W&F 2024/1

Polare Fronten: Kalter Krieg oder Zone des Friedens?

Die Polarregionen zeichnen sich durch ihre ökologische Fragilität und globale Bedeutung aus. Sie sind die Dreh- und Angelpunkte, um die sich die Erde dreht, und trotz ihrer Kälte zugleich Brennpunkte der Weltpolitik, an denen sich geopolitische Interessen, Ressourcengewinnung und Umweltschutz überschneiden. Auch wenn sie gegenüber den Bevölkerungszentren als abgelegene und unberührte Landschaften erscheinen, ist hier eine kooperative Regierungsführung dringlich, um eine Ausweitung territorialer Streitigkeiten und Ressourcenkämpfe in die Polarkreise zu vermeiden. Darüber hinaus erfordern die Erhaltung der Ökosysteme der Arktis und Antarktis und die Vermeidung der Klimafolgen (Eisschmelze, tauender Permafrost, veränderte Ozeanströmungen) internationale Solidarität und Kooperation in Wissenschaft und Politik. Sie sind damit zentrale Themen für die Forschung und das Eintreten für globalen Frieden und langfristige, nachhaltige Zusammenarbeit.

Das Jahr 2024 könnte zu einer Wegscheide zwischen der zirkumpolaren Zusammenarbeit und neuen Konflikten werden. Der hohe Norden, der nach dem Kalten Krieg von der Entspannung profitierte und als »Zone des Friedens« galt, rückte in den letzten Jahren durch seine natürlichen Ressourcen (Öl, Gas, Rohstoffe) doppelt in den Blickpunkt. Zum einen werden sie durch die globale Erwärmung leichter zugänglich, zum anderen steigt die Nachfrage durch den Ukrainekrieg und die Sanktionen – Ausdruck neuer geopolitischer Rivalitäten zwischen Russland und dem Westen. Mit einem Anteil von rund 40 % an den arktischen Territorien steht hier eine russische Dominanz im Raum. An einer »polaren Seidenstraße« ist auch die chinesische Führung interessiert, die zunehmend in der Arktis investiert. Da will auch die NATO nicht nachstehen, die durch Finnland und Schweden im Norden gestärkt ihre militärischen Fähigkeiten ausbaut, auch gegen Cyber- und hybride Bedrohungen. Sie plant ihre größte Übung seit dem Kalten Krieg, »Operation Steadfast Defender 2024«, an der 90.000 Personen aus 31 Mitgliedstaaten teilnehmen, und eine große Arktis-Übung, die »Nordic Response 2024«.

Angesichts der Spannungen durch den Ukrainekrieg haben die westlichen Staaten im »Arktischen Rat« (Arctic Council) die Zusammenarbeit mit Russland vorerst auf Eis gelegt. Dadurch ist der Zugang zu wissenschaftlichen Daten aus Russland verwehrt, die etwa für die Klimaforschung dringlich sind. Bei der diesjährigen Konferenz »Arctic Frontiers« in Tromsø betonte Norwegens leitende Arktis-Beauftragte Solveig Rossebø die Notwendigkeit einer multilateralen Zusammenarbeit gegen den Klimawandel, auch mit Russland. So galt Russland bislang als konstruktives Mitglied des Rates, der ohne das Land kaum weiterbestehen kann, was für die indigenen Völker der Region ein großer Verlust wäre. Dies schließt jedoch nationale Vereinbarungen nicht aus, wie die zwischen der kanadischen Regierung und den Inuit, die mehr Befugnisse über öffentliches Land, Gewässer und darin enthaltene Rohstoffe erhalten sollen.

In diesem Heft richten wir den Blick auf die Regionen und darin agierende nationale und sub-nationale Akteur*innen, um die Polarregionen nicht nur als abstrakten Schauplatz, sondern als historisch gewachsene und politisch geformte komplexe Gebiete zu begreifen. Thematisch sind die Artikel nach einigen Zielen und Bereichen gegliedert:

  • Die Arktis und Antarktis als Projektionsflächen für Aspirationen, Ideen und Vorstellungen von Macht, Besitz und Wettbewerb, aber auch von Frieden, Neugierde und Kooperation. Die Klärung damit verbundener Begrifflichkeiten kann zum Verständnis der widersprüchlichen Entwicklungen beitragen.
  • Die vielfältige Geschichte beider Regionen ist sowohl durch zwischenstaatliche Wechselwirkungen geprägt als auch in der Arktis durch innerstaatliche Unterdrückung der lokalen Bevölkerung und indigener Gruppen. Das Wechselspiel geschichtlicher und aktueller Zusammenhänge soll an konkreten Beispielen verdeutlicht werden.
  • Der Bezug auf den Antarktis-Vertrag und den »Arctic Council« bietet institutionelle Rahmungen, die regionale und überregionale Akteure verbinden, darunter auch China und die NATO, die in wechselnde konfliktive und kooperative Beziehungen eingebunden sind. Die Risiken des Klimawandels sind zentrale Belange, die in diesen Arenen verhandelt und maßgeblich beeinflusst werden (können). Hier können aktuelle Herausforderungen der Diplomatie und Wirtschaft herausgearbeitet und Konflikte sichtbar gemacht werden.
  • Durch die Kolonisierung indigener Territorien in vielen der arktischen Länder finden sich zusätzliche Konfliktdynamiken, die sowohl innerstaatlich als auch überstaatlich sind, da nationale Grenzen durch indigenes Land gezogen wurden. Proteste und Forderungen der betroffenen Gruppen existieren auch weiterhin. Die Beiträge beleuchten diese, als historisch wichtige aber oftmals unbeachtete Konflikte und auch als aktuelle Differenzen, in denen nationale Machtansprüche mit einem Bestreben nach Gerechtigkeit, »Wiedergutmachung«, Entschädigung, Landrechten usw. in Widerspruch geraten.

Eine interessante Lektüre wünschen, Astrid Juckenack und Jürgen Scheffran

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2024/1 Konflikte im »ewigen« Eis, Seite 2