Schutz für Flüchtlinge oder Schutz vor Flüchtlingen?

Schutz für Flüchtlinge oder Schutz vor Flüchtlingen?

von Karl Kopp

Ein breites Bündnis aus Wohlfahrtsverbänden und Menschenrechtsorganisationen forderte Mitte Februar 2004 die rot-grüne Bundesregierung auf, ihren Versuch aufzugeben, die deutsche Drittstaatenregelung auf die EU-Ebene zu exportieren. Die Verbände sehen die Gefahr, dass elf Jahre nach der Grundgesetzänderung die Übernahme des deutschen Modells einer Drittstaatenregelung durch ein Europa der 25 den flüchtlingspolitischen GAU produzieren würde. Die potentiellen künftigen »sicheren Drittstaaten« hießen dann Russland, Weißrussland, Ukraine, Rumänien, Bulgarien, Serbien, Kroatien, Mazedonien und Türkei – Staaten, in denen Menschenrechtsverletzungen immer noch an der Tagungsordnung und internationale Flüchtlingsrechtsstandards nicht vorhanden sind. Das wäre das Ende des individuellen Asylrechts in Europa. Karl Kopp untersucht die Trends in der europäischen Flüchtlingspolitik und setzt sich besonders mit der deutschen Position auseinander.

UN-Flüchtlingshochkommissar Ruud Lubbers warnte in einer Rede am 22. Januar 2004 vor dem EU-Rat für Justiz und Inneres vor einem Zusammenbruch des Asylsystems in den zehn Beitrittsstaaten der EU. Wenn Tausende zusätzlicher Asylsuchender von den alten EU-Staaten in die neuen auf Grund technokratischer EU-Zuständigkeitsregelungen zurückgeschickt würden, überfordere dies die kaum vorhandenen Asylsysteme in den Beitrittsstaaten. Lubbers kritisierte außerdem die derzeitige Fassung der EU-Asylverfahrensrichtlinie, die noch nicht verabschiedet ist. Sie enthalte weitgehende Möglichkeiten, Asylsuchende vom Verfahren ohne rechtliche Überprüfung auszuschließen – konkret in über 20 Kategorien von Fällen. Einen Abwärtstrend zu einem immer restriktiveren Asylrecht stellt Lubbers ebenso fest wie die Tatsache, dass Flüchtlinge es immer schwerer haben, überhaupt Schutz in Europa zu finden.

Folgen der Grenzabschottung

Offiziell kamen über 1.000 Menschen allein seit Anfang 2002 an den europäischen Außengrenzen ums Leben. Die tatsächliche Opferzahl liegt wesentlich höher. Flüchtlinge und Migranten sterben in den Minenfelder zwischen Griechenland und der Türkei, ertrinken in der Agäis, vor den Küsten Italiens, in der Meeresenge von Gibraltar und auf dem Weg zu den Kanarischen Inseln. Die großen Flüchtlingstragödien, wie die Schiffsuntergänge im Mittelmeer, machen nur für kurze Zeit Schlagzeilen. Der Preis der Abschottung wird bei den europäischen Politikern abgebucht im Haushaltskapitel »Bekämpfung der illegalen Migration«. Dabei wird unterschlagen, welche Zustände die Menschen zwingen ihr Land zu verlassen, oft sind dies die Folgen von Bürgerkrieg, Diktatur, Entrechtung und extremer Armut.

Ohne Fluchthilfe kein Zugang nach Europa

Die Schließung der europäischen Außengrenzen entwickelt sich zu einem immensen Arbeitsbeschaffungsprogramm für kommerzielle Fluchthilfe. Diese findet häufig unter menschenverachtenden und lebensgefährdenden Bedingungen statt. Untersuchungen belegen, dass später anerkannte Flüchtlinge das Territorium der EU ohne den Rückgriff auf diese »Dienstleistung« nicht erreicht hätten. Die EU hat in den letzten Jahren fast alle legalen Zugangsmöglichkeiten zu ihrem Territorium verschlossen. Alle Herkunftsländer sind für die EU-Staaten visumspflichtig. Visa für Flüchtlinge gibt es aber nicht. Die EU verhindert jedoch nicht nur die legale und gefahrenfreie Einreise von Flüchtlingen. Seit Jahren arbeitet sie daran, illegale Grenzübertritte zu unterbinden. Dies geschieht mit einer Aufrüstung an den EU-Außengrenzen: Radartürme, Nachtsichtgeräte, Wärmebildkameras, Kohlendioxydsonden und vieles mehr kommen zum Einsatz. Man schließt mit möglichst allen Nachbar- und Herkunftsstaaten so genannte Rückübernahmeabkommen ab.

Politischer Roll back

Die Terroranschläge in den USA haben sowohl im EU-Kontext als auch in den Mitgliedstaaten zu einem politischen »roll back« geführt. Der 11.September 2001 hat das Bedürfnis nach Maßnahmen zum »Schutz der inneren Sicherheit« auf europäischer Ebene selbst bei EU-skeptischen Mitgliedsstaaten bestärkt. Antiterrormaßnahmen wurden innerhalb weniger Wochen verhandelt und beschlossen. Darunter fallen u.a. die Verschärfung der Einreisebestimmungen, Aktionspläne zur »Bekämpfung der illegalen Einwanderung«, die Schaffung eines gemeinsamen Visa- Identifikationssystems. Dies hat zwar alles nichts mit einem gemeinsamen Asylrecht zu tun, hat aber verheerende Auswirkungen auf den Flüchtlingsschutz.

Unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands soll jetzt eine gemeinsame Grenzschutzagentur aufgebaut werden. Auf dem EU-Gipfel in Thessaloniki im Juni 2003 bewilligten die Staats- und Regierungschefs knapp 400 Millionen Euro, um den europäischen Grenzschutz auszubauen und vor allem die Transit- und Herkunftsländer noch stärker in die Flucht- und Migrationskontrolle einzubeziehen. Die Flüchtlingsabwehr findet zunehmend bereits weit vor den Grenzen der EU statt.

EU-Asylzahlen im freien Fall

Laut UNHCR leben über 80 Prozent der aktuell zwölf Millionen Flüchtlinge weltweit meist unter katastrophalen Bedingungen in der jeweiligen Herkunftsregion. In der EU hat sich dagegen die Zahl der Asylanträge in den letzten zehn Jahren mehr als halbiert. 2003 wurden nur noch 288.000 Asylanträge gestellt – ein Rückgang von über 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. In Deutschland sanken die Asylzugangszahlen im Jahr 2003 auf 50.000. Das ist der niedrigste Stand seit 1984. Einerseits ist das eine Folge der Politik der Abschreckung – Hochrüstung an den Außengrenzen, Entrechtung in Asylverfahren, Auslagerung des Flüchtlingsschutzes – andererseits stellen immer mehr Flüchtlinge gar keinen Asylantrag mehr, sie leben als »Illegalisierte« in Europa.

Seit Mai 1999 ringen die Innenminister der EU um gemeinsame Mindeststandards im Asyl- und Einwanderungsrecht. Die EU-Mitgliedstaaten verpflichteten sich, bis Mai 2004 in zentralen Feldern des Asylrechts Mindeststandards zu beschließen. Damit soll gemeinsames Recht geschaffen werden, wird der Prozess der Abgabe nationalstaatlicher Souveränitätsrechte – wahrscheinlich unumkehrbar – eingeleitet. Alle asylrechtlichen Beschlüsse gelten dann auch für alle künftigen EU-Mitgliedsstaaten und das Asylrecht des »Clubs der 25« wird weltweite Auswirkungen haben.

Pro Asyl und andere Menschenrechtsorganisationen sehen in verbindlichen europäischen Regelungen eine wesentliche Möglichkeit um zu verhindern, dass das Asylrecht weiter zwischen den Einzelinteressen der Mitgliedstaaten zerrieben wird.

Rückblick: Gute Ansätze aus Brüssel

Zwischen Dezember 1999 und September 2001 veröffentlichte die EU-Kommission u.a. Vorschläge zu Asylverfahren, zu sozialen Aufnahmebedingungen, zur Familienzusammenführung, zum Flüchtlingsbegriff und für ergänzende Schutzformen. Diese haben in Europa zum Teil für Aufregung gesorgt, weil Brüssel einen höheren Mindeststandard anstrebte als ihn der kleinste gemeinsame Nenner der Asylpraxis bot. Alle Initiativen der Kommission zeichneten sich aus durch hohe Schutzstandards bei minderjährigen Flüchtlingskindern, bei traumatisierten Flüchtlingen und Vergewaltigungsopfern.

Zur asylpolitischen Kardinalfrage: »Wer ist Flüchtling und wer braucht so genannten ergänzenden Schutz?« legte die Kommission einen Richtlinienvorschlag vor, der im Einklang mit der überwiegenden Staatenpraxis – allerdings im Widerspruch zur deutschen Praxis – explizit die Anerkennung von nichtstaatlicher Verfolgung vorsieht. Außerdem wurde klargestellt, dass die EU-Mitgliedsstaaten geschlechts- und kinderspezifische Formen von Verfolgung zu berücksichtigen haben.

Dieser Richtlinienvorschlag steht deutlich im Gegensatz zu der restriktiven Asylpolitik der 90er-Jahre.

Filettierung einer zukunftsweisenden Richtlinie

Der erste Richtlinienvorschlag vom Dezember 1999 gewährte Flüchtlingen einen Rechtsanspruch auf Familienzusammenführung. Das in der EU übliche Nachzugsalter für Kinder unter achtzehn Jahren wurde aufgegriffen. Außerdem legte die EU-Kommission einen Familienbegriff zu Grunde, der auch nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften umfasst.

Dieser Vorschlag wurde dann aber Stück für Stück in mehrjährigen Verhandlungen unter maßgeblicher Beteiligung Deutschlands und Österreichs zerpflückt. Aus Rechtsansprüchen wurden im Laufe der Verhandlungen Dutzende von Kannbestimmungen. Erst der dritte Vorschlag der Kommission zur Familienzusammenführung war dann mit dem Entwurf des geplanten deutschen Zuwanderungsgesetzes kompatibel. Die mittlerweile beschlossene Richtlinie beinhaltet nach deutschem Drängen eine Ausnahmevorschrift, die eine Herabsenkung des Kindernachzugsalters von 18 auf 12 Jahre ermöglicht.

Asylrecht weiter in der Zange der Nationalstaaten

Diese Blockadepolitik einzelner Mitgliedsstaaten ist möglich, weil die Entscheidungsprozesse im Bereich Justiz und Inneres in einem fünfjährigen Übergangszeitraum – also bis Mai 2004 – weiterhin von den Schwächen und dem Demokratiedefizit der bisherigen zwischenstaatlichen Ebene geprägt sind. Alle asylrechtlichen Maßnahmen müssen einstimmig im Ministerrat angenommen werden. Die Beschlüsse des Parlaments bleiben weitgehend unberücksichtigt. Das Europäische Parlament besitzt nur ein Anhörungsrecht, kein Mitentscheidungsrecht. Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat vorerst nur äußerst eingeschränkte Befugnisse. In der ersten Etappe der Vergemeinschaftung bleibt die Asylpraxis der Union weiterhin von nationalstaatlichen Partikularinteressen geprägt. Das alles blockierende Einstimmigkeitsprinzip kommt einem Vetorecht gleich und verhindert eine zügige, völkerrechtskonforme Vergemeinschaftung.

Deutsche Blockadepolitik

Die Bundesrepublik nimmt in dem Kreis der Blockierer Platz eins ein: Kein Land setzte sich so vehement für das alles blockierende Einstimmigkeitsprinzip ein und nutzt es so weidlich aus, um anvisierte höhere europäische Standards auf deutsches Niveau abzusenken.

Die Bundesregierung unter Helmut Kohl setzte bei den Verhandlungen über den Amsterdamer Vertrag das Einstimmigkeitsprinzip und das bloße Anhörungsrecht des Europäischen Parlamentes maßgeblich durch. Auf dem »Reformgipfel« in Nizza im Dezember 2000 verhinderte die rot-grüne Bundesregierung den automatischen Übergang zu Mehrheitsentscheidungen, zu realen Mitentscheidungsrechten des Europäischen Parlaments im Asylrecht. Deutschland setzte im Vertrag von Nizza als Bedingung durch, dass vorher in den einzelnen asylrechtlichen Bereichen Maßnahmen einstimmig beschlossen werden müssen.

Diese EU-skeptische Haltung prägt auch den bundesdeutschen Beitrag zu der künftigen Verfassung Europas. „Fragen der Einwanderungspolitik gehören zu den besonders sensiblen Bereichen der Innenpolitik,“ schrieb Außenminister Fischer im Sommer 2003 in den Erläuterungen zu seinem Veränderungsvorschlag bezüglich der künftigen EU-Einwanderungspolitik. Er forderte im Chor mit Stoiber, Schröder und Schily das Prinzip der Einstimmigkeit in der Einwanderungspolitik auch in der Europäischen Verfassung fortzuschreiben. Die Einreise zum Zwecke der selbstständigen und unselbstständigen Arbeitsaufnahme bleibt nach dieser Intervention in der ausschließlichen Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Damit hat die deutsche Verhandlungsführung erreicht, dass sich über Jahre hinweg keine gemeinsame Einwanderungspolitik der EU entwickeln wird.

Das Bundesinnenministerium mauert nahezu bei allen Vorschlägen der EU-Kommission und die CDU/CSU läuft Sturm gegen jede haarkleine, liberale Abweichung Brüssels vom bundesdeutschen Recht.

  • Seit Monaten blockiert die Bundesregierung – gegen alle anderen EU-Mitgliedstaaten – die Verabschiedung der Richtlinie zum Flüchtlingsbegriff mit dem Hinweis: Zuerst das bundesdeutsche Zuwanderungsgesetz – Europa muss warten. Deutsche Vorbehalte verhindern damit auch, dass endlich das Fundament eines europäischen Asylrechts gelegt werden kann.
  • Die anvisierten hohen europäischen Schutzstandards für Flüchtlingskinder erfuhren einschneidende Einschränkungen: Bei den Aufnahmebedingungen setzte Deutschland durch, dass unbegleitete Minderjährige bereits ab 16 in Aufnahmezentren für erwachsene Asylsuchende untergebracht werden können. Aktuell schraubt Deutschland in der Asylverfahrensrichtlinie den europäischen Standard bei der so genannten Verfahrensmündigkeit von 18 auf 16 Jahre herunter.
  • Die Bundesrepublik setzte ihre EU-weit einzigartige Einschränkung der Bewegungsfreiheit für Asylsuchende – die so genannte Residenzpflicht – als Kann-Bestimmung in der Aufnahmerichtlinie durch.
  • Deutschland verhinderte, dass EU-weit der Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylsuchende geregelt wurde. Der Bundeskanzler schaltete sich dafür höchstpersönlich ein – obwohl dieser Bereich eindeutig in EU-Kompetenz fällt und obwohl die Bundesrepublik bei der politischen Einigung im April 2002 zugestimmt hatte.

Großbritannien nutzte die bundesdeutsche Blockadepolitik als Steilvorlage und setzte eine weitere Veränderung der bereits beschlossenen Richtlinie durch: Künftig können allen Asylsuchenden, die nicht »unverzüglich« einen Antrag stellen, Sozialleistungen völlig verweigert werden.

Wettlauf der Schäbigkeiten geht weiter

Während über gemeinsame Standards gestritten wird, schaffen die Nationalstaaten neue Fakten. In nahezu allen Mitgliedstaaten gibt es grundlegende Änderungen im Asylrecht. Der Grundtenor: Schnellere Asylverfahren, mehr Lager, längere Abschiebungshaft, effizientere Abschiebungspraktiken, teilweiser oder völliger Ausschluss von Sozialleistungen usw. Mit den neuen Gesetzen kehren die Innenminister an den Brüsseler Verhandlungstisch zurück um den jeweils aktuellen Richtlinienentwurf weiter zu verwässern. Man inspiriert sich wechselseitig bei den Gesetzesverschärfungen und einigt sich auf EU-Ebene schnell und verbindlich auf Maßnahmen, die den Fluchtweg nach Europa versperren. In der ersten Etappe der Vergemeinschaftung bis Mai 2004 bewegt sich der Harmonisierungsgrad im Asylrecht nur knapp über null. Der europäische Flickenteppich im Asylrecht existiert auf absehbare Zeit weiter und bietet mannigfaltige Möglichkeiten in einem ungebremsten Wettlauf der Schäbigkeiten zwischen den Nationalstaaten, die noch jeweils existierenden höheren Standards nach unten anzugleichen.

Allianz gegen den Flüchtlingsschutz

Die Errungenschaft der Menschenrechtsentwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg, die zivilisatorischen Antworten auf die Barbarei stehen zur Disposition. Die Genfer Flüchtlingskonvention war und ist auch eine Antwort auf die gescheiterte Flüchtlingskonferenz von Evian im Jahre 1938. Die Unwilligkeit der beteiligten Staaten, Verfolgten des Naziregimes Schutz zu gewähren, besiegelte das Schicksal vieler Menschen. Mit der Genfer Flüchtlingskonvention vollzog sich der Übergang von der Flüchtlingsaufnahme als einem Akt staatlicher Gnade zu einem individuellen Schutzanspruch für Flüchtlinge. Asyl bedeutet im Kern, Schutz der Flüchtlinge vor Zurückweisung und Abschiebung in den Verfolgerstaat, Gewährleistung des hierfür notwendigen Prüfungsverfahrens und eines menschenwürdigen Daseins. Die Konzeptionen, die auf EU-Ebene verhandelt werden, sind der Versuch, den Rechtsschutz für Asylsuchende in Europa weitgehend abzubauen und selbst Asylberechtigte nur noch nach politischer Opportunität und in geringen Zahlen aufzunehmen.

EU – weitgehend flüchtlingsfrei

Unter der zynischen Überschrift »Eine neue Vision für Flüchtlinge« haben der britische Premier Blair, sein Außenminister Straw und Innenminister Blunkett im Frühjar 2003 ein Modell vorgestellt, das das Asylrecht in Europa in seiner Substanz angreift. Die Idee: Flüchtlinge, denen es gelingt, europäischen Boden zu erreichen, sollen hier kurzfristig interniert und dann so schnell wie möglich in »Schutzzonen« in der Herkunftsregion zurückgeschafft werden, das heißt in große Flüchtlingslager. In allen Hauptherkunftsregionen von Schutzsuchenden will Großbritannien zusammen mit anderen Staaten solche Flüchtlingsreservate schaffen, z.B. in der Türkei, dem Iran, in Nordsomalia und Marokko.

In einer ersten Phase mit verschiedenen Pilotprojekten, die in diesem Jahr beginnen soll, fühlt man sich noch an die Maßstäbe der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Genfer Flüchtlingskonvention gebunden, mittelfristig aber soll auch über eine Veränderung der Genfer Flüchtlingskonvention und über eine Revision der Europäischen Menschenrechtskonvention nachgedacht werden. Das absolute Verbot der Europäischen Menschenrechtskonvention, jemand der Folter oder einer unmenschlichen Behandlung auszusetzen, soll nicht mehr gelten. Die britische »Vision für Flüchtlinge« zielt offensichtlich darauf, die EU weitgehend flüchtlingsfrei zu machen.

Im Sommer 2003 wurde diese britische Initiative auf EU-Ebene zunächst abgelehnt. Durch die Hintertür, schafft der aktuelle Richtlinienentwurf zum Asylverfahren jedoch die rechtlichen Grundlagen für eine Realisierung des britischen Vorschlags: Ein Asylsuchender könnte in ein beliebiges Drittland zurückgewiesen werden, ohne dass er dieses vorher jemals betreten hat. Selbst Staaten, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert haben, dürften als »sichere Drittstaaten« qualifiziert werden. Großbritannien setzte in den Verhandlungen durch, das auch Teilstaaten als »sicher« erklärt werden können. Nimmt man diese beliebigen Kriterien zusammen, ermöglicht der aktuelle Richtlinienentwurf eine weitgehende Auslagerung des Flüchtlingsschutzes in die unmittelbare Herkunftsregion oder gar in das Land des Flüchtlings.

Der deutsche Ansatz ergänzt dieses Asylverhinderungsprogramm. Exportiert die Bundesrepublik ihre »sichere Drittstaatenregelung« auf die EU-Ebene, werden die Beitrittsländer umgehend ihre nationalen Bestimmungen nach deutschem Vorbild verschärfen. Anstatt Hilfe zum Ausbau der immer noch prekären Aufnahmesysteme in den neuen Mitgliedsstaaten zu leisten, liefern die alten EU-Staaten ein Arsenal von Asylverweigerungsmaßnahmen. Die Nachbarregionen Europas werden diesem Beispiel folgen. Dieser Dominoeffekt gefährdet das existierende internationale Flüchtlingsschutzsystem.

Fazit

Nach knapp fünfjährigen Verhandlungen der EU-Innenminister fällt die asylpolitische Bilanz desaströs aus: Man gewinnt zunehmend den Eindruck, dass es bei der Debatte um ein gemeinsames europäisches Asylrecht nicht um den Schutz von Flüchtlingen sondern um den Schutz Europas vor Flüchtlingen geht, statt ein europäisches Asylrecht zu kreieren, gibt es eine kollektive Verantwortungsverlagerung für die Flüchtlingsaufnahme in Nicht-EU-Staaten und Herkunftsregionen. Die europäische »Harmonisierung« des Asylrechts lässt völkerrechtliche Standards außer Acht, fungiert als negatives Vorbild für andere Weltregionen und dokumentiert in erster Linie den gemeinsamen Unwillen, Flüchtlinge in der Europäischen Union aufzunehmen.

Die bittere Ironie: Die rot-grüne Koalition in Berlin hat maßgeblich diese verheerende Entwicklung forciert und gestaltet.

Karl Kopp ist Europareferent von PRO ASYL

Verrat an den Menschenrechten

Verrat an den Menschenrechten

von Heiko Kauffmann

Vom »Primat des Nationalen« zum »Primat der Ökonomie«, von einer bornierten, die Realitäten negierenden national verengten Sicht hin zu der eindimensionalen Rationalität ökonomischer Verwertungsinteressen: Hier zeigt sich die schwere Hypothek der Kohl-Jahre, welche auch die Nachfolge-Regierung zu rationalen Verwaltern scheinbar unabänderlicher »Sachzwänge« werden ließ, statt zu wirklichen Gestaltern einer grundsätzlich neuen entwicklungs- und menschenrechtsorientierten Migrations- und Flüchtlingspolitik. Die Süssmuth-Kommission hatte noch einen Paradigmenwechsel bei der Einwanderungspolitik gefordert: Öffnung, Diskurs, Weltoffenheit, einem ganzheitlichen Blickwinkel, dessen Horizont nicht durch die nationale ökonomische Standortlogik begrenzt wird, sondern der sich völkerrechtlich und menschenrechtsorientiert auch nach den Problemlagen anderer Länder richtet, aus denen Menschen zu uns kommen, der ihre Gründe, Bedürfnisse, Motive ernst nimmt. Nach dem 11. September 2001 ist davon nichts mehr zu hören, das neue Einwanderungsgesetz blieb schon vor seinem Scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht am 18. Dezember 2002 den Prinzipien der Kontrolle, Begrenzung, Steuerung und Abwehr verhaftet.
Klaus Bade resümiert in seinem Buch »Europa in Bewegung«: „So lange das Pendant der Abwehr von Flüchtlingen aus der »Dritten Welt«, die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Ausgangsräumen, fehlt, bleibt diese Abwehr ein historischer Skandal, an dem künftige Generationen das Humanitätsverständnis Europas im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert ermessen werden.“

Stieß der Bericht der Süssmuth-Kommission noch solche Fragen zaghaft an, so finden wir in Schilys Gesetz davon nichts! Schien durch die Greencard-Debatte – von Bundeskanzler Schröder 1999 angestoßen – zunächst eine diskursive Konstellation ins Wanken gebracht worden zu sein, die in dem bis dahin gebetsmühlenartig vorgetragenen Bekenntnis »Deutschland ist kein Einwanderungsland« auch regierungsamtlich ihren Ausdruck fand, so entpuppte sich der einvernehmlich aus fast allen politischen Lagern eingeforderte Paradigmenwechsel in einer vornehmlich unter Kosten-Nutzen-Aspekten geführten Debatte allenfalls als ökonomisch bedingter Richtungswechsel.

Vor dem Hintergrund der Terroranschläge vom 11.09., die eine »aufgeklärte« Auseinandersetzung im Sinne der oben skizzierten Perspektiven- bzw. des Paradigmenwechsels, im Sinne einer umfassenden zukunftsorientierten und positiv gestalteten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik verlangt hätten, wurde zudem wieder schnellstens »zurückgerudert«: Ein ursprünglich als »offen« verstandenes Einwanderungskonzept mutierte – auch infolge der Verquickung von ausländerrechtlichen und sicherheitspolitischen Bestimmungen im sogenannten Otto-Katalog bzw. Anti-Terror-Paket und der neuerlichen Akzentuierung auf Kontrolle, Begrenzung, Steuerung und Abwehr – zu einem Zuwanderungsbegrenzungsgesetz. Vor dem Hintergrund einer zunächst zu eng geführten und dann mit falschen Vorzeichen – Terrorismusgefahr – geführten Debatte, konnte sich in der Bevölkerung nicht der erhoffte Einstellungswandel gegenüber Einwanderern und Flüchtlingen vollziehen; vielmehr ist zu befürchten, dass mit den Antiterrorpaketen – die vor der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes in Kraft traten – der rassistische Bazillus in Deutschland noch verstärkt wurde.

Die hohen, zumindest aber viel weitergehenden Erwartungen der Menschenrechtsbewegung und der Flüchtlingsinitiativen löst das Gesetz nicht ein; es bleibt bei den strukturellen Diskriminierungen einzelner und dem Prinzip der Gefahrenabwehr:

  • Noch mehr Menschen werden der sozialen Ausgrenzung in Gestalt des Asylbewerberleistungsgesetzes unterworfen.
  • Abschiebungshaft wird nicht abgeschafft und auch nicht verkürzt, sondern durch »Ausreisezentren« erweitert.
  • Die Residenzpflicht wird nicht abgeschafft, sondern der Kreis der von ihr Betroffenen erweitert.
  • Es gibt keinen Einstieg in die Lösung der als »illegal« bezeichneten Menschen ohne Aufenthaltsstatus. Humanitäre Hilfe für sie bleibt mit Strafe bedroht; die Pflicht zur Datenweitergabe d.h. zur Meldung und »Anzeige« durch die Helfer – seien es Ärzte, Lehrer, Initiativen – an Ausländerbehörden und Polizei, bleibt bestehen.
  • Der Status der Menschen, die lediglich eine Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung erhalten, liegt auf niedrigstem Niveau.
  • Das Kindeswohl wird weiter missachtet, indem die UN-Kinderrechtskonvention durch das Zuwanderungsgesetz nicht umgesetzt wird.

Die überzogenen Reaktionen auf die furchtbaren Terroranschläge vom 11. September in den USA bewirkten ein Übriges. Sie haben Menschen- und Bürgerrechte und das Völkerrecht geschwächt und beschädigt. Denn die Reaktionen der »weltweiten Allianz gegen den Terror« haben in vielen Mitgliedsländern zu bedrohlichen Einschränkungen von Menschen- und Freiheitsrechten geführt, von denen in erster Linie Einwanderer und Flüchtlinge betroffen waren. Flüchtlinge und Ausländer wurden unter einen generellen Terrorismusverdacht gestellt. Noch vor Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes kam es zu gesetzgeberischem Aktivismus: Das Ausweisungsrecht wurde verschärft, der Datenschutz für Ausländer weitgehend beseitigt. Viele der gesetzlichen Bestimmungen richten sich pauschal gegen Migranten und Flüchtlinge. Sämtliche im Rahmen von erkennungsdienstlichen Maßnahmen erfassten Ausländerinnen und Ausländer werden wie potentielle Straftäter behandelt.

Völkerrecht oder Gesetz des Dschungels?

Der 11. September 2001, nach dem die Welt angeblich eine andere geworden ist, begründet keine neue Zeitrechnung; aber viele, welche die schrecklichen Geschehnisse des 11. September in ihrem Sinne deuten und instrumentalisieren möchten, sähen es gerne, wenn ihnen dieses Datum die erforderliche Legitimation dafür geben könnte, sich von allen internationalen Regeln und völkerrechtlichen Verpflichtungen lösen und verabschieden zu können.

Wäre es nicht die vorrangige und höchste Aufgabe der demokratischen Führer der Welt, nach diesem Terroranschlag an das wichtigste und zentrale zivilisatorische Projekt der Menschheit nach 1945 zur Bewahrung des Friedens und zur Durchsetzung der Menschenrechte anzuknüpfen?

Der tiefste Fall in ihrer Geschichte führte die Menschheit nach 1945 zur Gründung der Vereinten Nationen.

Und nicht nur die Gründung und die Charta der Vereinten Nationen 1945 als Grundlage für eine Global-Governance Struktur zwischen den Staaten und Nationen, sondern auch die mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) beginnende Ausgestaltung und Diversifizierung der individuellen Schutzrechte, der Stärkung der Individuen vor staatlicher Allmacht und Willkür in Menschenrechtskonventionen und völkerrechtlichen Verträgen waren und sind eine Antwort auf das Grauen und die Barbarei des 20. Jahrhunderts, der Versuch, einen Rückfall unmöglich zu machen, das Ungeheuerliche bewusst zu halten und Instrumente und Bedingungen zu schaffen, welche die Bewahrung des Friedens und die Geltung der Rechte und der Würde jedes Menschen zur wichtigsten und unumkehrbaren Verpflichtung und Priorität jeder Politik unter dem Dach der Vereinten Nationen machen sollten.

Vor diesem Hintergrund ist der aktuelle Umgang der Regierung der USA mit internationalen Verträgen und Völkerrechtskonventionen nicht nur äußerst befremdlich, er ist absolut schädlich und nicht akzeptabel – umso mehr, wenn man die einst führende Rolle bedenkt, welche die USA bei der Gründung der Vereinten Nationen und bei der Formulierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gespielt haben.

Es ist bekannt, dass die amtierende amerikanische Regierung unter Präsident Bush die Unterschrift Clintons unter das Statut von Rom, das die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs vorsah, zurückgezogen hat und sich nun mit aller Kraft gegen diesen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) stellt, der über Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit urteilen soll.

Bis heute haben die USA als einziger Staat die UN-Kinderrechtskonvention nicht ratifiziert, den Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte sowie die Anti-Folter-Konvention nur in Teilen.

Auch in anderen Bereichen, z.B. beim Klima-Schutz-Protokoll, in Fragen der Rüstungskontrolle oder bei der Biowaffen-Konvention ist es ausgerechnet die Supermacht USA, die internationale Abkommen blockiert und sich ihrer Verpflichtungen und Verantwortung entziehen will. Dies erscheint um so paradoxer, als es gerade die USA sind, die – etwa bei den Biowaffen – unter Androhung von Militärschlägen die uneingeschränkte Kontrolle anderer Länder (z.B. des Irak) durch Waffeninspektoren fordern, Inspektionen auf US-amerikanischem Boden aber auf keinen Fall zulassen wollen.

Auch der allgemein als sicher erachtete Konsens über die uneingeschränkte Geltung der Menschenrechte ist nach dem Einsturz der Zwillingstürme ins Wanken geraten: Plötzlich wird in den USA offen darüber diskutiert, ob Folter unter bestimmten Voraussetzungen nicht ein probates Mittel sei, um Informationen zu erhalten. Offen wird zugegeben, dass die USA Kriegsgefangene an (verbündete) Regimes ausliefern, in denen für sie die Gefahr und die Wahrscheinlichkeit besteht, gefoltert zu werden. Das alles trotz des Folterverbots als zwingendes internationales Völkerrecht, das auch nicht durch abweichende bilaterale Vereinbarungen zwischen Staaten gebrochen werden kann und darf. Obwohl gerade auch in den USA Menschenrechte und Demokratie als traditionell ur-amerikanische Werte »gehandelt« werden, werden sie dennoch den aktuellen strategischen Zielen der US-Regierungspolitik untergeordnet.

Der Verrat an den Menschenrechten

Nach dem 11.09 haben fast überall Geheimdienste, Polizei und Militär mehr Eingriffs- und Kontrollbefugnisse erhalten. Vorgeblich um Demokratie, Menschenrechte und Freiheit zu schützen, instrumentalisieren Regierungen den »Kampf gegen den Terror« zu Angriffen auf Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit.

Joachim Hirsch hat in diesem System der »Durchstaatlichung der Gesellschaft« schon vor dem 11.09. einen neuen Typus des Sicherheitsstaates erkannt: „Seine Mechanismen zielen nicht mehr vorrangig auf die Einpassung einer politisch passiv gehaltenen Bevölkerung in den Produktions- und Konsumzirkel einer Wohlstandsgesellschaft, sondern arbeiten mit Ängsten und Bedrohungen, die propagandistisch mobilisiert, auf Kriminelle jedweder Couleur, internationale Banden, Terroristen und im Prinzip auf alle Ausländerinnen projiziert werden. Die staatliche Aufrüstung gegen die so definierten Gefahren beinhaltet nicht nur eine grundsätzliche Veränderung des politischen Legitimationsdiskurses, sondern begründet sich selbst, indem sie tendenziell erzeugt, wogegen sie sich richtet. Je mehr die Ausländergesetze verschärft werden, desto eher wachsen die Verstöße dagegen an. Ideologisch und faktisch wird eine sicherheitsstaatliche »Wohlstandsfestung« konstruiert, die ihre Grenzen schließt und mit technisch immer ausgefeilteren Maßnahmen überwacht, sich auf militärische Interventionen zwecks Befriedung einer zunehmend konflikthaft werdenden Peripherie einrichtet und die auf die Folgen gesellschaftlicher Spaltungen und Polarisierungen nur noch mit den Mitteln repressiver Überwachung und »Kriminalitätsbekämpfung« reagieren zu können glaubt“. (Hirsch, Joachim: Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin, 1995, S. 160)

Mit Blick auf diese Entwicklung, die sich durch die Terroranschläge des 11. September gerade in den demokratisch verfassten Gesellschaften des Westens potenziert hat, mahnte der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen anlässlich des Tags des Flüchtlings, am 28.9.2001, die Staaten und die Öffentlichkeit, Opfer d.h. Flüchtlinge, nicht mit Tätern zu verwechseln. Viele Asyl- suchende seien ja selbst vor religiös, ethnisch oder politisch motiviertem Fanatismus geflohen. Massive Menschenrechtsverletzungen und die Terrorisierung ganzer Volksgruppen seien oftmals Ursachen von Fluchtbewegungen: „Flüchtlingsschutz ist deshalb auch eine Antwort der Zivilisation auf den Terror“. (vgl. unter: www.unhcr.de).

Die Generalsekretärin von ai, Irene Khan, beklagt die Hast der Regierungen, leichtfertig weitreichende Maßnahmen zu verabschieden und ihre Bereitschaft, Menschenrechte Sicherheitsinteressen unterzuordnen. „Viele peitschten neue Rechtsvorschriften durch die Parlamente, die neue Straftatbestände schufen, Organisationen verboten und deren Guthaben einfroren, bürgerliche Freiheitsrechte beschnitten und Schutzvorkehrungen gegen die Verletzung von Menschenrechten aushöhlten. Mehrere dieser Gesetze enthielten bedauerlicherweise eine Definition des »Terrorismus«, die gefährlich weit gefasst und äußerst vage formuliert war.“ (amnesty international, Jahresbericht 2002, Frankfurt, S. 8)

Die Folge: „Der »Krieg gegen den Terrorismus« hat eine Tendenz hervorgebracht, ausländische Staatsangehörige, insbesondere Flüchtlinge und Asylbewerber als »Terroristen« abzustempeln.“ (ebda S. 10) Auf diese Weise sei Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in beunruhigender Weise geschürt worden.

Ebenfalls klagt die ai Generalsekretärin die »Heuchelei« und das »selektive Handeln« beim Schmieden der »Allianz gegen den Terror« an; dabei hätten machtvolle Regierungen durch die „Anwendung doppelter Standards“ denjenigen in die Hände gespielt, „die die Universalität der Menschenrechte anzufechten versuchen“. (ebda, S. 11)

Der Einsicht von amnesty international, der IPPNW, der Menschenrechts- und der Friedensorganisationen „Die Welt braucht keinen Krieg gegen den »Terrorismus«, sondern eine Kultur des Friedens, die sich auf den Menschenrechten und auf Gerechtigkeit für alle gründet“ (ebda, S. 18), folgte die Mehrheit der Staaten jedoch nicht. Im Gegenteil, viele glaubten, nun die erforderliche Legitimation zum Abbau von Menschen- und Grundrechten zu haben, viele Regierungen nahmen die Terrorbekämpfung als Vorwand, um Maßnahmen durchsetzen zu können, die vorher als unpopulär und undurchführbar galten und die sich vor allem gegen Minderheiten und politische Gegner richten.

Die »Reporter ohne Grenzen«, die »Internationale Liga für Menschenrechte« und »Human Rights Watch« haben Anfang 2002 eine »Hitliste« von 15 Staaten bzw. Staatengemeinschaften vorgelegt, die den 11. September zum Anlass genommen haben, um Grund- und Menschenrechte nachhaltig zu beschränken und zu beschneiden. An 1. Stelle stehen die USA mit ihren Anti-Terror-Maßnahmen, Stichworte:

  • Menschenjagd und exzessive Festnahmen;
  • Verstöße gegen die Rechte der Gefangenen;
  • Aufgabe der Unschuldsvermutung;
  • Ein eigenes Gesetz, mit dem die Vereinigten Staaten sich auf den Weg zum Polizeistaat gemacht haben mit den Möglichkeiten Mandantengespräche abzuhören, außerordentliche Militärgerichte einzurichten, Geheimprozesse durchzuführen und 5.000 Personen aus dem Nahen Osten festzunehmen;
  • Muslime und Araber zu diskriminieren;
  • Denunziationsmöglichkeiten auszuweiten;
  • Eine Identitätskarte im Sinne von Big Brother einzuführen;
  • Die Diskussion um die Aufhebung des Folterverbots.

Es folgen Großbritannien, Kanada, Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Terrorismusbekämpfungsgesetz. Erst danach folgen China, Italien, Indien, Spanien mit seinem ETA-Problem (das jetzt im Rahmen der Antiterrormaßnahmen gelöst werden soll), Pakistan, Jordanien, Russland, Indonesien und Simbabwe, Staaten, über deren demokratische Verfasstheit bisher keine Zweifel bestanden, und Staaten, bekannt für die schlimmsten Menschenrechtsverletzungen und die Verfolgung von Minderheiten, Hand in Hand, in verbündeter Nachbarschaft, plötzlich einig im Kampf gegen gemeinsame Gegner. In welcher Gesellschaft befinden wir uns da?

Manche Regierungsvertreter der westlichen Demokratien scheuen sich mittlerweile nicht mehr, die von den Menschenrechtsorganisationen beklagten Doppel-Standards und die Zwielichtigkeit ihrer Menschenrechtspolitik offen zu propagieren. So vertrat der außenpolitische Berater von Toni Blair, Robert Cooper (im britischen Observer vom 7. April 2002) die Auffassung, es sei die Herausforderung für die postmoderne Welt, sich mit der Idee einer Doppelmoral (double standards) vertraut zu machen. Er teilt die Welt in einer Weise ein, wie sie gerade die arabische Welt den Amerikanern vorwirft. Wörtlich heißt es: „Unter uns zivilisierten Nationen agieren wir auf rechtsstaatlicher Basis und in offener Sicherheitspartnerschaft. Wenn es aber um rückständige Staaten außerhalb des postmodernen europäischen Kontinents geht, müssen wir rauere Methoden einer frühen Epoche – wie Gewalt, Präventivschläge und Täuschung anwenden, Methoden, die erforderlich sind, um mit denen zurecht zu kommen, die noch im 19. Jahrhundert… leben“. Und weiter: „Unter uns halten wir uns an die Gesetze. Wenn wir aber im Dschungel operieren, dann wenden wir die Gesetze des Dschungels an“.

Diese Doppelmoral muss man im Hinterkopf behalten, wenn es um den »Krieg gegen den Terror« und damit um die Installierung einer neuen Weltordnung geht.

Schon bei der »humanitären Intervention« im Kosovo wurde deutlich, dass es nicht in erster Linie darum ging Fluchtursachen zu beseitigen und Menschenrechte durchzusetzen, sondern vielmehr darum, sogenannte Massenfluchtbewegungen und »illegale Einwanderung« in die westeuropäischen Staaten um jeden Preis zu verhindern. Das ist Ausdruck einer Flüchtlingspolitik, deren zentraler Beweggrund nicht in der Beachtung der Menschenrechte, sondern im ökonomischen Eigeninteresse liegt.

Recht des Stärkeren statt Stärke des Rechts

Von Benjamin Franklin, einem der Väter der US-amerikanischen Verfassung, stammt der Satz: „Wer Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“. Die westliche Freiheit stirbt bereits an ihrer Doppelmoral:

  • Sie stirbt im australischen Wüstenlager Woomera, indem auf Hilfe angewiesene Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Bedingungen interniert sind;
  • sie stirbt auf Guantanamo, wo die Taliban-Gefangenen unter Verstoß des Kriegsvölkerrechts in absoluter Isolation gehalten werden;
  • sie stirbt an den Küsten des Mittelmeers, wenn der Weg oft Tod und die Rettung nur Abschiebung bedeutet;
  • sie stirbt auch in den Abschiebehaftanstalten in Deutschland, in denen Flüchtlinge, die nichts Strafbares begangen haben, wie Kriminelle inhaftiert werden.

Der offene Angriffskrieg der USA gegen den Irak würde die hier skizzierte katastrophale Entwicklung extrem beschleunigen. Die Vorbereitungen der USA für diesen Krieg laufen auf Hochtouren. Die US-Regierung will – unterstützt von den Regierungen Großbritanniens und Spaniens – diesen Krieg. Die große Mehrzahl der Staaten und die große Mehrheit der Bevölkerung in allen europäischen Ländern sowie den Ländern der sogenannten Dritten Welt ist dagegen.

Die Staatengemeinschaft steht damit an einem Scheideweg: Festigt und intensiviert sie ihren – nach zwei Weltkriegen und nach dem Holocaust – gewonnenen Konsens zur Gültigkeit des Völkerrechts und zur Durchsetzung der Menschenrechte in einer globalen Struktur unter dem Dach der Vereinten Nationen – oder setzt sich die zynische Doppelmoral durch, bei der sich mächtige Staaten zwar auch auf Menschenrechte, Demokratie und Freiheit berufen, sie aber im Zweifelsfall nur für sich gelten lassen, während sie im Umgang mit anderen jederzeit missachtet werden, wenn sie den eigenen Interessen im Wege stehen?

Der von der Regierung der USA nach dem mörderischen Terroranschlag des 11. September begonnene »Krieg gegen den Terror« missachtet die strengen Auflagen und Voraussetzungen der UN-Charta für die (legitime) Anwendung von Waffengewalt (im Verteidigungsfall). Mit diesem weit in die Zukunft reichenden und sich gegen eine ganze »Achse des Bösen« richtenden Krieg werden alle entwickelten zivilisatorischen Errungenschaften des UN-Reglements über Bord geworden. Diese Politik der Stärke schafft keine Ordnung, sondern Chaos, sie löst keine Probleme, sondern schafft viele neue.

Wer mit dem »Krieg gegen den Terror« beginnt, hat den »Krieg gegen die Armut« bereits verloren. Nur, wer es ernst meint mit dem »Krieg gegen die Armut«, kann den »Krieg gegen den Terror« gewinnen – oder ihn sogar überflüssig machen.

Das Vermächtnis der Opfer der Kriege und Verbrechen des 20. Jahrhunderts, aber auch das Andenken der Menschen, die am 11.09.01 verbrecherischem Terror zum Opfer fielen, verlangt nichts Größeres und Schwereres von Regierung und Zivilgesellschaften als dafür zu kämpfen, dass ihre Kinder und alle Kinder dieser Erde in einer Welt der Gerechtigkeit und des Friedens leben können. Gerade weil sich die politische Klasse hinsichtlich friedenspolitischer Alternativen und Alternativen bei allen wesentlichen Zukunftsanliegen in Schweigen hüllt oder so gut wie nicht in Erscheinung tritt, sind die Kräfte der Zivilgesellschaft und sozialen Bewegungen stärker denn je gefragt, ein Gegengewicht zur Parteiendemokratie zu bilden und als politische Kraft sichtbar zu machen.

Heiko Kauffmann, Sozialwissenschaftler, war langjähriger Sprecher und ist Vorstandsmitglied von pro asyl

Die Polizei taucht ab

Die Polizei taucht ab

Neues über die europäische Zusammenarbeit

von Mark Holzberger

Die polizeiliche Zusammenarbeit in Europa spielt sich – neben einer Vielzahl unübersichtlicher informeller Gremien – vor allem in folgenden Bereichen ab: der Intensivierung der praktischen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (so z.B. im Bereich der Schengen-Kooperation, der Erleichterung der polizeilichen und justiziellen Rechtshilfe), im Ausbau von EUROPOL und den Bemühungen, die Abschottung der Europäischen Union gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen polizeilich zu perfektionieren. Doch während die Zusammenarbeit forciert wird, bleibt die demokratische Kontrolle auf der Strecke.

Die Innen- und Justizpolitik – darunter fällt u. a. die Zusammenarbeit der europäischen Polizeibehörden – war bislang in der sogenannten dritten Säule des Maastrichter Vertrages angesiedelt. Dort galten – im Unterschied zum ersten Pfeiler – weder das Mitentscheidungsrecht des Europaparlaments (EP) noch die Kontrollbefugnis des Europäischen Gerichtshofes (EuGH). In diesem Bereich handelten die Regierungen der Mitgliedstaaten verbindliche Standpunkte und Maßnahmen unter sich aus, d. h. ohne Mitwirkung des EP oder der nationalen Parlamente wie z.B. des Deutschen Bundestags

Die polizeiliche Zusammenarbeit verbleibt auch nach dem Vertrag von Amsterdam in der dritten Säule – ohne auch nur die Aussicht auf Veränderung. Auch weiterhin darf das EP lediglich Anfragen und Empfehlungen an den Ministerrat richten. Bei Beschlüssen zum Polizeibereich haben die Abgeordneten des EP lediglich das Recht angehört zu werden. Die Kontrollbefugnis des EuGH ist in Fragen der Inneren Sicherheit stark eingeschränkt. Das Luxemburger Gericht ist in Fällen, die die Innere Sicherheit betreffen, „keinesfalls zuständig“1

Ausweitung der EURPOL-Kompetenzen

Die bekannteste Ebene der polizeilichen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union ist zweifellos EUROPOL. Zum 1. Juli 1999 – nachdem alle Mitgliedstaaten die EUROPOL-Konvention und sämtliche Durchführungsbestimmungen ratifiziert hatten – nahm EUROPOL offiziell seine Arbeit in Den Haag auf. Die Zahl der bei EUROPOL arbeitenden BeamtInnen (zumeist sog. VerbindungsbeamtInnen von den Zentralstellen der nationalen Polizeibehörden wie dem BKA) soll bis 2003 fast verdreifacht werden. Die Haushaltsmittel steigen »nur« von derzeit rund 19 Mio. auf dann 37 Mio. Euro.

Das Europaparlament hat gegenüber EUROPOL keine aktive Kontroll-Kompetenz, sondern wird nur einmal jährlich über dessen Tätigkeit unterrichtet – und dies auch nur unter Geheimhaltungspflicht, wie sie sonst für die Geheimdienstkontrolle üblich ist. Ähnliches gilt für die nationalen Parlamente. EUROPOL ist letztlich nur sich selber verantwortlich – der vorläufige Höhepunkt der schon seit Jahren zu beobachtenden Entwicklung einer sich verselbständigenden Exekutive.

In EUROPOL werden viele und intime Daten zusammengeführt. So sollen nicht nur Informationen über StraftäterInnen und Verdächtige, sondern auch über deren Kontakt- und Begleitpersonen, ja selbst über „mögliche Zeugen“ und „mögliche Opfer“ gesammelt werden. EUROPOL interessiert sich dabei nicht nur für die politische Gesinnung dieser Menschen, sondern auch für deren sexuelle Orientierung. Auch sollen Angaben über die „rassische Herkunft“ einer Person die Arbeit der EUROCOPS erleichtern. Bei der Qualität der zu erfassenden Information will man bei EUROPOL nicht allzu wählerisch sein. So sollen in den sog. Analysedateien auch sog. weiche Daten verarbeitet werden. Diese personenbezogenen Daten werden von EUROPOL auch von Informationsquellen (V-Personen oder anderen HinweisgeberInnen) entgegengenommen, auch wenn deren Verlässlichkeit von EUROPOL selbst „nicht beurteilt werden kann“. Schließlich schließt die EUROPOL-Konvention nicht aus, dass auch Geheimdienst-Informationen eingespeist werden bzw. dass EUROPOL seine Erkenntnisse an Nachrichtendienste weiterleiten kann.

Vorgesehen ist eine Erweiterung der EUROPOL-Kompetenzen dahingehend, dass künftig EUROCOPS Ermittlungsarbeiten nationaler Polizeibehörden „erleichtern, unterstützen und fördern“. Man muss sich diesbezüglich in Erinnerung rufen, dass bei EUROPOL das gesamte Polizeiwissen der EU konzentriert und analysiert werden soll. Durch dieses Informationsgefälle zwischen EUROPOL und den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten entsteht unweigerlich sogenanntes Herrschaftswissen. Wo wird die altruistische »Unterstützungsarbeit« der EUROCOPS enden? Wo werden sie qua ihres Wissensvorsprungs beginnen, Ermittlungsverfahren eigenständig zu steuern bzw. zu führen?

EUROJUST – eine effektive Kontrolle von EUROPOL?

Auf dem EU-Sondergipfel im finnischen Tampere wurde im Oktober 1999 aber immerhin die Einsetzung eines neuen Gremiums beschlossen, das EUROPOL im Hinblick auf die Erweiterung seiner Kompetenzen kontrollieren soll: EUROJUST. StaatsanwältInnen, RichterInnen und PolizeibeamtInnen bekommen in dieser neugeschaffenen Institution zwei Aufgaben zugeteilt: Zum einen sollen sie strafrechtliche Ermittlungen im Bereich der Organisierten Kriminalität, die auf Grundlage von EUROPOL-Analysen stattfinden, unterstützen. Zum anderen soll EUROJUST helfen, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der nationalen Staatsanwaltschaften besser zu koordinieren.

Bei einer Bewertung von EUROJUST kommt es darauf an nachzuprüfen, was aus den noch reichlich unbestimmten Ankündigungen aus Tampere wird. So ist noch offen, welche Institutionen letztendlich VertreterInnen in dieses Gremium entsenden – sollen tatsächlich PolizistInnen die Arbeit von EUROPOL kontrollieren? – und welche tatsächlichen Leitungsbefugnisse und Kontrollmöglichkeiten EUROJUST erhält. Schließlich ist auch das Verhältnis der nationalen Staatsanwaltschaften zu EUROPOL und EUROJUST noch nicht geklärt.

Der Ausbau staatsanwaltschaftlicher Kontrolle ist erst einmal aus rechtsstaatlichen Gründen zu begrüßen. Aber die Erfahrungen von Spezialstaatsanwaltschaften (sei es z.B. in der Bundesanwaltschaft oder sog. OK-Abteilungen – Abteilungen Organisierte Kriminalität – bei den regionalen Staatsanwaltschaften) raten zur Vorsicht: Zum einen fehlt es den dort tätigen Spezial-StaatsanwältInnen mit der Zeit immer mehr an Distanz und zum anderen hört man immer wieder, dass auch diese die immer mehr durch Geheimdienstmethoden abgeschotteten und sich verselbstständigenden Polizeibehörden nicht im Griff haben.

Schengen-Kooperation
wirkt weiter fort

Eine Ebene, die mittlerweile zu unrecht etwas in den Hintergrund des öffentlichen Bewusstseins gerückt ist, ist die polizeiliche Zusammenarbeit im Rahmen der »Schengen-Kooperation«.

Außerhalb der EU-Strukturen und rein intergouvernmental ist die Arbeit im Kreis der Schengener Vertragsstaaten noch abgeschotteter als in der geheimniskrämerischen dritten Säule der EU. Maßgebliche strategische Entscheidungen wurden hier ohne parlamentarische Beteiligung in zwei Bereichen gefällt: Der europäischen Abschottungspolitik und der gemeinsamen Polizeikooperation. Dies trifft auch auf die für die Praxis der Polizeikooperation wichtigen Punkte der grenzüberschreitenden Nacheile und Observation zu.

Der Amsterdamer Vertrag beinhaltet ein sog. Schengen-Protokoll, das die Überführung der Schengen-Kooperation in die EU-Institutionen regelt. Es ist ein offenes Geheimnis, dass insbesondere das Bundesministerium des Inneren eigentlich immer Gegner der Schengen-Integration war, um die bisherige – aus Sicht der RegierungsvertreterInnen – praktische und erfolgreiche Schengen-Kooperation nicht zu gefährden. Schengen sollte den BMI-Vorstellungen zufolge innerhalb der EU einen »Sonderstatus« erhalten, sollte innerhalb der EU „ein gewisses Eigenleben führen können, um sich ungehindert weiterzuentwickeln.“

Die polizeiliche Kooperation ist eines der drei verbliebenen Handlungsfelder der Schengen-Kooperation im Rahmen der EU. Unmittelbar vor der Überführung Schengens in den EU-Rahmen hatte das deutsche Innenministerium noch schnell eine diesbezügliche Wunschliste vorgestellt.2 Eigentlich – so das BMI – wolle man „eine grundlegende Novellierung des Schengener Durchführungsübreinkommens“ erreichen. Aber bis dahin beschränkt man sich in Berlin auf folgende Wünsche:

  • Ermöglichung grenzüberschreitender Spontanübermittlungen;
  • grenzüberschreitende Observation auch des Täter- und Tatopferumfeldes; präventive Observation und Eilzuständigkeit u. a. bei Schleusungen;
  • Nacheile ohne zeitliche und räumliche Begrenzung;
  • Legalisierung grenzüberschreitender verdeckter Ermittlungen;
  • Legalisierung grenzüberschreitender kontrollierter Lieferungen.

Grenzenloses Abhören

Derzeit liegt das neue »Rechtshilfeübereinkommen der EU« zur Zeichnung durch die EU-Innen- bzw. JustizministerInnen bereit. Über zwei Jahre wurde darüber intensiv verhandelt.

Was im vom Gedanken der Gefahrenabwehr getragenen Bereich Schengens noch Wunschdenken ist, wird hier im Bereich der europäischen Strafverfolgung voraussichtlich schon bald Wirklichkeit. So sollen künftig verdeckte – sprich geheime – Ermittlungsmethoden der Polizei grenzüberscheitend möglich sein. Ein Straftaten-Katalog hierfür fehlt. Mit dem Hinweis auf evtl. entstehende Haftungsprobleme „für gegebenenfalls bei verdeckten Ermittlungen begangene Verstöße oder verursachte Schäden“ erkennt der Abkommensentwurf implizit an, dass es bei solchen Einsätzen zu sogenannten milieutypischen Straftaten kommen wird, wie dies bei Spitzeleinsätzen üblich ist.

Die Möglichkeiten der Polizei, über Landesgrenzen hinweg sogenannte kontrollierte Lieferungen durchzuführen, soll mit dem Rechtshilfeübereinkommen erheblich ausgeweitet werden.3 Künftig soll dies bei allen Delikten mit einer Mindeststrafe von einem Jahr möglich sein.

Das Abhören neuer Telekommunikationsdienste soll durch das Rechtshilfeübereinkommen auf einer völlig neuen Stufe möglich werden. Seit Anfang der 90er-Jahre hat die EU – in Zusammenarbeit mit dem US-amerikanischen FBI – Pläne für ein internationales Abhörsystem entwickelt.4 1995 fassten die EU-Innen- und JustizministerInnen einen Beschluss, mit dem das Abhören auch seitens privater Netzbetreiber und damit von Handys und Satellitentelefonen sowie von E-mails und Internet ermöglicht werden sollte. Es geht um die Abhörfähigkeit sämtlicher Telekommunikationsdienste. Neue Netze dürften demnach nur in Betrieb gehen, wenn Überwachungssoftware bereitsteht. Internet-Provider sollten die Schlüssel für verschlüsselte Informationen liefern. Probleme bereiten hier die geplanten Netze der Satellitenkommunikation. Die erste und einzige europäische Bodenstation für den satellitengestützten Fernmeldeverkehr mit dem Namen »Iridium« existiert seit dem 1. November 1998 auf Sizilien.5 Egal wo auch immer jemand eine derartige Fernmeldenachricht aus einem EU-Staat empfängt, dieser Kommunikationsvorgang muss bisher zuvor die italienische Bodenstation passiert haben.

Geplant ist nun, es den Mitgliedstaaten mit Hilfe eines Systems der »Fernkontrolle« zu ermöglichen, die Überwachung in ihrem Hoheitsgebiet durchzuführen. Hierfür werden die abzuhörenden Gespräche automatisch von Sizilien in den entsprechenden EU-Staat übermittelt.

Technisch gesehen wird der Kommunikationsvorgang dann gleichzeitig in Italien und dem Ausgangs- bzw. Empfängerland überwacht. Bislang war es nach dem geltenden Rechtshilfeübereinkommen so, dass jeder einzelne Abhörantrag stets an Rom gerichtet werden musste. Nunmehr soll – so die Absicht des neuen Rechtshilfeübereinkommens – eine einzige Anordnung genügen, um ein für alle mal per »Fernkontrolle« unbegrenzt mitlauschen können.

In einem Beschluss vom 17. Februar 2000 hatten die Abgeordneten des Europaparlaments umfangreiche Änderungen zum Rechtshilfeübereinkommen gefordert, u.a. die ersatzlose Streichung des Artikels zur Überwachung von Personen im Hoheitsgebiet anderer Staaten mit technischer Hilfe des Aufenthaltstaates.6 In dem jetzt zwischen den EU-Innen- und JustizministerInnen abgestimmten Entwurf wurden die Bedenken der Abgeordneten nicht berücksichtigt.7

Polizeiliche Grenzabschottung

Nicht nur EUROPOL hat seine Zuständigkeiten auf den Bereich der Bekämpfung von illegaler Migration und Schleuserkriminalität ausgedehnt, auch die nationalen Polizeibehörden vernetzen ihre diesbezüglichen Anstrengungen europaweit.

So wurde 1999 beispielsweise eine »Entschließung zur Bekämpfung internationaler Kriminalität mit Ausbreitung über Routen« vereinbart. Danach sollen zu bestimmten Zeiten an bestimmten Punkten in der EU oder entlang bestimmter Verkehrswege intensive Kontroll- und Fahndungsaktivitäten von Hunderten oder Tausenden PolizistInnen stattfinden. Diese polizeiliche Materialschlacht – deren Effektivität der Öffentlichkeit gegenüber bis heute nicht nachgewiesen wurde – soll nunmehr ausgedehnt werden auf alle in „in Betracht kommenden Deliktbereiche“. Zudem kann jetzt auch EUROPOL in die Durchführung und Auswertung derartiger Massenkontrollen eingebunden werden.

Zur Bekämpfung der professionellen Fluchthilfe wurde ein Frühwarnsystem zur Übermittlung von Informationen über »illegale Zuwanderung und Schleuserkriminalität« eingerichtet. Ziel dieser – so Schily – „besonders erfolgversprechenden Methode“ ist die Auswertung statistischer – und zu einen nicht unerheblichen Anteil polizeilicher – Informationen über „Vorkommnisse und Ereignisse“, die auf entsprechende Entwicklungen schließen lassen. Bereits weit vor den Grenzen der EU – namentlich an den Außengrenzen der Beitrittskandidaten – soll dieses Frühwarnsystem eingerichtet werden.

Ein Großteil der diesbezüglichen »Aufgabenerfüllung« erfolgt durch die Grenzschutzbehörden der Mitgliedsstaaten. An den Ostgrenzen werden beispielsweise über 9.000 BeamtInnen des Bundesgrenzschutzes und anderer Grenzbehörden eingesetzt.8

Zeitweilig kam es in verschiedenen Ländern auch zum Einsatz von Soldaten bei Maßnahmen zur Abschottung der Grenzen. So wurden in den letzten Jahren wiederholt italienische Kriegsschiffe eingesetzt, um Flüchtlingen den Weg über die Adria abzuschneiden. In der Bundesrepublik wurden Anfang der 90er Soldaten zur Unterstützung der überforderten BGS-BeamtInnen »freiwillig« in deren Amtsstuben an der Ostgrenze abkommandiert.

Trotzdem lässt sich weder hieraus, noch aus der Massivität der personellen Einsätze oder der technischen Hochrüstung des an der Grenze eingesetzten Personals eine Verquickung von Militär und Grenzpolizei ableiten. Denn die Soldaten wurden zeitlich begrenzt lediglich für den Innendienst und ohne exekutive Befugnisse an den BGS ausgeliehen.

Oder nehmen wir das Beispiel Österreichs: Wien hatte im Zuge des Umbaus und der Aufstockung seiner Grenzpolizei (zur Erreichung des sog. Schengen-Standards bei der Außengrenzsicherung zu Ungarn, der Slowakei und Sloweniens) zeitweilig 1.550 Soldaten an der Grenze eingesetzt. Ein Einsatz, der von Schengen-InspektorInnen zwar als kurzfristig unerlässlich betrachtet wurde. Gleichzeitig stand aber fest, dass er Ende 1997 – also vor dem eigentlichen Schengen-Beitritts der Alpenrepublik – beendet werden würde.9

Die EU hat eine Demokratieoffensive nötig

In den Führungsetagen der EU wird nach wie vor davon ausgegangen, dass man mehr Europa durch weniger Demokratie erreichen könnte – was für ein Trugschluss. Das hier vorgestellte Vorgehen der EU im Polizei-Bereich ist für die demokratische Zukunft Europas zerstörerisch.

In der EU existiert ein echtes »schwarzes Loch«. Die EU muss nämlich erst noch lernen, Gewaltenteilung zu buchstabieren, also die parlamentarische Teilhabe und die Kontrolle der Exekutive zu gewährleisten. Und so wenig Möglichkeiten sich einem als kleiner Koalitionspartner bieten, hier Einfluss zu nehmen – ein sich derzeit innerhalb der EU vollziehender Prozess sollte nicht unterbewertet werden: Die Erarbeitung einer EU-Grundrechtscharta. Es besteht eine reale Chance, dass es durch sie möglich werden könnte, künftig alle Politikbereiche der EU – und somit auch den Aspekt der polizeilichen Zusammenarbeit – endlich einem vor Gericht einklagbaren Grundrechtsschutz zu unterwerfen. Das würde einen großen Sprung nach vorn bedeuten.

Anmerkungen

1) Vgl. auch Art. 68 Abs. 2 EG-Vertrag

2) Dok-Nr. SCH/I (99) 20 rev. 2, Brüssel, 22. April 99. Otto Schily wiederholte diese Wunschliste in einem Schreiben an den EU-Ausschuss vom 18.02.00 (S. 5)

3) Hierbei handelt es sich um Schmuggelaktivitäten, wie den Münchner Plutonium-Deal von 1994, die von der Polizei entweder von außen technisch überwacht und observiert und/oder von innen durch V-Personen oder »verdeckte ErmittlerInnen« initiiert, gesteuert bzw. begleitet werden.

4) Vgl. hierzu: Wright: Auf dem Weg zum globalen Überwachungsstaat in: Bürgerrechte & Polizei/CILIP Nr. 61 (1998) sowie Statewatch 2/99

5) In Kürze soll jedoch eine weitere Station (Globalstar) ihren Betrieb in Frankreich aufnehmen.

6) Dok.-Nr. A5-0019/2000

7) Dok.-Nr. 7846/00 Brüssel, 15.5.2000

8) BGS-Jahresbericht 1998, S. 16

9) Ähnliches ließe sich auch anhand des EU-Beitrittkandidaten Bulgarien aufzeigen. Hier ebenfalls setzt sich die EU-Kommission für eine Zivilisierung grenzpolizeilicher Tätigkeit ein, vgl. KOM (1999) 510 end, Brüssel 13.10.99, S. 54

Mark Holzberger ist Wissenschaftlicher
Mitarbeiter von Claudia Roth, MdB Bündnis 90/Grüne