Dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet

Dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet

Vergangenheit und Zukunft »Antarktischer Koopetition«

von Patrick Flamm

Die Antarktis wird oft als das friedliche Gegenstück zu einer konfliktträchtigen Weltpolitik und als Vorbild für internationale Kooperation angeführt. Dabei handelt es sich aber um ein oberflächliches Zerrbild. Der Erfolg des antarktischen Multilateralismus beruht vielmehr auf einer Verschränkung von kooperativen und kompetitiven Elementen. Um Herausforderungen für die politische Ordnung am Südpol, wie Krieg, strategischer Wettbewerb und Klimakrise, angemessen begegnen zu können, ist eine nüchterne Rückbesinnung auf diese »Antarktische Koopetition« notwendig.

Als der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, Ende November 2023 die Antarktis besuchte, zeigte er sich ermutigt davon, „wie die Menschen, die in der und für die Antarktis arbeiten, sich von Kooperation und nicht von Konkurrenz leiten lassen“.1 Jener Geist der Kooperation sei auch bei der Klimakonferenz COP28 in Abu Dhabi vonnöten, so Guterres weiter. Diese kurze Anekdote beschreibt das vorherrschende Bild von der Antarktis als einem Vorbild und positivem Gegenbeispiel zur gegenwärtigen konkurrenz- und konfliktträchtigen Weltpolitik: Antarktische Politik ist friedlich und demilitarisiert, konsensorientiert, sowie lediglich wissenschaftlichem Interesse und dem Umweltschutz verpflichtet. Auch wenn diese Errungenschaften des »dem Frieden und der Wissenschaft gewidmete[n] Naturreservat[s]« (Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag, Artikel 2) nicht falsch sind, so handelt es sich hier doch um eine einseitige Darstellung und letztlich um ein Zerrbild.

Nicht Kooperation statt Konkurrenz – oder Internationalismus statt Nationalismus – führte dazu, dass das Antarktische Vertragssystem (AVS) häufig als erfolgreichstes multilaterales Forum angesehen wird, sondern eine typisch antarktische Verschränkung von Kooperations- und Konkurrenzhandeln, welches man als Koopetition beschreiben könnte: Kooperation zum Zweck der Konkurrenz (Flamm 2023, zum Begriff der Koopetition später mehr). Aufgrund der ernstzunehmenden Herausforderungen für das Antarktische Vertragssystem, allen voran die drastisch voranschreitende Klimakrise sowie zunehmende Spannungen im internationalen System, täten wir entsprechend gut daran, die Nuancen des antarktischen Erfolges herauszuarbeiten, anstatt die Errungenschaften auf dem südlichen Kontinent zu verklären und auf eine reine Projektionsfläche zu reduzieren.

Im Folgenden wird die spezifische Verschränkung von internationalistischen Kooperations- und nationalistischen Konkurrenzelementen, welche das Antarktische Vertragssystem historisch auszeichnen, erläutert. Anschließend werden vor dem Hintergrund der wachsenden Herausforderungen für das gegenwärtige Governance-Gefüge Möglichkeiten diskutiert, wie eine Rückbesinnung auf die antarktische Koopetitionsformel tatsächlich auch als zukunftsträchtiges Vorbild für friedliche Weltpolitik dienen kann.

Kooperation, Konkurrenz und Exzeptionalismus

Der Antarktisvertrag war 1959 in Wash­ington, D.C., ausgehandelt worden und trat 1961 in Kraft. Derzeit gibt es insgesamt 56 Unterzeichnerstaaten, von denen sich allerdings nur 29 Länder durch ihre Polarforschungsprogramme auch als Konsultativparteien mit Stimmrecht auf den jährlichen Antarktistagungen qualifiziert haben. Zusammen mit späteren Abkommen, wie zum Beispiel dem »Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis« (CCAMLR) von 1980 und dem »Umweltschutzprotokoll« von 1991, bildet der Antarktisvertrag eines der erfolgreichsten multilateralen Abkommen.

Das Regelwerk des Antarktischen Vertragssystem erhält die Antarktis seit mehr als 60 Jahren erfolgreich als einen dem Frieden und der Wissenschaft gewidmeten Kontinent. Bergbau ist dort verboten und es gelten strenge Umweltschutzbestimmungen für die einzige legitime Aktivität, die wissenschaftliche Forschung. Die extremen Umweltbedingungen sowie die relative geographische Isolation des Kontinents förderten diese Sonderrolle der Antarktis. Durch die Entmilitarisierung und die Erklärung der Antarktis zur ersten atomwaffenfreien Zone der Welt sorgte der Antarktisvertrag aber auch dafür, dass die menschenleere südliche Polarregion von Atomwaffentests verschont blieb. In der Antarktis sind zudem alle bestehenden territorialen Gebietsansprüche per Artikel IV des Antarktisvertrages »eingefroren«, was bedeutet, dass die historischen Ansprüche von Argentinien, Australien, Chile, Frankreich, Neuseeland, Norwegen, sowie des Vereinigten Königreichs völkerrechtlich nicht anerkannt, aber auch nicht verworfen wurden. Für die Polarforschung in der Antarktis haben Souveränitätsfragen entsprechend kaum praktische Relevanz, allerdings können diese sieben Staaten in ihren nationalen Kontexten weiterhin ihre territorialen Ansprüche pflegen. Dies geschieht oft in der Form eines banalen Nationalismus (Dodds 2017), zum Beispiel durch das Veröffentlichen spezifischer Karten, der Herausgabe von Briefmarken oder in täglichen Wetterberichten.

In der Abwesenheit nationaler Souveränität werden alle für die Antarktis geltenden Regeln und Entscheidungen von den Konsultativparteien per Konsens auf jährlichen Antarktiskonferenzen gefällt. Durch diese Konsensorientierung und den Fokus auf wissenschaftliche Zusammenarbeit vermochten es die in der Antarktis tätigen Staaten jahrzehntelang, ihre Angelegenheiten friedlich und einvernehmlich zu regeln. Im Rahmen antarktischer Diplomatie werden nur Themen behandelt, die in direktem Zusammenhang mit dem Kontinent stehen – selbst als das Vereinigte Königreich und Argentinien 1982 einen Krieg um die nahen Falklandinseln/Las Malvinas führten, hatte dies keinen Einfluss auf das Antarktische Vertragssystem (vgl. Beck 1986). Der Kriegsausgang hatte ferner keinerlei Auswirkungen auf die überlappenden Gebietsansprüche am Südpol, welche beide Staaten pflegen. Ferner nahm das international isolierte Apartheidregime Südafrikas immer an Antarktistagungen teil, auch wenn es sich dort diplomatisch sehr zurückhielt. Diese gesonderte Reihe von Normen und Praktiken ist als »antarktischer Exzeptionalismus« bekannt geworden.

Gleichzeitig verstanden sich die Konsultativparteien des Antarktisvertrags darauf, die alleinige Autorität über antarktische Belange immer wieder gegenüber anderen internationalen Organisationen und Normen zu behaupten. In den 1980er Jahren kam beispielsweise zunehmend Kritik an dem oft geheimniskrämerischen und wenig repräsentativen Kreis der Konsultativparteien auf, insbesondere da über Möglichkeiten eines regulierten Bergbaus auf dem Kontinent verhandelt wurde. Malaysia stellte in diesem Zusammenhang jährlich im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) die »Antarktis-Frage«: Sollte nicht statt einer kleinen, selbsterwählten Gruppe reicher Polarforschernationen aus dem Globalen Norden eher die VN als Vertretung der gesamten internationalen Gemeinschaft für den südlichen Kontinent verantwortlich sein?

Die Konsultativstaaten reagierten auf diese Legitimitätskritik mit einer Ausweitung der Anzahl anerkannter Konsultativ­parteien, einer zaghaften Öffnung durch die Einladung von Beobachtergruppen, wie zum Beispiel die Umweltorganisation »Antarctic and Southern Ocean Coalition« (ASOC), sowie der Veröffentlichung der Tagungsberichte. Der Legitimitätsdruck von außen führte also dazu, dass sich die Konsultativparteien adaptiv zeigten – es lag im gemeinsamen Interesse zu kooperieren, um weiterhin exklusiv über antarktische Belange bestimmen zu können. So gelang es, innerhalb der Vereinten Nationen glaubhaft zu machen, dass das AVS doch das richtige Format sei, um „im Interesse der ganzen Menschheit […], die Antarktis für alle Zeiten ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen und nicht zum Schauplatz oder Gegenstand internationaler Zwietracht werden zu lassen,“ wie es in der Präambel des Antarktisvertrages heißt. Selbst Malaysia unterzeichnete 2011 schließlich den Vertrag, nachdem es international immer weniger Unterstützung für die Antarktis-Frage innerhalb der VN erhalten hatte.

Kooperieren, um zu konkurrieren

Indem das AVS »die Wissenschaft« zur politischen Währung des Einflusses machte, hat es Wettbewerb und Konkurrenz immer zugelassen, aber eben auf den Bereich der Wissenschaft, Logistik und Infrastruktur beschränkt. Konkurrenzdenken wurde entsprechend nicht überwunden, sondern in weniger politisierte und weniger sicherheitsrelevante Sphären verschoben und kanalisiert. So besteht auch heute noch durchaus eine Konkurrenz darüber, wo welche Forschungsinfrastruktur oder wo Forschungsprojekte angesiedelt und durchgeführt werden. Die Suche nach einem Eisbohrkern mit 1 Million Jahre altem Eis2 etwa kann nicht nur als Versuch gelesen werden, die längste Klimadatenreihe finden zu wollen, sondern auch als status-motiviertes Bemühen um nationalen Ruhm (Hemmings 2020). Gleichzeitig gibt es auch nach über 60 Jahren keine international geplante und geförderte Forschungsstation in der Antarktis, sondern ausschließlich nationale Forschungsstationen (vgl. Hemmings 2011), die oft nicht zuletzt durch Architektur und Namensgebung nationale Symbolik transportieren.

Wie diese Beispiele zeigen, war das historische Rezept für eine friedliche Antarktis von Anfang an eine spezifische Verschränkung von Kooperations- und Konkurrenzelementen, die Koopetition beschreiben: Zusammenarbeit, um zu konkurrieren. In der rauen antarktischen Umwelt ist dies genau das, was Antarktisforschende und Wissenschaftler*innen seit dem Internationalen Geophysikalischen Jahr von 1957-58 am Südpol praktizieren und was sich zu dem oft mythologisierten »antarktischen Geist der Zusammenarbeit« entwickelt hat. Der Begriff Koopetition kommt aus der Wirtschaft: Wenn wirtschaftliche Wettbewerber sich in einem angespannten Markt befinden und über genügend Gemeinsamkeiten in Bezug auf Interessen, Wissen und Fähigkeiten verfügen (Bouncken et al. 2015, S. 585f.), ergibt eine Koopetitionsstrategie häufig Sinn. Koopetition zwischen Wirtschaftsakteuren kann allerdings auch erfolglos verlaufen. Der Schlüssel für eine gelungene Koopetition zwischen Firmen, die in diesem Feld gleichzeitig Freunde und Rivalen sind, liegt im bewussten und aktiven Management dieser entgegengesetzten Logiken. Dabei helfen klare Absprachen in Bezug auf die limitierten Bereiche einer Zusammenarbeit, bei der die Risiken durch Opportunismus, Missverständnisse und Spillover-Effekte mit einer »koopetitiven Mentalität« aufmerksam begleitet werden müssen.

Antarktische Koopetition und die Zukunft

Gegenwärtig steht die antarktische Ordnung vor vielfältigen Herausforderungen wie der Klimakrise, zunehmendem strategischen Wettbewerb sowie neuen Regulierungsherausforderungen, zum Beispiel Tourismus oder Bioprospektion, also der kommerziellen Nutzung biologischer Ressourcen. Dazu kommt, dass antarktische Entscheidungsprozesse in den vergangenen Jahren immer zäher wurden. Der Haftungszusatz zum Umweltprotokoll beispielsweise wurde bei der Antarktistagung 2005 verabschiedet, wartet aber immer noch auf seine Ratifizierung (­Proelss und Steenkamp 2022). Vor diesem Hintergrund wäre ambitionierte Diplomatie von Seiten der Konsultativparteien vonnöten, welche durch den verstärkten strategischen Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China zunehmend erschwert wird.

Bei den letzten Antarktistagungen in Berlin 2022 und Helsinki 2023 wurde es schon als Erfolg gesehen, dass die Treffen überhaupt stattfanden, angesichts dessen, dass ein Konsultativstaat gegen einen anderen einen andauernden Angriffskrieg führt. In Berlin wurde der russische Delegierte für seine Verteidigung des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine deutlich kritisiert und isoliert: zahlreiche Delegierte verließen bei seiner Rede den Raum. Der ukrainische Vertreter betonte dahingehend die langfristigen Schäden für das ukrainische Antarktisprogramm. Gleichzeitig waren die Konsultativparteien 2022 zum Beispiel nicht fähig, China zu überzeugen, dass der Kaiserpinguin einen erhöhten Schutzstatus erhalten sollte (Walters 2022). Vor diesem Hintergrund verstellt die dominante Erzählung von der Antarktis als einer kooperativen Erfolgsgeschichte sowie vom mythischen Geist der dortigen Kooperation, den auch Guterres beschwört, den Blick dafür, dass hier keine Automatismen am Werk sind, sondern eben dynamische koopetitive politische Strukturen zwischen Akteuren, die Rivalen und Partner gleichzeitig sind, was mehr Aufmerksamkeit und aktiveres Management beider Logiken erfordert.

Ein koopetitiver Ansatz, der diesen Problemen begegnen möchte, wäre zunächst einmal die Strategie, in den allgemeinen diplomatischen Beziehungen kooperative Beziehungen in den Räumen zu stärken, in denen sie bereits etabliert sind, wie eben der Antarktis. So ließe sich strategischer Wettbewerb potenziell auf andere Teile des Planeten beschränken und gleichzeitig die geteilten Interessen, wie die fortgesetzte friedliche wissenschaftliche Erforschung der Antarktis sowie Umweltschutz für den Kontinent, ermöglichen. Gerade in Zeiten, in denen globale Forschungskooperation wichtiger denn je ist, die internationale Forschungslandschaft aber politisch zu zersplittern droht (Nature 2023), insbesondere auch in arktischer Polarforschung, lägen in der Antarktis große Chancen für aktive Wissenschaftsdiplomatie.

Antarktische Diplomatie, welche den genannten Herausforderungen mit einer koopetitiven Mentalität begegnet, würde bewusst eine Grenze ziehen zwischen einem außergewöhnlichen Raum, der Antarktis, und dem Rest des internationalen Systems mit jeweils unterschiedlichen Normen für akzeptables und angemessenes Verhalten. Souveräne Gleichheit als Vertragspartner und die Normen der VN-Charta wären dabei allerdings eine rote Linie für diese wiederbelebte Form des antarktischen Exzeptionalismus, wie in Berlin im Jahr 2022 gezeigt: die Verteidigung dieser Grundlinie für die Vertragspartnerschaft sollte nicht als unangemessene »Politisierung«, sondern als Bekräftigung der Grundlagen des AVS angesehen werden.

Neben dem Spillover-Effekt externer Konflikte in die Antarktis besteht die größte Gefahr für den antarktischen Exzeptionalismus in der Klimakrise: Die antarktische Umwelt lässt sich im Zuge der globalen Erwärmung nicht in der Antarktis selbst, sondern nur durch ambitionierte Klimapolitik in den Hauptstädten der Konsultativparteien schützen. Antarktischer und globaler Umweltschutz lassen sich entsprechend immer schwerer trennen, was auf Dauer die exklusive Autorität antarktischer Konsultativparteien infrage stellen dürfte. Weiter stellt sich die Frage, ob zum Beispiel pazifische Inselstaaten, die selbst keine Polarforschung betreiben, aber vom Abschmelzen antarktischer Eismassen existenziell bedroht sind, weiterhin vom Status als Konsultativparteien mit Mitspracherecht ausgeschlossen bleiben sollten (Roberts 2022).

Die Klimakrise bietet aber auch Anlass, neue gemeinsame Interessensgebiete in der Antarktis selbst auszuloten, um die antarktische Diplomatie durch neue kooperative Initiativen wiederzubeleben. Beispielsweise könnten die Konsultativparteien beschließen, das Bergbauverbot dadurch zu stärken, dass sie sich auf ein dauerhaftes Kohlenwasserstoff-Schürfverbot in der Antarktis selbstverpflichten (Flamm und Hemmings 2022). Eine weitere Möglichkeit läge darin, zukünftige Infrastrukturprojekte möglichst international zu realisieren. Die letztlich verworfenen australischen Planungen für den Neubau eines Flugplatzes in der Ostantarktis wären unter Umständen weniger kontrovers diskutiert worden, hätte sich die australische Regierung weniger von ihrem Gebietsanspruch und der Bedrohungswahrnehmung durch die Volksrepublik China (Buchanan 2021), und mehr vom Potential einer internationalen Kollaboration zusammen mit den dort tätigen chinesischen und indischen Polarprogrammen leiten lassen. Schließlich ermöglichen die aufkommenden Debatten um Klimageoengineering in der Antarktis neue regulative Handlungsfelder, entweder um unterschiedliche Ideen zu testen oder präventiv zu verbieten. Hier sind insbesondere die Ideen, kritische Gletschersysteme künstlich zu stabilisieren, das Südpolarmeer in seiner Funktion als Kohlenstoffsenke künstlich zu stärken oder lokales Strahlungsmanagement (»Solar Radiation Management«) zu betreiben, zu nennen.3

Auf diese koopetitive Weise könnte die Antarktis als besonderer politischer Raum, der dem Frieden, der Wissenschaft und dem Umweltschutz verschrieben ist, erhalten werden sowie die Rolle des Kontinents als Modell für internationale Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert neu erfunden werden.

Anmerkungen

1) Tweet von VN Generalsekretär António Guterres, 26. November 2023, online: twitter.com/antonioguterres/status/1728560650790588728

2) Hier wird dieses Ziel vom »Australian Antarctic Program« dargestellt: antarctica.gov.au/science/climate-processes-and-change/antarctic-palaeoclimate/million-year-ice-core/

3) Für eine Übersicht und Einordnung dieser Geoengineering-Maßnahmen in den Polarregionen, siehe Alfthan et al. (2023).

Literatur:

Alfthan, B.; van Wijngaarden, A.; Moore, J.; Kullerud, L.; Kurvits, T.; Mulelid, O.; Husabø, E. (2023): Frozen Arctic: Horizon scan of interventions to slow down, halt, and reverse the effects of climate change in the Arctic and northern regions. A UArctic Rapid Response Assessment. UArctic, GRID-Arendal, and Arctic Centre/University of Lapland. URL: grida.no/publications/1002.

Beck, P.J. (1986): The international politics of Antarctica. London: Croom Helm.

Bouncken, R.B.; Gast, J.; Kraus, S. et al. (2015): Coopetition: a systematic review, synthesis, and future research directions. Review of Managerial Science 9, S. 577-601.

Buchanan, E. (2021): Australia’s scrapping of Antarctic aerodrome could pave the runway for China. ASPI The Strategist Blog, 30.11.2021.

Dodds, K. (2017): ‘Awkward Antarctic nationalism’: bodies, ice cores and gateways in and beyond Australian Antarctic Territory/East Antarctica. Polar Record 53(1), S. 16-30.

Flamm, P. (2023): Is Antarctica still exceptional? The case for “co-opetition” at the South Pole. PRIF Spotlight 5/2023, Frankfurt: Peace Research Institute Frankfurt.

Flamm, P:, Hemmings; A.D. (2022): Now and never: Banning hydrocarbon extraction in Antarctica forever. GIGA Focus Global 1/2022, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA).

Hemmings, A.D. (2011): Why did we get an International Space Station before an International Antarctic Station? The Polar Journal 1(1), S. 5-16.

Hemmings, A.D. (2020): Subglacial Nationalisms. In: Leane, E.; McGee, J. (Hrsg.): Anthropocene Antarctica: Perspectives from the Humanities, Law and Social Sciences. London: Routledge, S. 33-55.

Nature (2023): Global science is splintering into two — and this is becoming a problem. 623(888), URL: nature.com/articles/d41586-023-03711-1.

Proelss, A.; Steenkamp, R.C. (2023): Liability Annex to the Protocol on Environmental Protection to the Antarctic Treaty. In: Gailhofer, P., Krebs, D., Proelss, A., Schmalenbach, K., Verheyen, R. (Hrsg.): Corporate liability for transboundary environmental harm. Springer, Cham, S. 577-601.

Roberts, P. (2023): Does the science criterion rest on thin ice? The Geographical Journal 189, S. 18-24.

Walters, T. (2022): No more Mr Ice Guy – China accused of striking down penguin protections at Antarctic meeting. The Daily Maverick, 03.06.2022.

Dr. Patrick Flamm ist Senior Researcher im Programmbereich »Internationale Sicherheit« am Peace Research Institute Frankfurt – Leibniz Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Zuvor lehrte er Internationale Beziehungen und Umweltpolitik an der Te Herenga Waka – Victoria University of Wellington in Neuseeland. Er forscht zu Fragen von Umwelt, Frieden und Sicherheit im Zeitalter des »Anthropozän« mit einem besonderen Fokus auf den Polarregionen.

Die Themengruppe Polar- und Meerespolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) versteht sich als Plattform für politikwissenschaftliche Forschung zu Wandlungsprozessen in den Polar- und Meeresregionen. Über einen Newsletter (ca. 9 Ausgaben im Jahr), Online-Kolloquien, eine Jahrestagung, koordinierte Konferenz- und Publikationsbeiträge wird den Forschenden ein Raum für Austausch geboten. Als institutionalisiertes Forum will die Themengruppe sich langfristig als Ansprechpartner oder Vermittlungsstelle für politikwissenschaftliche Forschung und Expertise etablieren und sich an der Ausarbeitung entsprechender Forschungsprogramme beteiligen. Eine ausführlichere Vorstellung findet sich unter dvpw.de/gliederung/themengruppen/polar-und-meerespolitik/ueber-uns. Der Newsletter kann über eine formlose Mail an polarmar@dvpw.de abonniert werden. Dort werden auch gerne Fragen zur Arbeit der Themengruppe beantwortet.

In der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung wird gegenwärtig die Gründung eines »Arbeitskreis Polarpolitik« vorbereitet. Die zunehmende politische Bedeutung von Arktis und Antarktis und politischer Handlungsdruck bezüglich ihres Schutzes, ihrer friedlichen Nutzung und rechtlichen Konstituierung haben auch im deutschsprachigen Raum dazu geführt, dass das Interesse an wissenschaftlicher Befassung mit politischen Prozessen, Strukturen und Inhalten der Polarpolitik deutlich gestiegen ist. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, hat die »Deutsche Gesellschaft für Polarforschung« beschlossen, einen neuen Arbeitskreis zu etablieren, der sich Forschung zu politischen Themen in den Polarregionen widmet. Bei Interesse an einer Mitarbeit oder für weitere Informationen kann mit Volker Rachold vom »Deutschen Arktisbüro« Kontakt aufgenommen werden (volker.rachold@arctic-office.de).

Antarktis – Der sechste Kontinent

Antarktis – Der sechste Kontinent

Die Erschließung der »terra australis incognita«

von Cornelia Lüdecke

Um den heutigen politischen Sonderstatus der Antarktis zu verstehen, muss man die bewegte Entdeckungsgeschichte des Kontinents kennen. Immer wieder prallten in den knapp 200 Jahren der Erkundungsphase geographische und geophysikalische Interessen auf nationales Wetteifern, ökonomische Ausbeutung und einander widersprechende territoriale Ansprüche. Doch wie entstand nach und nach das Bild und das Wissen von einem geschlossenen, von Eis überzogenen neuen Kontinent im Süden, auf dem sich der geographische Südpol befand? Unsere Autorin zeichnet es nach.

Bereits im Altertum wurde aus Symmetriegründen auf der Südhalbkugel analog zum Norden eine unbewohnbare kalte Zone postuliert, deren Wesen noch mehrere Jahrhunderte lang unbekannt war. Erst auf der 2. Weltreise (1772-1775) des Engländers James Cook sollte diese »terra australis incognita« erforscht werden. An drei Stellen wurde der Südpolarkreis bis 71°10’S überquert, aber außer festem Eis oder hohen Eisinseln sahen sie nirgends Land. Cook vermutete deshalb, dass sich dort eher ein eisiger Ozean befinden würde. Danach erlosch das Interesse am sagenhaften Südkontinent für fast 50 Jahre.

Erste Entdeckungen im Süden

Als Mitte Februar 1819 ein englisches Handelsschiff von seiner Route um Kap Hoorn ungewollt nach Süden abkam, sichtete Kapitän William Smith zufällig eine der Süd-Shetland-Inseln (Headland 2009). Auf seiner nächsten Reise entdeckte er King George Island, wo er sehr viele Robben und Wale sah. Diese Nachricht löste nicht nur unter den Robbenschlägern einen Boom aus. Der Deutschbalte Fabian Gottlieb Bellingshausen sollte die Antarktis für das Zarenreich näher erkunden (1819-1821). Bei 69°21’S begegnete er am 27. Januar 1820 „kontinentalem Eis von außerordentlicher Höhe“ (Gurney 1983, S. 236). Dann sah er bei 67°7’S einen „Kontinent aus Eis, dessen Ränder senkrecht abbrechen“ (heute: Prinzessin Martha Küste) und entdeckte die Peter-I.-Insel und Alexander-Insel (ebd., S. 247). Fast zeitgleich, am 30. Januar 1820, sichtete auch der britische Seefahrer Edward Bransfield das Trinity „Land, teilweise mit Eis bedeckt“ (Antarktische Halbinsel) (ebd., S. 235f.).

Die Beurteilung, wer nun die Antarktis als erster entdeckt hat, ist müßig, denn was hatten die Männer anderes gesehen als Eis und vielleicht ein paar Felsen? Wie hätten sie beurteilen können, dass sich dahinter ein Kontinent verbarg?

Ausbeutung durch Robbenschläger und Walfänger

Schnell verbreiteten sich die Nachrichten über die lukrativen Gebiete im Süden, so dass bereits in der Saison 1821/22 rund 34 britische und amerikanische Schiffe mit etwa 1.000 Männern die dortigen Robbenbestände fast völlig vernichteten. Um neue Fanggründe zu suchen, startete der britische Robbenschläger James Weddell eine Expedition, die ihn westlich der Antarktischen Halbinsel weit nach Süden führte, wo er am 20. Februar 1823 die Rekordbreite von 74°15’S und 34°16’W erreichte, ohne jegliches Zeichen von Land zu sehen. Heute wird diese tiefe Einbuchtung in den atlantischen Abschnitt des Antarktischen Kontinents Weddellmeer genannt. In seinem Reisebericht schlug Weddell angesichts der Vernichtung der Robbenbestände schon damals vor, statt wie bisher jährlich 320.000 Pelzrobben zu töten, die Zahl auf 100.000 zu beschränken.

Dessen ungeachtet segelten Jahr für Jahr Robbenschläger nach Süden und erkundeten neue Gebiete. Darunter befand sich die Expedition der Gebrüder Enderby (1830-1833) unter Kapitän John Biscoe. Er entdeckte Graham Land (Teil der Antarktischen Halbinsel) und das Enderby Land in der Ostantarktis. Biscoe bezeichnete seine Entdeckungen als „vorgelagerte Landzungen eines Südkontinents“ (ebd., S. 361). Weitere Landsichtungen entlang des Südpolarkreises wurden von den Briten Peter Kemp (Kemp Land) und John Balleny (Balleny Inseln und Sabrina Küste in der Ostantarktis) gemacht.

Die Zeit des Robbenschlags zur Erbeutung der Felle ging in den 1830er Jahren zu Ende und die Expeditionen in antarktische Gewässer wurden nunmehr für die Trangewinnung vom Seeelefanten und Walen durchgeführt, der für die Industrialisierung als Schmiermittel und später als Brennstoff für die Straßenbeleuchtung benötigt wurde.

Suche nach dem südlichen Magnetpol

Die kommerzielle Ära wurde um 1840 durch eine weitere Initiative erweitert, die von Alexander von Humboldt ausging. Nachdem 1831 der Brite James Clark Ross im Nordosten Kanadas buchstäblich auf dem Magnetpol der Nordhemisphäre stand, regte Humboldt die Suche nach dem südlichen Magnetpol an, den Carl Friedrich Gauß 1838 aufgrund der weltweit gesammelten magnetischen Daten in erster Näherung bei 66°S und 146°O bestimmte (Lüdecke 1994). Daraus entwickelte sich ein Wettlauf darum, in der englischsprachigen Literatur auch »magnetic crusade« (magnetischer Kreuzzug) genannt, wer diesen Pol als erster finden würde. Dabei spielten das wissenschaftliche aber auch nationales Prestige eine wesentliche Rolle. Der Franzose Jules Dumont d’Urville entdeckte auf seiner Südseeexpedition (1837-1840) das Adélie Land, während die amerikanische Expedition (1838-1842) unter Charles Wilkes rund 2.700 km der ostantarktischen Küste kartierte. Ross hingegen entdeckte auf der britischen Expedition (1839-1843) das Victoria Land und drang im später nach ihm genannten Rossmeer bis auf 78°10’S vor, wo eine hohe Eismauer, das heutige Rossschelfeis, ein weiteres Vordringen verhinderte. Schließlich konnte er im Februar 1841 den Magnetpol vom Schiff aus bei 75°05’S und 154°08’O bestimmen. Die Kenntnis der antarktischen Region wurde durch diese Expeditionen erheblich erweitert, aber ob die Landsichtungen tatsächlich zu einem Kontinent gehörten, war immer noch offen.

Bisher ging man allgemein von der Vorstellung aus, dass die Arktis ein gefrorener Ozean war, der wie ein See nur vom Ufer aus zufror. Zusätzlich gelangten im Frühling von den Flüssen im Norden Sibiriens und Nordamerikas große Eisschollen ins Meer. Einige Schollen überlebten und wuchsen im folgenden Winter mit anderen zu größeren Gebilden zusammen. Diese Eisschollen schmeckten süß und konnten deshalb nur von den Flüssen stammen. Dass salziges Meerwasser gefrieren kann, war damals unbekannt. Im Gegensatz zur Arktis war die Antarktis von einem Ozean umgeben, dessen Wasser wärmer war als das in der Arktis und auf dem viel Nebel herrschte, der eine weite Sicht verhinderte. War die Antarktis nun ein Ozean mit wechselnder Eisbedeckung (Tammiksaar und Lüdecke 2023)?

In den folgenden fünfzig Jahren (1840-1890) erfuhr die Öffentlichkeit wenig über die Südpolarregion. Es war die Ära der Walfänger und Robbenschläger, die weiter nach Süden vorstießen (Headland 2009). Die Berichte über ihre Entdeckungen wurden vor der Konkurrenz jedoch geheim gehalten und in den Archiven der Auftraggeber aufgehoben.

Internationale Kooperation zur Erforschung der Antarktis

Der Norweger Fridjof Nansen hatte 1888 erstmals Grönland überquert und gezeigt, dass sich dort eine Eiskappe von fast 3.000m Höhe befand, von der Gletscher ins Meer abbrachen (Nansen 2016). Nansens Reisebericht gab den Anlass, sich erneut wissenschaftlich mit der Region um den Südpol zu beschäftigen, die auf den Karten als Antarktischer Ozean, »Unerforschtes Gebiet« oder »Vermeintlicher Umriss des antarktischen Kontinents« bezeichnet wurde (Clancy et al. 2014). Sowohl Clements Markham in Großbritannien als auch Georg Neumayer in Deutschland wollten eine Südpolarexpedition aussenden, „um das bedeutendste der noch zu lösenden geographischen Probleme […] vor Schluss des 19. Jahrhunderts gelöst zu sehen“, wie es die Teilnehmer des VI. Internationalen Geographenkongresses in London beschlossen (Lüdecke 2015, S. 15). Damit regte die geographische Community sozusagen eine Milleniumsaufgabe an.

Der Belgier Adrien de Gerlache de Gomery folgte dem Aufruf als erster und erforschte den westlichen Teil von Graham Land. Weil sein Schiff vom Eis festgesetzt wurde und sie 1898 überwintern mussten, konnten sie die ersten Wetterdaten über alle Jahreszeiten aufzeichnen und 1899 darüber auf dem nächsten Geographenkongress in Berlin berichten. Hier teilte Markham die Südpolarregion in vier Kuchenstücke ein und ordnete gemäß den bisherigen britischen Entdeckungen den Victoria- und Rossquadraten dem britischen und die übrigen Enderby- und Weddellquadranten dem deutschen Arbeitsgebiet zu. Trotz der politischen Rivalität beider Länder verabredete man eine internationale Kooperation für gleichzeitige meteorologische und magnetische Messungen, wie sie bereits mit Erfolg zur Erforschung der Arktis während des Internationalen Polarjahres von 1882-1883 durchgeführt worden waren (Barr und Lüdecke 2010).

Zusätzlich zur britischen Expedition unter Robert Falcon Scott, der deutschen unter Erich von Drygalski beteiligten sich später noch die schwedische Expedition unter Otto Nordenskjöld und die schottische unter William Speirs Bruce an dieser Kooperation (siehe Abbildung 1). Die französische Expedition unter Jean-Baptiste Charcot folgte und erkundete die Antarktische Halbinsel (Headland 2009).

Karte Schauplatz der Südpolarexpeditionen 1902/03

Abbildung 1: Schauplatz der Südpolarexpeditionen 1902/03, Geographen-Kalender 1903-4, Karte 11

Vor Abreise der Expeditionen kehrte die britische Expedition unter der Leitung des Norwegers Carsten Borchgrevink zurück, die 1899 bei Kap Adare im Norden des Victoria Landes erstmals auf dem Festland überwintert hatte und interessante Informationen mitbrachte.

Anhand der bis 1904 gesammelten meteorologischen Daten wie Luftdruck, Temperatur und Windrichtung sowie Geschwindigkeit konnte der Göttinger Klimatologe Wilhelm Meinardus die mittlere Höhe des antarktischen Kontinents mit 2.000 ± 200m berechnen, was recht gut mit dem heutigen Wert übereinstimmt (Meinardus 1909). Ernest Shackletons Vordringen auf dem Eisplateau der Antarktis bis auf 88°23’S am 9. Januar 1909 bestätigte zudem die Theorie vom eisbedeckten Kontinent (siehe Abbildung 2).

Karte Ausmaß des Antarktischen Festlandes

Abbildung 2: Das von Meinardus 1909 bestimmte Ausmaß des Antarktischen Festlandes, ­Ausschnitt aus Meinardus 1909, Tf. 39

Besitzansprüche und temporäre Besiedelung

Nun traten die ersten Begehrlichkeiten auf. Der Norweger Roald Amundsen erreichte im Wettlauf mit Scott im Dezember 1911 den Südpol als erster (Headland 2009). Andere Nationen legten durch wissenschaftliche Expeditionen die Basis für Besitzansprüche auf Teile der Antarktis. So kartierte die Deutsche Antarktisexpedition 1938/39 das Neuschwabenland, um durch die Besitznahme den deutschen Walfang zu sichern. Seit den 1930er Jahren führte der Amerikaner Richard Evelyn Byrd mehrere Antarktisexpeditionen durch, darunter die Operation »High Jump« (1946/47) zum Training von 4.700 Soldaten als Vorbereitung für Einsätze in der Arktis. Aber es gab auch eine internationale Expedition (1949-1952) unter norwegischer Leitung mit britischen und schwedischen Teilnehmern. Diese sehr erfolgreiche Expedition wurde zum Modell für die künftige internationale Zusammenarbeit.

Einen anderen Weg beschritten die südamerikanischen Länder. 1937 meldete Argentinien gemäß dem Vertrag von Tordesillas seinen Besitzanspruch auf die Antarktische Halbinsel an (Lüdecke 2011, Clancy et al. 2014). 1940 folgte Chile mit der Bekanntgabe des »Territorio Chileno Antártico« als Fortsetzung der Anden in den Antarktanden. Dabei verwalteten die Briten bereits schon viel länger die »Falkland Islands Dependencies«, die bis zur Ostküste des Weddellmeeres ausgedehnt wurden. Zur Verteidigung der eigenen Interessen richteten die Briten im Rahmen der Operation »Tabarin« (1943-1945) auf der Halbinsel drei ganzjährig besetzte Stationen ein. Diese drei überlappenden Besitzansprüche werden auch das ABC-Problem genannt. Um solche Konflikte zu beenden, wollte man von amerikanischer Seite aus für die Antarktis einen internationalen Status mit einer internationalen Verwaltung erwirken, denn diese Region hätte mehr wissenschaftlichen Wert als ökonomischen oder strategischen Nutzen.

Eine vorübergehende Besiedelung der Antarktis geschah während des Kalten Krieges, als im Rahmen des Internationalen Geophysikalischen Jahres (1957-1958) Argentinien, Australien, Belgien, Chile, Frankreich, Japan, Neuseeland, Norwegen, Südafrika, Großbritannien, die USA und die UdSSR insgesamt 37 wissenschaftliche Stationen in der Antarktis einrichteten (Barr und Lüdecke 2010). Ziel war die umfassende Erforschung des Kontinents unter Nutzung modernster Messmethoden. Ein Highlight war die »Commonwealth Trans-Antarctic Expedition« (1955-1958) unter Vivian Fuchs und Edmund Hilary, die als erste den Kontinent vom Weddellmeer bis zum Rossmeer durchquerte und unterwegs den Untergrund der Eiskappe sondierte. Nach dieser Phase sprachen sich die beteiligten Länder für die Fortsetzung der Messungen im Jahr der Internationalen Geophysikalischen Kooperation (1959) aus, damit die unter hohem finanziellem Einsatz errichteten Stationen weiter genutzt würden. Die Wissenschaftler von zwölf Nationen bewiesen in der Folge, dass eine Zusammenarbeit jenseits politischer Rivalitäten möglich war.

Folgen der permanenten menschlichen Präsenz

Die fortgesetzte menschliche Präsenz in der Antarktis zur Forschungszwecken führte 1959 zum Antarktisvertrag, der 1961 von den zwölf genannten Staaten ratifiziert wurde (siehe Flamm, S. 29 in dieser Ausgabe). Die wichtigsten Punkte sind: Friedliche Nutzung der Antarktis, Förderung der internationalen Forschungskooperationen, uneingeschränkter Austausch von Informationen, aber auch Verbot von militärischen Aktionen, der Stationierung von Atomraketen und der Anlage von radioaktiven Deponien. Außerdem wurden alle Besitzansprüche auf Eis gelegt. Zusätzlich richtete man ein Wissenschaftliches Komitee für Antarktisforschung (SCAR) ein, das bis heute die Forschung im Rahmen des Antarktisvertrages koordiniert. Weitere Länder traten dem Vertrag bei. 1974 wurde die Deutsche Demokratische Republik aufgenommen und 1979 die Bundesrepublik Deutschland, die nach der Wende ihre Aktivitäten im Alfred-Wegener-Institut bündelten.

Seit 1983 setzte sich die Umweltschutz­organisation Greenpeace für die Einrichtung eines antarktischen Weltparks ein (Greenpeace 2004). Schließlich wurde 1997 das Umweltschutzprotokoll (Madrid-Protokoll) als Zusatz zum Antarktisvertrag ratifiziert, das die Ausbeutung der Bodenschätze verbietet, sowie Fauna und Flora schützt. Nun ist die Antarktis ein Naturreservat, dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet.

Literatur

Barr, S.; Lüdecke, C. (Hrsg.) (2010): The history of the International Polar Years (IPYs). Berlin, Heidelberg: Springer.

Clancy, R.; Manning J.; Brolsma, H. (2014): Mapping Antarctica. A five hundred year record of discovery. Dordrecht: Springer Science Medi.

Greenpeace (2004): Weltpark Antarktis – eine Chronik. Webdokumentation, online unter: greenpeace.de/biodiversitaet/meere/meeresschutz/weltpark-antarktis-chronik.

Gurney, A. (1997): Der weiße Kontinent. Die Geschichte der Antarktis und ihrer Entdecker. München, Zürich: Diana.

Headland, R. K. (2009): A chronology of Antarctic exploration. London: Quaritch.

Lüdecke, C. (1994): Die Bedeutung Alexander von Humboldts für die wissenschaftliche Erforschung der Antarktis. In: Leitner, U.; Mikosch, R.; Schwarz, I.; Suckow, Ch. (Hrsg.): Studia Fribergensia. Vorträge des Alexander-von-Humboldt-Kolloquiums in Freiberg vom 8. bis 10. November 1991 aus Anlass des 200. Jahrestages von A. v. Humboldts Studienbeginn an der Bergakademie Freiberg. Beiträge zur Alexander-von-Humboldt-Forschung, Bd. 18. Berlin: Akademie-Verlag, S. 177-187.

Lüdecke, C. (2011): Parallel precedents for the Antarctic Treaty. In: Berkman, P.A.; Lang, M.A.; Walton, D.W.H.; Young O.R. (Hrsg.): Science diplomacy. Antarctica, science, and the governance of international spaces. Washington DC: Smithsonian Institution Scholary Press, S. 253-263.

Lüdecke, C. (2015): Deutsche in der Antarktis. Expeditionen und Forschungen vom Kaiserreich bis heute. Berlin: Ch. Links.

Meinardus, W. (1909): Die mutmaßliche mittlere Höhe des antarktischen Kontinents. Petermanns Geographische Mitteilungen Teil I: 55(9), S. 304-309; Teil II: 55(12), S. 355-360.

Nansen, F. (2016[1891]): Auf Schneeschuhen durch Grönland. 2 Bände. Norderstedt: Hanse.

Tammiksaar, E.; Lüdecke, C. (2023): The discovery of Antarctica. Tracing the untraceable? In: Howkins, A.; Roberts, P. (Hrsg.): The Cambridge history of the polar regions. Cambridge: Cambridge University Press, S. 181-206.

Prof. Dr. rer. nat. Cornelia Lüdecke ist Diplommeteorologin und pensionierte Wissenschaftshistorikerin der Universität Hamburg mit den Themenschwerpunkt Geschichte der Meteorologie und der Polarforschung. 1989 hat sie den Arbeitskreis »Geschichte der Polarforschung« und 2004 die internationale Expert*innengruppe »History of Antarctic Research« gegründet. Sie hat 19 Bücher und Tagungsbände zur Polargeschichte herausgegeben.

Die Sámi in einer umkämpften Arktis

Die Sámi in einer umkämpften Arktis

Aktuelle Herausforderungen für Selbstverwaltung und Autonomie

von Rene Urueña

Die rechtlichen und politischen Regelungen für die Selbstverwaltung der Sámi sind in Finnland seit langem umkämpft. Darüber hinaus schließen sich nach den geopolitischen Turbulenzen, die durch den Einmarsch Russlands in die Ukraine ausgelöst wurden, zunehmend wertvolle internationale Räume für Zusammenarbeit und Beteiligung. Trotz zahlreicher Fortschritte bei der formalen Anerkennung von Rechten und der Schaffung von Räumen für internationale Beteiligung scheint die Selbstverwaltung der Sámi in der Arktis nach wie vor stark umstritten und externen geopolitischen Dynamiken ausgesetzt zu sein, die sich der Kontrolle der indigenen Gruppe entziehen.

Die Sámi1 sind eine indigene Gruppe von 50.000-100.000 Menschen, deren Heimat (traditionell als Sápmi bekannt) große Gebiete im heutigen Nordnorwegen, Finnland, Schweden und Russland umfasst. Sie sind jedoch eine klare Minderheit: Sie machen nur etwa 2,5 % der Bevölkerung des als Sápmi bezeichneten geografischen Gebiets aus, und ein großer Teil der Sámi lebt außerhalb dieses Gebiets (Mamo 2023). Die Sámi sind das einzige indigene Volk in der Europäischen Union; als solches haben sie eine eigene Sprache, Kultur, Traditionen und Selbstverwaltungsstrukturen, die oft unter starkem Druck durch äußere Faktoren stehen, wie z.B. durch die militärischen Spannungen zwischen der NATO und Russland in der arktischen Region. Derzeit gibt es neun samische Sprachen, von denen das Nordsámi mit etwa 75 % der Sprecher*innen die am weitesten verbreitete ist. Allerdings gibt es eine beträchtliche Vielfalt unter einigen dieser Sprachen, die in Schweden, Finnland und Norwegen offiziell gesetzlich geschützt sind, nicht aber in Russland (Svonni 2008).

Ein Großteil der samischen Kultur und des traditionellen Lebensunterhalts ist mit der Rentierzucht, dem Fischfang, der Jagd und dem Kunsthandwerk verbunden. Rentiere spielen in der samischen Kultur eine besonders wichtige Rolle. Ein Großteil des traditionellen Kalenderjahres ist auf die Wanderung der Rentiere ausgerichtet: Das Jahr beginnt im Juni auf den Sommerweiden, wo die Kälber gefüttert werden und Geweih und Fell kräftiger werden, um dem nächsten Winter standzuhalten. Dort werden die Ohren der Kälber markiert: Jede*r Rentierbesitzer*ini hat ein einzigartiges Ohrzeichen, das den Besitzer des Tieres identifiziert. Danach geht es auf die Herbstweiden, wo die für die Schlachtung ausgewählten Rentiere ausgesondert werden und die anderen Tiere sich paaren. Weiter geht es zu den Winterweidegründen, wo die Tiere unter dem Schnee nach Pflanzen und Nährstoffen graben, und schließlich zu den Kalbungsgebieten im Frühjahr, wo die Kälber geboren werden (oft im Mai) und ein neuer Zyklus beginnt (Mazzullo 2012).

Rentiere versorgen die Sámi traditionell mit Nahrung, Kleidung und Materialien für das Kunsthandwerk. Heute wird die Rentierzucht jedoch meist parallel zu anderen landwirtschaftlichen Tätigkeiten und im Einklang mit den örtlichen Vorschriften betrieben. In Finnland zum Beispiel, wo die Rentierzucht nicht auf die Sámi beschränkt ist, gibt es ein klar definiertes Rentierzuchtgebiet, das etwa 35 % des Landes umfasst. Dort dürfen die Rentiere frei weiden, unabhängig vom Landeigentum. Das Rentierzuchtgebiet ist in mehr als 50 kleinere Gebiete unterschiedlicher Größe unterteilt (von denen einige eindeutig als samische Bezirke gekennzeichnet sind), von denen jedes von einer Genossenschaft verwaltet wird. Jede*r Rentierbesitzer*in gehört einer Genossenschaft an, die ihre eigene Führung wählt und in einem Hirt*innenverband vertreten ist, der jedes Jahr im Juni, zu Beginn des Zuchtjahres, in einem »Rentierparlament« zusammenkommt. Nach Angaben des finnischen Rentierzüchter*innenverbandes gibt es in Finnland etwa 4.400 Rentierbesitzer*innen, von denen etwa 1.000 Sámi sind (Reindeer Herders’ Association 2022).

Sámi-Selbstverwaltung in Finnland

Die Kultur und die Traditionen der Sámi sind seit langem den Regulierungen der finnischen Regierung unterworfen und sind offiziell durch das Gesetz geschützt. In Abschnitt 17 der finnischen Verfassung heißt es, dass „die Sámi als indigenes Volk das Recht haben, ihre eigene Sprache und Kultur zu bewahren und weiterzuentwickeln“, und in Abschnitt 121 heißt es, dass „die Sámi in ihrem angestammten Land eine sprachliche und kulturelle Selbstverwaltung haben“. In diesem Zusammenhang ist einer der akutesten Konfliktanlässe zwischen der finnischen Regierung und der Führung der Sámi einer der Selbstverwaltung – konkret das »Sámi-Parlament«. Das Parlament ist das Selbstverwaltungsorgan der Sámi in Finnland, das 1996 auf der Grundlage seines Vorgängers, der »Sámi-Delegation«, die von 1973 bis 1995 tätig war, eingerichtet wurde. Das Sámi-Parlament ist ein unabhängiges Organ, das nicht Teil der öffentlichen Verwaltung ist. Es wird aus öffentlichen Mitteln finanziert und arbeitet unter einem Verwaltungsmandat des Justizministeriums.

Nach dem finnischen Gesetz über die Selbstverwaltung der Sámi „wählen die Sámi aus ihrer Mitte ein Sámi-Parlament für die Zwecke der kulturellen Autonomie“. Die entscheidende Frage ist jedoch, wer sich in die Wähler*innenliste für die Wahlen eintragen darf. Wer zählt als Sámi? Das Gesetz besagt, dass ein*e Same eine Person ist, die „sich selbst als Sámi betrachtet“, vorausgesetzt, dass die Person „oder mindestens einer ihrer Eltern oder Großeltern Sámi als Muttersprache erlernt hat(Gesetz 974/1995; Änderungen bis einschließlich 1026/2003, laki saamelaiskäräjistä, Abschnitt 3.1), oder dass „mindestens einer ihrer Elternteile als Wähler für eine Wahl zur Sámi-Delegation oder zum Sámi-Parlament registriert war oder hätte registriert werden können“. (Gesetz 974/1995, Abschnitt 3.3)

Diese Bestimmungen scheinen erst einmal mit dem übereinzustimmen, was in vielen indigenen Selbstbestimmungsgesetzen in anderen Teilen der Welt enthalten ist. Die finnische Gesetzgebung enthält jedoch eine zusätzliche Klausel, die eine*n Same als jemanden definiert, der*die „von einer Person abstammt, die in einem Grund-, Steuer- oder Bevölkerungsregister als Berg-, Wald- oder Fischerlappe eingetragen ist“ (Gesetz 974/1995, Abschnitt 3.2). Diese Klausel bezieht sich auf die seit langem bestehenden finnischen Steuerregister (seit dem 18. Jahrhundert), in denen die Zahlungen von Personen erfasst sind, die den so genannten Lebensstil der Lappen leben (Jagd, Rentierzucht usw.), zu denen sowohl Angehörige der finnischen Mehrheitsbevölkerung als auch der Sámi gehören. Die Lappensteuerklausel öffnet das Sámi-Parlament daher für Mitglieder, die sich selbst als Sámi bezeichnen, die aber von anderen Mitgliedern, die Sámi als Muttersprache gelernt haben, möglicherweise nicht als solche anerkannt werden.

Diese Frage ist im Menschenrechtssystem der Vereinten Nationen schon seit einiger Zeit umstritten. Bereits 2009 stellte der UN-Ausschuss für die Beseitigung rassistischer Diskriminierung (»UN Committee on the Elimination of Racial Discrimination «, CERD) fest, dass die Rechtsauslegung des finnischen Obersten Verwaltungsgerichts der Selbstidentifizierung von Personen mehr Gewicht verleihen sollte (CERD/C/FIN/CO/19). Einige Jahre später, im Jahr 2012, kam derselbe Ausschuss zu dem Schluss, dass die finnische Gesetzesauslegung den Rechten der Sámi nicht genügend Gewicht beimaß (CERD/C/FIN/CO/20-22).

Die Kontroverse spitzte sich bei den samischen Wahlen 2015 zu, als Hunderte von Personen eine Registrierung als neue Wähler*innen beantragten, von denen 182 vom zuständigen Gremium des samischen Parlaments, dem Wahlausschuss, abgelehnt wurden. Gegen diese Ablehnungen wurde beim Exekutivrat des Sámi-Parlaments und anschließend beim Obersten Verwaltungsgericht Finnlands Berufung eingelegt. In zwei Entscheidungen in den Jahren 2015 und 2016 entschied das Oberste Verwaltungsgericht Finnlands gegen die Entscheidungen des Wahlausschusses und ordnete die Aufnahme von 93 dieser Personen in das Wählerverzeichnis an, so dass sie wählen durften. Umstritten war, dass das finnische Gericht sich nicht zu sehr darum kümmerte, ob der*die potenzielle Wähler*in auch nur eines der im Gesetz festgelegten objektiven Kriterien (nicht einmal das Steuerkriterium der Lappen) erfüllte, sondern auf die Gesamtbetrachtung der eigenen Meinung der Person über sich selbst als Sámi zurückgriff; für das Gericht wäre ein Ausschluss aus dem Wähler*innenverzeichnis, wie ihn der Wahlausschuss des Sámi-Parlaments beabsichtigte, in der Tat eine Diskriminierung der Kläger*innen.

Vorhersehbarerweise wurde die Entscheidung des Gerichts von der Führung der Sámi energisch zurückgewiesen, die daraufhin eine Reihe von Individualbeschwerden bei den Menschenrechtsgremien der Vereinten Nationen einreichte, mit dem Argument, dass eine solche Entscheidung „die Stimme des sámischen Volkes im Sámi-Parlament und die Wirksamkeit des Parlaments bei der Vertretung des sámischen Volkes bei wichtigen Entscheidungen (Finnlands), die ihr Land, ihre Kultur und ihre Interessen betreffen können, schwächt“. (CCPR/C/124/D/2668/2015).

Zwei UN-Gremien stellten sich auf die Seite der Sámi. Im Jahr 2019 stellte der Menschenrechtsausschuss zweimal fest (in CCPR/C/124/D/2668/2015 und CCPR/C/124/D/2950/2017), dass Finnland tatsächlich das Recht der Sámi verletzt hat, direkt oder durch frei gewählte Vertreter*innen an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen (Artikel 25 ICCPR), in Verbindung mit ihrem Recht, als Minderheit ihre eigene Kultur zu genießen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben und ihre eigene Sprache zu verwenden (Artikel 27 ICCPR). Das CERD wiederum stellte noch 2022 fest, dass das finnische System das Recht der Sámi verletzt, ihre eigene Identität oder Zugehörigkeit in Übereinstimmung mit ihren Bräuchen und Traditionen zu bestimmen, und die Strukturen und die Mitglieder ihrer Institutionen in Übereinstimmung mit ihren eigenen Verfahren auszuwählen (gemäß Artikel 33 der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte indigener Völker) (CERD/C/106/D/59/2016).

Infolge dieser breiten Verurteilung haben verschiedene finnische Regierungen versucht, das Gesetz über das Sámi-Parlament zu ändern, jedoch bislang ohne Erfolg. Die Erneuerung des Sámi-Parlamentsgesetzes hat den Verfassungsausschuss des finnischen Parlaments dreimal erreicht und ist jedes Mal gescheitert. Letztlich scheint die Frage des Sámi-Parlaments ein politisches Minenfeld zu sein. Die Politiker*innen in der Hauptstadt Helsinki scheinen wenig politischen Nutzen aus diesem wichtigen Thema ziehen zu können, das auch nur wenige Wähler*innenstimmen bringt. Insbesondere in einem Kontext, in dem das russische Expansionsstreben die meisten finnischen Kommentarspalten zu füllen scheint. Erst kürzlich, im Herbst 2023, versprach die neu gebildete Regierung von Ministerpräsident Orpo, einen weiteren Gesetzentwurf zur Änderung des geltenden Gesetzes vorzulegen (YLE News 2023). Es wurden jedoch keine Ergebnisse erzielt, was darauf hindeutet, dass die Debatte über das Sámi-Parlament und damit auch ein Großteil der Debatte über die Selbstbestimmungsrechte der Sámi im politischen Gefrierfach des Mainstreams bleiben wird – zumindest vorerst.

Internationale Governance: Erhöhte geopolitische Spannungen und arktische Zusammenarbeit

In Anlehnung an die nationalen Selbstverwaltungsstrukturen haben die Sámi eine stabile Organisationsstruktur für die internationale Zusammenarbeit und Vertretung geschaffen. Der 1956 gegründete »Sámi-Rat« ist eine internationale Nichtregierungsorganisation, die sich aus samischen Organisationen aus Finnland, Russland, Norwegen und Schweden zusammensetzt. Der Rat ist besonders aktiv bei den Vereinten Nationen und hat den Status eines »Ständigen Teilnehmers« im Arktischen Rat, einem wichtigen zwischenstaatlichen Forum für die Verwaltung der Arktis. Darüber hinaus hat der Rat 2019 eine Sondereinheit eingerichtet, die Einfluss auf die EU-Politik nehmen soll, unter anderem auf den Abbau von Grenzbarrieren in Sápmi.

Der Status eines »Ständigen Teilnehmers« im Arktischen Rat ist in internationalen Organisationen außergewöhnlich, da er über den »Beobachterstatus« für NGOs hinausgeht, den es anderswo gibt (Urueña 2008). Er gibt indigenen Organisationen die Möglichkeit, neben den Mitgliedsstaaten an allen Sitzungen teilzunehmen und die Agenda mitzugestalten. Infolgedessen war der Sámi-Rat in der Lage, echten Einfluss auf den Entscheidungsfindungsprozess im Arktischen Rat auszuüben, da es oft der Fall ist, dass die Mitgliedsstaaten eine bestimmte Policy nicht vorantreiben, die von diesen Teilnehmern abgelehnt wird, wie z.B. in Fragen des Umweltschutzes (Koivurova und Heinämäki 2006).

Dieser Einflussbereich ging jedoch im März 2022 verloren, als der Arktische Rat seine Aktivitäten als Reaktion auf Russlands Einmarsch in der Ukraine einstellte. Dies stellt für die Sámi eine Herausforderung an vielen Fronten dar (Zellen 2023). Einerseits offenbart es einen Bruch innerhalb der indigenen Organisationen mit ständigem Teilnehmerstatus im Rat. Bezeichnenderweise unterstützte eine der teilnehmenden Organisationen, die »Russische Assoziation der indigenen Völker des Nordens« (RAIPON), die zunehmend unter dem Einfluss Moskaus steht, wenige Wochen vor der Aussetzung der Aktivitäten im Arktischen Rat Putins „Wunsch und Entscheidung, die Rechte und Interessen der Bewohner*innen der Volksrepubliken Donezk und Luhansk sowie die Sicherheit eines multiethnischen Russlands zu schützen“ (RAIPON 2022). Und obwohl eine andere Organisation (das »Internationale Komitee der indigenen Völker Russlands« (ICIPR)) rasch eine eigene Erklärung herausgab, in der sie die Invasion verurteilte, genießt RAIPON immer noch den Status eines offiziellen Teilnehmers (während ICIPR diesen Status nicht hat), wodurch sich die indigene Vertretung im Arktischen Rat entlang geopolitischer Linien zersplittert (Hosa 2023).

Darüber hinaus, und das ist vielleicht das Wichtigste, wurden die indigenen Teilnehmer des Arktischen Rates von den Mitgliedsstaaten nicht konsultiert, als die Entscheidung zur Aussetzung der Aktivitäten getroffen wurde – ein wichtiger Rückschritt in Bezug auf die Möglichkeiten der Sámi, internationale Politik zu beeinflussen, die sie betrifft. Obwohl Norwegen im Mai 2023 den Vorsitz des Rates übernommen und sein ausdrückliches Ziel erklärt hat, die arktische Zusammenarbeit nicht ins Stocken geraten zu lassen (Norwegian Ministry of Foreign Affairs 2023), muss der Realität ins Auge geblickt werden, dass einerseits ein Präzedenzfall in dem Sinne geschaffen wurde, dass folgenschwere geopolitische Entscheidungen in der Arktis getroffen werden, ohne die indigenen Gruppen zu konsultieren, und dass andererseits eine stabile multilaterale Zusammenarbeit in der Arktis ohne Russland unwahrscheinlich erscheint – was das Risiko birgt, dass der Sámi-Rat (und andere arktische indigene Organisationen) eines wichtigen Einflussbereichs in der internationalen Governance beraubt wird.

In ähnlicher Weise hat die Invasion auch die Strukturen der inner-samischen Zusammenarbeit beeinträchtigt, insbesondere zwischen den samischen Gruppen in Russland einerseits und denen in Finnland, Norwegen und Schweden andererseits (Zmyvalova 2022). Im April 2022 beschloss der Sámi-Rat, die Zusammenarbeit mit den Mitgliedsorganisationen der russischen Seite »auf Eis zu legen«. In der Praxis bedeutet dies, dass die Zusammenarbeit mit den russischen Sámi, die im Sámi-Rat durch die Kola-Saami-Assoziation und den Saami-Verband der Region Murmansk vertreten sind, ebenfalls auf Eis gelegt wurde. Bei der Bekanntgabe der Entscheidung formulierte der Sámi-Rat die Herausforderung in geopolitischen Begriffen und erklärte, dass „wir vor 1992 zu lange durch die Handlungen der Staaten und die durch Sápmi gezogenen Grenzen getrennt waren. Wiederum beeinträchtigt und bedroht das Handeln eines Staates die Zusammenarbeit und Einheit des samischen Volkes“ (Sámi Council 2022).

Die Zusammenarbeit mit Russland im »Barents Euro-Arctic Council« wurde im März 2022 ebenfalls ausgesetzt, und Russland zog sich ein Jahr später ganz aus der Organisation zurück. Der »Barents-Rat« verfügt über eine ständige Arbeitsgruppe für indigene Völker (WGIP), die 1995 gegründet wurde, sich aus samischen Vertreter*innenn zusammensetzt und eine beratende Funktion im Rat hat (Barents Euro-Arctic Council 2023). Sie hat sich als wichtiges Forum für die Zusammenarbeit der Sámi und für politische Interventionen erwiesen, insbesondere zu Fragen im Zusammenhang mit dem Klimawandel in der Arktis, der Nordpolitik der Europäischen Union und dem traditionellen Wissen und Kulturerbe. Selbst wenn die Arbeitsgruppe weiterhin mit Vertreter*innen aus den anderen Mitgliedstaaten arbeitet (was sie tut), sind die Auswirkungen auf die Sámi drastisch. „Der Mangel an Interaktion mit den Sámi auf russischer Seite beunruhigt uns“, sagte Eirik Larsen, Mitglied der WGIP und Vertreter im Sámi-Parlament in Norwegen, gegenüber High North News, „wir Sámi sind ein Volk, und es ist schlimm, dass ein Teil unseres Volkes isoliert ist. Vor allem ist es kritisch für die Sámi und andere indigene Völker in Russland, die ohne eigenes Verschulden in diese Situation geraten sind(Edvardsen 2023).

Die Sámi und die Finnische Arktisstrategie

Im Jahr 2021 verabschiedete Finnland eine neue »Arktische Strategie«, die die Evolution des strategischen Denkens des Landes über die Region widerspiegelt (Borg und Brander 2021). Im Gegensatz zur Version von 2013 ist die neue Strategie stärker auf Sicherheitsfragen ausgerichtet und weniger optimistisch, was die Zusammenarbeit mit Russland außerhalb der Umweltkooperation (insbesondere bei der nuklearen Sicherheit und der Emissionsreduzierung) angeht. Besonders bemerkenswert ist, dass die Strategie von 2021 die Rechte der Sámi als eine der wichtigsten Prioritäten der finnischen Politik in der Arktis aufnahm. Im Hinblick auf die Selbstverwaltung der Sámi und die Beteiligung an internationalen Governance-Strukturen umfassten die strategischen Ziele für 2021-2030 die „Verbesserung der Möglichkeiten für indigene Völker, sich an der arktischen Zusammenarbeit, einschließlich der Zusammenarbeit in der Barents-Region, zu beteiligen“ und einen „Wahrheits- und Versöhnungsprozess zur Aufarbeitung historischer Ereignisse zu ermöglichen, der auch zum Aufbau von Versöhnung und Vertrauen zwischen dem indigenen Volk der Sámi und der finnischen Regierung beiträgt“ (Artikel 46, Absatz 4.3).

Und doch scheint Russlands Einmarsch in der Ukraine diese Ziele deutlich zurückgeworfen zu haben. Wie eine Expert*innengruppe feststellte, die vom finnischen Premierminister beauftragt worden war, die Auswirkungen von Russlands Krieg auf die arktische Zusammenarbeit zu bewerten (Koivurova et al. 2022), ist es für die indigenen Völker der Arktis umso schwieriger, ihren Platz in der Zusammenarbeit zu finden, je stärker die Spannungen in der arktischen Region sind. Reformversuche der nationalen Selbstverwaltung scheinen ins Stocken geraten zu sein, und wertvolle Räume für internationale Zusammenarbeit und Beteiligung scheinen sich Stück für Stück zu schließen. In einem Kontext geopolitischer Unruhe erscheinen die Möglichkeiten der Sámi, sich selbst zu regieren, zunehmend eingeschränkter zu sein. Doch trotz dieser Einschränkungen scheinen multilaterale Partizipationsräume weiterhin der beste Weg zu sein, um die internationale Position der Sámi zu stärken und damit die Verhandlungsposition dieser Gruppe im eigenen Land zu verbessern. Die Abkopplung der Geopolitik von den innenpolitischen Debatten könnte sich als kontraproduktiv erweisen, auch wenn dies in einem Kontext, in dem die Sámi auf beiden Seiten der finnisch-russischen Grenze gespalten erscheinen, verlockend zu sein scheint. Wie auch die Natur selbst ihre Zeit braucht, um sich zu verändern und zu entwickeln, werden sich nur dann innenpolitische Partizipationsmöglichkeiten entwickeln, wenn deutlich wird, dass indigene Rechte klar wichtiger sind, als konjunkturelle geopolitische Erwägungen.

Anmerkung

1) Anmerkung des Übersetzers: Auf Deutsch gibt es auch die Schreibweise »die Samen«. Da die Eigenbeschreibung der Gruppe jedoch »Sámi« ist und der Autor durchgehend die Schreibweise »Sámi« verwendet hat, bleibt auch die Übersetzung bei dieser Verwendung.

Literatur

Barents Euro-Arctic Council (2023): Working group of indigenous peoples. Barents Euro-Arctic Council, Homepage.

Borg, E.; Brander, N. (Hrsg.) (2021): Finland’s strategy for Arctic policy. Helsinki: Finnische Regierung.

Edvardsen, A. (2023): Russia out of the Barents Euro-Arctic Council. ‘Cooperation with the Sámi on the Russian side is severely affected by Russia’s war.’ High North News, 29.9.2023.

Hosa, J. (2023): Feeling the chill. Navigating Arctic governance amid Russia’s war on Ukraine. European Council on Foreign Relations, Policy Brief, Mai 2023.

Koivurova, T. et al. (2022): Arctic cooperation in a new situation. Analysis on the impacts of the Russian war of aggression. Government Reports 2022-3. Helsinki: Finnische Regierung.

Koivurova, T.; Heinämäki, L. (2006): The participation of indigenous peoples in international norm-making in the Arctic. Polar Record 42(2), S. 101-109.

Mamo, D. (Hrsg.) (2023): The indigenous world 2023. Copenhagen: International Work Group for Indigenous Affairs.

Mazzullo, N. (2012): The sense of time in the north. A Sámi perspective. Polar Record 48(3), S. 214-222.

Norwegian Ministry of Foreign Affairs (2023): Norway’s chairship of the Arctic Council 2023–2025. BrosjyreVeiledning. Document E1016-E. URL: regjeringen.no, 28.3.2023.

RAIPON (2022): RAIPON supports the decision of president Putin to start the war in Ukraine. 13.3.2022.

Reindeer Herders’ Association (2022): Reindeer herders. URL: paliskunnat.fi.

Sámi Council (2022): Cooperation with Russian side on hold. Sámiráđđi,10.4.2022.

Svonni, M. (2008): Sámi languages in the nordic countries and Russia. In: Extra, G.; Gorter, D. (Eds.): Multilingual Europe. Facts and policies. Contributions to the sociology of language 96. Berlin, New York: De Gruyter Mouton, S. 233-252.

Urueña, R. (2008): Derecho de las Organizaciones Internacionales. Bogotá: Temis/Uniandes.

YLE News (2023): Sami self-governing reform headed to Finnish parliament. YLE News, 10.8.2023.

Zellen, B. S. (2023): As war in Ukraine upends a quarter century of enduring Arctic cooperation, the world needs the whole Arctic Council now more than ever. Northern Review 54, S. 137-160.

Zmyvalova, E. (2022): The impact of the war in Ukraine on the indigenous small-numbered peoples’ rights in Russia. Arctic Review on Law and Politics 13 (August), S. 407-414.

Rene Urueña ist Professor für Rechtswissenschaften an der Universität von Lappland (Finnland) und der Universidad de Los Andes (Kolumbien) (derzeit beurlaubt).

Aus dem Englischen von David Scheuing.

Politische Dynamiken in der Arktis

Politische Dynamiken in der Arktis

Klimawandel, Transformationskonflikte und Koexistenzsicherung

von Christoph Humrich

Wenn von Politik in der Arktis gesprochen wird, sei es über sicherheitsrelevante zwischenstaatliche Konflikte einerseits oder über die zwischenstaatliche Umweltkooperation im Arktischen Rat andererseits, spielt der Klimawandel eine herausragende Rolle. Unzweifelhaft zeitigt er dramatische Folgen in der Region. Er ist eines der drängendsten Probleme für ihre Bewohner*innen und über klimarelevante Kipppunkte auch für den Rest der Welt. Um die wesentlichen Entwicklungen in der Region zu verstehen, muss der Blick trotzdem zunächst unabhängig vom Klimawandel auf die relevanten politischen Dynamiken gerichtet werden. Das bessere Verständnis ihrer jeweiligen Logiken sollte auch der Klimapolitik helfen.

Im Themenheft Arktis der KAS-Auslandsinformationen schreibt der ehemalige deutsche Beobachter im Arktischen Rat, Michael Däumer: „Der »Kampf um den Nordpol« ist in aller Munde. Als Auslöser gilt insbesondere der globale Klimawandel“ (2023, S. 7). Das ist sicher eine zutreffende Charakterisierung der Erzählung, die der überwiegenden Wahrnehmung der Region in der hiesigen Öffentlichkeit zugrunde liegt. Der Klimawandel bedinge und intensiviere geopolitische Konflikte in der Region, die im Zusammenspiel mit neu zugänglichen Ressourcen, maritimen Status- und Grenzdisputen sowie sich öffnenden Schifffahrtswegen zu einer Militarisierung und Konflikteskalation in der Arktis führen.

Eine andere Erzählung war hierzulande bis vor Kurzem weniger verbreitet. Auch in dieser spielte der Klimawandel die herausragende Rolle: Hier allerdings nicht als Auslöser eskalierender Konflikte um den Nordpol, sondern als Grund für eine sich intensivierende Kooperation der acht Arktisstaaten im Arktischen Rat. So besonders schien diese Kooperation, dass sich für sie das Etikett »Arktischer Exzeptionalismus« etabliert hat (Exner-Pirot und Murray 2017): eine Ausnahme im ansonsten spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Eine Region, deren zwischenstaatliche Beziehungen sich als immun gegen die Verwerfungen eines sich abzeichnenden globalen Großmachtwettbewerbs erwiesen. Seit Russlands militärischem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Kooperation im Arktischen Rat allerdings einen erheblichen Dämpfer erlitten. Sie wurde von Seiten der westlichen Arktisstaaten zunächst gänzlich ausgesetzt. Zwar gibt es seit September 2023 eine Einigung auf eine informelle Weiterführung auf Arbeitsgruppenebene, der Exzeptionalismus aber scheint passé. Vor allem durch die Feststellung seines „Zerreißens“ (Kornhuber et al. 2023), ist die mit dem Exzeptionalismus verbundene Wahrnehmung der Region auch in der deutschen Diskussion angekommen.

Zwei unterschiedliche Erzählungen

In beiden Erzählungen fungiert der Klimawandel nicht nur als Auslöser dramatischer geo-physischer Veränderungen, die sich in der Arktis vollziehen, sondern gar als Treiber politischer Entwicklungen und als Kulisse der auf diese bezogenen politischen Einlassungen. Die Symbolkraft entsprechender Bilder wird weidlich genutzt, um entschiedenes Handeln anzumahnen: Verhungernde Eisbären mahnen zu Klimakooperation, Soldat*innen und Kriegsschiffe im ewigen Eis dazu, sich auf Konflikteskalation angemessen militärisch vorzubereiten. Das Problem mit den Erzählungen ist, dass in beiden Fällen, dem arktischen Eskalationismus und dem Exzeptionalismus, der Klimawandel als extern verursachtes und die gesamte Region betreffendes Phänomen die Analyse in zweierlei Weise behindert. Durch den Fokus auf den Klimawandel geraten erstens die Treiber regionaler Entwicklungen an den Rand der Wahrnehmung, die mit der Erderwärmung gar nicht oder nur indirekt in Zusammenhang stehen. Auch dadurch wird zweitens die Wahrnehmung regionaler politischer Dynamiken je einseitig verzerrt. Die Eskalationserzählung überschätzt regionale Konflikte und unterschätzt Kooperationsmöglichkeiten. Bei der Exzeptionalismuserzählung verhält es sich umgekehrt.

Auch wenn der Klimawandel weiterhin und unvermeidlich die Relevanz und den Kontext politischer Analyse der Region (mit-)definieren muss, kann den dramatischen Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis politisch effektiver begegnet werden, wenn die regionalen politischen Dynamiken und ihre Logik am Beginn politischer Analyse stehen, nicht der Klimawandel. Dann würde sicherheitspolitische Analyse eher auf Koexistenzsicherung zwischen dem Westen und Russland statt auf klimabedingte Eskalationslogik fokussieren, die umweltpolitische Analyse auf die Transformationskonflikte und ihre mögliche Bearbeitung statt auf übertünchende regionale Klimakooperation.

Arktischer Eskalationismus

Nachdem 2007 eine russische Expedition eine Flagge auf dem Meeresgrund am geographischen Nordpol abgestellt hatte, und im Jahr darauf der geologische Dienst der USA seine Schätzungen zu unentdeckten Öl- und Gasvorkommen in der Arktis publizierte (Gautier et al. 2009), wurde die Beflaggung schnell als Symbol für mit dem Klimawandel in der Region zusammenhängende Sicherheitsprobleme identifiziert (Borgerson 2008), bzw. die Arktis wurde als regionaler Fall in sicherheitspolitische Analysen aufgenommen, welche die Implikationen des Klimawandels zu erfassen suchten (Solana 2008, Welzer 2010). Doch der aufgemachte Zusammenhang zwischen schmelzendem Eis, zugänglichen Ressourcen, Seewegen und Sicherheitsproblemen hat schon damals wenig Entsprechung in der arktischen Realität gefunden.

Das Arctic Climate Impact Assessment (ACIA, Symon et al. 2005), der immer noch umfassendste, aber inzwischen von der tatsächlichen Dramatik weit überholte Bericht zu Klimafolgen in der Arktis (siehe IPCC 2019), merkte bereits an, dass schmelzendes Eis und Permafrost sowie größere Witterungsschwankungen wirtschaftliche Erschließung zunächst einmal erschweren können. Ein plötzlicher Goldrausch oder Run auf die in der öffentlichen Wahrnehmung maßlos überschätzten Ressourcen ist ausgeblieben, wie auch eskalierende Konflikte um maritime Grenzen oder die Kontrolle von Seewegen zwischen den arktischen Staaten (Tunsjø 2020).

In den sicherheitspolitischen Dokumenten der Arktisstaaten finden sich zudem kaum Hinweise darauf, dass in diesem Zusammenhang Sicherheitsrisiken identifiziert werden. Eine Ausnahme stellt Russland dar, wo das Abschmelzen der Eisbarriere vor der sibirischen Küstenlinie im Lichte dubioser geopolitischer Ideologien Anlass zur Verstärkung militärischer Überwachung und Verteidigungsfähigkeit gegeben hat. Den Maßnahmen im mittleren und fernen Nordosten Sibiriens kann jedoch ein überwiegend defensiver Charakter unterstellt werden. Anders sieht es aus mit den militärischen Installationen der Kola-Halbinsel. Sie wurden und werden dort zum Zweck der Machtprojektion und Vorwärtsverteidigung der sogenannten Bastion unterhalten, weil diese Gewässer wegen der Ausläufer des Golfstroms schon immer eisfreier Zugang zum Atlantik gewesen sind. Der relevante und für die Arktis-Anrainerstaaten der NATO bedrohliche Teil der Militarisierung findet hier statt.

Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Probleme. Um sie zu identifizieren hat der norwegische Politikwissenschaftler Andreas Østhagen (2023) ein Gedankenexperiment vorgeschlagen: Würden der Klimawandel und alle seine Folgen in der Arktis auf einen Streich rückgängig gemacht, wie stände es dann um die regionale Sicherheit? Kaum verändert, lautet die Antwort, denn Sicherheitsprobleme resultieren in allererster Linie von den russischen Großmachtambitionen und den daraus resultierenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Das ist etwas anderes als ein auch des Öfteren von Analysten ausgemachter Großmachtwettbewerb um strategische Dominanz, Ressourcen, Schifffahrtswege und Einfluss in der gesamten Region und mit Beteiligung von China. Obwohl dieser zum Beispiel 2019 medienwirksam vom damaligen US-Außenminister Mike Pompeo heraufbeschworen wurde,1 sind entsprechende Dynamiken schwerlich zu erkennen. Dazu sind die Einflusssphären in der Arktis zu eindeutig aufgeteilt und stabil. Das geopolitisches Zentrum der regionalen Spannungen zwischen Russland und dem Westen ist der Hohe Norden, der euro-atlantische Teil der niederen Arktis. China hat es zwar geschafft, als Interessent und Akteur in der Arktis anerkannt zu werden, ist dabei aber bei weitem nicht so relevant geworden wie beispielsweise Deutschland, Großbritannien oder die EU. Nach dem westlichen Abbruch der Beziehungen mit Russland scheint weder das chinesische Engagement mit Russland entscheidend gewachsen, noch das Engagement mit den westlichen Arktisstaaten massiv beeinträchtigt.

Weder ergeben sich also die Sicherheitsprobleme aus Entwicklungen in der Region, noch betreffen sie die gesamte Region. Die Verbindung von arktischem Klimawandel und Sicherheitsproblemen hat demgegenüber eine Perspektive begünstigt, die nicht subregional differenziert und die Verschärfung der Konfliktursachen mit einer gewissen Unausweichlichkeit annimmt. Das hat zu mahnenden Aufrufen geführt, sich für militärische Konfrontationen im (wohl nicht mehr) ewigen Eis zu wappnen.2

Arktischer Exzeptionalismus

Der niederländische Think Tank für Außenpolitik, Clingendael, der sich im Anschluss an die oben schon erwähnte Rede Mike Pompeos die Erzählung über arktische Eskalation zu eigen machte, schrieb die Gründung des Arktischen Rates zwei Tabus im Sinne des Exzeptionalismus zu (Dams und van Schaik 2019, S. 3): Zum einen dürfen die Herausforderungen des Klimawandels nicht abgestritten werden, zum anderen sollten die geopolitischen Konfrontationen des Kalten Krieges nie wieder die Politik der Region bestimmen. Beides ist falsch. Bereits die sogenannte finnische Initiative, die zur Arctic Environmental Protection Strategy (AEPS, 1991), der Vorläuferin des Rates, führte, war sich nur zu bewusst, dass geopolitische Spannungen zwischen Russland und dem Westen fortdauern würden. Um zaghafte Annäherungen zu ermöglichen, setzte sie daher auf ein Thema, das von den Gründen dieser Spannungen nicht betroffen war, sondern bei dem gemeinsame Interessen vorzuherrschen schienen: dem Umweltschutz. Bei den Verhandlungen zum Arktischen Rat wurde dann auch wegen der Annahme fortgesetzter Spannungen das Thema »militärische Sicherheit« explizit aus dem Portfolio des Rates ausgeschlossen.

Trotz umweltpolitischem Fokus spielte der Klimawandel bei der Gründung des Arktischen Rates keine wesentliche Rolle. In der AEPS, die später als Strategie der Umweltsäule des Rates übernommen wurde, wird explizit erwähnt, dass der Klimawandel als globales Problem bereits in anderen Institutionen behandelt werde. Im Vordergrund der arktischen Umweltkooperation standen daher zu Beginn eher klassische Schadstoffreduktion und Naturschutz. Erst 1998 wurde, zunächst im Rahmen der Auswirkungen der Erderwärmung auf den arktischen Naturschutz, eine Vorstudie für das spätere ACIA durchgeführt. Dieses wiederum wurde bei seiner Veröffentlichung 2004 ein weltweit beachteter Erfolg. Über wissenschaftliche Berichte hinausgehende klimapolitische Maßnahmen des Arktischen Rates wurden erst sehr viel später in Angriff genommen.3 Gegen die Blockadehaltung der damaligen Bush-Administration und den Klimaskeptizismus in Moskau kam auch das ACIA nicht an. Das änderte sich erst mit der Regierung von Barack Obama und weiteren Berichten des Rates. Trotzdem brachte der Arktische Rat es noch fertig, in einer seiner Erklärungen zunächst den Klimawandel als größte Bedrohung der Region zu identifizieren, um dann zu postulieren, die Gewinnung fossiler Rohstoffe in der Region sei ein Beitrag zu deren nachhaltiger Entwicklung.4 Dass 2018 eine ganze Reihe prominenter Wissenschaftler*innen den Arktischen Rat auch aufgrund seiner angeblichen klimapolitischen Leistungen für den Friedensnobelpreis vorschlugen (vgl. Finne 2018), wurde schon im Jahr darauf dadurch konterkariert, dass der Rat zum ersten Mal in seiner Geschichte keine Abschlusserklärung zustande brachte, weil die Trump-Administration sich weigerte, der Erwähnung des Klimawandels in selbiger zuzustimmen.

Trotz der also eher ambivalenten Rolle des Rates als klimapolitisches Forum bleibt der Klimawandel nach dem Ende des Arktischen Exzeptionalismus im Zusammenhang mit umweltpolitischer Kooperation in der Region prominent: Nun wird der Klimawandel sowohl von Expert*innen als auch von politischer Seite zu dem Grund stilisiert, der eine fortgesetzte Kooperation mit Russland und einen Erhalt des Arktischen Rates unter allen Umständen notwendig mache (siehe z.B. Zellen 2022). In grandioser Überschätzung des durch den Klimawandel gebotenen Anreizes für zwischenstaatliche Kooperation wird eine arktische Wissenschaftsdiplomatie sogar zum möglichen Katalysator für eine erneute Annäherung zwischen dem Westen und Russland erhoben.

Was dagegen unterschätzt wird, sind die politischen Konflikte auf nationaler Ebene zwischen Verfechter*innen einer starken Klimapolitik und ihren Gegner*innen. Wie die Wechsel der US-Administrationen auch auf internationalem Parkett zeigen, haben diese nationalen politischen Konflikte eine sehr viel größere Bedeutung für klimapolitischen Fort- oder Rückschritt.

Transformationskonflikte in der Arktis

Wie in den meisten anderen Gesellschaften auch, sind die Ökonomien der Arktisstaaten auf Expansion angelegt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat diese Expansion die Arktis schrittweise erfasst. Dabei dienen die arktischen Ressourcen sowohl nationalen wirtschaftspolitischen Zielen, als auch dazu, das Wohlstandsniveau der arktischen Peripherien selber zu heben und die Lage ihrer Bewohner*innen zu verbessern. Norwegen benötigt die arktischen Ressourcen zur Wahrung des Ölreichtums, der in den südlicheren Feldern zur Neige geht. Ähnlich verhält es sich in Alaska, wo das Staatsbudget von sich zunehmend erschöpfenden Ölquellen abhängig ist. Die Grönländische Regierung hofft auf die Finanzierung ihrer Unabhängigkeit von Dänemark, Island auf wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der verheerenden Finanzkrise. In Russland wird auch die Arktis in den Dienst der wirtschaftlichen Aufholjagd gegenüber dem Westen gestellt.

In keinem dieser Länder sind diese Entwicklungspfade für die arktischen Gebiete gesellschaftlich unumstritten. Bei entsprechenden politischen Auseinandersetzungen geht es nicht nur für die Bewohner*innen der Arktis selber um zwei Fragen: der ökologischen, sozialen und kulturellen Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung, wie auch um die jeweils angemessene Beteiligung an den entsprechenden politischen Entscheidungen. Die erste Frage liegt oft quer zu Gruppenzugehörigkeiten (wie Indigene vs. Siedler*innen), die letztere fällt oft mit ihnen zusammen. In Konstellationen der Zentrums-Peripherie-Gegenüberstellung vereinen sich unterschiedliche Positionierungen zu beiden Fragen wieder.

In Norwegen tat sich etwa erst kürzlich die größte Jugendnaturschutzorganisation des Landes mit Greenpeace zusammen, das in der Walfangnation eigentlich gar nicht wohl gelitten ist, um gegen die weitere Erschließung von fossilen Rohstoffen auch gerichtlich vorzugehen (vgl. Greenpeace Norden 2024). In Grönland entschied das Parlament erst knapp für den Uranabbau, dann mit veränderten politischen Mehrheiten wieder dagegen. In den USA spielen republikanische und demokratische Regierungen in Washington politisches Ping-Pong um die Öffnung des Arctic National Wildlife Refuges. Während viele alaskanische Inuit für die weitere Erschließung fossiler Rohstoffe in dem Staat sind, lehnen viele kanadische dies für ihre Provinzen strikt ab. Auf Island gingen hydroelektrische Großprojekte mit den größten Umweltdemonstrationen des Landes einher und während die einen Kommunalpolitiker*innen auf die Ansiedlung eines neuen Tiefwasserhafens durch den deutschen Entwickler Bremenports hoffen,5 sind die anderen vehement dagegen.

Obwohl sich die komplizierte politische Gemengelage schlichten dichotomen Zuordnungen entzieht, lässt sich verallgemeinernd sagen, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen der Arktis dabei selten am längeren Hebel sitzen. Deren Lage spitzt sich zu. Denn der Klimawandel spielte zwar bei alldem zunächst eine untergeordnete Rolle, verschärft aber nun zunehmend die mit der Entwicklung der arktischen Peripherien einhergehenden politischen Konflikte. Als Rechtfertigungsmotiv taucht der Klimawandel bei Gegner*innen wie Verfechter*innen klimapolitischer Transformation in den arktischen Gebieten auf. Erstere wollen neben den Kosten der Klimafolgen, die sie bereits jetzt und insbesondere zu tragen haben, nicht auch noch die Hauptlast der Transformation übernehmen. Letztere begründen mit dem Klimawandel die Notwendigkeit von Entwicklungsprojekten in der Arktis, mit der das Übergehen der Bedürfnisse der lokalen und indigenen Bevölkerung gegebenenfalls eingepreist wird. Zugunsten der »Green Transition« in der EU sollen in den bevölkerungsarmen aber ressourcenreichen Arktisregionen zum Beispiel Windfarmen errichtet, Bahntrassen gelegt und seltene Erden abgebaut werden. So trägt die indigene Bevölkerung die oben angedeutete doppelte Last: die Folgekosten des Klimawandels und die seiner Vermeidung. Daher etabliert sich zunehmend die Rede von einem »Green Colonialism« in der Arktis (vgl. Kårtveit 2021). Der Widerstand dagegen, aber auch der von indigenen Fragen eher unbeeindruckte, von populistischer Seite kommende Protest gegen die umweltpolitische Transformation, beeinträchtigen effektive Klimapolitik.

Der Gefahr des »Green Colonialism« ließe sich nur begegnen, wenn die politischen Auseinandersetzungen auf der Grundlage starker indigener Rechte geführt werden. Dem Populismus nähme generell stärkere Partizipation in politischen Prozessen Wind aus den Segeln. In beiden Hinsichten ließ die Kooperation im Arktischen Rat zu wünschen übrig. Zwar nimmt der Arktische Rat zurecht für sich in Anspruch, mit der Beteiligung der indigenen Völker Maßstäbe gesetzt zu haben,6 nicht nur bei der Umsetzung bzw. Ausweitung von Rechten zuhause sind die Staaten aber zögerlich. Den sehr unrühmlichen Kontrapunkt zum herausgehobenen Status der indigenen Vertreter setzte der Fakt, dass die westlichen Staaten im Rat kein Gegenmittel wussten als Moskau die russische Vereinigung der indigenen Völker der Arktis (RAIPON) zunächst als ausländischen Agenten deklarierte, mit Razzien überzog und eine der Regierung genehme Führung installierte, die sich dann nicht zu schade war, Putin ihre volle Unterstützung bei der militärischen Spezialoperation zu versichern (vgl. Urueña, S. 23 in dieser Ausgabe). Mit Russland als Mitglied verwundert es aber auch nicht, dass die notwendige grundrechtliche und partizipatorische Untermauerung der Green Transition im Rat kaum Thema ist.

Das Schicksal von RAIPON ist ein Beispiel dafür, dass die westlichen Arktisstaaten für eine Annäherung mit Russland bzw. fortgesetzte Kooperation bereit waren, normative Grundlagen und wesentliche Voraussetzungen für das Erreichen expliziter Kooperationsziele abzuwerten. Selbst wenn man nicht überzeugt ist, dass Russland diese Annäherung nur benutzt hat, um sich in ihrem Schatten für seine neo-imperialistischen Umtriebe aufzurüsten (vgl. bspw. Mikkola et al. 2023), kann man fragen, ob umgekehrt die Annäherung es Wert ist, Abstriche an effektiven Politiken hinzunehmen. Intensivierte Kooperation unter »like-minded states« könnte möglicherweise mehr bewirken.

Koexistenzsicherung für die Arktis

Die Antwort auf ein Ende des vermeintlichen Arktischen Exzeptionalismus ist nicht unbedingt die weitergehende Militarisierung der Arktis oder Machtdemonstrationen durch die NATO. Hinreichende Abschreckung und auch das Signalisieren von Verteidigungsbereitschaft sind sicher vonnöten. Aber dazu ist zum einen eine nüchterne Analyse der russischen strategischen und operativen Fähigkeiten unabdingbar, die sich zum Beispiel nicht an der gern erwähnten Anzahl der Eisbrecher bemisst. Um russische Paranoia und Propaganda nicht unnötig anzuheizen, bedarf es zum anderen einer klaren räumlichen und militärischen Begrenzung auf die Bereiche und Gebiete, in denen die Sicherheitsinteressen der arktischen NATO-Mitglieder berührt sind. Das wird wesentlich beschränktere Aufrüstung und Verteidungsinvestitionen erfordern als von manchen Analysten, Politikern und Militärs auf NATO-Seite gewünscht. Selbst die wird aber zu einer steigenden Militärpräsenz mit den daraus folgenden Sicherheitsrisiken in der Arktis führen.

Dabei sei daran erinnert, dass die Arktis im Kalten Krieg schon vor der Diskussion um die Auswirkungen des Klimawandels oder der Ressourcengewinnung ein militärisches Aufmarschgebiet war. Es lohnt sich aus zwei Gründen, diese Zeiten noch einmal in den Blick zu nehmen. Auf der einen Seite werden dabei die Gelegenheiten auffallen, bei denen der ideologische Überbau des Kalten Krieges Maßnahmen effektiver Entspannung behindert hat. Auf der anderen die, bei denen es besser gelang, die Risiken einer militärischen Konfrontation im Sinne eines umsichtigen Managements gegenseitiger Abschreckung zu minimieren. Voraussetzung war die Anerkennung von Sicherheitsbedürfnissen. Auf dieser Basis wurde beschränkte Kooperation zur Koexistenzsicherung im Kalten Krieg möglich. Sie hatte zwei Ebenen. Die lokale, die in der Arktis zum Beispiel mit Verträgen zur Kommunikation bei militärischen Zwischenfällen die regionalen Symptome der globalen Konfrontation behandelte, und die globale, auf der die Bedingungen von Stabilität durch und mit Abschreckung definiert und durch Abrüstungsvereinbarungen unterstützt wurden.

Für die lokale Ebene stehen in der Arktis heute noch bzw. schon entsprechende Institutionen bereit.7 Sie müssen gegebenenfalls nur aktualisiert oder entsprechend umgewidmet werden. Es ginge nicht mehr um intensive und umfassende Zusammenarbeit zwischen Partnern, sondern um das begrenzte operative Management konkreter Gefahrensituationen, an deren Vermeidung beide Seiten ein Interesse haben. Die Umwidmung könnte durch einen »Arctic Military Code of Conduct« (Depledge et al. 2019), dessen Umsetzung dann diesen Institutionen zufallen würde, sinnvoll unterstützt werden. Auf der globalen Ebene sind dagegen echte und gravierende politische bzw. diplomatische Anstrengungen vonnöten, um Fortschritte zu erzielen. Von diesen lenken mühsame Versuche, die regionale Kooperation im Arktischen Rat zu erhalten, möglicherweise ab. Mit dem gegenwärtigen Russland dient diese weder einem effektiven Klimaschutz, noch ist eine politische Annäherung zwischen Russland und dem Westen durch seine Wissenschaftsdiplomatie zu erwarten. An der Sicherung von Koexistenz über Verhandlungen statt Rüstungsspiralen sollte auch Russland interessiert sein. Angesichts seiner militärischen Überstreckung in der Ukraine kann sich Russland eine konventionelle militärische Eskalation in der Arktis kaum leisten. Der Einsatz hybrider Strategien und die Betonung der nuklearen Fähigkeiten (siehe Kola-Stationierung) deuten auch darauf hin.

Zwei neue Erzählungen: Transformationskonflikte und Koexistenzsicherung

Der Klimawandel bedroht die Arktis und den Rest der Welt. Das heißt aber weder, dass er für eskalierende Sicherheitsprobleme in der Arktis verantwortlich ist, noch dass er einen arktischen Exzeptionalismus begünstigt. Wer die Sicherheitsprobleme in der Region verstehen will, muss Russlands strategische Bedürfnisse und Großmachtambitionen in den Blick nehmen, die politischen Dynamiken, die darauf Einfluss nahmen, nicht geo-physische Veränderungen. Zu solchen politischen Dynamiken haben zum Beispiel das über alle Warnungen hinweggehende deutsche Interesse an billigem Gas für seine Verbraucher und Industrie beigetragen; in der Arktis aber sicher auch die symbolische Legitimation, die Russland als geschätztem Kooperationspartner noch zuteil wurde, als die Krim schon annektiert war und das Regime sich längst zur Autokratie gewandelt hatte. Im Hinblick auf Sicherheitsrisiken ergibt sich ein relativ enger räumlicher Fokus auf den so genannten Hohen Norden, die niedere euro-atlantische Arktis, die von jeher durch den Golfstrom eisfrei ist. Hier sollten sich die regionalen diplomatischen Anstrengungen auf Maßnahmen mit Russland zur Koexistenzsicherung fokussieren. Diese soll auf der operativen Ebene den begrenzten Anspruch haben, die Risiken beidseitiger Militärpräsenz zu mildern. Das würde sie auch politisch realistisch machen. Ansonsten gibt es keine regionale Eskalationslogik. Die Gründe der Spannungen zwischen Russland und dem Westen liegen auf globaler Ebene und müssen dort bearbeitet werden.

Auch der Arktische Rat kann vermutlich zur Zeit am ehesten einen sinnvollen Beitrag in der Region und global leisten, wenn sich seine Tätigkeit auf die Fortführung von Kooperation zum wissenschaftlichen Monitoring des Klimawandels in der Arktis begrenzt. Der gegenwärtige Wissensstand dazu würde übrigens auch ohne weitere Kooperation im Arktischen Rat auf jeden Fall ausreichen, um auf nationaler Ebene mit dem Abwarten aufzuhören und mit einer ernsthaften Klimapolitik zu beginnen. Aber die politische Logik der Green Transition darf sich nicht auf die Rechtfertigung der Alternativlosigkeit bestimmter Politiken durch den Klimawandel beschränken. Entscheidende Fortschritte bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Green Transition setzen demgegenüber eine Bearbeitung der unterliegenden Transformationskonflikte voraus. Wenn diese nicht in Anti-Klimapolitiken umschlagen sollen, geht an einer politischen Auseinandersetzung um das richtige Verhältnis zwischen Umwelt und Entwicklung kein Weg vorbei. Damit es nicht zum »Green Colonialism« kommt und die indigenen Völker die Verlierer sind, ist ein neues Niveau effektiver Rechte und Partizipation erforderlich. Deren Voraussetzungen sind aber im Verein mit einem autokratischen und aggressiven Russland wohl kaum zu schaffen. Dafür wären neben nationalen Anstrengungen entsprechende Bemühungen der EU oder eine Kooperation der sieben westlichen Arktisstaaten sicherlich mehr geeignet.

Anmerkungen

1) Siehe die Rede am 6.5.2019, dokumentiert auf YouTube youtube.com/watch?v=6Bk8PeRBYcg.

2) Für den deutschen Fall s. z.B. die Einlassungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Knut Abraham (2023).

3) Für gute Überblicke siehe Hoel (2007) und Yamineva und Kulovesi (2018).

4) Dies findet sich in der Abschlusserklärung des sechsten Arctic Council Ministertreffens (Arctic Council 2009).

5) Link zur Projekthomepage: bremen-ports.de/finnafjord/

6) Als »Permanente Teilnehmer« haben Vertreter*innen von sechs indigenen Organisationen die gleichen Teilnahmerechte wie die Mitgliedstaaten des Arktischen Rates. Den letzteren bleibt formell aber das Entscheidungsrecht vorbehalten. Dennoch trafen die Mitgliedsstaaten Entscheidungen zumeist im Konsens mit den Permanenten Teilnehmern.

7) Vor der russischen Besetzung und Annexion der Krim gab es Arctic Chief of Defense Staff Meetings und einen Arctic Security Forces Roundtable als pan-arktische Foren. Das Arctic Coast Guard Forum ist noch aktiv.

Literatur

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Borgerson, S. G. (2008): Arctic meltdown. The economic and security implications of global warming. Foreign Affairs 87(2), S. 63-77.

Dams, T.; Schaik, L. Van (2019): The Arctic elephant. Europe and geopolitics in the High North. Clingendael Policy Brief, 14 Nov. 2019.

Däumer, M. (2023): Von einer Zone des Friedens zum Konfliktherd? Die geopolitische Bedeutung der Arktis. KAS Auslandsinformationen 39(1), S. 7-24.

Depledge, D. et al. (2019): Why we need to talk about military activity in the Arctic: Towards an Arctic Military Code of Conduct. In: Exner-Pirot, H. et al. (Hrsg.): Redefining Arctic security. Arctic Yearbook 2019, S. 1-4.

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Dr. Christoph Humrich ist Assistant Professor für International Relations and Security Studies an der Universität Groningen/Niederlande und einer der Sprecher der Themengruppe Polar- und Meeerespolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Er forscht schwerpunktmäßig zur Umweltgovernance und Sicherheitspolitik in der Arktis.

Konflikte in der Arktis

Konflikte in der Arktis

Die vielfachen Risiken des Klimawandels

von Henry Lesmann

Die Erde hat sich in Folge des Klimawandels bislang um etwa 1,1 Grad Celsius erwärmt. Dadurch sind Klimakonflikte immer wieder Thema in öffentlichen Debatten, etwa hinsichtlich der Ernährungs- und Wasserversorgung sowie daraus folgender Migrationsbewegungen. In den Polarregionen sind die Folgen des Klimawandels besonders dramatisch, was neben globalen Auswirkungen auch Fragen nach Risiken und Konflikten konkret in diesen Regionen aufwirft. Besondere Aufmerksamkeit erhalten hierbei die Schifffahrtsrouten, Territorialkonflikte, Ressourcen und das Militär.

Die Erwärmung der Arktis zeigt sich insbesondere am Abschmelzen des dortigen Meereises, dessen Ausdehnung immer wieder neue historische Tiefpunkte erreicht. Der so freigelegte Ozean besitzt eine deutlich geringere Reflexion der Sonneneinstrahlung (Albedo) als das hellere Meereis und erwärmt sich daher stärker, was die Meereisschmelze weiter begünstigt. Darüber hinaus führt das Schmelzen des Permafrostes zur Freisetzung darin gebundener Treibhausgase, was den globalen Klimawandel ebenfalls verstärkt. Die Auswirkungen dieser Prozesse sind nicht nur auf die Arktis beschränkt. So führt etwa die Meer­eisschmelze zu einer Abschwächung des Nordatlantikstroms, der Wärme nach Europa transportiert. Höhere Verdunstungsraten begünstigen außerdem extremere Schneefälle in Europa. Das Abschmelzen von Gletschern und Eisschilden an beiden Polen der Erde sowie die thermische Ausdehnung des Wassers führen zum Meeresspiegelanstieg, welcher wiederum Folgen in den Küstenregionen hat.

Schifffahrtsrouten

Aufgrund des fortschreitenden Schmelzens von Meereis erhalten drei potenzielle arktische Seewege immer wieder Aufmerksamkeit: Die Nördliche Seeroute (NSR), welche als Teil der Nordostpassage entlang der russischen Küste verläuft, die Nordwestpassage (NWP) entlang der kanadischen Küste und die Transpolare Passage (TPP) (vgl. Karte). Über die kurzfristig vielversprechendste NSR würde sich die Transportstrecke zwischen London und Yokohama gegenüber der Strecke durch den Suez-Kanal um etwa ein Drittel verringern. Auf der Strecke von New York nach Shanghai wäre die Wegersparnis durch die NWP gegenüber der Strecke durch den Panama-Kanal immerhin noch knapp 20 % (Christensen 2009, S. 2). Viele Strecken würden sich mit Nutzung der TPP um zusätzliche 10 % verkürzen, diese setzt aber eine nahezu eisfreie Arktis voraus (Østreng et al. 2013, S. 49).

Die Vorteile wären also relevant, jedoch bestehen neben der vorhandenen Meer­eisbedeckung weitere Hindernisse für die arktische Schifffahrt. So erschweren treibende Eisberge und schwierige, teils unvorhersehbare Wetterbedingungen die Durchfahrt. Darüber hinaus mangelt es an Infrastruktur: Es gibt in der Region nur wenige Häfen, die große, für den Transit geeignete Schiffe aufnehmen und versorgen können. Außerdem sind die arktischen Gewässer nur zu etwa 10 % kartiert und Wegmarken sind kaum vorhanden. Es mangelt an für die Arktisschifffahrt ausgebildeter Besatzung und Systemen zur Überwachung der Marineaktivität und zum besseren Management der Schiffe, was das Risiko für Zwischenfälle erhöht. »Search-and-Rescue« (SAR) Operationen sind in der Arktis besonders schwer durchzuführen. Trotz zehn entsprechender Übereinkommen zwischen 1949 und 1994 ist die dortige SAR-Infrastruktur gerade für die zunehmende Schifffahrt weiterhin unterentwickelt. So ist es nur bedingt möglich, einem Schiff in Not Hilfe zu leisten oder zur Verhinderung bzw. Bekämpfung einer Umweltkatastrophe beizutragen, was besonders angesichts einer Vielzahl an Tankschiffen von Bedeutung ist.

Karte: Mögliche Nordische Seerouten

Karte: Mögliche Nordische Seerouten (Quelle: Arctic Centre University of Lapland).

Die acht Arktisstaaten (»A8«) Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und die Vereinigten Staaten unterzeichneten 2011 ein Übereinkommen, das die SAR-Zusammenarbeit verbessern, Zuständigkeiten definieren und internationale Hilfe koordinieren soll. Seit 2015 tagt außerdem das Arctic Coast Guard Forum, das die Zusammenarbeit der A8 stärkt. Auch wenn die praktischen Auswirkungen noch begrenzt sind, tragen diese Maßnahmen zur Reduzierung der durch zunehmende Schifffahrt entstehenden Risiken bei.

Nichtsdestotrotz führt die gefährlichere Durchfahrt zu hohen Kosten, etwa durch Versicherungsprämien oder Kosten für eine Eisbrecherbegleitung. Neben der ökonomischen ist jedoch auch die geostrategische Perspektive zu beachten. So sieht bspw. China die arktischen Seewege als Alternative zu den gängigen Transportrouten, welche im Konfliktfall insbesondere von den Vereinigten Staaten blockiert werden könnten.

Territorialkonflikte

Mit zunehmender Nutzbarkeit der Arktis treten auch territoriale Fragen wieder mehr in den Vordergrund. Kanada etwa sieht die NWP als Teil seiner internen Gewässer an (da die Route durch das kanadisch-arktische Archipel führt), viele andere Staaten verstehen die Nordwestpassage jedoch als eine internationale Wasserstraße, die auch ohne Zustimmung Kanadas durchschifft werden darf.

Da es sich bei der Arktis größtenteils um einen Ozean handelt, werden territoriale Ansprüche von der UN-Seerechtskonvention bestimmt. Diese besagt, dass sich die Hoheitsgewässer eines Staates von der sogenannten Basislinie an dessen Küste bis zu zwölf Seemeilen aufs offene Meer hinaus erstrecken. Daran anschließend hat der Staat für weitere zwölf Seemeilen erweiterte Rechte, um etwa Verstöße gegen dessen Zoll- oder Einwanderungsvorschriften zu verhindern und zu ahnden. In der sich bis zu 200 Seemeilen von der Basislinie erstreckenden Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) hat der Staat das Recht auf die alleinige Nutzung der dort vorhandenen natürlichen Ressourcen. Im Bereich des Festlandsockels hat der Staat die Hoheitsrechte zur Erforschung und Nutzung der am und unter dem Meeresboden gelegenen Ressourcen. Der Festlandsockel ist zunächst deckungsgleich mit der AWZ, lässt sich aber auf bis zu 350 Seemeilen von der Basislinie erweitern, sofern der jeweilige Staat nachweisen kann, dass es sich dabei um eine natürliche Verlängerung von dessen Landmasse handelt. Ein solcher Anspruch kann unter Vorlage einer wissenschaftlich fundierten Begründung an eine UN-Kommission gestellt werden, welche den Antrag ausgiebig prüft und ablehnt oder bewilligt. Auf dessen Grundlage erheben Dänemark, Kanada und Russland Anspruch auf den Nordpol.

Besondere Aufmerksamkeit erlangten die territorialen Streitigkeiten im August 2007, als eine russische Arktisexpedition auf dem Meeresboden am geographischen Nordpol eine russische Flagge platzierte und damit Sorge über einen möglicherweise aufflammenden Territorialkonflikt auslöste. Zwar konnte die Lage entspannt werden und die Arktisanrainerstaaten bekannten sich im darauffolgenden Jahr noch einmal dazu, sämtliche Gebietsstreitigkeiten im Einklang mit der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen zu lösen, dennoch kann dies als Startpunkt dafür gesehen werden, dass die Arktis auch geostrategisch wieder mehr in den Fokus rückte.

Natürliche Ressourcen

Bedeutung erlangen die Territorien insbesondere durch die in und auf ihnen zu findenden Ressourcen. Diese lassen sich in der Region in zwei Kategorien unterteilen: Bodenschätze, umfassen sowohl fossile Energieträger als auch metallische Erze, und maritime Ressourcen, betreffen neben der Fischerei auch im weiteren Sinne die zuvor beschriebenen Schifffahrtsrouten und den Tourismus.

In der Arktis wurden bisher Vorkommen von etwa 61 Mrd. Barrel Öl und 269 Mrd. Barrel Erdgas entdeckt, die auch heute schon erschließbar sind (Spencer et al. 2011, S. 2). Schätzungen zufolge gibt es darüber hinaus noch weitere 90 Mrd. Barrel Öl und 1,669 Bill. Barrel Gas, die bisher unentdeckt sind. Etwa 84 % davon werden Off-Shore, also im arktischen Ozean, erwartet (USGS 2008). Neben den fossilen Energieträgern erleichtert der Klimawandel außerdem den Zugang zu Seltenen Erden, die eine wichtige Ressource für erneuerbare Energieerzeuger, und damit im Kampf gegen den Klimawandel, sind. Doch obwohl die Förderung arktischer Ressourcen an Attraktivität gewinnt, lässt sich das Konfliktrisiko zunächst als eher gering bewerten, da sich 90 bis 95 % der Vorkommen in den ausschließlichen Wirtschaftszonen der umliegenden Staaten befinden.

Die schmelzenden Permafrostböden sind ein wachsendes Problem für die arktische Ressourcenförderung, aber weitgehend auch für die dortige Infrastruktur. Mit steigenden Temperaturen wird deren aktive Schicht dicker, die im Jahresverlauf friert und wieder taut und sich dabei hebt und senkt. Dabei verlieren die Böden an Tragkraft und werden anfälliger für Erosionsprozesse. Bis 2050 könnte deshalb etwa 70 % der auf Permafrostböden der nördlichen Hemisphäre gebauten Infrastruktur beschädigt sein (Hjort et al. 2022). Etwa 45 % der russischen Öl- und Gasproduktion in der Arktis finden in Gebieten mit einem hohen permafrostbedingten Risiko statt (Hjort et al. 2018, S. 2).

Im Bereich der maritimen Ressourcen ist der Einfluss des Klimawandels vermutlich am stärksten in der Fischerei zu beobachten. Die steigende Wassertemperatur verändert die Lebensweise der darin lebenden Fischbestände. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Makrele: Ihr Lebensraum lag traditionell im nordöstlichen Atlantik, etwa in schottischen Gewässern. Seit 1999 werden zum Erhalt des Bestands jährliche Fangmengen festgelegt und unter der EU (damals noch einschließlich Großbritannien), Norwegen und den Faröer Inseln aufgeteilt. Seit 2006 hält sich die Makrele im Sommer allerdings zunehmend in den wärmer gewordenen isländischen Gewässern auf, wo sie zuvor kaum gesichtet wurde. Island nutzte diese neu gewonnenen Makrelenbestände und fischte 2008 und 2009 fast ein Viertel der gesamten Fangmenge, sehr zum Unmut der anderen Staaten. Auch im Rahmen der von Norwegen ins Leben gerufenen Fischereischutzzone um Spitzbergen kommt es immer wieder zu Zwischenfällen zwischen Norwegen und Russland. Generell gibt es sowohl Gewinner als auch Verlierer der Auswirkungen des Klimawandels auf die Fischbestände, was insbesondere dann relevant wird, wenn diese aus der AWZ eines Staates in die eines anderen ziehen und Fischerinnen und Fischer ggf. ihre Lebensgrundlage verlieren.

Das Eskalationspotenzial um maritime Ressourcen zeigt sich an den Kabeljaukriegen (»Cod Wars«) zwischen Island und Großbritannien, die zwischen 1958 und 1976 immer wieder für Spannungen innerhalb der NATO sorgten und 1976 sogar zu einer zeitweisen Unterbrechung der diplomatischen Beziehung der beiden NATO-Mitgliedsstaaten führte. Entgegen vieler Medienberichte könnte also die Ressource Fisch ein höheres Konfliktpotenzial haben als die in der Arktis lagernden Hydrokarbonate. Bislang ist es aber gut gelungen, die jeweiligen Konfliktfelder von anderen arktischen Themen und Verhandlungen zu trennen und damit die Kooperation in diesen Bereichen nicht erheblich zu beeinträchtigen. So fand insbesondere in der Forschung ungeachtet sonstiger Zerwürfnisse eine gute internationale Kooperation statt.

Militärische Konflikte

Von den acht Arktisstaaten sind in Folge der Eskalation des Ukrainekonfliktes nun sieben Staaten Mitglied der NATO oder in der Endphase des Beitrittsprozesses. Damit bilden sich militärisch klar zwei Lager: NATO auf der einen, Russland auf der anderen Seite. Nach einer ruhigeren Phase nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schenkt Russland der Arktis seit etwa zehn Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit. Wenige Jahre vorher, um 2009/2010, begann die Modernisierung der bröckelnden russischen Streitkräfte, die in großen Teilen durch die Erträge aus den Hydrokarbonaten aus der Arktis finanziert wurde. In diesem Zuge wurden auch vorhandene Militäreinrichtungen in der Arktis erweitert und modernisiert. Die NATO hingegen fand es lange Zeit nicht nötig, sich stärker in der Arktis zu engagieren. Die Kooperationen in der Region sollten nicht beeinträchtigt werden, zudem befürchteten die Arktisstaaten, dass durch solches Engagement die übrigen, nicht arktischen NATO-Staaten einen stärkeren Einfluss in der Region ausüben könnten als bis dato.

Trotz der begrenzten NATO-Aktivität in der Arktis änderte sich aufgrund des Klimawandels die russische Bedrohungsperzeption. Das schmelzende Eis an der russischen Nordflanke eröffnet nicht nur wirtschaftlich neue Möglichkeiten, sondern erleichtert auch den Zugang aus einer zuvor noch unwegsameren Richtung. Neben den arktischen Wirtschaftszonen befindet sich hier auch die zu einem großen Teil an der arktischen Kola-Halbinsel stationierte nukleare Zweitschlagkapazität Russlands. Und tatsächlich lassen sich in Folge des Klimawandels neben den dort seit dem Kalten Krieg vorhandenen U-Booten zunehmend auch Überwasserkriegsschiffe in der Arktis finden. Dennoch ist eine militärische Konfliktaustragung in der Region, unabhängig vom Motiv, insbesondere aufgrund der immer noch widrigen Bedingungen weiterhin unwahrscheinlich.

Russland: Von der Kooperation zum Konflikt

Die Beziehungen der Arktisstaaten waren zwar insbesondere seit 2007 von zunehmenden Spannungen geprägt, dennoch fand neben der stetigen Forschungskooperation auch immer wieder ein Austausch über sicherheitsrelevante Themen statt. Mit Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte sich das Bild Russlands schlagartig, was auch die Situation in der Arktis beeinflusste. Die Kooperationen kamen zum Erliegen, das Vertrauen in stabilisierend wirkende gemeinsame Interessen war erschüttert. Im Arktischen Rat erklärten die übrigen sieben Staaten, ihre Teilnahme an allen Sitzungen vorerst zu unterbrechen, später wurde die Arbeit an Projekten ohne russische Beteiligung fortgesetzt. Auch in anderen Foren wie dem Barents Euro-Arctic Council und der Northern Dimension fand kein Austausch mehr mit Russland statt, selbst die Forschungskooperation kam zum Erliegen. Der Bruch Russlands mit internationalem Recht wirft die Frage auf, ob es sich in anderen Regionen – wie der Arktis – noch an dieses gebunden fühlt. Eine Nichtbeachtung der Seerechtskonvention hätte vermutlich die gravierendsten Auswirkungen, da dies territoriale Konflikte zur Folge haben könnte.

Darüber hinaus führt das neue EU-Russland-Verhältnis dazu, dass die EU von russischen Energieträgern unabhängig sein möchte. Zunehmend finden Alternativen der Energieversorgung Aufmerksamkeit, darunter erneuerbare Energien, weshalb Grönland oder Norwegen, die über Vorkommen von Seltenen Erden verfügen, von der Abkehr von Russland profitieren könnten.

Was bringt die Zukunft?

Während die Antarktis nicht zuletzt aufgrund ihrer geographischen Lage und früher internationaler Verträge unabhängig vom Klimawandel auf längere Sicht ein geringes Konfliktpotenzial birgt, sind in der Arktis Risiken und Konflikte aufgrund der höheren menschlichen Aktivitäten schon deutlich stärker zu bemerken. Diese werden durch den Klimawandel nun noch einmal verstärkt. Während die Konfliktrisiken um Öl und Gas sowie Schifffahrtsrouten in den öffentlichen Debatten häufig eher überschätzt werden, birgt insbesondere die Fischerei ein nicht zu vernachlässigendes Konfliktpotenzial. Grundsätzlich ist aber, gerade auch wegen der widrigen Bedingungen, zumindest nicht mit einem bewaffneten Konflikt in den Polarregionen zu rechnen, dieser würde vermutlich dann eher niedrigschwellig sein oder andernorts ausgetragen werden.

Literatur

Christensen, S. A. (2009): Are northern sea routes really the shortest? Maybe a too rose-coloured picture of the blue Arctic Ocean. Kopenhagen: Danish Institute for International Studies, DIIS Brief, März 2009.

Hjort, J.; Karjalainen, O.; Aalto, J.; Westermann, S.; Romanovsky, V. E., Nelson, F. E.; Etzelmüller, B.; Luoto, M. (2018): Degrading permafrost puts Arc­tic infrastructure at risk by mid-century. Nature Communications 9, 5147.

Hjort, J.; Streletskiy, D.; Doré, G.; Wu, Q.; Bjella, K.; Luoto, M. (2022): Impacts of permafrost degradation on infrastructure. Nature Reviews Earth & Environment Bd. 3, S. 24-38.

Lesmann, H. (2022): Konflikt und Kooperation in der Arktis: Klimawandel, Ukrainekrieg und die arktische Sicherheit. Hamburg. Unveröffentlichte Bachelorarbeit.

Østreng, W.; Eger, K. M.; Fløistad, B.; Jørgensen-Dahl, A.; Lothe, L.; Mejlænder-Larsen, M.; Wergeland, T. (2013): Shipping in Arctic waters. A comparison of the Northeast, Northwest and Trans Polar Passages. Berlin: Springer.

Spencer, A. M.; Embry, A. F.; Gautier, D. L.; Stoupakova, A. V.; Sørensen, K. (2011): An overview of the petroleum geology of the Arctic. In: Spencer, A. M.; Embry, A. F.; Gautier, D. L.; Stoupakova, A. V. & Sørensen, K. (Hrsg.): Arctic petroleum geology. London: Geological Society, S. 1-15.

USGS (2008): Circum-Arctic resource appraisal: Estimates of undiscovered oil and gas north of the Arctic Circle. U.S. Geological Survey Fact Sheet 2008-3049.

Henry Lesmann hat 2022 sein Bachelorstudium der Geographie an der Universität Hamburg abgeschlossen.

Polarkreise in der Polykrise

Polarkreise in der Polykrise

Arktis und Antarktis zwischen Konflikt und Kooperation

von Jürgen Scheffran und Verena Mühlberger

Die Polarregionen der Erde befinden sich in einem tiefgreifenden Wandel. Ökosysteme und Ressourcen von Arktis und Antarktis sind essentiell für die globale Stabilität und von der globalen Erwärmung besonders betroffen. Damit verbunden sind Konfliktrisiken, aber auch Chancen der Kooperation zwischen Staaten und der Zivilgesellschaft. Während die Antarktis als globales Gemeingut geschützt ist, wurde die Arktis in das Wettrüsten des Kalten Krieges einbezogen. Die darauf folgende Phase der Stabilität und Kooperation droht durch aktuelle Spannungen verschüttet zu werden. Trotz der heutigen Polykrise muss die Zusammenarbeit in den Polargebieten fortgesetzt und einer geopolitischen Polarisierung entgegengewirkt werden.

Die Arktis und die Antarktis sind planetare Antipoden, die jeweils innerhalb des nördlichen und südlichen Polarkreises liegen, also den Breitengraden beider Hemisphären, an denen die Sonne an den beiden Tagen der Sonnenwende gerade nicht mehr auf- oder untergeht (etwa bei 66° nördlicher/südlicher Breite). Während die kontinentale Landmasse im Südpolarkreis weitgehend naturbelassen ist und temporär nur wenige Menschen auf Forschungsstationen beherbergt, liegt der Nordpol im arktischen Ozean und ist von drei Kontinenten umgeben (Europa, Asien, Nordamerika), die im arktischen Polarkreis von etwa 4 Mio. Menschen bewohnt werden. Ist der antarktische Kontinent ganzjährig eisbedeckt, wird der arktische Ozean vom saisonalen Zyklus des Meereises bestimmt. In beiden Polregionen ist die lokale Flora und Fauna an die extremen klimatischen Bedingungen angepasst und anfällig für Veränderungen. Aufgrund der einzigartigen und zunehmend gefährdeten Natur der Polarregionen hat der Tourismus in den letzten zwei Jahrzehnten merkbar zugenommen und ist eine wachsende Einkommensquelle, übt aber Druck auf die fragilen Ökosysteme aus. Schon früh gab es internationale Bemühungen, die Regionen gemeinsam zu erforschen und auf der Grundlage gegenseitiger Interessen und Vereinbarungen zusammenzuarbeiten. Der 1961 in Kraft getretene Antarktisvertrag vereinbart die gemeinsame und friedliche Erforschung und Nutzung der Antarktis, die für marine Ressourcen nachhaltig erfolgen soll. Für die Arktis liegt ein solch umfassendes internationales Vertragswerk nicht vor.

Angesichts der Nähe zu Staaten und Bevölkerungen und damit verbundener Nutzungen und Konflikte liegt im Folgenden der Fokus auf der Arktisregion (zur Antarktis siehe die Beiträge von Lüdecke, S. 25 und Flamm, S. 29 in dieser Ausgabe). Mit dem Ende der letzten Eiszeit zogen sich die Gletscher, die teilweise auch Norddeutschland bedeckten, immer weiter nach Norden zurück, so dass eine Besiedlung durch Menschen möglich wurde, die sich über Jahrhunderte an die extremen Bedingungen der Arktis anpassten und ihr Leben nach dem Zyklus der Jahreszeiten ausrichteten. Während niedrige Temperaturen und kurze Wachstums­perioden eine kommerzielle Landwirtschaft in der Arktis-Region erschweren oder verhindern, gibt es heutzutage starke wirtschaftliche Interessen an den reichlich vorhandenen Bodenschätzen, insbesondere an Erdöl und Erdgas. Es leben über 40 verschiedene indigene Gruppen in der Arktis, deren traditionelle Subsistenzwirtschaft durch Fischerei und Jagd wie auch durch Rentier- und Karibuzucht geprägt ist. Durch eine frühere Schneeschmelze und Verschiebungen der Baumgrenzen in der arktischen Tundra ist ihr Lebensstil bereits gefährdet und gerät durch neue Wirtschaftsformen zunehmend unter Druck (Hansson et al. 2021).

Zone des Friedens in der Krise

Gegen Ende des Kalten Krieges schlug Michail Gorbatschow im Rahmen der »Murmansk-Initiative« vor, die Arktis in eine »Zone des Friedens« zu verwandeln, eine Sichtweise, die bei den Anrainerstaaten auch die Zeit danach bestimmte. So entwickelte sich die Arktis zu einer Zone der Kooperation, mit grenzüberschreitenden kooperativen Allianzen und Partnerschaften zwischen privaten und staatlichen Akteuren. 1996 wurde in Ottawa, Kanada, der Arktische Rat (»Arctic Council«) gegründet, in dem acht Regierungen und sechs indigene Verbände als Permanente Mitglieder für Frieden, Stabilität und konstruktive Zusammenarbeit in der Arktis kooperierten. Gemeinsame Projekte waren Abkommen in den Bereichen Suche und Rettung, Verhütung von Ölverschmutzung und wissenschaftlicher Kooperation, sowie Plattformen für die arktische Küstenwache und den Arktischen Wirtschaftsrat (Klimenko 2019). Ein Forum für die zwischenstaatliche Zusammenarbeit in der Barentsregion ist der Barents Euro Arctic Council (BEAC), in dem es unter anderem um vertrauensbildende Maßnahmen und grenzüberschreitende Hilfeleistungen in Notfällen, bei Unfällen und Naturkatastrophen geht.

Trotz alarmistischer Vorhersagen und Spekulationen über ein »Gerangel um die Arktis« sind große Konflikte in der Region bislang ausgeblieben, was eine Debatte über den »arktischen Exzeptionalismus« auslöste (siehe dazu Humrich, S. 15 in dieser Ausgabe). Geopolitische Spannungen und multiple Krisen sind Störfaktoren für die arktische Zusammenarbeit und eine Herausforderung für den arktischen Exzeptionalismus (Käpylä und Mikkola 2019). Das betrifft z.B. Projekte im BEAC über biologische Vielfalt und Umwelt-Hotspots (Klimenko 2019). Mit einer zunehmenden strategischen und wirtschaftlichen Bedeutung der Arktis nehmen die Konfliktpotentiale zu und verdrängen die positive Dynamik der 1990er Jahre. Dabei spielen neben dem Klimawandel nicht zuletzt der Ukrainekrieg und die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen eine Rolle, die zur Aussetzung der Zusammenarbeit mit Russland im Arktischen Rat führten (Broek 2023).

Kipppunkte und Risikokaskaden des Klimawandels

Die Polregionen sind von zentraler Bedeutung für das Weltklima und erwärmen sich mit 3 bis 4 Grad Celsius Zuwachs seit den 1970er Jahren um ein Vielfaches schneller als andere Weltregionen. Die zunehmende Wärmeaufnahme durch die großen Ozean- und Landflächen verändert die physische Umwelt grundlegend (AMAP 2019). Eine Nichtdurchsetzung der Pariser Klimaziele würde die Zukunft der Region erheblich verändern. Viele Gebiete werden anfälliger für Waldbrände und Hitzewellen, der erschwerte Zugang zu sauberem Wasser und Lebensmitteln schafft ein Risiko für die Ausbreitung von Krankheiten, und das Katastrophenmanagement wird herausfordernder, mit Such- und Rettungseinsätzen wie bei den Waldbränden in Nordschweden im Sommer 2018. In beiden Polregionen besteht ein Risiko für sich selbst verstärkende Kipppunkte und Risikokaskaden im globalen Erdsystem, die Ende 2023 im »Global Tipping Points Report« (Lenton et al. 2023) bei der Weltklimakonferenz in Dubai vorgestellt wurden. Steigende Temperaturen führen zu größeren eisfreien Meeresflächen, die dadurch stärker Sonnenwärme aufnehmen als das Eis, und sie führen zum vermehrten Auftauen des Perma­frostes, aus dem das Treibhausgas Methan freigesetzt wird. Beides beschleunigt die globale Erwärmung. Während das Meer in der Arktis besser schiffbar wird, werden die Böden und darauf liegende Infrastrukturen (Verkehrswege, Gebäude, Stromleitungen, Pipelines) instabiler. Die veränderte Verteilung von Temperatur und Salzkonzentration schwächt den Wärmetransport des Golfstroms in den Norden, was dort eine Abkühlung bringen könnte. Das Abschmelzen der Eisschilde in Grönland und der Antarktis lässt den globalen Meeresspiegel ansteigen, was den Verlust von Küsten- und Landflächen weltweit bedeutet (Irrgang et al. 2022).

Ressourcenausbeutung und Ungleichheit

Das Abschmelzen arktischer Eisflächen auf dem Land und zur See ist ein tiefer Eingriff in die arktische Umwelt, die einigen Nachteile, anderen Vorteile bringt. Die Ausbeutung von Öl- und Gasvorkommen oder seltenen Erden und anderen Metallen für Digitalisierung und Energiewende belastet nicht nur das Weltklima, sondern auch die lokale Umwelt, mit Auswirkungen auf Ökosysteme und ihre Artenvielfalt in der Region. Dies untergräbt traditionelle Lebensgrundlagen der lokalen Bevölkerung (z.B. Rodon 2018).

Andere profitieren dagegen von den Veränderungen in der Arktis, durch besser zugängliche Ressourcen für die Energieproduktion (Boersma und Foley 2014), schnellere und direktere Schifffahrts- und Handelsrouten durch das eisfreie Meer, höhere Bodenpreise oder landwirtschaftliche Produktivität. Die Rohstoff-Industrie schafft neue Einkommensquellen und Arbeitsplätze (Keskitalo 2019), macht jedoch Staaten zunehmend von fossilen Brennstoffen abhängig, obwohl sie sich im Pariser Abkommen von 2015 zu einer Abkehr verpflichtet haben, um den Klimawandel abzuschwächen. Gelingt dies nicht, verschärfen sich sozio-ökonomische Ungleichheiten in der Arktis. Diese Konfliktdimensionen sollten nicht unterschätzt werden, da sie vor allem die binnen-nationalen Gefüge massiv betreffen.

Brennglas globaler und lokaler Konflikte

Mit der wachsenden strategischen Bedeutung der Arktis nehmen gesellschaftliche Spannungen und Konflikte zu, die die globale und lokale Ebene in komplexer Weise verbinden. Am Nordpol, wo alle Längengrade sich treffen, kommen geopolitische Ansprüche und Widersprüche geographisch weit auseinanderliegender Weltmächte (USA, Kanada, EU, Russland, China und Japan), deren Territorien zu großen Teilen außerhalb des Arktischen Zirkels liegen, wie in einem Brennglas zusammen. Spannungen zwischen Russland und dem Westen gehen einher mit Destabilisierungstendenzen in Europa und Nordamerika, dem Wandel der transatlantischen Beziehungen und Rivalitäten des Westens mit Ostasien. Damit verbunden sind konkurrierende Interessen von Staaten, Unternehmen und Bevölkerungen um Ressourcen, Transportmittel, Pipelines und Grenzziehungen.

Grafik Arktis-Region

Die Arktis-Region mit Informationen über Permafrost-Gebiete, Bergbauflächen (Minen) und sozial-ökologische Konflikte (Quelle: Mühlberger 2023).

Ein Streitgegenstand ist die Festlegung von Grenzen. Fragen der nationalen Souveränität und des internationalen Rechts betreffen die Ausdehnung des Festlandsockels und die Abgrenzung der Seegrenzen, die den Zugriff auf arktische Ressourcen festlegen. Einige Streitigkeiten konnten erfolgreich beigelegt werden, etwa um die Seegrenzen zwischen Russland und Norwegen in der Barentssee (Harding 2010). Dabei bestehen auch unterschiedliche Vorstellungen zwischen staatlichen und oft nomadischen gesellschaftlichen Gebietsansprüchen. In einigen Fällen sind die Rechte der indigenen Bevölkerung betroffen, etwa um Weideland und traditionelle Jagdgebiete, die durch staatliche Machtansprüche an den Rand gedrängt werden. Die Landfragmentierung beeinträchtigt traditionelle Nahrungs- und Wasserquellen und erschwert in Notfällen das Erreichen von Gesundheitszentren und Schutzräumen (Dudarev et al. 2013). Während Organisationen der indigenen Völker, wie der Sami-Rat, die Auswirkungen von Grenzen einschränken wollen, bewirken staatliche Grenzkontrollen vielerorts das Gegenteil (UNGA 2016). Mit wachsenden zwischenstaatlichen Spannungen reduzieren sich die schon erkämpften Mitsprachemöglichkeiten der indigenen Bevölkerung (vgl. Urueña S. 21 in dieser Ausgabe).

Zunehmend entwickelt sich in den einzelnen Staaten ein oft komplexes Problemgeflecht von zwischenstaatlichen Konflikten über Ressourcenextraktion, Klima- und Umweltveränderungen sowie den sozialen und gesundheitlichen Auswirkungen auf die Bevölkerung, verstärkt durch Armut und Unterentwicklung, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Dabei werden wirtschaftliche Interessen häufig über die indigener Minderheiten gestellt (Temper und Shmelev 2015).

Militarisierung und Aufrüstung

Der Antarktis-Vertrag sieht die ausschließlich friedliche Nutzung der Antarktis vor und verbietet dort jegliche militärische Aktivitäten. Demgegenüber war die Arktis im Kalten Krieg eine der am stärksten militarisierten Regionen der Welt, an der Schnittstelle der Supermächte, als Überflugzone von Atomwaffen und damit verbundener Infrastrukturen, als Testgelände und für andere militärische Zwecke. Mit der Entspannung und dem Ende des Ost-West-Konflikts wurden die Rüstungsarsenale in der Region verringert, im Rahmen der kooperativen Strukturen sank der Bedarf an Gesprächen über militärische Sicherheitsfragen (Groenning 2016). In den letzten Jahren mehrten sich die Anzeichen für neue Spannungen in der Region, die mit einer zunehmenden Militarisierung verbunden sind. Neben der Kontrolle der Arktis geht es auch um Machtprojektionen in anderen Regionen, vor allem im Nordatlantik (vgl. Humrich, S. 16 in dieser Ausgabe).

Dies gilt insbesondere für Russland, das seit 2011 eine Reihe von Militärstützpunkten wiedereröffnet hat, Flugplätze und Radarstationen instand setzt, seine seegestützten Nuklearstreitkräfte und die der großen Überwasserschiffe modernisiert. Im Dezember 2014 richtete Russland das Gemeinsame Strategische Kommando Nord (JSC North) ein, um die verschiedenen militärischen Armeen und Teilstreitkräfte unter einem Kommando zusammenzufassen, ein Zeichen für das Wiederaufleben des Konzepts der »Strategischen Bastion« im Norden (Boulègue 2018). Nach eigenen Aussagen reagiert Russland auf das sich verändernde Umfeld in der Arktis und neue Sicherheitsherausforderungen durch zunehmenden Schiffsverkehr, räumlich und zeitlich längere Küstenlinien durch Meereisschmelze, Konsolidierung der Nordflotte und strategische Parität mit den USA und NATO, die ihre militärischen Anstrengungen nun ebenfalls mehr auf die Arktis richten (Klimenko 2019; Anthony et al. 2021).

Durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 und den NATO-Beitritt von Finnland und Schweden droht die Arktis zunehmend in einen neuen Kalten Krieg hineingezogen zu werden. Im Westen wurden Befürchtungen geäußert, dass Russland die freie Durchfahrt im Arktismeer beschränken könnte. An der norwegischen Winterkampfübung »Cold Response« im Frühjahr 2022 nahmen rund 30.000 Soldatinnen und Soldaten aus 27 Nationen teil. Ein Jahr später führte Russlands Nordmeerflotte nach eigenen Angaben ein Manöver in den Gewässern der Arktis mit 1.800 Soldaten und mehr als einem Dutzend Schiffen durch. Ohne ernsthafte Bemühungen für Entspannung und Abrüstung droht in der Arktis ein forciertes Wettrüsten, das Atomwaffen, Flugkörper, Abwehrsysteme, U-Boote und Schiffe ebenso umfasst wie Weltraum-, Cyber- und hybride Kriegsführung.

Geopolitische Rivalität zwischen USA und China

Ein aktiver arktischer Akteur ist zunehmend auch China, das seine Visionen und Absichten 2018 in einem Weißbuch zur Arktis dargelegt hat (SCIO 2018). Neben der Wahrung der Souveränitäts- und Verwaltungsrechte der arktischen Staaten will China Mitsprache in Fragen der arktischen Ressourcenentwicklung und Schifffahrt, beansprucht Rechte auf Navigation, Überflüge und Fischerei, für die Verlegung von Unterseekabeln und Pipelines. China investiert in den Bergbau in Grönland, russische Flüssigerdgas-Projekte, die Zunahme der Schifffahrt entlang der »polaren Seidenstraße« sowie in wissenschaftliche Forschung und Diplomatie. Es gibt Befürchtungen einiger Anrainerstaaten im Westen über den wachsenden Einfluss Chinas auf die Arktisregion und damit verbundene sicherheitspolitische Implikationen (Havnes und Seland 2019).

Das hängt auch mit den strategischen Rivalitäten zwischen Russland, China und den USA zusammen, die sich in der Arktis entladen könnten. Der frühere US-Außenminister Mike Pompeo warnte anlässlich des Ministertreffens des Arktischen Rates in Rovaniemi am 6. Mai 2019 vor aggressiven Ambitionen Russlands und Chinas in der Arktis (Pompeo 2019). Entsprechend wurde der Ausbau der US-Marine- und Eisbrecherkapazitäten der Arktis und im Nordatlantik anvisiert, verbunden mit größeren Anstrengungen von Luftwaffe und Heer (DOD 2019). Auch wenn die Biden-Administration die Arktis zunächst als Zone niedriger Spannung ansah, bereiten sich die US-Küstenwache und andere Einrichtungen auf neue strategische Prioritäten vor (Anthony et al. 2021).

Umweltfolgen der Rüstung und ökologische Sicherheit

Rüstung und Krieg hängen eng mit Umweltfolgen und natürlichen Ressourcen in der Arktis zusammen, wodurch hier erweiterte Konzepte menschlicher und ökologischer Sicherheit an Bedeutung gewinnen.

Der Ukrainekrieg und damit verbundene Sanktionen haben zum einen die fortgesetzte Abhängigkeit der Welt von fossilen Energieträgern deutlich gemacht und den Blick daher auf die riesigen (vermuteten) arktischen Vorkommen gelenkt. Somit drohen das fossile Zeitalter und damit verbundene Konflikte perpetuiert zu werden.

Militärische Aktivitäten in der Arktis bringen zum anderen erhebliche Umweltbelastungen und -risiken mit sich, die die Umweltsicherheit gefährden (Hoogensen et al. 2013). So verschmutzt das russische Militär seit vielen Jahrzehnten seine arktischen Inseln, was 2010 zu einer größeren Säuberung von Abfällen führte, die nur teilweise erfolgreich war und kürzlich fortgesetzt wurde (Arctic Russia 2023). Es gab großflächige Zwischenfälle wie der Nuklearunfall auf dem Njonoksa-Testgelände in der Oblast Arkangelsk im Sommer 2019 (Klimenko 2019). Die wachsende Zahl und Intensität von militärischen Aktivitäten hat auch negative Auswirkungen auf die indigenen Gebiete. Militärübungen und Waffentests werden oft in scheinbar abgelegenen Randzonen oder in der vermeintlich »unberührten Wildnis« durchgeführt. Dies wird jedoch von indigenen Völker kritisiert, da militärische Aktivitäten oftmals auf historischem und kulturell relevantem Land stattfinden. Dies kann ihre Lebensgrundlagen beeinträchtigen, durch Landnahme, Verschmutzung und Abfälle, Transport militärischen Geräts, Lärm sowie der Störung von Vieh und Wildtieren (Vladimirova 2024).

Wege zur nachhaltigen Friedenssicherung

Um grenzüberschreitende Herausforderungen der arktischen Sicherheit einzudämmen, ist die Bereitschaft aller Beteiligten zur Zusammenarbeit erforderlich. Ein verstärktes Engagement von Politik und Forschung kann dazu beitragen, das Wissen und die Implementierung nachhaltiger und friedlicher Lösungsansätze auszubauen (Klimenko 2019).

  • Diskussion über Rüstungskontrolle und militärische Sicherheit: Um die Spannungen in der Arktis zu verringern und zu verhindern, dass kooperative Strukturen und Institutionen in eine geopolitische Sackgasse geraten, ist Rüstungskontrolle unabdingbar. Cepinskyte und Paul (2020) schlagen vor, Diskussionsplattformen über militärische Sicherheitsfragen in der Arktis einzurichten. 2012 initiierte Kanada ein Treffen der Verteidigungsstabschefs der arktischen Staaten, das wegen des Konflikts in der Ukraine und der Beendigung der militärischen Zusammenarbeit mit Russland nach 2014 jedoch ausgesetzt wurde. Die Unterbrechung der Kommunikation ist kein Weg zum Abbau der Spannungen in der Region, und einseitige Maßnahmen wie der Arctic Security Forces Roundtable, bei dem Russland nicht beteiligt ist, machen im Sinne einer Verständigung weniger Sinn.
  • Zwischenmenschliche Kontakte und Bildungsmaßnahmen dienen gerade in Zeiten zunehmender Spannungen dem grenzüberschreitenden regionalen Engagement. Mehr Jugendbeteiligung und Bildungsaustausch schaffen Vertrauen und Verständigung zwischen Gesellschaften, Gemeinschaften und Staaten, und verbessern den Wissensaustausch zwischen verschiedenen Gesellschaften und Kulturen. Beispiele sind Initiativen wie der Barents Youth Council und die Arctic Frontiers Emerging Leaders.
  • Ökologische Zusammenarbeit für gemeinsame Sicherheit: Der Austausch von umweltbezogenen Informationen ist ein Beitrag zum Schutz der polaren Gemeingüter. Um auf Notsituationen in Naturkatastrophen reagieren zu können, müssen begrenzte Ressourcen über große Entfernungen und Staatsgrenzen organisiert werden. Suche und Rettung gelten als erfolgreiche Beispiele für effektive Zusammenarbeit und vertrauensbildende Maßnahmen und können potenziell auf andere Bereiche und Akteure ausgeweitet werden, wie in der Strafverfolgung und der maritimen Polizeiarbeit.
  • Forschung zum nachhaltigen Frieden: Während wissenschaftliche Sanktionen der Klimaforschung in der Arktis schaden (Albrecht und Scheffran 2022), kann multidisziplinäre Forschung dazu beitragen, die Folgen menschlicher Aktivitäten in der Arktis für die Lebensmittel-, Wasser- und Gesundheitssicherheit und die Rolle von Technologien zu verstehen (Berner et al. 2016). Um die möglichen Auswirkungen geopolitischer Spannungen und militärischer Aktivitäten auf die arktische Zusammenarbeit zu untersuchen, müssen diese hinsichtlich ihrer Folgen (auch für die Umwelt) untersucht werden. Hierzu gehört auch die Einbeziehung verschiedener Stakeholder, z.B. der Industrie, humanitärer Organisationen und Versicherungen, die das Sicherheits- und Friedensverständnis in der Region erweitern können. Szenariobasierte Forschung und der bessere Zugang zu Daten kann dazu beitragen, Strategien zur Risikominderung und nachhaltigen Friedenssicherung zu entwickeln.
  • Indigenes Wissen und Partizipation: Trotz einiger Fortschritte beim Dialog mit indigenen Gemeinschaften werden ihre Stimmen nur selten von Staaten berücksichtigt, besonders wenn es um sensible Fragen ihrer Sicherheit und Souveränität geht. Um sie stärker einzubeziehen, sind bessere Möglichkeiten der Partizipation und Unterstützung für Forschungsprojekte zu schaffen, in denen die indigenen Völker ihr einzigartiges Wissen über die Arktis für die Problemlösung einbringen können.

Doppelte Transformation zwischen Eiszeit und Heißzeit

Beide Polregionen liegen an der Schnittstelle globaler Probleme und Konflikte und bieten Chancen für die regionale und internationale Kooperation. Sie sind für die Bewahrung der planetaren Grenzen und die Stabilisierung des Klimasystems von zentraler Bedeutung, die durch die nicht-nachhaltige Ausbeutung ihrer Ressourcen gefährdet werden und neue Abhängigkeiten schaffen. Um eine klimatische Heißzeit und eine politische Eiszeit zu vermeiden, braucht es eine doppelte Transformation für einen nachhaltigen und konfliktvermeidenden Umgang mit den Polarkreisen, der im Sinne zukünftiger Generationen auf Vermeidungs- und Anpassungsstrategien unter Beteiligung der lokalen und indigenen Bevölkerungen und ihres Wissens setzt. So können die Orte, um die sich die Erde dreht, zu Zonen des Friedens werden.

Literatur

Albrecht, M.; Scheffran, J. (2022): Wie kann die Wissenschaft noch mit Russland kooperieren? Frankfurter Rundschau, 22.7.2022.

AMAP (2019): Arctic climate change update 2019. Arctic Monitoring and Assessment Programme, Tromsø.

Anthony, I.; Klimenko, E.; Su, F. (2021): A strategic triangle in the Arctic? Implications of China-Russia-United States power dynamics for regional security. SIPRI Insights on Peace and Security 2021/3.

Arctic Russia (2023): Major cleanup in the Arctic: Preliminary results of a project by the Russian Geographical Society. Arctic Russia, 23.8.2023.

Berner, J. et al. (2016): Adaptation in Arctic circumpolar communities: food and water security in a changing climate. International Journal of Circumpolar Health 75, 33820.

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Dr. Jürgen Scheffran ist Professor (em.) für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.
Verena Mühlberger war Masterstudentin am Centrum für Erdsystemforschung und Nachhaltigkeit (CEN) der Universität Hamburg und hat in ihrer Abschlussarbeit zu den Auswirkungen des Klimawandels auf die Arktis geforscht.

Polare Fronten: Kalter Krieg oder Zone des Friedens?

Polare Fronten: Kalter Krieg oder Zone des Friedens?

Die Polarregionen zeichnen sich durch ihre ökologische Fragilität und globale Bedeutung aus. Sie sind die Dreh- und Angelpunkte, um die sich die Erde dreht, und trotz ihrer Kälte zugleich Brennpunkte der Weltpolitik, an denen sich geopolitische Interessen, Ressourcengewinnung und Umweltschutz überschneiden. Auch wenn sie gegenüber den Bevölkerungszentren als abgelegene und unberührte Landschaften erscheinen, ist hier eine kooperative Regierungsführung dringlich, um eine Ausweitung territorialer Streitigkeiten und Ressourcenkämpfe in die Polarkreise zu vermeiden. Darüber hinaus erfordern die Erhaltung der Ökosysteme der Arktis und Antarktis und die Vermeidung der Klimafolgen (Eisschmelze, tauender Permafrost, veränderte Ozeanströmungen) internationale Solidarität und Kooperation in Wissenschaft und Politik. Sie sind damit zentrale Themen für die Forschung und das Eintreten für globalen Frieden und langfristige, nachhaltige Zusammenarbeit.

Das Jahr 2024 könnte zu einer Wegscheide zwischen der zirkumpolaren Zusammenarbeit und neuen Konflikten werden. Der hohe Norden, der nach dem Kalten Krieg von der Entspannung profitierte und als »Zone des Friedens« galt, rückte in den letzten Jahren durch seine natürlichen Ressourcen (Öl, Gas, Rohstoffe) doppelt in den Blickpunkt. Zum einen werden sie durch die globale Erwärmung leichter zugänglich, zum anderen steigt die Nachfrage durch den Ukrainekrieg und die Sanktionen – Ausdruck neuer geopolitischer Rivalitäten zwischen Russland und dem Westen. Mit einem Anteil von rund 40 % an den arktischen Territorien steht hier eine russische Dominanz im Raum. An einer »polaren Seidenstraße« ist auch die chinesische Führung interessiert, die zunehmend in der Arktis investiert. Da will auch die NATO nicht nachstehen, die durch Finnland und Schweden im Norden gestärkt ihre militärischen Fähigkeiten ausbaut, auch gegen Cyber- und hybride Bedrohungen. Sie plant ihre größte Übung seit dem Kalten Krieg, »Operation Steadfast Defender 2024«, an der 90.000 Personen aus 31 Mitgliedstaaten teilnehmen, und eine große Arktis-Übung, die »Nordic Response 2024«.

Angesichts der Spannungen durch den Ukrainekrieg haben die westlichen Staaten im »Arktischen Rat« (Arctic Council) die Zusammenarbeit mit Russland vorerst auf Eis gelegt. Dadurch ist der Zugang zu wissenschaftlichen Daten aus Russland verwehrt, die etwa für die Klimaforschung dringlich sind. Bei der diesjährigen Konferenz »Arctic Frontiers« in Tromsø betonte Norwegens leitende Arktis-Beauftragte Solveig Rossebø die Notwendigkeit einer multilateralen Zusammenarbeit gegen den Klimawandel, auch mit Russland. So galt Russland bislang als konstruktives Mitglied des Rates, der ohne das Land kaum weiterbestehen kann, was für die indigenen Völker der Region ein großer Verlust wäre. Dies schließt jedoch nationale Vereinbarungen nicht aus, wie die zwischen der kanadischen Regierung und den Inuit, die mehr Befugnisse über öffentliches Land, Gewässer und darin enthaltene Rohstoffe erhalten sollen.

In diesem Heft richten wir den Blick auf die Regionen und darin agierende nationale und sub-nationale Akteur*innen, um die Polarregionen nicht nur als abstrakten Schauplatz, sondern als historisch gewachsene und politisch geformte komplexe Gebiete zu begreifen. Thematisch sind die Artikel nach einigen Zielen und Bereichen gegliedert:

  • Die Arktis und Antarktis als Projektionsflächen für Aspirationen, Ideen und Vorstellungen von Macht, Besitz und Wettbewerb, aber auch von Frieden, Neugierde und Kooperation. Die Klärung damit verbundener Begrifflichkeiten kann zum Verständnis der widersprüchlichen Entwicklungen beitragen.
  • Die vielfältige Geschichte beider Regionen ist sowohl durch zwischenstaatliche Wechselwirkungen geprägt als auch in der Arktis durch innerstaatliche Unterdrückung der lokalen Bevölkerung und indigener Gruppen. Das Wechselspiel geschichtlicher und aktueller Zusammenhänge soll an konkreten Beispielen verdeutlicht werden.
  • Der Bezug auf den Antarktis-Vertrag und den »Arctic Council« bietet institutionelle Rahmungen, die regionale und überregionale Akteure verbinden, darunter auch China und die NATO, die in wechselnde konfliktive und kooperative Beziehungen eingebunden sind. Die Risiken des Klimawandels sind zentrale Belange, die in diesen Arenen verhandelt und maßgeblich beeinflusst werden (können). Hier können aktuelle Herausforderungen der Diplomatie und Wirtschaft herausgearbeitet und Konflikte sichtbar gemacht werden.
  • Durch die Kolonisierung indigener Territorien in vielen der arktischen Länder finden sich zusätzliche Konfliktdynamiken, die sowohl innerstaatlich als auch überstaatlich sind, da nationale Grenzen durch indigenes Land gezogen wurden. Proteste und Forderungen der betroffenen Gruppen existieren auch weiterhin. Die Beiträge beleuchten diese, als historisch wichtige aber oftmals unbeachtete Konflikte und auch als aktuelle Differenzen, in denen nationale Machtansprüche mit einem Bestreben nach Gerechtigkeit, »Wiedergutmachung«, Entschädigung, Landrechten usw. in Widerspruch geraten.

Eine interessante Lektüre wünschen, Astrid Juckenack und Jürgen Scheffran

Die Pompeo-Doktrin


Die Pompeo-Doktrin

Oder: Warum Trump Grönland kaufen wollte

von Michael T. Klare

Bei Betrachtungen der aktuellen US-Politik steht häufig Präsident Trump im Fokus. Sein Handeln orientiert sich oft an persönlichen Interessen oder Wünschen und an der Maßgabe eines »guten Deals«. Dabei wirken im Weißen Haus zahlreiche andere Akteure, die oft kompromisslos die »nationalen Interessen« der USA verfolgen. Ein Beispiel beschreibt Michael T. Klare im folgenden Text aus Le Monde diplomatique vom 10.10.2019. Dabei geht es um die Vorstellungen von Außenminister Pompeo, wie die USA die Klimaveränderungen in der Arktis (vermeintlich) zu ihrem Vorteil nutzen könnten.

Donald Trump hat mal wieder Schlagzeilen gemacht, als er im August [2019] sein Interesse am Kauf von Grönland signalisierte. Aber lassen wir uns nicht täuschen: Hier sprach nicht Trump, der Immobilienkrösus. Die Idee entspringt vielmehr einer Strategie, die wir ab jetzt als Pompeo-Doktrin bezeichnen sollten.

Denn Trumps Außenminister Mike Pompeo hat in der geopolitischen Region der Arktis noch viel mehr vor als nur den Kauf von Grönland. Als der US-Präsident die Welt mit der Idee überraschte, den Dänen das halbautonome Gebiet abzuschwatzen, sahen die meisten Kommentatoren darin nur einen weiteren von Trumps zunehmend bizarren Auftritten.

So ging es offenbar auch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen. Die Sozialdemokratin bezeichnete den bloßen Gedanken an ein solches Geschäft als absurd“. Woraufhin Trump ihre Bemerkung „widerlich“ nannte und seinen lange geplanten Staatsbesuch in Kopenhagen absagte.

Betrachtet man diese Episode etwas näher und liest sie im Kontext mit anderen Aktionen der Trump-Regierung, drängt sich eine ganz andere Interpretation auf. Und wir alle sollten begreifen, dass es sich hier um eine Frage handelt, die für die ganze Welt, ja für die gesamte menschliche Zivilisation von immenser Bedeutung ist.

Die Arktis wird heute im Weißen Haus, ganz im Sinne Pompeos, zunehmend als eine weltpolitische Arena gesehen, in der sich der Konkurrenzkampf der Großmächte entscheidet. Und der ultimative Gewinn ist ein außergewöhnliches Reservoir an Bodenschätzen: von Erdöl und Erdgas über Uran, Zink, Eisenerz, Gold und Diamanten bis hin zu den berühmten Metallen der seltenen Erden.

Es kommt ein weiterer Faktor hinzu, den niemand in Trumps Umgebung benennt, weil Begriffe wie »Klimawandel« oder »Klimakrise« im Weißen Haus verboten sind: Den Startschuss für den Wettlauf um die Schätze Grönlands hat die globale Erwärmung gegeben – was man in Washington natürlich nur zu genau weiß.

Die Großmächte haben schon seit Längerem ihr Auge auf die Arktis geworfen. Während des Kalten Kriegs war die Region um den Nordpol von großer strategischer Bedeutung. Damals planten sowohl die USA als auch die Sowjetunion, ihre mit Atomwaffen bestückten Raketen und Bomber am Rand der Arktis zu stationieren, von wo aus sie Ziele auch auf der anderen Seite der nördlichen Halbkugel erreichen konnten.

Seit dem Ende des Kalten Kriegs war das Interesse an der Region allerdings weitgehend erloschen. Eisige Temperaturen, häufige Stürme und die massive Eisdecke machten einen normalen Luft- und Seeverkehr unmöglich. Wer würde dort schon Wagnisse eingehen, abgesehen von der indigenen Bevölkerung, die ihre Lebensweise seit Langem den arktischen Bedingungen angepasst hatte?

Doch der Klimawandel hat die Situation dramatisch verändert. Die Temperaturen steigen in der Arktis schneller als irgendwo sonst auf der Welt. Mit der Folge, dass die polare Eisdecke teilweise abschmilzt und zuvor unzugängliche Wasserflächen und Inseln freilegt, was eine kommerzielle Ausbeutung ermöglicht. Zum Beispiel wurden in Offshore-Gebieten, die früher den größten Teil des Jahres unter Eis lagen, inzwischen Öl- und Gasvorkommen entdeckt.

Neue Möglichkeiten, wichtige Bodenschätze zu erschließen, ergeben sich auch – richtig! – in Grönland. Angesichts dessen ist die Trump-Regierung besorgt, andere Länder, wie China und Russland, könnten die durch den Klimawandel freigelegten Chancen für sich nutzen. Deshalb hat sie eine umfassende Kampagne gestartet, um die Dominanz der USA in dieser Region zu sichern, wobei sie auch das Risiko künftiger Konflikte und Zusammenstöße in Kauf nimmt.

Pompeos Doktrin für die Arktis

Der Wettlauf um die arktischen Ressourcen startete zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Damals nahmen die weltweit größten Energiekonzerne – westliche Multis wie BP, ExxonMobil und Shell ebenso wie die russischen Giganten Gazprom und Rosneft – die Suche nach Öl- und Gasvorkommen auf, die durch den Rückzug des Packeises erschließbar geworden waren.

Diese Explorationen erhielten 2008 neuen Rückenwind, als der United States Geological Survey (USGS) den Report »Circum-Arctic Resources« veröffentlichte, der aufzeigte, dass bis zu einem Drittel der unentdeckten weltweiten Öl- und Gasreserven innerhalb des nördlichen Polarkreises lagern.

Laut Einschätzung der Autoren des Reports liegt ein Großteil der noch nicht erschlossenen fossilen Brennstoffe unter den arktischen Gewässern, die an die Hoheitszonen der USA (Alaska), von Kanada, Dänemark (Grönland), Norwegen und Russland grenzen. Diese Länder werden auch als »The Arctic Five« bezeichnet.

Gemäß dem geltenden Völkerrecht, das im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (UNCLOS) von 1992 kodifiziert ist, darf jeder Anrainerstaat die Ressourcen auf und unter dem Meeresboden bis zu einer Entfernung von mindestens 200 Seemeilen (370,4 Kilometern) von seiner Küstenlinie ausbeuten. Diese sogenannte ausschließliche Wirtschaftszone (AWZ) kann sich auch über die 200-Meilen-Grenze hinaus erstrecken, wenn der geologische Festlandsockel in der betreffenden Gegend über die 200 Meilen hinausreicht.

Eine AWZ beanspruchen alle Arctic Five, einschließlich den USA, obwohl Washington das UNCLOS nicht ratifiziert hat. Die meisten bekannten Öl- und Gasvorräte liegen innerhalb der jeweiligen AWZ, allerdings befinden sich auch einige in Gebieten jenseits der 200-Meilen-Grenze, in denen sich AWZs überlappen oder die zwischen den Parteien umstritten sind.

Die Arctic Five haben im Prinzip vereinbart, alle Konflikte, die auf konkurrierende Ansprüche zurückgehen, auf friedliche Weise beizulegen. Auf diesem Grundsatz beruht auch der 1996 gegründete Arktische Rat: ein zwischenstaatliches Forum aller Staaten, die über Territorium innerhalb des arktischen Polarkreises verfügen. Das sind neben den Arctic Five noch Finnland, Island und Schweden.

Der Arktische Rat tritt alle zwei Jahre zusammen. Er bietet den Regierungen dieser Länder und den im arktischen Raum lebenden indigenen Völkern– zumindest theoretisch – die Gelegenheit, Themen von gemeinsamem Interesse zu besprechen und nach kooperativen Lösungen zu suchen.

Tatsächlich hat der Rat dazu beigetragen, die Spannungen in der Region zu dämpfen. Allerdings wurde es in den vergangenen Jahren immer schwieriger, ein Übergreifen anderer Konflikte auf die Arktis zu verhindern. Das gilt etwa für die wachsende Feindseligkeit der USA (und der NATO) gegenüber Russland und China oder für die Konkurrenz um essenziell wichtige Rohstoffvorkommen. Das jüngste Treffen des Rats fand im Mai 2019 in der finnischen Stadt Rovaniemi statt, die nur wenige Kilometer südlich des Polarkreises liegt. Dabei traten die Rivalitäten und der Drang nach vom Eis befreiten Ressourcen bereits offen zutage.

Normalerweise werden vor dem Arktischen Rat nichtssagende Bekenntnisse zur internationalen Zusammenarbeit und zum gewissenhaften Umweltschutz abgegeben. Aber dieses Mal hielt US-Außenminister Pompeo eine offen kriegerische und provokative Rede, die im Rückblick sehr viel mehr Aufmerksamkeit verdient, als sie damals erzielte.

Seine Worte sollten wir etwas genauer ansehen, denn mit ihnen proklamierte Trumps Außenminister eine womöglich historische neue Doktrin für den Fernen Norden. Zu Beginn schlug er noch milde Töne an: „In den ersten zwei Jahrzehnten hatte der Arktische Rat den Luxus, sich fast ausschließlich auf die wissenschaftliche Zusammenarbeit, auf kulturelle Fragen, auf die Erforschung der Umweltprobleme zu konzentrieren. Das alles seien interessante und sehr wichtige Themen, die man weiter im Auge behalten müsse – aber diese luxuriösen Verhältnisse seien nun nicht mehr gegeben.

Schätze unter dem schmelzenden Eis

Damit kam Pompeo zur Sache: „Wir treten in ein neues Zeitalter des strategischen Engagements in der Arktis ein, und das bringt neue Bedrohungen der arktischen Region und seiner Besitztümer [wörtlich: »real estate«, ganz im Geiste seines Präsidenten] und aller unserer Interessen in dieser Region.

In dieser extremen Hardliner-Rede kam der Begriff »Klimawandel« natürlich nicht vor. Und doch wissen alle, dass genau dieser Klimawandel die Möglichkeiten verbessert hat, die riesigen Rohstoffvorräte der Region auszubeuten. Das Wettrennen um die Kontrolle dieser Reichtümer hat bereits begonnen, und zwar von Anfang an als geopolitische Konfrontation zwischen den USA, Russland und China.

Was die Ausbeutung der Ressourcen betrifft, so konnte Pompeo in Rovaniemi seine Begeisterung kaum zügeln. Er erinnerte an den Kauf von Alaska im Jahr 1857, für den der damalige US-Außenminister William Seward von allen Seiten verhöhnt worden war. Heute sei die Arktisregion keineswegs das unwirtliche Hinterland, als das sie zu Sewards Zeiten gesehen wurde, sondern die vorderste Kampflinie der unbegrenzten Möglichkeiten: „Hier lagern 13 Prozent der noch nicht erschlossenen globalen Öl- und 30 Prozent der Gasreserven; dazu Unmengen an Uran und seltenen Erden, an Gold und Diamanten und Millionen Quadratmeilen von unangetasteten Ressourcen.

Gleichermaßen begeistert sprach Trumps Außenminister von einer gewaltigen Expansion des maritimen Verkehrs durch die Eröffnung des neuen transarktischen Schifffahrtswegs zwischen dem euroatlantischen Raum und Asien: „Dank der ständigen Rückbildung der Eisdecke öffnen sich neue Seepassagen und neue Chancen für den Handel. Damit würde sich die Reisezeit zwischen Asien und dem Westen potenziell um bis zu 20 Tage verkürzen. Laut Pompeo könnten die „arktischen Seerouten zum Suez- und Panamakanal des 21. Jahrhunderts“ werden.

Dass die „ständige Rückbildung der Eisdecke“ einzig und allein auf den Klimawandel zurückgeht, fand ebenso wenig Erwähnung wie eine weitere Tatsache: Sollte die arktische Passage einmal tatsächlich zum Suez- oder Panamakanal des Nordens geworden sein, dürften sich zugleich weite Teile des globalen Südens in unbewohnbare Wüstenzonen verwandelt haben.

Sobald sich diese »neuen Chancen« ergeben, wollen die Vereinigten Staaten die Ersten sein, die sie zu nutzen wissen. In Finnland spuckte Pompeo große Töne über die tollen Fortschritte, die seine Regierung bereits gemacht habe, etwa mit den großzügigen Lizenzen für Öl- und Gasbohrungen in küstennahen Gewässern, aber auch mit der Erlaubnis zur „Erkundung von Energiequellen“ im Arctic National Wildlife Refuge (ANWR).

Dieses Naturschutzgebiet im äußersten Nordosten Alaskas wird von Umweltaktivisten vor allem als Überlebensraum für die umherziehenden Karibus und andere gefährdete Tierarten geschätzt. Das hinderte Pompeo nicht, weitere Aktivitäten zur Ausbeutung der Bodenschätze anzukündigen.

Um seine Zuhörer zu beruhigen, erklärte der US-Außenminister, dass die Konkurrenz um die arktischen Ressourcen „im Idealfall“ durchaus geordnet und friedlich ablaufen würde. Sein Land glaube an „den freien und fairen und offenen Wettbewerb nach rechtsstaatlichen Prinzipien“.

Aber dann folgte gleich die Drohung: Andere Länder und insbesondere China und Russland würden sich zumeist nicht an diese Regeln halten, deshalb müssten sie einer genauen Aufsicht unterliegen und nötigenfalls auch bestraft werden.

Pompeo ging dann speziell auf China ein. Peking sei längst dabei, in der arktischen Region neue Handelswege zu erschließen und Wirtschaftsbeziehungen mit den Anliegerstaaten zu entwickeln. Allerdings würden die Chinesen ihre angeblich nur ökonomischen Aktivitäten hinterrücks auch zu militärischen Zwecken nutzen – behauptete der Außenminister jenes Landes, das in der Arktis bereits diverse Militäreinrichtungen unterhält, darunter die Luftwaffenbasis Thule im Norden von Grönland.1

Unverschämterweise, so Pompeo, spionierten die Chinesen den mit Interkontinentalraketen bestückten US-amerikanischen U-Booten nach, die im arktischen Raum operieren und für die nukleare Abschreckungsstrategie seines Landes unentbehrlich sind. Er verwies insbesondere auf die Vorgänge im Südchinesischen Meer. Dort hat China in der Tat auf ein paar winzigen unbewohnten Inseln Militäranlagen, wie Flugplätze und Raketenstellungen, errichtet, worauf die USA mit der Entsendung von Kriegsschiffen in die umliegenden Gewässer reagiert haben.

Der Hinweis diente ersichtlich als Warnung, dass eine ähnliche militärische Konfrontation und potenzielle Zusammenstöße künftig auch in der Arktis denkbar sind: „Wir sollten uns fragen, ob wir wollen, dass der Arktische Ozean zu einem neuen Südchinesischen Meer wird, belastet durch Militarisierung und konkurrierende territoriale Ansprüche.

Wobei Pompeo anschließend noch stärkere Worte gegen Russland fand, dem er „ein aggressives Vorgehen in der Arktis“ vorwarf: Moskau habe in der Region hunderte neue Stützpunkte errichtet, neue Häfen gebaut und sein Flugabwehrsystem erneuert. Diese Bedrohung könne nicht ignoriert werden: „Russland hinterlässt bereits Spuren im Schnee – in der Form von Militärstiefeln. Die Arktis sei zwar eine Art Wildnis, „doch das heißt nicht, dass dort Gesetzlosigkeit herrschen sollte […] Und wir bereiten uns darauf vor, sicherzustellen, dass es nicht so weit kommt.

Das also ist der Kern der Botschaft: Die Vereinigten Staaten müssen selbstredend »reagieren«, indem sie ihre eigene militärische Präsenz in der Arktis verstärken – mit den einzigen Ziel, ihre Interessen zu verteidigen und das Vordringen der Chinesen und der Russen zu kontern.

Solche Töne sind keineswegs nur Zukunftsmusik: „Unter Präsident Trump verstärken wir die Sicherheit und die diplomatische Präsenz der USA in dieser Region. Zur Stärkung unserer Sicherheit – die zum Teil als Reaktion auf die destabilisierenden Aktivitäten Russlands erfolgt – veranstalten wir Militärmanöver, verstärken unsere Truppenpräsenz, bauen unsere Eisbrecherflotte wieder auf und erhöhen die Ausgaben für unsere Küstenwache“, listete Pompeo auf.

Zudem werde „innerhalb unseres Militärs eine neue Stabsstelle für arktische Angelegenheiten“ eingerichtet, fügte der US-Außenminister hinzu.

Zum Beweis, dass Washington es ernst meint, pries Pompeo stolz die größten Militärübungen der USA und der NATO, die seit dem Ende des Kalten Kriegs im arktischen Raum stattgefunden haben. Dieses multinationale Manöver mit 50.000 Soldaten (unter dem Codenamen »Trident Juncture 18«) wurde vom 25. Oktober bis zum 23. November 2018 auf norwegischem Territorium abgehalten.2 Nach dem offiziellen Szenario für »Trident Juncture 18« war der Gegner ein nicht namentlich genannter »Angreifer«, aber für alle Militärbeobachter war eindeutig klar, dass die NATO-Truppen eine hypothetische russische Invasion in Norwegen zurückzuschlagen hatten.

So wird in groben Konturen die Pompeo-Doktrin erkennbar, der eine Kern­annahme zugrunde liegt, die innerhalb der Trump-Administration eigentlich verboten ist: dass die Klimakrise tatsächlich existiert. Diese überaus aggressive Doktrin geht für die arktische Region von einer permanenten Konkurrenz und von anhaltenden Konflikten aus, die sich infolge der Erderwärmung und des Abschmelzens der polaren Eiskappen immer weiter zuspitzen.

Die Auffassung, dass sich die USA im Fernen Norden mit den Russen und Chinesen ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern, hat sich in Washington – speziell im Pentagon und im Nationalen Sicherheitsrat – über einen längeren Zeitraum herausgebildet. Im August 2019 ist sie offenbar auch im Weißen Haus so geläufig geworden, dass sie Trump darauf gebracht hat, Grönland kaufen zu wollen.

Dabei ist diese Idee angesichts der grönländischen Ressourcen und möglicher künftiger Auseinandersetzungen keineswegs irre oder skurril. Denn auf der größten Insel der Erde gibt es sowohl eine Menge Bodenschätze als eben auch die Militärbasis von Thule – ein Relikt des Kalten Kriegs, das heute vornehmlich als Radarstation dient. Die Anlage wurde bereits für 300 Millionen Dollar modernisiert, um russische Raketentests besser überwachen zu können. Aus der Sicht Washingtons ist Grönland von unschätzbarem Wert in dem geopolitischen Gerangel, das Pompeo in Rovaniemi dargestellt hat.

Bei den neuen strategischen Überlegungen im State Department und im Pentagon spielen auch Island und Norwegen eine wichtige Rolle. So hat die US-Marine ihren alten Stützpunkt im isländischen Keflavík wieder besetzt – eine weitere Hinterlassenschaft des Kalten Kriegs – und integriert diesen nun in ihre Strategie der U-Boot-Bekämpfung. Und auf einer Basis in der Nähe der norwegischen Stadt Trondheim sind gegenwärtig mehrere hundert der berühmten »Marines« stationiert. Dabei handelt es sich um den ersten Daueraufenthalt ausländischer Soldaten auf norwegischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg. 2018 hat das Pentagon sogar die außer Dienst gestellte Zweite US-Flotte wieder reaktiviert und mit der Aufgabe betraut, den Nordatlantik und die Seewege in Richtung Arktis zu beschützen, was die Gewässer um Grönland, Island und Norwegen einschließt.

Wir gehen also offensichtlich heißen Zeiten entgegen, wobei die umfassenden Investitionen, die dem US-amerikanischen Militär das Agieren im Fernen Norden ermöglichen sollen, erst an ihrem Anfang stehen. Während »Trident Juncture 18« operierte der Flugzeugträger »Harry S. Truman« und seine Begleitflotte in norwegischen Gewässern – und zwar erstmals seit der Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991 auch nördlich des Polarkreises.

Seitdem hat Marineminister Richard Spencer angekündigt, das Pentagon werde in der Sommersaison Überwasserschiffe der U.S. Navy die gesamte Arktis durchqueren lassen,3 was bislang nur unterhalb der Eisdecke, also für Atom-U-Boote möglich war.

Der Plan wurde diesen Sommer nicht realisiert.4 Aber in allerjüngster Zeit haben Einheiten der US-Marine und der Marineinfanterie an der Küste von Alaska ein großes amphibisches Landungsunternehmen durchgeführt. An der Übung im Rahmen des Militärmanövers »Arctic Expeditionary Capabilities Exercise (AECE) 2019«, des größten seiner Art seit Jahren, waren rund 3.000 Einsatzkräfte beteiligt. Sie sollte dazu dienen, die Fähigkeit des US-Militärs zu offensiven Landungsoperationen in der umkämpften arktischen Region zu verbessern.

Obwohl der US-Außenminister und seine Redenschreiber den Begriff »Klimawandel« niemals verwenden, ist jeder Aspekt der neuen Pompeo-Doktrin durch die Auswirkungen dieses Phänomens bestimmt. Weil die Temperaturen mit dem erhöhten Ausstoß von Treibhausgasen immer weiter ansteigen, wird die Eisdecke der Arktis immer schneller schrumpfen.

Damit wird die Ausbeutung der arktischen Energievorkommen zunehmend einfacher, was eine erhöhte Produktion fossiler Brennstoffe bedeutet, die wiederum den Teufelskreis der Erderwärmung und des beschleunigten Abschmelzens des Polareises weiter antreibt. Mit einem Satz: Die Pompeo-Doktrin weist den sicheren Weg in die Katastrophe.

Dabei kommt noch ein Aspekt ins Spiel: Die steigenden Temperaturen und die Zunahme extremer Stürme werden die Öl- und Gasförderung in anderen Weltregionen wahrscheinlich stark beeinträchtigen. So gehen viele Wissenschaftler davon aus, dass die Menschen im Nahen und Mittleren Osten bis 2050 im Sommer mit durchschnittlich knapp 50 Grad Celsius rechnen müssen. Solche mörderische Hitze macht das Arbeiten im Freien unmöglich.

Im Golf von Mexiko – und in klimatisch vergleichbaren Regionen – könnten Hurrikane wegen der steigenden Wassertemperaturen immer extremer werden und die kontinuierliche Förderung auf den Ölbohrplattformen behindern. Sollte die Menschheit bis 2050 nicht die komplette Umstellung auf alternative Energien geschafft haben, wird die Arktis in der Mitte dieses Jahrhunderts zur wichtigsten Lieferregion von Gas und Erdöl geworden sein. Das wird den Kampf um die Kontrolle dieser fossilen Ressourcen nur noch erbitterter machen – der teuflischste Aspekt der Reaktion der Menschen auf die Klimakrise.

Je mehr fossile Energie wir verbrauchen, umso schneller wird sich die Ökologie der Arktis verändern. Und wenn die auf fossilen Brennstoff beruhende Extraktionsökonomie in anderen Regionen aus klimatischen Gründen zum Erliegen kommt, ohne dass wir die Abhängigkeit von Öl und Gas überwunden haben, wird das Schicksal des Fernen Nordens besiegelt sein. Dann wird die ehemals unberührte Weltregion, wie von der Pompeo-Doktrin vorausgesehen, zum Schauplatz heftiger Konflikte werden – und zu einer Katastrophe für die gesamte Zivilisation.

Anmerkungen

1) Die US-Basis Thule existiert bereits seit 1951 und hat eine drei Kilometer lange Landebahn. Während des Kalten Kriegs diente sie als Operationsbasis des Strategic Air Command, also der mit Atomwaffen bestückten Langstreckenbomberflotte der U.S. Air Force (B-36, B-47 und B-52). Die Basis beherbergt heute auch die größte und nördlichste Satellitenbodenstation der U.S. Air Force. Gegenwärtig halten sich dort permanent etwa 600 Armeeangehörige und Zivilisten auf.

2) Dabei handelte es sich um das größte NATO-Manöver seit der Auflösung der Sowjet­union. Parallel dazu fand das ebenfalls multinationale Seemanöver »Northern Coasts 2018« in der Ostsee vor Finnland statt. An beiden Manövern war die Bundeswehr mit starken Kontingenten beteiligt.

3) Siehe Wall Street Journal, 12. Januar 2019.

4) Das Vorhaben wurde auch in Fachkreisen kritisch gesehen, denn es hätte nicht nur U.S.-Navy-Schiffe (durch Eisgang) gefährdet, sondern auch zu Konflikten mit Russland und Kanada geführt. Siehe Rebecca Pinkus, »Rushing Navy Ships into the Arctic for a FONOP is Danger­ous«, in: RealClear Defense, 1. Februar 2019.

Michael T. Klare ist Professor em. für Friedens- und globale Sicherheitsstudien und schreibt regelmäßig für die Website TomDispatch, auf der auch dieser Text erschienen ist. Sein neues Buch »All Hell Breaking Loose – the Pentagon’s Perspective on Climate Change« erschien im November 2019 bei Metropolitan Books.

Aus dem Englischen übersetzt von Niels Kadritzke.
© Michael Klare; für die deutsche Übersetzung: LMd, Berlin

W&F dankt »Le Monde diplomatique« für die Nachdruckrechte. Der Artikel erschien unter der Überschrift »Warum Trump Grönland kaufen wollte« in der Ausgabe vom 10.10.2019.