von Nukleartestexplosionen, eine Reihe von Experimenten in denen Mikroexplosionen und subkritische Reaktionen eine Rolle spielen sind jedoch erlaubt. Thermonukleare Tests im Laborformat im Rahmen der Trägheitseinschussfusion (ICF) sind in zwölf Ländern geplant. Die leistungsstärksten Anlagen entstehen in den USA (NIF) und in Frankreich (LMJ). Nach Angaben von Kritikern, die diese Anlagen als Substitute für unterirdische Nukleartests ansehen, könnten diese Entwicklungen zu verbesserten, wenn nicht sogar völlig neuen Nuklearwaffen führen.22 Nuklearwaffen der 4. Generation wie miniaturisierte Kernsprengsätze zwischen einer und tausend Tonnen Sprengkraft sind prinzipiell möglich. Sie könnten in Zukunft den Nimbus einer Massenvernichtungswaffe verlieren. Die Einführung von Miniaturbomben auf dem Gefechtsfeld könnte die Kriegführung revolutionieren weil die Feuerkraft konventioneller Waffen verhundertfacht werden würde.

Gerade im Bereich biologischer Forschung werden in den nächsten Jahren sicherheitsrelevante Durchbrüche erwartet. Das Gebiet der Gentechnologie wird nach Expertenmeinung Entwicklungen hervorbringen, die die horizontale und vertikale Weiterverbreitung von neuen B-Waffen vorantreiben. Pathogene und Toxine könnten durch gentechnische Verfahren leichter zu entwickeln oder einzusetzen sein als die bekannten Agenzien.23 Biotechnologische Forschung kann Wirkungsweisen und Funktionen des menschlichen Körpers auf dem Molekularmaßstab soweit identifizieren, dass Angriffsstellen durch spezifische Agenzien offenbart werden. Die Sunday Times vom 15. November 1998 meldete, dass israelische Wissenschaftler eine »ethnische Waffe« entwickelt hätten. Den Wissenschaftlern soll es gelungen sein, Differenzen zwischen den Genen beider Gruppen zu identifizieren und ein genetisch entsprechend modifiziertes Bakterium oder Virus anzusetzen. Eine ethnisch-selektiv wirkende Waffe würde nicht nur eine neue Herausforderung für das B-Waffenübereinkommen bilden, sondern ganz neue Szenarien von der Zerstörung bestimmter Pflanzensorten oder Tiere bis hin zur Vernichtung einzelner Volksgruppen zulassen.

Chemische Agenzien, die Menschen beruhigen oder ruhigstellen sollen, fallen in den Bereich des C-Waffenübereinkommens. Viele der Chemikalien, die sich in Entwicklung befinden, haben einen schwer einzuschätzenden Einfluss auf das menschliche Gehirn und das Nervensystem. Bei den »Weniger tödlichen Waffen« werden Sprays oder Flüssigkeiten untersucht, die Menschen festkleben lassen oder Materialien korrodieren. Auch wenn diese Substanzen zu allererst gegen Materialien eingesetzt werden sollen, sind doch direkte und indirekte Effekte auf den Menschen nicht auszuschließen. In einer Studie über »non-lethal airpower« vertritt ein Psychopharmaka-Experte die Ansicht, dass sich die Drogenforschung auf die Schwelle zu einem neuen Durchbruch zubewegt.

Konventionelle Waffenprinzipien: Laser-Mikrowellen Elektromagnetische Kanonen

Die Nutzung des elektromagnetischen Spektrums für militärische Zwecke zu Nachrichten- und Überwachungszwecken ist nicht neu.24 Die Verwendung gerichteter Energie für Zerstörungszwecke hat jedoch durch das SDI-Programm einen Aufschwung erfahren. In erster Linie werden Laser zur Unterstützung und Erhöhung der Wirkung von konventionellen Waffen auf dem Gefechtsfeld verwandt. Im Rahmen amerikanischer Strategiepläne ist – neben der Anwendung auf dem sog. konventionellen Gefechtsfeld – der Einsatz von Lasern in folgenden Bereichen geplant: nichttödliche Waffen, Counterproliferation, Raketenabwehr, Anti-Satellitenkriegführung. Experimente und Prototypen für Hochenergielaser (HEL) gibt es seit den 70er Jahren. MIRACL ist ein DF-Laser mit einer Leistung von 2,2 MW. Insbesondere die Navy hatte großes Interesse an der Nutzung von Lasern zur Verteidigung von Schiffen gegen anfliegende Anti-Schiffsraketen. Im Rahmen des »Boost Phase Intercept«-Programms betreibt die U.S. Air Force Studien und Experimente zur Abwehr von taktischen Raketen, die von einem luftgestützten Laser (Airborne Laser, ABL) in der Startphase bekämpft werden sollen. In Frankreich und Deutschland werden Experimente und Konzeptionsstudien durchgeführt. Hochenergielaser werden zwar nicht direkt zum Blenden von Menschen gebaut und fallen damit nicht unter das Laserwaffenprotokoll, sie besitzen jedoch die Fähigkeit dazu in besonderer Weise. In einer akuten Kampfsituation kann nicht ausgeschlossen werden, dass Antisensorlaser auch gegen Menschen eingesetzt werden.

Mikrowellen sind elektromagnetische Strahlen zwischen 0,3-300 GHz. Sie können die Atmosphäre durchdringen und sind damit auch bei schlechter Sicht wirksam. Mikrowellenwaffen werden u.a. entwickelt um elektronische Bauelemente außer Gefecht zu setzen. Mikrowellen können auch durch Blitzentladungen oder Nuklearexplosionen in großen Höhen (NEMP) entstehen. NEMP-Effekte werden heute auch mit konventionellen Mitteln (High Power Microwave, HPM) erzeugt. Eine HPM-Waffe besteht aus einer Energiequelle, einem HPM-Generator und einer Antenne, die die Strahlung gerichtet abgibt. Eine nicht-nukleare EMP-Granate wurde entwickelt. Bei dem »Flux Compression Generator« (FCG)-Design wird durch eine Explosion ein EMP erzeugt, der einem Gewitter-Blitz ähnelt und elektronische Ausrüstung außer Gefecht setzen soll. Es werden verschiedene militärische Anwendungen von Mikrowellen in Betracht gezogen: gegen Menschen (als »nicht-tödliche«-Waffe), gegen Artillerie, zum Selbstschutz von Flugzeugen und Schiffen gegen Flugkörper, gegen C2-Zentralen und anfliegende Raketen.

Elektromagnetische Kanonen (EMK) sind Vorrichtungen, in denen Projektile elektromagnetisch beschleunigt werden. Ihr Vorteil besteht nach Meinung der Militärs in der höheren Mündungsgeschwindigkeit, die bei herkömmlichen Rohrwaffen aufgrund der begrenzten Ausbreitungsgeschwindigkeit der Treibgase beschränkt ist. Die USA unternehmen die größten Anstrengungen bei F&E von EMKs, aber auch in Russland, Europa, Japan und Israel werden EMKs entwickelt und erprobt.

An weiteren, inhumanen neuen Waffen wird geforscht, so z.B. Waffen mit kleinem Kaliber, nichtexplodierte Submunition, Seeminen und diverse nichttödliche Waffen (z.B. Infrasound). Ein großes Problem wird in der Verwendung von Submunition gesehen, die von mehreren Ländern hergestellt und exportiert wird. Submunition in Form von Bomblets wird durch Flugzeuge, Helikopter oder Raketen ausgebracht. In den Bomblets kann ein breites Spektrum von Munition (Explosivstoffe, Brandstoffe, Schrapnellmunition oder Hohlladungen) untergebracht werden. Clustermunition wird heute in Massenproduktion hergestellt. Diese Munition hat die Wirkung von Flächenzerstörungswaffen. Ein weiteres Problem besteht darin, dass ein Teil der Munition nicht wie gewünscht funktioniert, sondern zunächst liegenbleibt bis sie z.B. bei Berührung detoniert. Die Munition kann wie eine scharfe Mine tage- oder wochenlang aktiv bleiben. Sie stellt eine ständige Gefahr für die Zivilbevölkerung dar. Es gilt als sicher, dass die russische Armee Clustermunition im Kampf um Tschetschenien eingesetzt hat. »Fuel Air Explosives« sind Flächenwaffen, bei denen ein Brennstoff-Luftgemisch zur Explosion gebracht wird. Diese Druckwellenwaffen wurden im Vietnam-Krieg, in Afghanistan und im 2. Golfkrieg eingesetzt. Sie sind besonders grausam und wirken auf Flächen, die auch von Nuklearwaffen mit geringer Sprengkraft abgedeckt werden.

Mikroelektromechanische Systeme und Miniflügler

Die fortschreitende Miniaturisierung von Waffen könnte durch Forschungen auf dem Gebiet der Mikrotechnik und der Nanotechnologie erneuten Auftrieb erhalten. Während die Mikroelektronik immer leistungsfähigere elektronische Bausteine herstellt, beschäftigt sich die Mikrotechnik mit Miniaturisierung und Integration von mechanischen, optischen und elektronischen Elementen. Die Technologie der mikroelektromechanischen Systeme (MEMS) soll am Anfang des neuen Jahrhunderts einen Markt mit einem Volumen von 15 Mrd. US-Dollar erschließen.25 Dabei entstehen Kleinstelemente wie Mikromotoren oder Mikrosensoren bzw. -aktoren, die z.B. dazu verwandt werden, kleinste Flugmodelle oder Mini-U-Boote zu entwickeln. Die kalifornische Firma Aerovironment hat das erste »Micro Air Vehicle« (MAV) gebaut.26 Die Forschungen werden von der DARPA finanziert. Die MAVs sollen als nicht wiederverwendbare Aufklärungs- und Sensordrohnen auf dem Gefechtsfeld der Zukunft zum Einsatz kommen. Es ist vorstellbar, dass diese Flugkörper auch mit Sprengstoff beladen werden können. Als Einsatzgebiete werden Aufklärung in unübersichtlichem Gelände, in Städten, bei Reaktorunfällen und Terrorismusbekämpfung genannt. Der »Entomopter« ist eine Art Robotermücke mit künstlichen Flügeln. In Japan sind Wissenschaftler damit beschäftigt, elektronisch kontrollierte Insekten zu entwickeln. Mit einer Kamera ausgestattet sollen sie angeblich bei der Suche nach Erdbebenopfern helfen.

Während die Mikrotechnologie sich noch in voller Entfaltung befindet, kündigt sich im Bereich der Grundlagenforschung bereits das neue Gebiet der Nanotechnologie an.

Darunter versteht man das Studium und die Kontrolle von Objekten im Nanobereich, also auf der Ebene von Atomen und Molekülen. Erste Ideen dazu stammen von dem Physiker Richard Feyman aus dem Jahre 1959. Ein Aspekt der neuen Nanowelt wäre es, Molekülcluster zu bauen, die selbständig Moleküle aus ihrer Umgebung aufnehmen und sich selbst fortpflanzen. Die Nano-Systeme könnten sich wie Lebewesen organisieren und z.B. zur Zerstörung von Krankheitserregern oder zur Beseitigung von Schadstoffen in der Umwelt, aber auch für neue tödliche Substanzen benutzt werden.

Nanotechnologie hat längst das Interesse des Pentagon geweckt. So wird der ehemalige Vice-Chairman der JCS, David E. Jeremiah, mit den Worten zitiert: „Die militärischen Anwendungen der molekularen Produktion haben noch stärker als die Kernwaffen das Potential, das Kräftegleichgewicht grundlegend zu verändern.“27 Das notorische Streben nach der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für die Kriegführung wird auch im nächsten Jahrhundert anhalten.

Lems Buch schließt mit dem Satz: „Nebenbei bemerkt wurde die Unmöglichkeit, zu Abrüstungsabkommen zu gelangen, damals mathematisch nachgewiesen. Ich sah eine mathematische Formel der sogenannten Konflikttheorie, die zeigte, warum die Verhandlungen keine guten Resultate erbringen konnten. Auf Abrüstungskonferenzen fallen bestimmte Entscheidungen. Wenn die Zeit für eine dem Frieden dienende Entscheidung länger ist als die Entscheidungszeit für solche militärischen Innovationen, die den diesen Entscheidungen unterliegenden Stand radikal verändern, wird jede Entscheidung im Augenblick, da sie getroffen wird – zum Anachronismus.“
Hoffen wir, dass Lems düstere Vision im 21. Jahrhundert Science Fiction bleibt.

Dr. Götz Neuneck ist Physiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg

zum Anfang | Menschenrechte und Friedensprozesse

von Gert Sommer

Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, verabschiedet von der Vollversammlung der Vereinten Nationen am 12.12.1948, ist ein bedeutsames Dokument der Menschheitsgeschichte: Darin hat sich eine große Anzahl der damals in den Vereinten Nationen vertretenen Länder auf einen erstaunlich umfassenden Katalog von unveräußerlichen Menschenrechten geeinigt.

Was sind Menschenrechte?

Zu den Menschenrechten gehört nicht nur das grundlegende Recht auf Leben, sondern auch weitere bürgerliche und politische Rechte wie z.B. Verbot von grausamer Behandlung und Folter, Asylrecht, Meinungs- und Informationsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Dazu gehören zudem die wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte wie z.B. Recht auf Arbeit, Schutz gegen Arbeitslosigkeit, Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung (u.a. Nahrung, Wohnung), Recht auf Bildung.

Die Vereinten Nationen haben 1989 zusätzlich eine Konvention über die Rechte des Kindes verabschiedet. Darin werden – als Ergänzung und Präzisierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – anspruchsvolle Ziele für Lebensbedingungen von Minderjährigen gesetzt, u.a. Recht auf Leben, auf gesunde körperliche und geistige Entwicklung, auf Bildung, ausreichende Ernährung, menschenwürdige Wohnverhältnisse und medizinische Versorgung sowie Recht auf Schutz vor Diskriminierung, Misshandlung, Vernachlässigung und Ausbeutung (Grant, 1991). In der Konvention wird auch die große Bedeutung der Massenmedien angesprochen. Danach soll sichergestellt werden, dass das Kind insbesondere Zugang zu solchen Informationen und Materialien hat, die die Förderung seines sozialen, seelischen und sittlichen Wohlergehens sowie seiner körperlichen und geistigen Gesundheit zum Ziel haben. Ergänzend sollen geeignete Richtlinien erarbeitet werden zum Schutz des Kindes vor Informationen und Materialien, die sein Wohlergehen beeinträchtigen.

Mit der Konvention des Kindes werden international zum ersten Mal – für die Ratifizierungsstaaten verbindlich – politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechtsansprüche für Kinder ausformuliert. Dies ist von großer Bedeutung, weil Kinder besonders schutzbedürftig sind, ihre eigenen Interessen bisher im politischen und gesellschaftlichen Alltag aber kaum durchsetzen konnten.

Die Menschenrechte müssen – da sie eine soziale Konstruktion und somit zeitabhängig sind – gemäß dem Bewusstsein und der Bedürfnisse der Menschheit weiterentwickelt werden. Dementsprechend wird seit einigen Jahren in den Vereinten Nationen über eine sogenannte dritte Generation der Menschenrechte diskutiert. Darin geht es insbesondere um das Recht auf Frieden, das Recht auf Entwicklung und das Recht auf eine gesunde Umwelt. Zum Recht auf Entwicklung etwa hat die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1986 eine Resolution angenommen, die folgende zentralen Aussagen enthält (vgl. Tetzlaff, 1993):

  1. Das Recht auf Entwicklung ist ein unveräußerliches Menschenrecht kraft dessen alle Menschen und Völker Anspruch darauf haben, an einer wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung teilzuhaben, in der alle Menschenrechte und Grundfreiheiten voll verwirklicht werden können.
  2. Der Mensch ist zentrales Subjekt der Entwicklung und sollte aktiver Träger und Nutznießer des Rechts auf Entwicklung sein.
  3. Die Staaten haben die Pflicht, einzeln und gemeinschaftlich Maßnahmen zu internationalen Entwicklungspolitiken zu ergreifen, die darauf gerichtet sind, die volle Verwirklichung des Rechts auf Entwicklung zu erleichtern.

Die verschiedenen Menschenrechtsarten haben hinsichtlich ihrer politischen Forderungen unterschiedliche Richtungen: Die bürgerlichen und politischen Rechte sind in erster Linie Schutzrechte des Individuums gegenüber der Staatsmacht sowie Teilhaberechte der Bürger an der politischen Willensbildung; die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte sind primär Forderungen an den Staat zur Sicherung einer menschenwürdigen materiellen Existenz sowie des Rechts auf Bildung und Kultur; die Menschenrechte der dritten Generation schließlich sind Forderungen einzelner Staaten an andere Staaten bzw. die Staatengemeinschaft.

Die zunächst unverbindliche Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bekam eine größere völkerrechtliche Verbindlichkeit durch die zwei Menschenrechtspakte des Jahres 1966, die inhaltlich weitgehend mit der Allgemeinen Erklärung übereinstimmen (Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte).

Insbesondere im Zusammenhang mit diesen Zwillingspakten von 1966, die bisher von etwa 110 Staaten unterschrieben und ratifiziert wurden, hat sich das Verständnis des Völkerrechts entscheidend verändert: Wenn ein Staat Menschenrechte verletzt oder in seinen Grenzen die Verletzung von Menschenrechten zulässt, dann können andere Staaten es als legitim ansehen, sich in dessen innere Angelegenheiten einzumischen. Menschenrechte und ihre Verletzungen werden also nicht mehr ausschließlich als innerstaatliche Angelegenheiten angesehen. Somit ist das Ziel der Vereinten Nationen nicht nur die Wahrung des internationalen Friedens, sondern auch die Verwirklichung friedlicher innerstaatlicher Lebensbedingungen.

Politische und ideologische Bedeutung von Menschenrechten

Die von den Vereinten Nationen verabschiedeten Menschenrechte sind inhaltlich so umfangreich, dass ihre Verwirklichung wohl nie erreicht werden wird, sondern immer nur angestrebt werden kann. Entsprechend formuliert die Präambel der Allgemeinen Erklärung die Menschenrechte als „… das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal.“ Alle Staaten verletzen Menschenrechte. Dies gilt auch für westliche Staaten, z.B. Deutschland, Frankreich und die USA, die in ihrem Selbstverständnis – von den Regierenden bis zur Bevölkerung – meist von der Realisierung der Menschenrechte in ihren Ländern ausgehen. Menschenrechtsverletzungen westlicher Staaten betreffen insbesondere die folgenden Rechte: Verbot der Diskriminierung (z.B. gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, aber auch gegenüber Frauen), Asylrecht, Schutz vor Arbeitslosigkeit (z.B. gibt es derzeit allein in Deutschland, einem der reichsten Länder der Erde, ca. 6 Millionen Arbeitslose), Recht auf soziale Sicherheit (in den USA z.B. leiden ca. 20 Millionen Menschen unter Hunger); Selbstbestimmungsrecht aller Völker, deren freie Verfügung über ihre natürlichen Reichtümer (verletzt wurde dieses Recht durch direkte militärische Interventionen und »verdeckte« Operationen im Sinne der »Kriegsführung niedriger Intensität«, z.B. durch die USA u.a. in Chile, Grenada und Nicaragua, vgl. Hippler, 1987, Kempf, 1991). Hinzu kommt eine Vielzahl indirekter Verletzungen von Menschenrechten durch westliche Staaten, z.B. durch die politische und organisatorische Unterstützung von Regierungen und Gruppierungen, die bürgerliche und/oder wirtschaftliche Menschenrechte systematisch verletzen; durch Export von Rüstungsgütern oder anderen relevanten Materialien, die in Kriegen oder zur Unterdrückung der innerstaatlichen Opposition eingesetzt werden; durch die immensen Militärausgaben mit ihren weltweit negativen Folgen für die Verwirklichung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Menschenrechte; durch strukturelle Verletzungen von (wirtschaftlichen) Menschenrechten aufgrund des derzeitigen Weltwirtschaftssystems: Die Auflagen des stark von den Interessen der führenden Industrienationen beeinflussten Internationalen Währungsfonds z.B. führen in aller Regel zu einer erheblichen Verschlechterung der sozialen Lage der Bevölkerung in den Ländern der sog. Dritten Welt; durch Bedrohung der menschlichen Lebensgrundlagen aufgrund der Gefährdung des ökologischen Systems der Erde, u.a. aufgrund des Lebensstils in westlichen Staaten: So verbrauchen z.B. die Industriestaaten – etwa 25% der Weltbevölkerung – über 80% der Energie.

Da – aufgrund des hohen Standards der Menschenrechte insgesamt – alle Staaten der Erde permanent Menschenrechte verletzen bzw. nicht erfüllen, ist somit die Kritik einzelner Staaten an anderen Staaten bezüglich Menschenrechtsverletzungen immer auch ein bewusster politischer Akt, häufig auch ein politisches Kampfmittel. Das Thema Menschenrechte erhält dadurch eine starke ideologische Färbung, es wird politisch instrumentalisiert. Eine zentrale Frage ist: Wer (welche Politiker und Regierungen) kritisiert wen bezüglich welcher Menschenrechtsverletzungen und welche expliziten und impliziten Ziele verfolgt er hiermit? Und dazu ergänzend: Wer kritisiert wen nicht bei Menschenrechtsverletzungen und warum unterlässt er dies?

Die ideologische Funktion des Umgangs mit Menschenrechten war besonders ausgeprägt im Ost-West-Konflikt, bei dem ein wesentlicher Inhalt der Feindbildproduktion darin bestand, dass der Westen dem Osten immer wieder und pauschal Menschenrechtsverletzungen bzw. Verletzung der bürgerlich-politischen Menschenrechte vorwarf (vgl. Sommer, 1992); der Osten seinerseits hielt entsprechend dem Westen Verletzungen der wirtschaftlichen Menschenrechte vor, beide Seiten haben somit auf ihre jeweilige Art die Menschenrechte »halbiert« und damit entwürdigt. Ein Beispiel des Westens möge dies illustrieren. Die Drangsalierungen von BürgerrechtlerInnen durch die sowjetische Staatsmacht wurden als Menschenrechtsverletzungen im Westen breit und intensiv thematisiert. Nicht annähernd so intensiv werden andere Menschenrechtsverletzungen behandelt, z.B. der tägliche Hungertod tausender Kinder in Afrika oder die systematische Ermordung von Straßenkindern in Brasilien oder Folterungen bei Polizeiverhören und die Unterdrückung der kurdischen Kultur in der Türkei oder die hohe Arbeitslosigkeit in den führenden westlichen Industriestaaten.

Menschenrechtsverletzungen werden bevorzugt anderen Staaten vorgehalten, insbesondere solchen, die einem anderen politischen, wirtschaftlichen, militärischen oder religiösen System angehören. Die Kritik an bestimmten Staaten und die damit begründeten Konsequenzen scheinen somit häufig eher von politischer Opportunität als von berechtigter Sorge um das Wohl der Bevölkerung geleitet. Durch das Betonen genehmer und das Leugnen oder Herabsetzen nicht genehmer Menschenrechte wird impliziert und suggeriert, der eigene Staat bzw. die eigene Staatenorganisation sei der wahre Hüter »der« Menschenrechte, es wird damit zur persönlichen und staatlichen Selbstwerterhöhung und zur Stabilisierung des eigenen gesellschaftlichen Systems beigetragen.

Menschenrechte und Frieden

Die Menschenrechte können als inhaltliche Ausgestaltung eines positiven Friedensbegriffs dienen.

Ein positives Friedenskonzept inhaltlich zu entfalten ist von großer Bedeutung, da der negative Friedensbegriff Frieden lediglich als Abwesenheit von Krieg definiert. So notwendig es auch ist Kriege zu vermeiden, so ist ihre Abwesenheit allein sicherlich keine hinreichende Bedingung für ein friedliches Leben. Die Menschenrechte dagegen bieten eine hervorragende Basis, Frieden positiv zu konzipieren, da sie zentrale politische, kulturelle, wirtschaftliche und soziale Inhalte benennen. Zudem genießen sie – zumindest auf dem Papier, in Verträgen und in politischen Verlautbarungen – mehrheitlichen Konsens der in den Vereinten Nationen vertretenen Länder (vgl. Kühnhardt, 1991). Eine wichtige Aufgabe der Vereinten Nationen besteht darin, die Menschenrechte entsprechend den Erkenntnissen und dem Bewusstsein der Menschheit weiter zu entwickeln und die bisher bereits benannten Menschenrechte in ihrer Dialektik und in ihrem wechselseitigen Bedingungsgefüge zu erkennen. Eine wichtige Voraussetzung für die Wirksamkeit der Menschenrechte besteht darin, dass die Menschen sie kennen und dass die Bevölkerung in jedem Land ihre möglichst weitgehende Realisierung anstrebt.

Die Verwirklichung der Menschenrechte sollte als zentrales Ziel jeglicher Politik angesehen werden.

Da die Vereinten Nationen als Gesamtorganisation den Menschenrechten eine große Bedeutung beimessen, haben sie eine Reihe von Sonderorganisationen eingesetzt, die sich mit der Verwirklichung einzelner Menschenrechte befassen: Internationale Arbeitsorganisation (ILO), Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO), Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO) und Weltgesundheitsorganisation (WHO). Als wichtiger Gegenstand der Friedenswissenschaften muss die Analyse der Verwirklichung von Menschenrechten und der Menschenrechtsverletzungen in einzelnen Ländern und Staatengruppen angesehen werden. Zusätzlich sind die politischen, kulturellen, gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen zu analysieren, die eine Realisierung von Menschenrechten fördern oder behindern. Ergänzend dazu sind die Bedingungen zu analysieren, die Menschenrechtsverletzungen verhindern oder wahrscheinlich machen.

Aufgrund vieler Untersuchungen der Friedenswissenschaften können einige Bildungsziele benannt werden, die auf der individuellen Ebene ein friedliches Zusammenleben und eine Realisierung von Menschenrechten wahrscheinlicher machen. Dazu gehören insbesondere: Empathie, d.h. das Sich-Hineinversetzen in den Mitmenschen; gewaltfreie Austragung von Konflikten; Übernahme von Verantwortung; Zivilcourage; Abbau von Vorurteilen und Feindbildern.

Die politische Instrumentalisierung von Menschenrechten sollte beendet werden.

Verletzungen bestimmter Menschenrechte durch einzelne Länder werden von anderen Staaten nicht nur immer häufiger zum Anlass für Kritik an den Verletzerstaaten genommen, sondern auch für Zwangsmaßnahmen bis hin zum Krieg (auch beim zweiten Golfkrieg spielte das Thema Menschenrechtsverletzungen in der politischen Argumentation eine große Rolle). Menschenrechtsverletzungen werden somit auch zur Rechtfertigung für militärische Interventionen genutzt, nicht selten auch missbraucht. Auch die Kritik an Staaten, die bestimmte Menschenrechte verletzen, ist häufig primär von politischer Opportunität geleitet und weniger von berechtigter Sorge um das Wohl von Menschen. Somit bleiben Analysen der politischen Instrumentalisierung von Menschenrechten (vgl. Ostermann & Nicklas, 1979) ein wichtiges Thema.

Literatur:

Beck-Texte (1992): Menschenrechte, München, Beck.

Grant, James, P. (Hrsg.)(1991): Zur Situation der Kinder in der Welt, Köln, Deutsches Komitee für UNICEF.

Hippler, Jochen (1987): Low-Intensity Warfare – Konzeption und Probleme einer US-Strategie für die Dritte Welt, Essen, Arbeitspapier des Instituts für Internationale Politik.

Kempf, Wilhelm (1991): Verdeckte Gewalt – Psychosoziale Folgen der Kriegsführung niedriger Intensität in Zentralamerika, Hamburg, Argument-Verlag.

Kühnhardt, Ludger (1991): Die Universität der Menschenrechte, Bonn, Bundeszentrale für politische Bildung.

Sommer, Gert & Zinn, Jörg (1993): Halbierte Menschenrechte – Wissen, Einstellungen und Darstellungen des Themas »Menschenrechte« in Deutschland, Wissenschaft und Frieden 3/93, 32-54.

Sommer, Gert, Becker, Johannes, Rehbein, Klaus & Zimmermann, Rüdiger (Hrsg.) (1992): Feindbilder im Dienste der Aufrüstung, Marburg, Arbeitskreis Marburger Wissenschaftler für Friedens- und Abrüstungsforschung, 3. Auflage.

Tetzlaff, Rainer (Hrsg.) (1993): Menschenrechte und Entwicklung, Bonn, Stiftung Entwicklung und Frieden.

Dr. Gert Sommer ist Professor für Klinische Psychologie und Gemeindepsychologie an der Philipps-Universität Marburg, Gründungsmitglied und langjähriger Vorsitzender der Friedensinitiative Psychologie – Psychosoziale Berufe

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
(Kurze Zusammenfassung)

Bürgerliche und politische Rechte

  1. Menschen sind frei und gleich geboren;
  2. universeller Anspruch auf Menschenrechte, Verbot der Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht, Religion, politischer Überzeugung usw.;
  3. Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit;
  4. Verbot von Sklaverei;
  5. Verbot von Folter und grausamer Behandlung;
  6. Anerkennung des Einzelnen als Rechtsperson;
  7. Gleichheit vor dem Gesetz;
  8. Anspruch auf Rechtsschutz;
  9. Schutz vor willkürlicher Verhaftung und Ausweisung;
  10. Anspruch auf unparteiisches Gerichtsverfahren;
  11. Unschuldsvermutung bis zu rechtskräftiger Verurteilung, Verbot der Rückwirkung von Strafgesetzen;
  12. Schutz der Freiheitssphäre (Privatleben, Post) des Einzelnen;
  13. Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit;
  14. Asylrecht;
  15. Recht auf Staatsangehörigkeit;
  16. Freiheit der Eheschließung, Schutz der Familie;
  17. Recht auf individuelles oder gemeinschaftliches Eigentum;
  18. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit;
  19. Meinungs- und Informationsfreiheit;
  20. Versammlungs- und Vereinsfreiheit;
  21. Allgemeines gleiches Wahlrecht.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

  1. Recht auf soziale Sicherheit, Anspruch auf wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte;
  2. Recht auf Arbeit, freie Berufswahl, befriedigende Arbeitsbedingungen; Schutz vor Arbeitslosigkeit; Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, angemessene Entlohnung, Berufsvereinigungen;
  3. Anspruch auf Erholung, Freizeit und Urlaub;
  4. Anspruch auf ausreichende Lebenshaltung, Gesundheit und Wohlbefinden, einschließlich Nahrung, Wohnung, ärztlicher Betreuung und sozialer Fürsorge;
  5. Recht auf Bildung, Elternrecht; Entfaltung der Persönlichkeit, Achtung der Menschenrechte und Freundschaft zwischen den Nationen als Bildungsziele;
  6. Recht auf Teilnahme am Kulturleben;
  7. Recht auf eine soziale und internationale Ordnung, die die Rechte verwirklicht;
  8. Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, Beschränkungen mit Rücksicht auf Rechte anderer;
  9. Absoluter Schutz der in diesen Menschenrechten angeführten Rechte.

zum Anfang | Zivile Konfliktbearbeitung

von Christine Schweitzer

Innergesellschaftlich wie international bedroht Gewalt nicht nur Menschenleben, sondern stellt letztlich die Zukunft der betroffenen Gesellschaften – und angesichts moderner Massenvernichtungswaffen ganzer Weltregionen – in Frage. In den letzten zehn Jahren ist das Bewusstsein dafÜr gewachsen, dass Gewalt keine LÖsung eines Konfliktes schafft und keinen Raum fÜr einen Interessenausgleich lÄsst. Die kurzzeitige Befriedung eines Konfliktes mit Waffengewalt fÜhrt in aller Regel zu seinem spÄteren Wiederausbruch – oftmals unter weit destruktiveren Vorzeichen. Außerdem stellt sie ein Paradoxum dar: MilitÄrische Interventionen, die (vorgeblich) zum Schutz von Menschenrechten durchgefÜhrt werden, verletzen massiv eines der grundlegendsten Menschenrechte, das Recht auf Leben und Sicherheit.

Deshalb ist mit der Zivilen Konfliktbearbeitung zu den klassischen friedenspolitischen Themen der AbrÜstung und der internationalen Sicherheit ein neues Themenspektrum dazugekommen. Zugegeben: Mit wenigen Ausnahmen geht es nicht um wirklich neue Instrumente von Friedenssicherung und GewaltprÄvention. Mediation, diplomatische BemÜhungen um PrÄvention, »gute Dienste«, second-track-Diplomacy, ziviles Peacekeeping, aktiver Menschenrechtsschutz und der ganze Bereich des Peacebuilding, um nur einige Stichworte zu nennen, wurden nicht erst in den neunziger Jahren erfunden.28 Was neu ist, ist die Zusammenfassung dieser Instrumente unter den Sammelbegriff der Zivilen Konfliktbearbeitung29 und vor allem die Entwicklung und Ausformulierung von Ziviler Konfliktbearbeitung als politischer Alternative zu den etablierten Vorgehensweisen der Politik.

Zivile Konfliktbearbeitung hat hierbei eine zweifache Funktion: Zum einen ist sie wesentlicher Inhalt dessen, was mit »Zivilisierung von Außenpolitik« gemeint ist. Dabei stellt sie nicht nur eine an die Staatenwelt gerichtete Forderung dar, sondern ist auch ein Arbeitsfeld wachsender Bedeutung der zivilen Gesellschaft in vielen europÄischen LÄndern, deren Organisationen (NGOs) an der qualitativen wie quantitativen Entwicklung von Projekten ziviler Intervention in gewaltfÖrmige Konflikte arbeiten. Zum anderen spielen Verfahren der Zivilen Konfliktbearbeitung eine wachsende Rolle bei dem Versuch, der zunehmenden Gewalt und Entmenschlichung der modernen Gesellschaft etwas entgegenzusetzen und Menschen zu befÄhigen, ihre Konflikte ohne Anwendung von Gewalt zu lÖsen.

Überblick Über einige
Aufgaben und Verfahren
Ziviler Konfliktbearbeitung

Konflikte sind nicht nur unvermeidlich, sondern sie sind auch notwendig, so sehr oftmals danach gestrebt wird, sie zu vermeiden oder ihr Vorhandensein zu leugnen. Problematisch ist nicht der Konflikt, sondern die Form seiner Austragung, sprich das ZurÜckgreifen auf Gewalt zur Durchsetzung von Interessen.

Zivile Konfliktbearbeitung zielt primÄr darauf

  • zu verhindern, dass Konflikte zu gewaltfÖrmigen Konflikten (z.B. Krieg) eskalieren (GewaltprÄvention) und
  • bereits zur Gewalt eskalierte Konflikte so zu deeskalieren, dass der Konfliktinhalt bearbeitet und eine fÜr alle Seiten befriedigende Regelung gefunden werden kann.

Zivile Konfliktbearbeitung stellt ein AktivitÄtsfeld dar, das in praktisch allen gesellschaftlichen Bereichen zu finden ist. Dabei sind Abgrenzungen zwischen eigentlicher Konfliktbearbeitung und der GewaltprÄvention (einschließlich Erziehung zu Toleranz und Demokratie) nur schwer vorzunehmen, da diese Bereiche ineinander Übergehen.

Mediation

Eines der wichtigsten Verfahren der Konfliktbearbeitung ist die Konfliktmediation. Mediation ist eine Verhandlungsmethode, bei der eine externe Partei den Konfliktparteien dabei hilft, eine LÖsung ihres Konfliktes auszuarbeiten. Im Unterschied zu herkÖmmlichen Verhandlungstechniken verzichtet der Mediator/die Mediatorin darauf, eigene LÖsungsvorschlÄge einzubringen oder gar durch die Anwendung von Machtmitteln zu erzwingen.30 Anwendungsbereiche der Mediation gehen von Familien- und Scheidungsmediation Über Konfliktlotsenprojekte an Schulen, Nachbarschaftsmediation (Konflikte im Stadtteil) und TÄter-Opfer-Ausgleich (Wiedergutmachung statt Strafe bei strafrechtlichen Delikten) bis hin zur politischen Mediation in Umweltkonflikten (innergesellschaftlich) und im internationalen Feld (z.B. waren die Osloer VertrÄge zwischen Israel und PalÄstina Ergebnisse solcher Mediation).

Allerdings sollten hier zwei einschrÄnkende Warnungen nicht fehlen: Innergesellschaftlich darf die FÖrderung von Mediationsverfahren nicht dazu fÜhren, dass Individuen in ihrer FÄhigkeit, Konflikte selbst zu lÖsen, eingeschrÄnkt werden und sich zum Hausarzt, Handwerker und Anwalt ein Dienstleister hinzugesellt, der bei Problemen in Anspruch genommen wird. Im Gegenteil muss es Ziel sein, Kompetenzen der Konfliktbearbeitung so weiterzuentwickeln, dass nur im Äußersten Notfalle auf eine externe Partei zurÜckgegriffen werden muss.

Im internationalen Feld spricht die bisherige Erfahrung dafÜr, dass Mediation nicht in jedem Konfliktfall erfolgreich angewendet werden kann (s. die Studien von Bercovitch). Je mehr Opfer ein Konflikt bereits zu beklagen hatte und je schwerwiegender und langanhaltender die Differenzen sind, umso schwieriger scheint es, eine VerhandlungslÖsung zu finden. Aufgabe der internationalen Politik ist es in einem solchen Fall, die Rahmenbedingungen so zu verÄndern, dass eine Bereitschaft der Konfliktparteien, eine LÖsung zu erarbeiten, hergestellt wird. Sanktionen negativer wie positiver Art mÖgen ein Weg hierzu sein, wenngleich man bei ihnen aus friedenspolitischer Sicht sehr darauf achten sollte, ob sie angemessen sind und gezielt »die Richtigen« treffen. Sehr oft wurden gerade in den vergangenen Jahren massive Sanktionen bis hin zu totalen Embargos verhÄngt, die die BevÖlkerung trafen und die FÜhrung, die eigentlich gemeint war, stÄrkten.

GewaltprÄvention

Sehr unterschiedliche Projekte und Maßnahmen kÖnnen unter dem Stichwort der GewaltprÄvention zusammengefasst werden. In Schule und Jugendarbeit, in der Stadtteil-Sozialarbeit, bei Fanprojekten, in der Antifaschismus- und der Antirassismusarbeit und bei Frauenprojekten finden sich Anwendungsbereiche. Im internationalen Bereich geht es in erster Linie um die Verhinderung von Eskalation durch rechtzeitiges diplomatisches Intervenieren und um vertrauensbildende Maßnahmen auf allen gesellschaftlichen Ebenen, um insbesondere ethnische und religiÖse Konflikte zu entschÄrfen.

Zur PrÄvention im internationalen Bereich hat in den letzten Jahren eine intensive Diskussion stattgefunden, die sich u.a. im KSZE-Prozess niedergeschlagen hat. Doch trotz dieser im Kontext von KSZE/OSZE geschaffenen Institutionen und trotz der ungeheuren Menge an grundsÄtzlich verfÜgbarer Information Über praktisch alle Regionen der Erde (ob sie wirklich genutzt werden ist eine andere Frage), hat die Zahl bewaffneter Konflikte nicht abgenommen. Daraus kann gefolgert werden, dass nicht FrÜhwarnung, sondern frÜhes Handeln (»Early Action«) das Problem ist. Und in der Tat liegen hier die Schwierigkeiten: Ressourcenknappheit (personell wie finanziell), vorgebliche SachzwÄnge und die kurzen und auf Gewalt fixierten Aufmerksamkeitsspannen der Öffentlichkeit wie der Politik verhindern oft rechtzeitiges Handeln. Dies gilt insbesondere wenn der sich androhende Konflikt außerhalb der primÄren InteressensphÄren der WeltmÄchte liegt. (Damit soll nicht gesagt werden, dass NGOs hier besser abschneiden als die Politik: Das Diktat der Öffentlichkeit und der Ressourcenallokation trifft sie in aller Regel noch mehr als die Staaten.)

Zivile und gewaltfreie Interventionen in Krisen und Krieg

Ist ein internationaler oder ethno-nationaler Konflikt bereits eskaliert, erfordert seine umfassende Bearbeitung, dass mehrere Aufgaben gleichzeitig angegangen werden. Es gilt, die Gewalt zu deeskalieren, die Konfliktinhalte zu bearbeiten und die zugrundeliegenden Strukturen, Denk- und Verhaltensweisen so zu verÄndern, dass Frieden wieder mÖglich wird. Das heißt, dass die Strategien der Friedensbewahrung (Peacekeeping), Friedensschaffung (Peacemaking) und der Friedenskonsolidierung (Peacebuilding) kombiniert angewendet werden.31

Es wird sehr viel Über zivile Interventionen diskutiert, aber es gibt wenig wirklich fundierte Studien zu diesem Bereich. Die Verwirrung beginnt schon mit der Frage des Begriffes. Wenn »zivil« als Gegensatz zu »militÄrisch« verstanden wird, dann sind natÜrlich alle Interventionen zivil, bei denen kein MilitÄr eingesetzt wird (siehe z.B. Muller 1995). Dies ist als Definition brauchbar, aber wird dann problematisch, wenn – zumindest implizit – unterstellt oder assoziiert wird, dies bedeute auch, die entsprechende Intervention sei deshalb »gewaltlos«.

Zum Beispiel figurieren Sanktionen gewÖhnlich in der Liste von Instrumentarien »ziviler Intervention« an hervorgehobener Stelle und gelten oft als der »am wenigsten gewalttÄtige« Weg.32 Ich mÖchte demgegenÜber die Position vertreten, dass Sanktionen sehr gewaltsam sein kÖnnen und ihre Auswirkungen Ähnlich schlimm oder schlimmer als die individueller militÄrischer Aktionen. Man denke an das Beispiel des Irak, wo nach offiziellen Zahlen der UNO fast 600.000 Kinder in Folge der Ökonomischen Sanktionen gestorben sind.33

Aufgrund der hier genannten Probleme scheint mir, dass der Begriff der zivilen Intervention viel zu vage ist, um fÜr eine aussagefÄhige Diskussion von Konfliktintervention zu taugen. Ich halte es fÜr sinnvoller, auf die Frage der gewÄhlten Strategie abzuzielen und von gewaltfreien Interventionen zu sprechen, wenn

  • das Ziel der Intervention die Bearbeitung des Konfliktes unter BerÜcksichtigung der Interessen aller Konfliktseiten oder die UnterstÜtzung einer Partei ist, die fÜr eine solche Konfliktbearbeitung und/oder Verteidigung der Menschenrechte und Herstellung von Gerechtigkeit eintritt und wenn
  • dabei auf den Einsatz von tÖdlicher Gewalt, sei sie direkter physischer oder struktureller Art, verzichtet wird.

Friedensbewahrung

Peacekeeping konzentriert sich auf die Verhinderung, Einhegung und Beendigung von Feindseligkeiten; d.h. es ist dissoziativ angelegt, das Auseinanderhalten der Verfeindeten ist sein Hauptzweck. Das klassische Instrument des Peacekeepings ist der Einsatz von UN-Blauhelmtruppen; ein Instrument, das allerdings zunehmend aggressiver eingesetzt wird (»Robustes Peacekeeping«). Nicht nur deshalb gibt es sowohl in der Friedensforschung wie von Friedensorganisationen VorschlÄge, Friedensbewahrung mit gewaltlosen Mitteln zu konzipieren.

Ziviles Peacekeeping stellt sich grÖßere, gut in Techniken der Konfliktbearbeitung ausgebildete Einheiten vor, die unbewaffnet eingreifen. Ihr grÖßter Vorteil dÜrfte darin liegen, dass sie, da unbewaffnet, keine Provokation der anderen Seite darstellen. Die Frage, die unbeantwortet ist, lautet, in welchem Maße gerade diese IdentitÄt die militÄrischen Konfliktparteien dazu bringt, die Peacekeeper zu respektieren – in einem militarisierten Umfeld zÄhlen Zivilisten gewÖhnlich nicht viel – und welche Bedeutung die tatsÄchliche Anwendung von Waffengewalt hat.

In verschiedenen europÄischen LÄndern ist in den vergangenen Jahren der Vorschlag entwickelt worden, einen Zivilen Friedensdienst einzurichten, der als freiwilliger, staatlich finanzierter und rechtlich abgesicherter Dienst ein Instrument solch zivilen Peacekeepings werden kÖnnte.

Friedensschaffung

Peacemaking ist definiert als die Suche nach einer VerhandlungslÖsung der Interessenkonflikte zwischen den Konfliktparteien. Es befasst sich mit der wahrgenommenen Unvereinbarkeit von Interessen (den Konfliktinhalten) und ist in erster Linie eine Aufgabe der EntscheidungstrÄger (Politiker). Der Einsatz von Ziviler Konfliktbearbeitung bedeutet hier, wie oben bereits unter Mediation angesprochen, die Suche nach einer allseits befriedigenden LÖsung durch Verhandlungen.

Neben Regierungen und internationalen Organisationen (UN, OSZE usw) gibt es auch einige Nichtregierungsorganisationen, die durch das Anbieten guter Dienste, Begegnungen von FÜhrungspersÖnlichkeiten der sich in Konflikt befindlichen Gruppen oder Mediation fernab der Öffentlichkeit in diesem Bereich erfolgreich tÄtig sind.34

Friedenskonsolidierung

Peacebuilding, nur unzureichend als VersÖhnungsarbeit zu bezeichnen, befasst sich mit den feindseligen Einstellungen der Konfliktparteien einerseits und sozio-Ökonomischen Strukturen andererseits, also den persÖnlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen eines Konfliktes. Sie werden mit dem Ziel einer langfristigen Wirkung bearbeitet.

Im Unterschied zu den beiden ersten Aufgabenbereichen ist Peacebuilding vor allem eine Aufgabe, die von lokalen und internationalen gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen wahrgenommen wird. Als Hauptmethoden kÖnnen hier benannt werden:35

  • VersÖhnungsarbeit
  • Herstellen von Kontakt durch die Verfolgung gemeinsamer Übergeordneter Ziele
  • wirtschaftliche Entwicklung, die so verlÄuft, dass beide Konfliktseiten subjektiv ihre Gerechtigkeit konstatieren
  • Vertrauensbildung z.B. durch Justizreformen, Verzicht auf bestimmte Symbole
  • Bildung und Erziehung (z.B. binationale Schulen)
  • Vorurteilsreduzierung (z.B. Begegnungsprogramme, Gemeindefeste, Trainings, positives Handeln durch Massenmedien, Appelle fÜhrender PersÖnlichkeiten, individuelle Therapie)
  • Erforschung der gegenseitigen Kulturen

Verrechtlichung internationaler Beziehungen als Bedingung fÜr Zivile Konfliktbearbeitung?

Ein auch in der Friedensbewegung strittiges Feld ist das der Verrechtlichung internationaler Beziehungen, d.h. der Weiterentwicklung des VÖlkerrechts dahin, dass Staaten als Rechtssubjekte internationalen Gesetzen unterworfen werden, deren Einhaltung durch eine Judikative und eine Exekutive erzwungen wird. Die Schaffung eines Internationalen Strafgerichtshofs – dem allerdings u.a. die USA sich nicht unterwerfen wollen mit dem Argument, er kÖnnte ja eines Tages gegen ihre Soldaten ermitteln – ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Es soll hier auch nicht so sehr auf die faktischen Hindernisse dieses Konzeptes, die sich aus dem Machtungleichgewicht der internationalen Staatenwelt ergeben, hingewiesen werden, denn sie dÜrfen als bekannt vorausgesetzt werden. Aber ich mÖchte argumentieren, dass sich die Frage der Gewalt unabhÄngig vom Grad der Verrechtlichung stellt. Eine internationale Polizei, die zur Friedenserzwingung eingesetzt wÜrde, wÜrde die gleichen Waffen verwenden mÜssen, die gleiche Zahl an Menschen tÖten und das gleiche Ausmaß an Vernichtung verursachen wie eine NATO-Truppe, die zum gleichen Zweck eingesetzt wird.

Zur Bedeutung von Ausbildung in Ziviler Konfliktbearbeitung

Zivile Konfliktbearbeitung erfordert die Anwendung von Kenntnissen und FÄhigkeiten, die erlernt werden kÖnnen. Dazu gehÖren Wissen Über Konflikttheorien und Konfliktanalyse ebenso wie die Kenntnis der vielfÄltigen Methoden der Konfliktvermittlung (Kommunikation, Konsensfindung usw.).

Viele Berufsgruppen kommen in ihrer Aus- und Fortbildung heute mit solchen Themen in BerÜhrung. Dennoch besteht hier ein deutlicher Bedarf an »mehr«, an einer Einbeziehung von Ziviler Konfliktbearbeitung als Regellehrstoff z.B. in der Ausbildung von LehrerInnen und SozialarbeiterInnen.

Bei der Konfliktintervention im internationalen Kontext wÄchst ebenfalls das Bewusstsein, dass die Nachhaltigkeit von Nothilfe- und Entwicklungsprogrammen in Krisenregionen wesentlich mit davon abhÄngt ob es gelingt, die Konflikte auf gesellschaftlicher Ebene zu reduzieren. Deshalb werden in den letzten Jahren zunehmend Projekte im Rahmen der Entwicklungsdienste wie von anderen NGOs (vor allem aus dem Friedensbereich) entwickelt, die sich auf Zivile Konfliktbearbeitung konzentrieren.

In Deutschland wurde vor zwei Jahren damit begonnen, in einem (vom Land NRW gefÖrderten) Pilotprojekt FriedensfachkrÄfte auszubilden, d.h. Personen, die mit einer speziellen zusÄtzlichen Qualifikation in Ziviler Konfliktbearbeitung ausgestattet werden, die ihnen in ihrer Arbeit in einschlÄgigen Projekten der Konfliktintervention »von unten«, von Seiten gesellschaftlicher Gruppen, zugute kommen soll. Ähnliche Projekte, die in aller Regel verbunden sind mit dem Ziel, einen Zivilen Friedensdienst aufzubauen, finden sich in den Niederlanden, Frankreich, Österreich und Italien. Sie verbinden die Hoffnung, dass durch einen staatlich gefÖrderten Zivilen Friedensdienst die Zahl (und QualitÄt) besonders von friedenskonsolidierenden NGO-Projekten entscheidend gesteigert werden kÖnnte, mit dem Grundgedanken einer mÖglichst viele Menschen erreichenden Qualifizierung in Methoden und Verfahren Ziviler Konfliktbearbeitung.

Zum politischen Stellenwert von Ziviler Konfliktbearbeitung

Zivile Konfliktbearbeitung stellt sowohl ein Ziel als auch einen Weg dar. Sie dient der Zivilisierung von (Außen)Politik und des gesellschaftlichen Umganges miteinander und sie wird getragen von Werten, die schon immer Grundlage jeder wahren Friedenspolitik waren, nÄmlich Gewaltfreiheit und Gerechtigkeit.

Als Weg zu Frieden und Gerechtigkeit hat sie aber auch ihre Grenzen und sie sollte nicht als neues Allzweckmittel missverstanden werden:

  • Abbau struktureller Gewalt fordert, dass latente Konflikte auf die Tagesordnung gesetzt, d.h. eskaliert werden. Zwischen einem diktatorischen Regime und der von ihm unterdrÜckten BevÖlkerung kann es keine Zivile Konfliktbearbeitung geben. Worum es hier aus friedenspolitischer Sicht geht, ist die Entwicklung und der Einsatz von – gewaltfreien – Widerstandsmethoden bis hin zum gewaltfreien Aufstand.
  • Wenn die westliche Allianz unter FÜhrung der USA beschließt, die NATO kÜnftig zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen und strategischen Interessen in aller Welt einzusetzen, dann heißt die Antwort darauf nicht Zivile Konfliktbearbeitung, sondern Protest und Widerstand gegen diese Politik. AbrÜstung, nachhaltiges Wirtschaften und Dialog der Zivilisationen, um nur ein paar Stichworte zu nennen, stehen als gleichberechtigte Elemente neben Ziviler Konfliktbearbeitung in einer umfassenden Friedensstrategie.
  • Die BeschÄftigung mit gewaltfreier Intervention sollte unbedingt wieder ergÄnzt werden durch die Weiterentwicklung Sozialer Verteidigung. Sie kÖnnte eine interessante Alternative fÜr all jene LÄnder und Volksgruppen darstellen, die sich der Gefahr eines bewaffneten Angriffes ausgesetzt sehen.

Unter BerÜcksichtigung dieser EinschrÄnkungen gilt es, Zivile Konfliktbearbeitung weiter auszubauen. Das bedeutet die konzeptionelle Weiterentwicklung von Methoden (Beispiel: ziviles Peacekeeping), die Institutionalisierung von Ziviler Konfliktbearbeitung in mÖglichst vielen Bereichen von Schulen bis zur internationalen Politik und (als erster Schritt zur vollstÄndigen AbrÜstung) die Umkehrung des Gewichtes zwischen den staatlichen Verteidigungshaushalten und den Haushaltslinien, die Zivile Konfliktbearbeitung abdecken.

Ziel dabei darf aber nicht sein, der herrschenden Machtpolitik ein weiteres Instrument an die Hand zu geben. Auch MilitÄrs und Politiker betrachten Zivile Konfliktbearbeitung heute oftmals als sinnvolle ErgÄnzung zu gewaltgestÜtzten Maßnahmen. So werden z.B. Projekte von deutschen NGOs gefÖrdert, die sich um die Bearbeitung von Konflikten bei der RÜcksiedlung von bosnischen FlÜchtlingen bemÜhen. Ohne die Sinnhaftigkeit dieser Projekte fÜr die Betroffenen in Frage zu stellen, muss darauf hingewiesen werden, dass sie die ZwangsrÜckfÜhrung dieser FlÜchtlinge erleichtern.

In meinen Augen sollte dem entgegen der Charakter von Ziviler Konfliktbearbeitung als Alternative zu Gewalt und MilitÄr wieder mehr in den Vordergrund gestellt werden, auch wenn dieses kurzfristig das Einwerben von Öffentlichen Mitteln oder die Institutionalisierung eines Zivilen Friedensdienstes – um nur zwei aktuelle deutsche Anliegen zu nennen – behindert. Mittel- oder langfristig kÖnnen Krieg, Gewalt, RÜstung und MilitÄr nur Überwunden werden, wenn sie in einer Art Doppelstrategie bekÄmpft und Alternativen dort, wo es notwendig erscheint, entwickelt werden.

Literatur

Bercovitch, Jacob/ Anagnoson, J.Theodore/ Willie, Donnette L.: Some Conceptual Issues and Empirical Trends in the Study of Successful Mediation in International Relations, in: Journal of Peace Reserch 28, 1(1991), S. 7-18.

Besemer, Christoph: Mediation: Vermittlung in Konflikten, Hrsg. Stiftung gewaltfreies Leben/Werkstatt fÜr gewaltfreie Aktion Baden, Heidelberg/Freiburg/KÖnigstein 1993.

Boutros Boutros-Ghali: An Agenda For Peace. Preventive Dipomacy, Peacemaking and Peace-keeping. Report of the Secretary-General pursuant to the statement adopted by the Summit Meeting of the Security Council on 31 January 1992, New York: United Nations, 1992.

Cremer, Uli: Deutschland als internationaler Zivildienstleistender. Entwurf fÜr ein Positionspapier von BÜndnis 90/Die GrÜnen, 5.8.1995.

Ebert, Theodor: Gewaltfreier Aufstand. Alternative zum BÜrgerkrieg, Waldkirchen: Waldkircher Verlagsgesellschaft, 1981 (4. Auflage).

Galtung, Johan: Peace by peaceful means. Peace and Conflict, Development and Civilization, London: Sage Publications, 1996.

MÜller, Barbara/BÜttner, Christian: Optimierungschancen von Peacekeeping, Peacemaking und Peacebuilding durch gewaltfreie Interventionen?, Arbeitspapier Nr. 4 des Instituts fÜr Friedensarbeit und Gewaltfreie Konfliktaustragung, Wahlenau 1996.

Muller, Jean-Marie: Principes et Methodes de l'intervention civile, Manuskript von 1994.

Paffenholz, Thania: »Die Waffen nieder!« Konzepte und Wege der Kriegsbeendigung, in: Matthies 1993: 57 ff.

Ropers, Norbert: Friedliche Einmischung. Strukturen, Prozesse und Strategien zur konstruktiven Bearbeitung ethnopolitischer Konflikte, Berghof Report 1, Berlin 1995.

Ryan, Stephen: Ethnic Conflict and International Relations, 2nd ed., Aldershot: Dartmouth Publishing Company Ltd, 1995.

Weiss, Thomas G.: HumanitÄre Intervention. Lehren aus der Vergangenheit, Konsequenzen fÜr die Zukunft, in: Debiel, Tobias/ Nuscheler, Franz (Hrsg.): Der neue Interventionismus. HumanitÄre Einmischung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Bonn: Dietz, Stiftung Entwicklung und Frieden, 1996, S. 53 ff

Christine Schweitzer, Ethnologin, ist GeschÄftsfÜhrerin des Bundes fÜr Soziale Verteidigung (BSV)

zum Anfang | Eine atomwaffenfreie Welt – Phantasie oder Möglichkeit?

von Joseph Rotblat

Seit nunmehr einem halben Jahrhundert befinden wir uns im Atomzeitalter – dem neuen Zeitalter, dessen Geburtsstunde der Welt durch die Bombe, die Hiroshima zerstört hat, angekündigt wurde. Es ist das Zeitalter, dessen Hauptcharakteristikum darin besteht, dass der Mensch zum ersten Mal in der Geschichte der Zivilisation die Möglichkeit hat, diese Zivilisation mit einem großen Knall zu zerstören.

Während der vergangenen fünfzig Jahre waren wir der Katastrophe einige Male sehr nahe; wir haben den Rand des Abgrundes erreicht und konnten hinab schauen; eher Glück als kluge Taktik hielten uns im letzten Moment zurück. Mit Beendigung des Kalten Krieges hat sich die Wahrscheinlichkeit eines nuklearen Holocaust zwar außerordentlich vermindert, sie ist jedoch noch immer existent. Solange noch Atomwaffen in den Arsenalen sind, besteht die Gefahr, dass sie in einer militärischen Auseinandersetzung eingesetzt werden. Diese Gefahr kann nur durch die Vernichtung aller Kernwaffen gebannt werden.

Die Schaffung einer atomwaffenfreien Welt ist kein utopischer Traum mehr. Es ist ein Ziel, das noch innerhalb der Lebenserwartung der Generation des Atomzeitalters erreicht werden kann – es bedarf jedoch einer enormen Anstrengung. Um Sicherheit in einer entnuklearisierten Welt garantieren zu können, sind nicht nur weitere technische Maßnahmen erforderlich, sondern auch neue Normen gesellschaftlichen Verhaltens. Zuallererst ist eine Wende in der Politik der Kernwaffenstaaten vonnöten – einer Politik, die seit dem Beginn des Atomzeitalters durch bewusste Ambiguitäten geprägt ist.

Man hätte annehmen können, dass mit der Beendigung des Ost-West-Konflikts kein Bedarf mehr an dem Kampfinstrument bestehen und die Erfüllung der ersten Resolution der Vereinten Nationen fortgesetzt würde. Dies war jedoch nicht der Fall.

Die überwiegende Mehrheit der heute lebenden Menschen wurde während des Atomzeitalters geboren. Atomwaffen stellen für sie ein natürliches Phänomen dar; für sie ist es schwierig, sich eine Welt ohne Atomwaffen vorzustellen. Wichtiger jedoch als dieser »angeborene Konservatismus« ist das begründete Interesse einiger Gruppen an einer Aufrechterhaltung des während es Kalten Krieges vorherrschenden Klimas. Eine große militärische Industrie ist von der Fortsetzung der Waffenproduktion abhängig; ebenso die Lebensphilosophie und die Karriere vieler Menschen. Deshalb wurden, als der alte Feind nicht mehr existierte, neue Feinde geschaffen, um die Fortführung der alten Politik zu rechtfertigen.

Die Erkenntnis, dass jeder von uns für die Sicherung unserer Zivilisation verantwortlich ist – durch die Abschaffung der Bedrohung durch den Atomkrieg – wird das Gefühl stärken, dass wir WeltbürgerInnen sind. Mit dem Wachsen dieses Gefühls geht einher die Ablehnung des Chauvinismus und der Fremdenfeindlichkeit, die beide zum Schüren lokaler und regionaler Kriegegenutzt werden. Die Sorge um die Zukunft muss die Menschen einander näher bringen, eine kernwaffenfreie Welt wird uns einer Welt ohne Krieg näher bringen.

WissenschaftlerInnen werden in diesem erzieherischen Prozess eine wichtige Rolle spielen. Die Universalität der Wissenschaft hat in ihnen das Gefühl reifen lassen, zu einer Weltgemeinschaft zu gehören und dass macht sie zu geborenen LehrerInnen, die in anderen Gruppen der Gesellschaft das Konzept des Weltbürgertums voranbringen werden.

In einer Welt, die von kriegerischen Auseinandersetzungen gezeichnet ist, über Weltbürgertum zu reden, scheint utopisch; die Aufgabe, eine Welt ohne Krieg zu schaffen, scheint unmöglich. Wir sollten uns jedoch den Ausspruch des deutschen Soziologen Max Weber ins Gedächtnis rufen: „Alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass die Menschheit das Mögliche nicht erreichte, wenn sie nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen hätte.“

Prof. Dr. Joseph Rotblat, Friedensnobelpreisträger

Anmerkungen

1) F. R. Pfetsch: Konfliktforschung, Krieg und Frieden in neuerer Zeit, Spektrum der Wissenschaft, Mai 1989, S. 12-16. Siehe auch F. R. Pfetsch (Hrsg.): Konflikte seit 1945, Freiburg, Ploetz-Verlag, 1991.

2) Die Zahlen basieren auf der KOSIMO-Datenbank; siehe F. R. Pfetsch: Der Wandel politischer Konflikte, Spektrum der Wissenschaft, März 1998, S. 76. Eine ausführliche Darstellung zu 100 Konflikten im Zeitraum 1990 bis 1995 findet sich in: F. R. Pfetsch (Hrsg.): Globales Konfliktpanorama 1990-1995, Münster, LIT-Verlag, 1996. Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung gibt ein jährliches Konfliktbarometer heraus, zu bestellen unter e-mail frank.pfetsch@urz.uni-heidelberg.de. Siehe auch das im LIT-Verlag jährlich erscheinende Friedensgutachten deutscher Friedensforschungsinstitute, das ausgewählte Konflikte analysiert.

3) Stiftung Entwicklung und Frieden: Globale Trends 1998, Frankfurt, Fischer, 1997, S. 344. Hier wird auf die Problematik hingewiesen, den Kriegsbegriff exakt zu definieren. Nach gängiger Vorstellung ist Krieg definiert als ein gewaltsamer Massenkonflikt mit drei Merkmalen: a) es sind zwei oder mehr Streitkräfte beteiligt, darunter mindestens auf einer Seite reguläre Regierungsstreitkräfte; b) auf beiden Seiten gibt es ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation; c) die bewaffneten Operationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuität.

4) Zur Verknüpfung von Frieden und nachhaltiger Entwicklung siehe J. Scheffran, W. Vogt: Kampf um die Natur – Umweltzerstörung und die Lösung ökologischer Konflikte, Darmstadt, Primus, 1998.

5) G. Bächler: Desertification and Conflict, ENCOP Occasional Paper No.10, Zürich/Bern, März 1994.

6) G. Bächler, V. Böge, S. Libiszewski, K. R. Spillmann (Hrsg.): Kriegsursache Umweltzerstörung, Rüegger-Verlag, 1996. Eine Synthese findet sich in Wissenschaft und Frieden 3/96, S. 55-71. Auch das Projekt über Umwelt, Bevölkerung und Sicherheit an der Universität von Toronto hat 1996 eine Synopse verschiedener Fallstudien vorgelegt. Siehe T. Homer-Dixon: V. Percival, Environmental Scarcity and Violent Conflict, Briefing Book, Toronto, 1996.

7) Stanislaw Lem: Die Waffensysteme des 21. Jahrhunderts, Suhrkamp-Verlag, Franfkurt am Main, 1983. Er schreibt: „Es gibt also keine bessere Methode, höchst geheime Information zu verbergen, als sie in einer Massenauflage zu publizieren“, S.11.

8) Ebd., S.83.

9) Department of Defense Budget for FY 1999, Department of Defense, 2. Februar 1998

10) Siehe dazu auch: I. Ruhmann: High Tech für den Krieg, in: Wissenschaft und Frieden 4/1997.

11) Joint Chiefs of Staff: Joint Vision 2010, Washington D.C. 1996, S. 2.

12) Das Rüstungsbudget für das Haushaltsjahr 2000 beträgt 267 Mrd. $. Im Zeitraum 2000-2005 sollen 112 Mrd $ zusätzlich ausgegeben werden. (DOD, News Release 1.2.1999).

13) SZ, 25. Januar 1999, S. 7.

14) National Security Strategy, Washington D.C. 1997.

15) Siehe dazu: J. Pike: American Control of Outer Space in the Third Millenium, in: INESAP Information Bulletin, Issue No. 16, November 1998, S. 29-33.

16) Transforming Defense, Kapitel: The World in 2020-Key Trends, Washington D.C. 1998.

17) D. Stockfisch: Littoral Warfare. Herausforderungen als Informationstechnik und Elektronik, in: Elektronik Report 1998, S. 23.

18) Ebd., S. 29.

19) Die Bedeutung einer begleitenden Medienkampagne darf heute als hoch eingeschätzt werden. Ohne CNN wäre der Golfkrieg 1991 nicht so verlaufen wie er verlaufen ist.

20) Echelon ermöglicht den USA Zugang zu Telefongesprächen, Faxdaten und e-mails in Europa. SZ vom 26. August 1998.

21) Die Zeit vom 17. September 1998.

22) A. Gsponer: Inertial Confinement Fusion and Fourth Generation Nuclear Weapons in: G. Neuneck, J. Altmann, J. Scheffran (Hrsg.): Nuklearwaffen – Neue Rüstungstechnologien – Verifikation von Abrüstung, Bad Honnef, Hamburg, 1998, S. 133-152.

23) Siehe O. Thränert: Enhancing the Biological Weapons Convention, Bonn 1996, S. 13.

24) G. Neuneck, S. Richardsen: Die Überwachungsmöglichkeiten von Beschränkungen bei neuen Waffenprinzipien in: J. Altmann, G. Neuneck (Hrsg.): Naturwissenschaftliche Beiträge zu Abrüstung und Verifikation, Hamburg 1996, S. 235-259.

25) Siehe M. Kaku: Zukunftsvisionen, München 1998, S. 32.

26) Der ferngelenkte Miniflieger (15 cm) soll 3 km weit und ca. 20 Minuten lang fliegen können. Siehe: Die Zeit vom 29. Oktober 1998, S. 17.

27) Zitiert nach Kaku 1998, S. 320.

28) Besonders deutlich ist diese Tendenz im innergesellschaftlichen Bereich. Hier wird heute gewÖhnlich von Ziviler Konfliktbearbeitung gesprochen, wo vor wenigen Jahren von Projekten der GewaltprÄvention, der Antirassismus-Arbeit oder der FriedenspÄdagogik die Rede war.

29) Unter Ziviler Konfliktbearbeitung soll hier verstanden werden die Bearbeitung von Konflikten ohne die Anwendung direkter Gewalt und mit dem Ziel, eine LÖsung zu finden, die die als berechtigt angesehenen Interessen aller Konfliktparteien berÜcksichtigt.

30) Es muss darauf hingewiesen werden, dass es zwei sich widersprechende Definitionen von Mediation gibt. Der hier gebrauchten Definition von Mediation als einer nicht-direktiven Methode, die vor allem von denjenigen verwandt wird, die Mediation im innergesellschaftlichen Bereich anwenden (s. Besemer 1993), steht der z.B. von Paffenholz (1993), Ropers (1995) und anderen verwendete Begriff von Mediation als einer Methode direktiver VerhandlungsfÜhrung gegenÜber, bei der der Vermittler eigene VorschlÄge einbringt und u.U. mittels politischen Druck die Konfliktparteien dazu bringt, sie anzunehmen.

31) Diese drei Strategien wurden ursprÜnglich von Johan Galtung entwickelt. Boutros Boutros-Ghali verstand sie als zeitlich aufeinander folgende Schritte. Hier soll demgegenÜber Steven Ryan gefolgt werden, der wie Galtung die VerschrÄnktheit der drei AnsÄtze betont.

32) Siehe z.B. Cremer 1995 und Weiss 1996

33) In vielen DiskussionsbeitrÄgen Über zivile Interventionen spielt zusÄtzlich die Frage des Akteurs eine große Rolle (Ropers 1995). Manche AutorInnen stellen zivile Interventionen in das Begriffsfeld der »zivilen Gesellschaft« und setzen sie praktisch mit der TÄtigkeit von NROs und Kirchen gleich (MÜller/BÜttner 1996).

34) Besonders die QuÄker und der italienische Orden San Egidio kÖnnen hier als Beispiele genannt werden.

35) Siehe Ryan 1995