Chinas »Global Civilization Initiative«

Chinas »Global Civilization Initiative«

Friedenspolitische Überlegungen im Wertespektrum von Demokratie und Freiheit

von Doris Vogl

Die »Global Civilization Initiative« ist die neueste politische Kampagne der VR China mit internationaler Ausrichtung. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative erscheint notwendig, erhebt sie doch den Anspruch, zu Weltfrieden und zivilisatorischem Fortschritt der Menschheit beizutragen. Kann sie dies erfüllen und welche Widersprüche bestehen? Welche unterschiedlichen internationalen Reaktionen auf die Initiative lassen sich beobachten? Wie ist der innerchinesische Diskurs dazu?

Vor einigen Monaten wurde in Beijing die sogenannte »Global Civilization Initiative« (GCI) präsentiert. Diese hat im Vergleich zu Chinas »Global Development Initiative« und »Global Security Initiative« bislang wenig internationale Beachtung erfahren. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass bis zum jetzigen Zeitpunkt noch kein offizielles GCI-Konzeptpapier des chinesischen Außenministeriums vorliegt. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Initiative erscheint jedoch keineswegs verfrüht.

GDI, GSI, GCI – die geopolitische Signatur Chinas

Die »Global Civilization Initiative« ist das jüngste Puzzleteil im Gesamtbild rezenter politischer Kampagnen der VR China mit internationaler Ausrichtung. Diese begannen mit der Global Development Initiative (GDI), die während der 76. UN-Generalversammlung im September 2021 lanciert wurde. Die unmittelbare Perzeption in den UN-Strukturen war überwiegend positiv, zumal die Zielsetzungen des GDI-Konzeptpapiers weitgehend punktgenau auf die Agenda der 2030 SDGs (»Sustainable Development Goals«) abgestimmt waren.1 So etwa weist das UN Department of Economic & Social Affairs die GDI als UN-Partnerschaft aus.

Ein halbes Jahr später – im April 2022 – wurden von China die Inhalte einer »Global Security Initiative« (GSI) skizziert, das entsprechende Konzeptpapier sollte jedoch erst im Februar 2023 nachfolgen.2 Beijing verzögerte die Publikation des Dokuments, um bei der Finalisierung der GSI-Prinzipien diverse internationale Reaktionen zu berücksichtigen. Als jüngste Initiative wurde von der Staatsführung der VR China nun im März 2023 die »Global Civilization Initiative« in diskursiven Umlauf gebracht (Xinhua News 2023). Das offizielle Konzeptpapier lässt noch auf sich warten.

Die Schicksalsgemeinschaft der Menschheit

Zum besseren Verständnis der Zivilisationsinitiative ist zunächst ein Blick auf ihre theoretische Einbettung hilfreich. Diese lautet: Die Global Civilization Initiative (GCI) sei – ebenso wie GDI und GSI – eingebunden in das überwölbende Konzept der »Community with a Shared Future for Mankind« (chin.: renlei mingyun gongtongti, wörtliche deutsche Übersetzung: Schicksalsgemeinschaft der Menschheit).3 In der politischen Kommunikation Beijings wird unermüdlich auf diesen theoretischen Überbau hingewiesen.

Zahlreich sind allerdings jene Stimmen, die der »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« lediglich den Nennwert eines inhaltsleeren Schlagwortes zuschreiben. Zwei Fakten sprechen jedoch gegen eine Bewertung der »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit« als simples Propaganda-Schlagwort. Zum einen wurde das Konzept im März 2018 in die Präambel der Verfassung der VR China aufgenommen; im September 2023 wurde vom Staatsrat ein entsprechendes Weißbuch publiziert (Staatsrat der VR China 2023). Zum anderen ist in der Volksrepublik seit Jahren ein lebhaft geführter, interdisziplinärer Diskurs zur Thematik zu beobachten (vgl. Jiang 2021, Wang und Ling 2020, Liu und Zheng 2018, Ding und Cheng 2017). Beides weist darauf hin, dass sowohl politische als auch akademische Eliten innerhalb des chinesischen Systems dem Konzept einer »globalen Schicksalsgemeinschaft« einen durchaus gewichtigen theoretischen wie auch realpolitischen Stellenwert zuschreiben.

Hingegen treffen im internationalen Außenverhältnis die Bemühungen Beijings, den Terminus »Community with a Shared Future« in der diplomatischen Diktion zu verankern, auf erheblichen Widerstand. Als Hauptargument wird angeführt, dass die eigentliche strategische Zielsetzung Chinas – unter dem Deckmantel globaler Solidarität und Verbundenheit – der Aufbau einer Neuen Weltordnung unter hegemonialer Zwangsausübung durch die VR China sei (vgl. dazu Havrén 2023, Doshi 2021, Rolland 2020).

Die »Global Civilization Initiative«

In den Konzepten der Globalen Entwicklungsinitiative (GDI) und Globalen Sicherheitsinitiative (GSI) nimmt der kulturelle Aspekt eine nebensächliche Rolle ein. Die Globale Zivilisationsinitiative hingegen beruft sich auf das gedankliche Fundament kultureller Diversität und Gleichstellung. Anstelle von Kultur wird jedoch der Topos »Zivilisation« ins Zentrum gerückt. Die vier offiziellen Kernbotschaften der Initiative lauten:

  • China tritt für die Diversität von Zivilisationen auf gleicher Augenhöhe ein.
  • Ebenso befürwortet China die gemeinsamen Werte menschlicher Zivilisation. Diese lauten: Friede, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit.
  • Das historische Erbe sowie die innovative Kraft von Zivilisationen werden von China als äußerst wichtig eingeschätzt.
  • In diesem Sinne fördert China inter-zivilisatorischen Dialog und kulturellen Austausch.

Die obigen Kernbotschaften sind an die Weltöffentlichkeit gerichtet, dennoch wird China ebenso im Innenverhältnis bezüglich der tatsächlichen Umsetzung selbiger Prinzipien gemessen. Und genau hier drängen sich unweigerlich Widersprüche zu verfassungsrechtlichen Verpflichtungen der VR China auf.4 Insbesondere die Politik kultureller Zwangsassimilierung muslimischer Bevölkerung5 der Autonomen Region Xinjiang-Uighur mittels obligatorischer Schulungsprogramme mit Zwangsinternierung steht im Mittelpunkt China-kritischer Berichterstattung.

Mit Blick auf die Minderheitenpolitik Chinas erscheint der Autorin im Kontext der Zivilisationsdebatte ein Argument von besonderer Relevanz: In der ethnologischen wie auch ethno-historischen Literatur wird den nomadisierenden Steppenkulturen der Weltgeschichte eine eigenständige »zivilisatorische« Kategorie zugesprochen. Daraus folgt, dass wenngleich eine große Mehrheit der mongolischen, uighurischen, kasachischen oder kirgisischen Minderheiten in der VR China des 21. Jahrhunderts sesshaft leben, sie doch – völlig unabhängig von der chinesischen Zivilisation – auf eine ebenso beeindruckend lange Zivilisationsgeschichte von mehr als drei Jahrtausenden zurückblicken.6

Vor dem Hintergrund chinesischer Real­politik im Innenverhältnis nun ein Blick auf die Ausrichtung der Zivilisationsinitiative im Außenverhältnis: In der zweiten Kernbotschaft sind als gemeinsame Werte menschlicher Zivilisation „Friede, Entwicklung, Gleichheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit“ genannt. Es überrascht keineswegs, wenn „Entwicklung, Gleichheit und Gerechtigkeit“ in der Auflistung den beiden Werten „Demokratie und Freiheit“ voranstehen. Diese Rangordnung zeichnet sich sinngemäß bereits in der GDI und GSI ab und entspricht der von China vertretenen Position in der Menschenrechtsdebatte.

Beijing betont mit Nachdruck, die Globale Zivilisationsinitiative sei letztlich als globale Friedensinitiative zu verstehen. Deshalb sei »Friede« als gemeinsamer Wert menschlicher Zivilisation an erster Stelle angeführt. Dieser pazifistischen Ambition steht allerdings mancherorts eine kritische Bewertung der Positionierung von »Demokratie und Freiheit« als Schlusslichter zivilisatorischer Werte der Menschheit entgegen. So etwa widerspricht Taiwan dieser Schlusslicht-Positionierung auf offizieller Ebene mit einem Gegenentwurf (Sioco 2023), worin Freiheit und Demokratie an vorrangiger Stelle als Werte menschlicher Zivilisation angeführt werden.

Mit Veröffentlichung des GCI-Konzeptpapiers wird sich erwartbar die kontroverse Wertedebatte auch in Europa fortsetzen. In anderen Regionen dieser Erde mag jedoch diese »Friedensinitiative« Chinas überwiegend positiv aufgenommen werden; diese Überlegung darf nicht unerwähnt bleiben.

Einblicke in den chinesischen Diskurs

Abgesehen von starker Divergenz in der Werte-Orientierung ist noch ein weiterer Faktor für eine negative Perzeption der Zivilisationsinitiative in Europa verantwortlich. Hier ist die zunehmend laut vorgetragene Kritik Chinas an westlicher Friedenspolitik in UN-Gremien und anderen internationalen Organisationen zu nennen:

„Die liberale Friedensarbeit (peace building) geht davon aus, dass internationale Intervention ein Privileg westlicher Staaten ist und nicht-westliche Staaten als Interventionsraum fungieren. Es wird vorausgesetzt, dass westliche Expert*innen über Wissen, Technologien und Mittel zur Problemfindung verfügen. Durch Verunglimpfung der nicht-westlichen Welt als rückständiges und turbulentes »Gegenüber«, haben diese Akteure erfolgreich den »Entwicklungsdiskurs« kontrolliert, welcher sich in weiterer Folge zu einer »Diskurshegemonie« und »Diskursherrschaft« entwickelt hat.“ (Li 2022, S. 47)

Die Frage westlicher »Diskurs-Hegemonie« in den Bereichen Friedensförderung und Konfliktmanagement wird ebenso in der GCI-Forderung nach gleicher Augenhöhe im Umgang mit unterschiedlichen Zivilisationen adressiert.

Eine zusätzliche Problemstellung bei der Frage nach friedenspolitischen Konsequenzen der GCI ist die Haltung Chinas hinsichtlich »Einmischung in innere Angelegenheiten«. Hier besteht ein Widerspruch zwischen der Interpretation westlicher Friedenspolitik als »Intervention« einerseits und der äußerst großzügigen Bereitstellung chinesischer Kontingente für UN-Friedensmissionen andererseits. In diesem Sinne ist auch Chinas nachdrückliche Forderung nach »Diskursteilnahme« im Rahmen globaler Friedenspolitik zu verstehen.

Zweifelsohne steht die westliche Perzeption der Zivilisationsinitiative im Gegensatz zum chinesischen Diskurs: Im Globalen Norden wird die GCI als konfrontativ und offensiv wahrgenommen, China hingegen spricht von der Notwendigkeit einer friedenserhaltenden Reaktion auf das gegenwärtige konfrontative Weltgeschehen. Entlang dieser Argumentationslinie wird auf zunehmend rivalisierende Diskurse zum Zivilisationsgedanken in unterschiedlichen Regionen der Welt verwiesen. Als regionale Akteure werden die Türkei, Russland, Indien aber auch die Europäische Union genannt. Vor dem Hintergrund dieses Risiko-Szenarios wird Chinas Aufgabe abgeleitet, der bereits aufkeimenden Rivalität unter den neuen regionalen Zivilisationen friedensbewahrend entgegenzusteuern:

„Zum gegenwärtigen weltgeschichtlichen Zeitpunkt ist Chinas Aufstieg von universeller Bedeutung, nämlich in dem Sinne als der Aufstieg Chinas und das Wiedererwachen des Zivilisationsgedankens in anderen Regionen aufeinander abgestimmt werden muss, um eine neuerliche »clash of civilizations« Tragödie zu vermeiden, wie sie im Kampf regionaler Zivilisationen um Vorherrschaft im Zuge des Niedergangs von Weltreichen stattfindet.“ (Jiang 2023, o.S.)

Die Schlüsselbegriffe der ersten Kernbotschaft der chinesischen Zivilisations­initiative lauten »Diversität« und »gleiche Augenhöhe«. Auch hier hat Beijing das normative Gefälle zwischen Kulturen des Globalen Südens und des Westens im Blick. Der chinesische akademische Diskurs nimmt jedoch ebenso Bezug auf die zivilisatorische Entwicklung Europas:

„Die spätere Entwicklung Europas basiert ebenso auf dem Wettbewerb zwischen verschiedenen Zivilisationen. Die Verteidigung von Pluralismus bedeutet daher, dass wir die Eindämmung von Kreativität innerhalb eines Landes wie auch auf zwischenstaatlicher Ebene durch Monopole oder andere Maßnahmen, die sichtbare und unsichtbare Mauern zur Unterdrückung freier Kommunikation errichten, abwehren müssen.“ (Bai 2022, o.S.)

Interessanterweise werden hier diverse, miteinander konkurrierende, europäische Zivilisationen postuliert. Auch Chinas geopolitisches Selbstverständnis als Schutzmacht für Innovation und Fortschritt ohne Einschränkung, taucht in direkter Verbindung mit der Zivilisationsdebatte auf.

Wohin diese Debatte führen könnte

Anhand der aufgezeigten Diskursmuster ist deutlich erkennbar, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt gerade die Wertung der Aufreihung der Einzelwerte im Wertespektrum in der Zivilisationsdebatte einen globalen Konsens verhindert. Aufbauend auf die vorgelegte Initiative könnte inter-zivilisatorischer Dialog und kultureller Austausch zwar gepflegt und intensiviert werden. Doch beim Kampf um knapper werdende Ressourcen und regionale ökonomische Vormachtstellung rückt die Zivilisationsfrage in den Hintergrund. Nach Ansicht der Autorin werden in der derzeitigen politischen Landschaft jene Elemente der chinesischen Zivilisationsinitiative, die eine globale friedens­erhaltende Botschaft enthalten, nur bei Gefährdung der gesamten menschlichen Zivilisation zum Zug kommen. Erst in einem so konkreten Fall akuter Gefährdung würde das Konkurrenzverhältnis politischer Systeme und ihrer Wertmuster in den Hintergrund rücken. Auf den Punkt gebracht: Kompromissfindung angesichts eines drohenden zivilisatorischen Armageddon. Diese Schlussfolgerung ist wohlweislich ernüchternd und schließt den Kreis mit Verweis auf Chinas Konzept einer »Schicksalsgemeinschaft der Menschheit«.

Anmerkungen

1) In englischer Fassung publiziert als: Ministry of Foreign Affairs of the PR China (21.09.2021): The Global Development Initiative Concept Paper.

2) In englischer Fassung publiziert als: Ministry of Foreign Affairs of the PR China (21.02.2023): The Global Security Initiative Concept Paper.

3) Der Begriff »Schicksalsgemeinschaft« stieß in UNO-Kreisen auf Widerstand, weshalb China die offizielle englische Diktion auf »Zukunftsgemeinschaft« abänderte. Ich halte mich jedoch an die sinngemäße Übersetzung.

4) So besagt die Verfassung der VR China in Art. 119: „Die unabhängigen Organe der autonomen ethnischen Gebiete verwalten die Bildungs-, Wissenschafts-, Kultur-, Gesundheits- und Sportvorhaben in ihren Gebieten eigenverantwortlich, sie schützen das kulturelle Erbe ihrer ethnischen Gruppen und stellen es wieder her; und fördern die Entwicklung und das Gedeihen der ethnischen Kulturen”.

5) Die Autonome Region Xinjiang-Uighur umfasst ebenso autonome Bezirke für die kirgisische und kasachische Volksgruppe.

6) Zeitgleich mit der Shang-Dynastie (ca. 1600-1045 v.Chr.) wurde im Bronze-Zeitalter in der mongolischen Steppe die Domestizierung von Reittieren nachgewiesen, siehe Taylor et al. (2017); siehe auch Studien zu den historischen Reitervölkern der Xiongnu und Wusun.

Literatur

Bai, Tongdong (2022): The margins of civilization. Reflections on the historical position of Chinese civilization and the progress of human civilization. Übersetzt von David Ownby. Online Journal »Reading the China Dream«, ohne Datum.

Ding, Jun; Cheng, Hongjin 2017): China’s proposition to build a community with a shared future for mankind and the Middle East governance. Asian Journal of Middle Eastern and Islamic Studies 2017(4), S. 1-14.

Doshi, R. (2021): The Long Game. Chinas grand strategy to displace American order. Oxford: Oxford University Press.

Havrén, S. A. (2023): Chinas strategy for Europe in 2035. A look at what the future may hold. Per Concordiam – Journal of European Security and Defense Issues, 20.6.2023.

Jiang, Shigong (2023): World empire and the Return of civilization. Taking seriously the post-cold war discourse of civilizational revival. Übersetzt von David Ownby. Online Journal »Reading the China Dream«, ohne Datum.

Jiang, Shixue (2021): China´s contributions to the building of a community with a shared future for mankind. China Quarterly of International Strategic Studies 2021(4), S. 349-381.

Li, Yincai (2022): Beyond liberalism: The logic of liberal peacebuilding and its criticism. In: Guo, Yanjun; Miao, Ji (Hrsg.): Preventive diplomacy, peacebuilding and security in the Asia-Pacific. Singapur: World Scientific Publishing, S. 27-61.

Liu, Hong; Zhang, Yuxuan (2018): Building a community of shared future for mankind – an ethnological perspective. International Journal of Anthropology & Ethnology 2018(2), SpringerOpen, 06.11.2018.

Rolland, N. (2020): China’s vision for a New World Order. NBR Special Report 83, The National Bureau of Asian Research.

Sioco, M.A. (2023): Instead of unification, Taiwanese People want democracy, freedom and human rights: Foreign Ministry. Radio Taiwan International, 3.10.2023.

Staatsrat der VR China (2023): A global community of shared future: China’s proposals and actions. 26.9.2023.

Taylor, W.W. et al.(2017): A Bayesian chronology for early domestic horse use in the Eastern Steppe. Journal of Archaeological Science 81(5), S. 49-58.

Wang, Jinguo; Ling, Xiaoxiong (2020): A community with a shared future for mankind from the perspective of International Discourse Politics. Institute for Central Asian Studies, Lanzhou University, 27.3.2020.

Xinhua News (2023):Full text of Xi Jinping’s keynote address at the CPC in dialogue with world political parties high-level meeting. 16.3.2023.

Doris Vogl ist Lektorin an der Universität Wien und als externe China-Expertin für das österreichische Bundesministerium für Landesverteidigung tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind China, Human Security in Krisengebieten, EU-Sicherheitspolitik.

Dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet

Dem Frieden und der Wissenschaft gewidmet

Vergangenheit und Zukunft »Antarktischer Koopetition«

von Patrick Flamm

Die Antarktis wird oft als das friedliche Gegenstück zu einer konfliktträchtigen Weltpolitik und als Vorbild für internationale Kooperation angeführt. Dabei handelt es sich aber um ein oberflächliches Zerrbild. Der Erfolg des antarktischen Multilateralismus beruht vielmehr auf einer Verschränkung von kooperativen und kompetitiven Elementen. Um Herausforderungen für die politische Ordnung am Südpol, wie Krieg, strategischer Wettbewerb und Klimakrise, angemessen begegnen zu können, ist eine nüchterne Rückbesinnung auf diese »Antarktische Koopetition« notwendig.

Als der Generalsekretär der Vereinten Nationen, António Guterres, Ende November 2023 die Antarktis besuchte, zeigte er sich ermutigt davon, „wie die Menschen, die in der und für die Antarktis arbeiten, sich von Kooperation und nicht von Konkurrenz leiten lassen“.1 Jener Geist der Kooperation sei auch bei der Klimakonferenz COP28 in Abu Dhabi vonnöten, so Guterres weiter. Diese kurze Anekdote beschreibt das vorherrschende Bild von der Antarktis als einem Vorbild und positivem Gegenbeispiel zur gegenwärtigen konkurrenz- und konfliktträchtigen Weltpolitik: Antarktische Politik ist friedlich und demilitarisiert, konsensorientiert, sowie lediglich wissenschaftlichem Interesse und dem Umweltschutz verpflichtet. Auch wenn diese Errungenschaften des »dem Frieden und der Wissenschaft gewidmete[n] Naturreservat[s]« (Umweltschutzprotokoll zum Antarktisvertrag, Artikel 2) nicht falsch sind, so handelt es sich hier doch um eine einseitige Darstellung und letztlich um ein Zerrbild.

Nicht Kooperation statt Konkurrenz – oder Internationalismus statt Nationalismus – führte dazu, dass das Antarktische Vertragssystem (AVS) häufig als erfolgreichstes multilaterales Forum angesehen wird, sondern eine typisch antarktische Verschränkung von Kooperations- und Konkurrenzhandeln, welches man als Koopetition beschreiben könnte: Kooperation zum Zweck der Konkurrenz (Flamm 2023, zum Begriff der Koopetition später mehr). Aufgrund der ernstzunehmenden Herausforderungen für das Antarktische Vertragssystem, allen voran die drastisch voranschreitende Klimakrise sowie zunehmende Spannungen im internationalen System, täten wir entsprechend gut daran, die Nuancen des antarktischen Erfolges herauszuarbeiten, anstatt die Errungenschaften auf dem südlichen Kontinent zu verklären und auf eine reine Projektionsfläche zu reduzieren.

Im Folgenden wird die spezifische Verschränkung von internationalistischen Kooperations- und nationalistischen Konkurrenzelementen, welche das Antarktische Vertragssystem historisch auszeichnen, erläutert. Anschließend werden vor dem Hintergrund der wachsenden Herausforderungen für das gegenwärtige Governance-Gefüge Möglichkeiten diskutiert, wie eine Rückbesinnung auf die antarktische Koopetitionsformel tatsächlich auch als zukunftsträchtiges Vorbild für friedliche Weltpolitik dienen kann.

Kooperation, Konkurrenz und Exzeptionalismus

Der Antarktisvertrag war 1959 in Wash­ington, D.C., ausgehandelt worden und trat 1961 in Kraft. Derzeit gibt es insgesamt 56 Unterzeichnerstaaten, von denen sich allerdings nur 29 Länder durch ihre Polarforschungsprogramme auch als Konsultativparteien mit Stimmrecht auf den jährlichen Antarktistagungen qualifiziert haben. Zusammen mit späteren Abkommen, wie zum Beispiel dem »Übereinkommen über die Erhaltung der lebenden Meeresschätze der Antarktis« (CCAMLR) von 1980 und dem »Umweltschutzprotokoll« von 1991, bildet der Antarktisvertrag eines der erfolgreichsten multilateralen Abkommen.

Das Regelwerk des Antarktischen Vertragssystem erhält die Antarktis seit mehr als 60 Jahren erfolgreich als einen dem Frieden und der Wissenschaft gewidmeten Kontinent. Bergbau ist dort verboten und es gelten strenge Umweltschutzbestimmungen für die einzige legitime Aktivität, die wissenschaftliche Forschung. Die extremen Umweltbedingungen sowie die relative geographische Isolation des Kontinents förderten diese Sonderrolle der Antarktis. Durch die Entmilitarisierung und die Erklärung der Antarktis zur ersten atomwaffenfreien Zone der Welt sorgte der Antarktisvertrag aber auch dafür, dass die menschenleere südliche Polarregion von Atomwaffentests verschont blieb. In der Antarktis sind zudem alle bestehenden territorialen Gebietsansprüche per Artikel IV des Antarktisvertrages »eingefroren«, was bedeutet, dass die historischen Ansprüche von Argentinien, Australien, Chile, Frankreich, Neuseeland, Norwegen, sowie des Vereinigten Königreichs völkerrechtlich nicht anerkannt, aber auch nicht verworfen wurden. Für die Polarforschung in der Antarktis haben Souveränitätsfragen entsprechend kaum praktische Relevanz, allerdings können diese sieben Staaten in ihren nationalen Kontexten weiterhin ihre territorialen Ansprüche pflegen. Dies geschieht oft in der Form eines banalen Nationalismus (Dodds 2017), zum Beispiel durch das Veröffentlichen spezifischer Karten, der Herausgabe von Briefmarken oder in täglichen Wetterberichten.

In der Abwesenheit nationaler Souveränität werden alle für die Antarktis geltenden Regeln und Entscheidungen von den Konsultativparteien per Konsens auf jährlichen Antarktiskonferenzen gefällt. Durch diese Konsensorientierung und den Fokus auf wissenschaftliche Zusammenarbeit vermochten es die in der Antarktis tätigen Staaten jahrzehntelang, ihre Angelegenheiten friedlich und einvernehmlich zu regeln. Im Rahmen antarktischer Diplomatie werden nur Themen behandelt, die in direktem Zusammenhang mit dem Kontinent stehen – selbst als das Vereinigte Königreich und Argentinien 1982 einen Krieg um die nahen Falklandinseln/Las Malvinas führten, hatte dies keinen Einfluss auf das Antarktische Vertragssystem (vgl. Beck 1986). Der Kriegsausgang hatte ferner keinerlei Auswirkungen auf die überlappenden Gebietsansprüche am Südpol, welche beide Staaten pflegen. Ferner nahm das international isolierte Apartheidregime Südafrikas immer an Antarktistagungen teil, auch wenn es sich dort diplomatisch sehr zurückhielt. Diese gesonderte Reihe von Normen und Praktiken ist als »antarktischer Exzeptionalismus« bekannt geworden.

Gleichzeitig verstanden sich die Konsultativparteien des Antarktisvertrags darauf, die alleinige Autorität über antarktische Belange immer wieder gegenüber anderen internationalen Organisationen und Normen zu behaupten. In den 1980er Jahren kam beispielsweise zunehmend Kritik an dem oft geheimniskrämerischen und wenig repräsentativen Kreis der Konsultativparteien auf, insbesondere da über Möglichkeiten eines regulierten Bergbaus auf dem Kontinent verhandelt wurde. Malaysia stellte in diesem Zusammenhang jährlich im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) die »Antarktis-Frage«: Sollte nicht statt einer kleinen, selbsterwählten Gruppe reicher Polarforschernationen aus dem Globalen Norden eher die VN als Vertretung der gesamten internationalen Gemeinschaft für den südlichen Kontinent verantwortlich sein?

Die Konsultativstaaten reagierten auf diese Legitimitätskritik mit einer Ausweitung der Anzahl anerkannter Konsultativ­parteien, einer zaghaften Öffnung durch die Einladung von Beobachtergruppen, wie zum Beispiel die Umweltorganisation »Antarctic and Southern Ocean Coalition« (ASOC), sowie der Veröffentlichung der Tagungsberichte. Der Legitimitätsdruck von außen führte also dazu, dass sich die Konsultativparteien adaptiv zeigten – es lag im gemeinsamen Interesse zu kooperieren, um weiterhin exklusiv über antarktische Belange bestimmen zu können. So gelang es, innerhalb der Vereinten Nationen glaubhaft zu machen, dass das AVS doch das richtige Format sei, um „im Interesse der ganzen Menschheit […], die Antarktis für alle Zeiten ausschließlich für friedliche Zwecke zu nutzen und nicht zum Schauplatz oder Gegenstand internationaler Zwietracht werden zu lassen,“ wie es in der Präambel des Antarktisvertrages heißt. Selbst Malaysia unterzeichnete 2011 schließlich den Vertrag, nachdem es international immer weniger Unterstützung für die Antarktis-Frage innerhalb der VN erhalten hatte.

Kooperieren, um zu konkurrieren

Indem das AVS »die Wissenschaft« zur politischen Währung des Einflusses machte, hat es Wettbewerb und Konkurrenz immer zugelassen, aber eben auf den Bereich der Wissenschaft, Logistik und Infrastruktur beschränkt. Konkurrenzdenken wurde entsprechend nicht überwunden, sondern in weniger politisierte und weniger sicherheitsrelevante Sphären verschoben und kanalisiert. So besteht auch heute noch durchaus eine Konkurrenz darüber, wo welche Forschungsinfrastruktur oder wo Forschungsprojekte angesiedelt und durchgeführt werden. Die Suche nach einem Eisbohrkern mit 1 Million Jahre altem Eis2 etwa kann nicht nur als Versuch gelesen werden, die längste Klimadatenreihe finden zu wollen, sondern auch als status-motiviertes Bemühen um nationalen Ruhm (Hemmings 2020). Gleichzeitig gibt es auch nach über 60 Jahren keine international geplante und geförderte Forschungsstation in der Antarktis, sondern ausschließlich nationale Forschungsstationen (vgl. Hemmings 2011), die oft nicht zuletzt durch Architektur und Namensgebung nationale Symbolik transportieren.

Wie diese Beispiele zeigen, war das historische Rezept für eine friedliche Antarktis von Anfang an eine spezifische Verschränkung von Kooperations- und Konkurrenzelementen, die Koopetition beschreiben: Zusammenarbeit, um zu konkurrieren. In der rauen antarktischen Umwelt ist dies genau das, was Antarktisforschende und Wissenschaftler*innen seit dem Internationalen Geophysikalischen Jahr von 1957-58 am Südpol praktizieren und was sich zu dem oft mythologisierten »antarktischen Geist der Zusammenarbeit« entwickelt hat. Der Begriff Koopetition kommt aus der Wirtschaft: Wenn wirtschaftliche Wettbewerber sich in einem angespannten Markt befinden und über genügend Gemeinsamkeiten in Bezug auf Interessen, Wissen und Fähigkeiten verfügen (Bouncken et al. 2015, S. 585f.), ergibt eine Koopetitionsstrategie häufig Sinn. Koopetition zwischen Wirtschaftsakteuren kann allerdings auch erfolglos verlaufen. Der Schlüssel für eine gelungene Koopetition zwischen Firmen, die in diesem Feld gleichzeitig Freunde und Rivalen sind, liegt im bewussten und aktiven Management dieser entgegengesetzten Logiken. Dabei helfen klare Absprachen in Bezug auf die limitierten Bereiche einer Zusammenarbeit, bei der die Risiken durch Opportunismus, Missverständnisse und Spillover-Effekte mit einer »koopetitiven Mentalität« aufmerksam begleitet werden müssen.

Antarktische Koopetition und die Zukunft

Gegenwärtig steht die antarktische Ordnung vor vielfältigen Herausforderungen wie der Klimakrise, zunehmendem strategischen Wettbewerb sowie neuen Regulierungsherausforderungen, zum Beispiel Tourismus oder Bioprospektion, also der kommerziellen Nutzung biologischer Ressourcen. Dazu kommt, dass antarktische Entscheidungsprozesse in den vergangenen Jahren immer zäher wurden. Der Haftungszusatz zum Umweltprotokoll beispielsweise wurde bei der Antarktistagung 2005 verabschiedet, wartet aber immer noch auf seine Ratifizierung (­Proelss und Steenkamp 2022). Vor diesem Hintergrund wäre ambitionierte Diplomatie von Seiten der Konsultativparteien vonnöten, welche durch den verstärkten strategischen Wettbewerb zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China zunehmend erschwert wird.

Bei den letzten Antarktistagungen in Berlin 2022 und Helsinki 2023 wurde es schon als Erfolg gesehen, dass die Treffen überhaupt stattfanden, angesichts dessen, dass ein Konsultativstaat gegen einen anderen einen andauernden Angriffskrieg führt. In Berlin wurde der russische Delegierte für seine Verteidigung des völkerrechtswidrigen Angriffs auf die Ukraine deutlich kritisiert und isoliert: zahlreiche Delegierte verließen bei seiner Rede den Raum. Der ukrainische Vertreter betonte dahingehend die langfristigen Schäden für das ukrainische Antarktisprogramm. Gleichzeitig waren die Konsultativparteien 2022 zum Beispiel nicht fähig, China zu überzeugen, dass der Kaiserpinguin einen erhöhten Schutzstatus erhalten sollte (Walters 2022). Vor diesem Hintergrund verstellt die dominante Erzählung von der Antarktis als einer kooperativen Erfolgsgeschichte sowie vom mythischen Geist der dortigen Kooperation, den auch Guterres beschwört, den Blick dafür, dass hier keine Automatismen am Werk sind, sondern eben dynamische koopetitive politische Strukturen zwischen Akteuren, die Rivalen und Partner gleichzeitig sind, was mehr Aufmerksamkeit und aktiveres Management beider Logiken erfordert.

Ein koopetitiver Ansatz, der diesen Problemen begegnen möchte, wäre zunächst einmal die Strategie, in den allgemeinen diplomatischen Beziehungen kooperative Beziehungen in den Räumen zu stärken, in denen sie bereits etabliert sind, wie eben der Antarktis. So ließe sich strategischer Wettbewerb potenziell auf andere Teile des Planeten beschränken und gleichzeitig die geteilten Interessen, wie die fortgesetzte friedliche wissenschaftliche Erforschung der Antarktis sowie Umweltschutz für den Kontinent, ermöglichen. Gerade in Zeiten, in denen globale Forschungskooperation wichtiger denn je ist, die internationale Forschungslandschaft aber politisch zu zersplittern droht (Nature 2023), insbesondere auch in arktischer Polarforschung, lägen in der Antarktis große Chancen für aktive Wissenschaftsdiplomatie.

Antarktische Diplomatie, welche den genannten Herausforderungen mit einer koopetitiven Mentalität begegnet, würde bewusst eine Grenze ziehen zwischen einem außergewöhnlichen Raum, der Antarktis, und dem Rest des internationalen Systems mit jeweils unterschiedlichen Normen für akzeptables und angemessenes Verhalten. Souveräne Gleichheit als Vertragspartner und die Normen der VN-Charta wären dabei allerdings eine rote Linie für diese wiederbelebte Form des antarktischen Exzeptionalismus, wie in Berlin im Jahr 2022 gezeigt: die Verteidigung dieser Grundlinie für die Vertragspartnerschaft sollte nicht als unangemessene »Politisierung«, sondern als Bekräftigung der Grundlagen des AVS angesehen werden.

Neben dem Spillover-Effekt externer Konflikte in die Antarktis besteht die größte Gefahr für den antarktischen Exzeptionalismus in der Klimakrise: Die antarktische Umwelt lässt sich im Zuge der globalen Erwärmung nicht in der Antarktis selbst, sondern nur durch ambitionierte Klimapolitik in den Hauptstädten der Konsultativparteien schützen. Antarktischer und globaler Umweltschutz lassen sich entsprechend immer schwerer trennen, was auf Dauer die exklusive Autorität antarktischer Konsultativparteien infrage stellen dürfte. Weiter stellt sich die Frage, ob zum Beispiel pazifische Inselstaaten, die selbst keine Polarforschung betreiben, aber vom Abschmelzen antarktischer Eismassen existenziell bedroht sind, weiterhin vom Status als Konsultativparteien mit Mitspracherecht ausgeschlossen bleiben sollten (Roberts 2022).

Die Klimakrise bietet aber auch Anlass, neue gemeinsame Interessensgebiete in der Antarktis selbst auszuloten, um die antarktische Diplomatie durch neue kooperative Initiativen wiederzubeleben. Beispielsweise könnten die Konsultativparteien beschließen, das Bergbauverbot dadurch zu stärken, dass sie sich auf ein dauerhaftes Kohlenwasserstoff-Schürfverbot in der Antarktis selbstverpflichten (Flamm und Hemmings 2022). Eine weitere Möglichkeit läge darin, zukünftige Infrastrukturprojekte möglichst international zu realisieren. Die letztlich verworfenen australischen Planungen für den Neubau eines Flugplatzes in der Ostantarktis wären unter Umständen weniger kontrovers diskutiert worden, hätte sich die australische Regierung weniger von ihrem Gebietsanspruch und der Bedrohungswahrnehmung durch die Volksrepublik China (Buchanan 2021), und mehr vom Potential einer internationalen Kollaboration zusammen mit den dort tätigen chinesischen und indischen Polarprogrammen leiten lassen. Schließlich ermöglichen die aufkommenden Debatten um Klimageoengineering in der Antarktis neue regulative Handlungsfelder, entweder um unterschiedliche Ideen zu testen oder präventiv zu verbieten. Hier sind insbesondere die Ideen, kritische Gletschersysteme künstlich zu stabilisieren, das Südpolarmeer in seiner Funktion als Kohlenstoffsenke künstlich zu stärken oder lokales Strahlungsmanagement (»Solar Radiation Management«) zu betreiben, zu nennen.3

Auf diese koopetitive Weise könnte die Antarktis als besonderer politischer Raum, der dem Frieden, der Wissenschaft und dem Umweltschutz verschrieben ist, erhalten werden sowie die Rolle des Kontinents als Modell für internationale Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert neu erfunden werden.

Anmerkungen

1) Tweet von VN Generalsekretär António Guterres, 26. November 2023, online: twitter.com/antonioguterres/status/1728560650790588728

2) Hier wird dieses Ziel vom »Australian Antarctic Program« dargestellt: antarctica.gov.au/science/climate-processes-and-change/antarctic-palaeoclimate/million-year-ice-core/

3) Für eine Übersicht und Einordnung dieser Geoengineering-Maßnahmen in den Polarregionen, siehe Alfthan et al. (2023).

Literatur:

Alfthan, B.; van Wijngaarden, A.; Moore, J.; Kullerud, L.; Kurvits, T.; Mulelid, O.; Husabø, E. (2023): Frozen Arctic: Horizon scan of interventions to slow down, halt, and reverse the effects of climate change in the Arctic and northern regions. A UArctic Rapid Response Assessment. UArctic, GRID-Arendal, and Arctic Centre/University of Lapland. URL: grida.no/publications/1002.

Beck, P.J. (1986): The international politics of Antarctica. London: Croom Helm.

Bouncken, R.B.; Gast, J.; Kraus, S. et al. (2015): Coopetition: a systematic review, synthesis, and future research directions. Review of Managerial Science 9, S. 577-601.

Buchanan, E. (2021): Australia’s scrapping of Antarctic aerodrome could pave the runway for China. ASPI The Strategist Blog, 30.11.2021.

Dodds, K. (2017): ‘Awkward Antarctic nationalism’: bodies, ice cores and gateways in and beyond Australian Antarctic Territory/East Antarctica. Polar Record 53(1), S. 16-30.

Flamm, P. (2023): Is Antarctica still exceptional? The case for “co-opetition” at the South Pole. PRIF Spotlight 5/2023, Frankfurt: Peace Research Institute Frankfurt.

Flamm, P:, Hemmings; A.D. (2022): Now and never: Banning hydrocarbon extraction in Antarctica forever. GIGA Focus Global 1/2022, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA).

Hemmings, A.D. (2011): Why did we get an International Space Station before an International Antarctic Station? The Polar Journal 1(1), S. 5-16.

Hemmings, A.D. (2020): Subglacial Nationalisms. In: Leane, E.; McGee, J. (Hrsg.): Anthropocene Antarctica: Perspectives from the Humanities, Law and Social Sciences. London: Routledge, S. 33-55.

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Dr. Patrick Flamm ist Senior Researcher im Programmbereich »Internationale Sicherheit« am Peace Research Institute Frankfurt – Leibniz Institut für Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main. Zuvor lehrte er Internationale Beziehungen und Umweltpolitik an der Te Herenga Waka – Victoria University of Wellington in Neuseeland. Er forscht zu Fragen von Umwelt, Frieden und Sicherheit im Zeitalter des »Anthropozän« mit einem besonderen Fokus auf den Polarregionen.

Die Themengruppe Polar- und Meerespolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) versteht sich als Plattform für politikwissenschaftliche Forschung zu Wandlungsprozessen in den Polar- und Meeresregionen. Über einen Newsletter (ca. 9 Ausgaben im Jahr), Online-Kolloquien, eine Jahrestagung, koordinierte Konferenz- und Publikationsbeiträge wird den Forschenden ein Raum für Austausch geboten. Als institutionalisiertes Forum will die Themengruppe sich langfristig als Ansprechpartner oder Vermittlungsstelle für politikwissenschaftliche Forschung und Expertise etablieren und sich an der Ausarbeitung entsprechender Forschungsprogramme beteiligen. Eine ausführlichere Vorstellung findet sich unter dvpw.de/gliederung/themengruppen/polar-und-meerespolitik/ueber-uns. Der Newsletter kann über eine formlose Mail an polarmar@dvpw.de abonniert werden. Dort werden auch gerne Fragen zur Arbeit der Themengruppe beantwortet.

In der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung wird gegenwärtig die Gründung eines »Arbeitskreis Polarpolitik« vorbereitet. Die zunehmende politische Bedeutung von Arktis und Antarktis und politischer Handlungsdruck bezüglich ihres Schutzes, ihrer friedlichen Nutzung und rechtlichen Konstituierung haben auch im deutschsprachigen Raum dazu geführt, dass das Interesse an wissenschaftlicher Befassung mit politischen Prozessen, Strukturen und Inhalten der Polarpolitik deutlich gestiegen ist. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, hat die »Deutsche Gesellschaft für Polarforschung« beschlossen, einen neuen Arbeitskreis zu etablieren, der sich Forschung zu politischen Themen in den Polarregionen widmet. Bei Interesse an einer Mitarbeit oder für weitere Informationen kann mit Volker Rachold vom »Deutschen Arktisbüro« Kontakt aufgenommen werden (volker.rachold@arctic-office.de).

Politische Dynamiken in der Arktis

Politische Dynamiken in der Arktis

Klimawandel, Transformationskonflikte und Koexistenzsicherung

von Christoph Humrich

Wenn von Politik in der Arktis gesprochen wird, sei es über sicherheitsrelevante zwischenstaatliche Konflikte einerseits oder über die zwischenstaatliche Umweltkooperation im Arktischen Rat andererseits, spielt der Klimawandel eine herausragende Rolle. Unzweifelhaft zeitigt er dramatische Folgen in der Region. Er ist eines der drängendsten Probleme für ihre Bewohner*innen und über klimarelevante Kipppunkte auch für den Rest der Welt. Um die wesentlichen Entwicklungen in der Region zu verstehen, muss der Blick trotzdem zunächst unabhängig vom Klimawandel auf die relevanten politischen Dynamiken gerichtet werden. Das bessere Verständnis ihrer jeweiligen Logiken sollte auch der Klimapolitik helfen.

Im Themenheft Arktis der KAS-Auslandsinformationen schreibt der ehemalige deutsche Beobachter im Arktischen Rat, Michael Däumer: „Der »Kampf um den Nordpol« ist in aller Munde. Als Auslöser gilt insbesondere der globale Klimawandel“ (2023, S. 7). Das ist sicher eine zutreffende Charakterisierung der Erzählung, die der überwiegenden Wahrnehmung der Region in der hiesigen Öffentlichkeit zugrunde liegt. Der Klimawandel bedinge und intensiviere geopolitische Konflikte in der Region, die im Zusammenspiel mit neu zugänglichen Ressourcen, maritimen Status- und Grenzdisputen sowie sich öffnenden Schifffahrtswegen zu einer Militarisierung und Konflikteskalation in der Arktis führen.

Eine andere Erzählung war hierzulande bis vor Kurzem weniger verbreitet. Auch in dieser spielte der Klimawandel die herausragende Rolle: Hier allerdings nicht als Auslöser eskalierender Konflikte um den Nordpol, sondern als Grund für eine sich intensivierende Kooperation der acht Arktisstaaten im Arktischen Rat. So besonders schien diese Kooperation, dass sich für sie das Etikett »Arktischer Exzeptionalismus« etabliert hat (Exner-Pirot und Murray 2017): eine Ausnahme im ansonsten spannungsgeladenen Verhältnis zwischen Russland und dem Westen. Eine Region, deren zwischenstaatliche Beziehungen sich als immun gegen die Verwerfungen eines sich abzeichnenden globalen Großmachtwettbewerbs erwiesen. Seit Russlands militärischem Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Kooperation im Arktischen Rat allerdings einen erheblichen Dämpfer erlitten. Sie wurde von Seiten der westlichen Arktisstaaten zunächst gänzlich ausgesetzt. Zwar gibt es seit September 2023 eine Einigung auf eine informelle Weiterführung auf Arbeitsgruppenebene, der Exzeptionalismus aber scheint passé. Vor allem durch die Feststellung seines „Zerreißens“ (Kornhuber et al. 2023), ist die mit dem Exzeptionalismus verbundene Wahrnehmung der Region auch in der deutschen Diskussion angekommen.

Zwei unterschiedliche Erzählungen

In beiden Erzählungen fungiert der Klimawandel nicht nur als Auslöser dramatischer geo-physischer Veränderungen, die sich in der Arktis vollziehen, sondern gar als Treiber politischer Entwicklungen und als Kulisse der auf diese bezogenen politischen Einlassungen. Die Symbolkraft entsprechender Bilder wird weidlich genutzt, um entschiedenes Handeln anzumahnen: Verhungernde Eisbären mahnen zu Klimakooperation, Soldat*innen und Kriegsschiffe im ewigen Eis dazu, sich auf Konflikteskalation angemessen militärisch vorzubereiten. Das Problem mit den Erzählungen ist, dass in beiden Fällen, dem arktischen Eskalationismus und dem Exzeptionalismus, der Klimawandel als extern verursachtes und die gesamte Region betreffendes Phänomen die Analyse in zweierlei Weise behindert. Durch den Fokus auf den Klimawandel geraten erstens die Treiber regionaler Entwicklungen an den Rand der Wahrnehmung, die mit der Erderwärmung gar nicht oder nur indirekt in Zusammenhang stehen. Auch dadurch wird zweitens die Wahrnehmung regionaler politischer Dynamiken je einseitig verzerrt. Die Eskalationserzählung überschätzt regionale Konflikte und unterschätzt Kooperationsmöglichkeiten. Bei der Exzeptionalismuserzählung verhält es sich umgekehrt.

Auch wenn der Klimawandel weiterhin und unvermeidlich die Relevanz und den Kontext politischer Analyse der Region (mit-)definieren muss, kann den dramatischen Auswirkungen des Klimawandels in der Arktis politisch effektiver begegnet werden, wenn die regionalen politischen Dynamiken und ihre Logik am Beginn politischer Analyse stehen, nicht der Klimawandel. Dann würde sicherheitspolitische Analyse eher auf Koexistenzsicherung zwischen dem Westen und Russland statt auf klimabedingte Eskalationslogik fokussieren, die umweltpolitische Analyse auf die Transformationskonflikte und ihre mögliche Bearbeitung statt auf übertünchende regionale Klimakooperation.

Arktischer Eskalationismus

Nachdem 2007 eine russische Expedition eine Flagge auf dem Meeresgrund am geographischen Nordpol abgestellt hatte, und im Jahr darauf der geologische Dienst der USA seine Schätzungen zu unentdeckten Öl- und Gasvorkommen in der Arktis publizierte (Gautier et al. 2009), wurde die Beflaggung schnell als Symbol für mit dem Klimawandel in der Region zusammenhängende Sicherheitsprobleme identifiziert (Borgerson 2008), bzw. die Arktis wurde als regionaler Fall in sicherheitspolitische Analysen aufgenommen, welche die Implikationen des Klimawandels zu erfassen suchten (Solana 2008, Welzer 2010). Doch der aufgemachte Zusammenhang zwischen schmelzendem Eis, zugänglichen Ressourcen, Seewegen und Sicherheitsproblemen hat schon damals wenig Entsprechung in der arktischen Realität gefunden.

Das Arctic Climate Impact Assessment (ACIA, Symon et al. 2005), der immer noch umfassendste, aber inzwischen von der tatsächlichen Dramatik weit überholte Bericht zu Klimafolgen in der Arktis (siehe IPCC 2019), merkte bereits an, dass schmelzendes Eis und Permafrost sowie größere Witterungsschwankungen wirtschaftliche Erschließung zunächst einmal erschweren können. Ein plötzlicher Goldrausch oder Run auf die in der öffentlichen Wahrnehmung maßlos überschätzten Ressourcen ist ausgeblieben, wie auch eskalierende Konflikte um maritime Grenzen oder die Kontrolle von Seewegen zwischen den arktischen Staaten (Tunsjø 2020).

In den sicherheitspolitischen Dokumenten der Arktisstaaten finden sich zudem kaum Hinweise darauf, dass in diesem Zusammenhang Sicherheitsrisiken identifiziert werden. Eine Ausnahme stellt Russland dar, wo das Abschmelzen der Eisbarriere vor der sibirischen Küstenlinie im Lichte dubioser geopolitischer Ideologien Anlass zur Verstärkung militärischer Überwachung und Verteidigungsfähigkeit gegeben hat. Den Maßnahmen im mittleren und fernen Nordosten Sibiriens kann jedoch ein überwiegend defensiver Charakter unterstellt werden. Anders sieht es aus mit den militärischen Installationen der Kola-Halbinsel. Sie wurden und werden dort zum Zweck der Machtprojektion und Vorwärtsverteidigung der sogenannten Bastion unterhalten, weil diese Gewässer wegen der Ausläufer des Golfstroms schon immer eisfreier Zugang zum Atlantik gewesen sind. Der relevante und für die Arktis-Anrainerstaaten der NATO bedrohliche Teil der Militarisierung findet hier statt.

Das lenkt die Aufmerksamkeit auf die eigentlichen Probleme. Um sie zu identifizieren hat der norwegische Politikwissenschaftler Andreas Østhagen (2023) ein Gedankenexperiment vorgeschlagen: Würden der Klimawandel und alle seine Folgen in der Arktis auf einen Streich rückgängig gemacht, wie stände es dann um die regionale Sicherheit? Kaum verändert, lautet die Antwort, denn Sicherheitsprobleme resultieren in allererster Linie von den russischen Großmachtambitionen und den daraus resultierenden Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Das ist etwas anderes als ein auch des Öfteren von Analysten ausgemachter Großmachtwettbewerb um strategische Dominanz, Ressourcen, Schifffahrtswege und Einfluss in der gesamten Region und mit Beteiligung von China. Obwohl dieser zum Beispiel 2019 medienwirksam vom damaligen US-Außenminister Mike Pompeo heraufbeschworen wurde,1 sind entsprechende Dynamiken schwerlich zu erkennen. Dazu sind die Einflusssphären in der Arktis zu eindeutig aufgeteilt und stabil. Das geopolitisches Zentrum der regionalen Spannungen zwischen Russland und dem Westen ist der Hohe Norden, der euro-atlantische Teil der niederen Arktis. China hat es zwar geschafft, als Interessent und Akteur in der Arktis anerkannt zu werden, ist dabei aber bei weitem nicht so relevant geworden wie beispielsweise Deutschland, Großbritannien oder die EU. Nach dem westlichen Abbruch der Beziehungen mit Russland scheint weder das chinesische Engagement mit Russland entscheidend gewachsen, noch das Engagement mit den westlichen Arktisstaaten massiv beeinträchtigt.

Weder ergeben sich also die Sicherheitsprobleme aus Entwicklungen in der Region, noch betreffen sie die gesamte Region. Die Verbindung von arktischem Klimawandel und Sicherheitsproblemen hat demgegenüber eine Perspektive begünstigt, die nicht subregional differenziert und die Verschärfung der Konfliktursachen mit einer gewissen Unausweichlichkeit annimmt. Das hat zu mahnenden Aufrufen geführt, sich für militärische Konfrontationen im (wohl nicht mehr) ewigen Eis zu wappnen.2

Arktischer Exzeptionalismus

Der niederländische Think Tank für Außenpolitik, Clingendael, der sich im Anschluss an die oben schon erwähnte Rede Mike Pompeos die Erzählung über arktische Eskalation zu eigen machte, schrieb die Gründung des Arktischen Rates zwei Tabus im Sinne des Exzeptionalismus zu (Dams und van Schaik 2019, S. 3): Zum einen dürfen die Herausforderungen des Klimawandels nicht abgestritten werden, zum anderen sollten die geopolitischen Konfrontationen des Kalten Krieges nie wieder die Politik der Region bestimmen. Beides ist falsch. Bereits die sogenannte finnische Initiative, die zur Arctic Environmental Protection Strategy (AEPS, 1991), der Vorläuferin des Rates, führte, war sich nur zu bewusst, dass geopolitische Spannungen zwischen Russland und dem Westen fortdauern würden. Um zaghafte Annäherungen zu ermöglichen, setzte sie daher auf ein Thema, das von den Gründen dieser Spannungen nicht betroffen war, sondern bei dem gemeinsame Interessen vorzuherrschen schienen: dem Umweltschutz. Bei den Verhandlungen zum Arktischen Rat wurde dann auch wegen der Annahme fortgesetzter Spannungen das Thema »militärische Sicherheit« explizit aus dem Portfolio des Rates ausgeschlossen.

Trotz umweltpolitischem Fokus spielte der Klimawandel bei der Gründung des Arktischen Rates keine wesentliche Rolle. In der AEPS, die später als Strategie der Umweltsäule des Rates übernommen wurde, wird explizit erwähnt, dass der Klimawandel als globales Problem bereits in anderen Institutionen behandelt werde. Im Vordergrund der arktischen Umweltkooperation standen daher zu Beginn eher klassische Schadstoffreduktion und Naturschutz. Erst 1998 wurde, zunächst im Rahmen der Auswirkungen der Erderwärmung auf den arktischen Naturschutz, eine Vorstudie für das spätere ACIA durchgeführt. Dieses wiederum wurde bei seiner Veröffentlichung 2004 ein weltweit beachteter Erfolg. Über wissenschaftliche Berichte hinausgehende klimapolitische Maßnahmen des Arktischen Rates wurden erst sehr viel später in Angriff genommen.3 Gegen die Blockadehaltung der damaligen Bush-Administration und den Klimaskeptizismus in Moskau kam auch das ACIA nicht an. Das änderte sich erst mit der Regierung von Barack Obama und weiteren Berichten des Rates. Trotzdem brachte der Arktische Rat es noch fertig, in einer seiner Erklärungen zunächst den Klimawandel als größte Bedrohung der Region zu identifizieren, um dann zu postulieren, die Gewinnung fossiler Rohstoffe in der Region sei ein Beitrag zu deren nachhaltiger Entwicklung.4 Dass 2018 eine ganze Reihe prominenter Wissenschaftler*innen den Arktischen Rat auch aufgrund seiner angeblichen klimapolitischen Leistungen für den Friedensnobelpreis vorschlugen (vgl. Finne 2018), wurde schon im Jahr darauf dadurch konterkariert, dass der Rat zum ersten Mal in seiner Geschichte keine Abschlusserklärung zustande brachte, weil die Trump-Administration sich weigerte, der Erwähnung des Klimawandels in selbiger zuzustimmen.

Trotz der also eher ambivalenten Rolle des Rates als klimapolitisches Forum bleibt der Klimawandel nach dem Ende des Arktischen Exzeptionalismus im Zusammenhang mit umweltpolitischer Kooperation in der Region prominent: Nun wird der Klimawandel sowohl von Expert*innen als auch von politischer Seite zu dem Grund stilisiert, der eine fortgesetzte Kooperation mit Russland und einen Erhalt des Arktischen Rates unter allen Umständen notwendig mache (siehe z.B. Zellen 2022). In grandioser Überschätzung des durch den Klimawandel gebotenen Anreizes für zwischenstaatliche Kooperation wird eine arktische Wissenschaftsdiplomatie sogar zum möglichen Katalysator für eine erneute Annäherung zwischen dem Westen und Russland erhoben.

Was dagegen unterschätzt wird, sind die politischen Konflikte auf nationaler Ebene zwischen Verfechter*innen einer starken Klimapolitik und ihren Gegner*innen. Wie die Wechsel der US-Administrationen auch auf internationalem Parkett zeigen, haben diese nationalen politischen Konflikte eine sehr viel größere Bedeutung für klimapolitischen Fort- oder Rückschritt.

Transformationskonflikte in der Arktis

Wie in den meisten anderen Gesellschaften auch, sind die Ökonomien der Arktisstaaten auf Expansion angelegt. In den letzten zwei Jahrzehnten hat diese Expansion die Arktis schrittweise erfasst. Dabei dienen die arktischen Ressourcen sowohl nationalen wirtschaftspolitischen Zielen, als auch dazu, das Wohlstandsniveau der arktischen Peripherien selber zu heben und die Lage ihrer Bewohner*innen zu verbessern. Norwegen benötigt die arktischen Ressourcen zur Wahrung des Ölreichtums, der in den südlicheren Feldern zur Neige geht. Ähnlich verhält es sich in Alaska, wo das Staatsbudget von sich zunehmend erschöpfenden Ölquellen abhängig ist. Die Grönländische Regierung hofft auf die Finanzierung ihrer Unabhängigkeit von Dänemark, Island auf wirtschaftlichen Wiederaufbau nach der verheerenden Finanzkrise. In Russland wird auch die Arktis in den Dienst der wirtschaftlichen Aufholjagd gegenüber dem Westen gestellt.

In keinem dieser Länder sind diese Entwicklungspfade für die arktischen Gebiete gesellschaftlich unumstritten. Bei entsprechenden politischen Auseinandersetzungen geht es nicht nur für die Bewohner*innen der Arktis selber um zwei Fragen: der ökologischen, sozialen und kulturellen Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung, wie auch um die jeweils angemessene Beteiligung an den entsprechenden politischen Entscheidungen. Die erste Frage liegt oft quer zu Gruppenzugehörigkeiten (wie Indigene vs. Siedler*innen), die letztere fällt oft mit ihnen zusammen. In Konstellationen der Zentrums-Peripherie-Gegenüberstellung vereinen sich unterschiedliche Positionierungen zu beiden Fragen wieder.

In Norwegen tat sich etwa erst kürzlich die größte Jugendnaturschutzorganisation des Landes mit Greenpeace zusammen, das in der Walfangnation eigentlich gar nicht wohl gelitten ist, um gegen die weitere Erschließung von fossilen Rohstoffen auch gerichtlich vorzugehen (vgl. Greenpeace Norden 2024). In Grönland entschied das Parlament erst knapp für den Uranabbau, dann mit veränderten politischen Mehrheiten wieder dagegen. In den USA spielen republikanische und demokratische Regierungen in Washington politisches Ping-Pong um die Öffnung des Arctic National Wildlife Refuges. Während viele alaskanische Inuit für die weitere Erschließung fossiler Rohstoffe in dem Staat sind, lehnen viele kanadische dies für ihre Provinzen strikt ab. Auf Island gingen hydroelektrische Großprojekte mit den größten Umweltdemonstrationen des Landes einher und während die einen Kommunalpolitiker*innen auf die Ansiedlung eines neuen Tiefwasserhafens durch den deutschen Entwickler Bremenports hoffen,5 sind die anderen vehement dagegen.

Obwohl sich die komplizierte politische Gemengelage schlichten dichotomen Zuordnungen entzieht, lässt sich verallgemeinernd sagen, dass die indigenen Bevölkerungsgruppen der Arktis dabei selten am längeren Hebel sitzen. Deren Lage spitzt sich zu. Denn der Klimawandel spielte zwar bei alldem zunächst eine untergeordnete Rolle, verschärft aber nun zunehmend die mit der Entwicklung der arktischen Peripherien einhergehenden politischen Konflikte. Als Rechtfertigungsmotiv taucht der Klimawandel bei Gegner*innen wie Verfechter*innen klimapolitischer Transformation in den arktischen Gebieten auf. Erstere wollen neben den Kosten der Klimafolgen, die sie bereits jetzt und insbesondere zu tragen haben, nicht auch noch die Hauptlast der Transformation übernehmen. Letztere begründen mit dem Klimawandel die Notwendigkeit von Entwicklungsprojekten in der Arktis, mit der das Übergehen der Bedürfnisse der lokalen und indigenen Bevölkerung gegebenenfalls eingepreist wird. Zugunsten der »Green Transition« in der EU sollen in den bevölkerungsarmen aber ressourcenreichen Arktisregionen zum Beispiel Windfarmen errichtet, Bahntrassen gelegt und seltene Erden abgebaut werden. So trägt die indigene Bevölkerung die oben angedeutete doppelte Last: die Folgekosten des Klimawandels und die seiner Vermeidung. Daher etabliert sich zunehmend die Rede von einem »Green Colonialism« in der Arktis (vgl. Kårtveit 2021). Der Widerstand dagegen, aber auch der von indigenen Fragen eher unbeeindruckte, von populistischer Seite kommende Protest gegen die umweltpolitische Transformation, beeinträchtigen effektive Klimapolitik.

Der Gefahr des »Green Colonialism« ließe sich nur begegnen, wenn die politischen Auseinandersetzungen auf der Grundlage starker indigener Rechte geführt werden. Dem Populismus nähme generell stärkere Partizipation in politischen Prozessen Wind aus den Segeln. In beiden Hinsichten ließ die Kooperation im Arktischen Rat zu wünschen übrig. Zwar nimmt der Arktische Rat zurecht für sich in Anspruch, mit der Beteiligung der indigenen Völker Maßstäbe gesetzt zu haben,6 nicht nur bei der Umsetzung bzw. Ausweitung von Rechten zuhause sind die Staaten aber zögerlich. Den sehr unrühmlichen Kontrapunkt zum herausgehobenen Status der indigenen Vertreter setzte der Fakt, dass die westlichen Staaten im Rat kein Gegenmittel wussten als Moskau die russische Vereinigung der indigenen Völker der Arktis (RAIPON) zunächst als ausländischen Agenten deklarierte, mit Razzien überzog und eine der Regierung genehme Führung installierte, die sich dann nicht zu schade war, Putin ihre volle Unterstützung bei der militärischen Spezialoperation zu versichern (vgl. Urueña, S. 23 in dieser Ausgabe). Mit Russland als Mitglied verwundert es aber auch nicht, dass die notwendige grundrechtliche und partizipatorische Untermauerung der Green Transition im Rat kaum Thema ist.

Das Schicksal von RAIPON ist ein Beispiel dafür, dass die westlichen Arktisstaaten für eine Annäherung mit Russland bzw. fortgesetzte Kooperation bereit waren, normative Grundlagen und wesentliche Voraussetzungen für das Erreichen expliziter Kooperationsziele abzuwerten. Selbst wenn man nicht überzeugt ist, dass Russland diese Annäherung nur benutzt hat, um sich in ihrem Schatten für seine neo-imperialistischen Umtriebe aufzurüsten (vgl. bspw. Mikkola et al. 2023), kann man fragen, ob umgekehrt die Annäherung es Wert ist, Abstriche an effektiven Politiken hinzunehmen. Intensivierte Kooperation unter »like-minded states« könnte möglicherweise mehr bewirken.

Koexistenzsicherung für die Arktis

Die Antwort auf ein Ende des vermeintlichen Arktischen Exzeptionalismus ist nicht unbedingt die weitergehende Militarisierung der Arktis oder Machtdemonstrationen durch die NATO. Hinreichende Abschreckung und auch das Signalisieren von Verteidigungsbereitschaft sind sicher vonnöten. Aber dazu ist zum einen eine nüchterne Analyse der russischen strategischen und operativen Fähigkeiten unabdingbar, die sich zum Beispiel nicht an der gern erwähnten Anzahl der Eisbrecher bemisst. Um russische Paranoia und Propaganda nicht unnötig anzuheizen, bedarf es zum anderen einer klaren räumlichen und militärischen Begrenzung auf die Bereiche und Gebiete, in denen die Sicherheitsinteressen der arktischen NATO-Mitglieder berührt sind. Das wird wesentlich beschränktere Aufrüstung und Verteidungsinvestitionen erfordern als von manchen Analysten, Politikern und Militärs auf NATO-Seite gewünscht. Selbst die wird aber zu einer steigenden Militärpräsenz mit den daraus folgenden Sicherheitsrisiken in der Arktis führen.

Dabei sei daran erinnert, dass die Arktis im Kalten Krieg schon vor der Diskussion um die Auswirkungen des Klimawandels oder der Ressourcengewinnung ein militärisches Aufmarschgebiet war. Es lohnt sich aus zwei Gründen, diese Zeiten noch einmal in den Blick zu nehmen. Auf der einen Seite werden dabei die Gelegenheiten auffallen, bei denen der ideologische Überbau des Kalten Krieges Maßnahmen effektiver Entspannung behindert hat. Auf der anderen die, bei denen es besser gelang, die Risiken einer militärischen Konfrontation im Sinne eines umsichtigen Managements gegenseitiger Abschreckung zu minimieren. Voraussetzung war die Anerkennung von Sicherheitsbedürfnissen. Auf dieser Basis wurde beschränkte Kooperation zur Koexistenzsicherung im Kalten Krieg möglich. Sie hatte zwei Ebenen. Die lokale, die in der Arktis zum Beispiel mit Verträgen zur Kommunikation bei militärischen Zwischenfällen die regionalen Symptome der globalen Konfrontation behandelte, und die globale, auf der die Bedingungen von Stabilität durch und mit Abschreckung definiert und durch Abrüstungsvereinbarungen unterstützt wurden.

Für die lokale Ebene stehen in der Arktis heute noch bzw. schon entsprechende Institutionen bereit.7 Sie müssen gegebenenfalls nur aktualisiert oder entsprechend umgewidmet werden. Es ginge nicht mehr um intensive und umfassende Zusammenarbeit zwischen Partnern, sondern um das begrenzte operative Management konkreter Gefahrensituationen, an deren Vermeidung beide Seiten ein Interesse haben. Die Umwidmung könnte durch einen »Arctic Military Code of Conduct« (Depledge et al. 2019), dessen Umsetzung dann diesen Institutionen zufallen würde, sinnvoll unterstützt werden. Auf der globalen Ebene sind dagegen echte und gravierende politische bzw. diplomatische Anstrengungen vonnöten, um Fortschritte zu erzielen. Von diesen lenken mühsame Versuche, die regionale Kooperation im Arktischen Rat zu erhalten, möglicherweise ab. Mit dem gegenwärtigen Russland dient diese weder einem effektiven Klimaschutz, noch ist eine politische Annäherung zwischen Russland und dem Westen durch seine Wissenschaftsdiplomatie zu erwarten. An der Sicherung von Koexistenz über Verhandlungen statt Rüstungsspiralen sollte auch Russland interessiert sein. Angesichts seiner militärischen Überstreckung in der Ukraine kann sich Russland eine konventionelle militärische Eskalation in der Arktis kaum leisten. Der Einsatz hybrider Strategien und die Betonung der nuklearen Fähigkeiten (siehe Kola-Stationierung) deuten auch darauf hin.

Zwei neue Erzählungen: Transformationskonflikte und Koexistenzsicherung

Der Klimawandel bedroht die Arktis und den Rest der Welt. Das heißt aber weder, dass er für eskalierende Sicherheitsprobleme in der Arktis verantwortlich ist, noch dass er einen arktischen Exzeptionalismus begünstigt. Wer die Sicherheitsprobleme in der Region verstehen will, muss Russlands strategische Bedürfnisse und Großmachtambitionen in den Blick nehmen, die politischen Dynamiken, die darauf Einfluss nahmen, nicht geo-physische Veränderungen. Zu solchen politischen Dynamiken haben zum Beispiel das über alle Warnungen hinweggehende deutsche Interesse an billigem Gas für seine Verbraucher und Industrie beigetragen; in der Arktis aber sicher auch die symbolische Legitimation, die Russland als geschätztem Kooperationspartner noch zuteil wurde, als die Krim schon annektiert war und das Regime sich längst zur Autokratie gewandelt hatte. Im Hinblick auf Sicherheitsrisiken ergibt sich ein relativ enger räumlicher Fokus auf den so genannten Hohen Norden, die niedere euro-atlantische Arktis, die von jeher durch den Golfstrom eisfrei ist. Hier sollten sich die regionalen diplomatischen Anstrengungen auf Maßnahmen mit Russland zur Koexistenzsicherung fokussieren. Diese soll auf der operativen Ebene den begrenzten Anspruch haben, die Risiken beidseitiger Militärpräsenz zu mildern. Das würde sie auch politisch realistisch machen. Ansonsten gibt es keine regionale Eskalationslogik. Die Gründe der Spannungen zwischen Russland und dem Westen liegen auf globaler Ebene und müssen dort bearbeitet werden.

Auch der Arktische Rat kann vermutlich zur Zeit am ehesten einen sinnvollen Beitrag in der Region und global leisten, wenn sich seine Tätigkeit auf die Fortführung von Kooperation zum wissenschaftlichen Monitoring des Klimawandels in der Arktis begrenzt. Der gegenwärtige Wissensstand dazu würde übrigens auch ohne weitere Kooperation im Arktischen Rat auf jeden Fall ausreichen, um auf nationaler Ebene mit dem Abwarten aufzuhören und mit einer ernsthaften Klimapolitik zu beginnen. Aber die politische Logik der Green Transition darf sich nicht auf die Rechtfertigung der Alternativlosigkeit bestimmter Politiken durch den Klimawandel beschränken. Entscheidende Fortschritte bei der Bekämpfung des Klimawandels und der Green Transition setzen demgegenüber eine Bearbeitung der unterliegenden Transformationskonflikte voraus. Wenn diese nicht in Anti-Klimapolitiken umschlagen sollen, geht an einer politischen Auseinandersetzung um das richtige Verhältnis zwischen Umwelt und Entwicklung kein Weg vorbei. Damit es nicht zum »Green Colonialism« kommt und die indigenen Völker die Verlierer sind, ist ein neues Niveau effektiver Rechte und Partizipation erforderlich. Deren Voraussetzungen sind aber im Verein mit einem autokratischen und aggressiven Russland wohl kaum zu schaffen. Dafür wären neben nationalen Anstrengungen entsprechende Bemühungen der EU oder eine Kooperation der sieben westlichen Arktisstaaten sicherlich mehr geeignet.

Anmerkungen

1) Siehe die Rede am 6.5.2019, dokumentiert auf YouTube youtube.com/watch?v=6Bk8PeRBYcg.

2) Für den deutschen Fall s. z.B. die Einlassungen des CDU-Bundestagsabgeordneten Knut Abraham (2023).

3) Für gute Überblicke siehe Hoel (2007) und Yamineva und Kulovesi (2018).

4) Dies findet sich in der Abschlusserklärung des sechsten Arctic Council Ministertreffens (Arctic Council 2009).

5) Link zur Projekthomepage: bremen-ports.de/finnafjord/

6) Als »Permanente Teilnehmer« haben Vertreter*innen von sechs indigenen Organisationen die gleichen Teilnahmerechte wie die Mitgliedstaaten des Arktischen Rates. Den letzteren bleibt formell aber das Entscheidungsrecht vorbehalten. Dennoch trafen die Mitgliedsstaaten Entscheidungen zumeist im Konsens mit den Permanenten Teilnehmern.

7) Vor der russischen Besetzung und Annexion der Krim gab es Arctic Chief of Defense Staff Meetings und einen Arctic Security Forces Roundtable als pan-arktische Foren. Das Arctic Coast Guard Forum ist noch aktiv.

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Dr. Christoph Humrich ist Assistant Professor für International Relations and Security Studies an der Universität Groningen/Niederlande und einer der Sprecher der Themengruppe Polar- und Meeerespolitik der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft. Er forscht schwerpunktmäßig zur Umweltgovernance und Sicherheitspolitik in der Arktis.

Konflikte in der Arktis

Konflikte in der Arktis

Die vielfachen Risiken des Klimawandels

von Henry Lesmann

Die Erde hat sich in Folge des Klimawandels bislang um etwa 1,1 Grad Celsius erwärmt. Dadurch sind Klimakonflikte immer wieder Thema in öffentlichen Debatten, etwa hinsichtlich der Ernährungs- und Wasserversorgung sowie daraus folgender Migrationsbewegungen. In den Polarregionen sind die Folgen des Klimawandels besonders dramatisch, was neben globalen Auswirkungen auch Fragen nach Risiken und Konflikten konkret in diesen Regionen aufwirft. Besondere Aufmerksamkeit erhalten hierbei die Schifffahrtsrouten, Territorialkonflikte, Ressourcen und das Militär.

Die Erwärmung der Arktis zeigt sich insbesondere am Abschmelzen des dortigen Meereises, dessen Ausdehnung immer wieder neue historische Tiefpunkte erreicht. Der so freigelegte Ozean besitzt eine deutlich geringere Reflexion der Sonneneinstrahlung (Albedo) als das hellere Meereis und erwärmt sich daher stärker, was die Meereisschmelze weiter begünstigt. Darüber hinaus führt das Schmelzen des Permafrostes zur Freisetzung darin gebundener Treibhausgase, was den globalen Klimawandel ebenfalls verstärkt. Die Auswirkungen dieser Prozesse sind nicht nur auf die Arktis beschränkt. So führt etwa die Meer­eisschmelze zu einer Abschwächung des Nordatlantikstroms, der Wärme nach Europa transportiert. Höhere Verdunstungsraten begünstigen außerdem extremere Schneefälle in Europa. Das Abschmelzen von Gletschern und Eisschilden an beiden Polen der Erde sowie die thermische Ausdehnung des Wassers führen zum Meeresspiegelanstieg, welcher wiederum Folgen in den Küstenregionen hat.

Schifffahrtsrouten

Aufgrund des fortschreitenden Schmelzens von Meereis erhalten drei potenzielle arktische Seewege immer wieder Aufmerksamkeit: Die Nördliche Seeroute (NSR), welche als Teil der Nordostpassage entlang der russischen Küste verläuft, die Nordwestpassage (NWP) entlang der kanadischen Küste und die Transpolare Passage (TPP) (vgl. Karte). Über die kurzfristig vielversprechendste NSR würde sich die Transportstrecke zwischen London und Yokohama gegenüber der Strecke durch den Suez-Kanal um etwa ein Drittel verringern. Auf der Strecke von New York nach Shanghai wäre die Wegersparnis durch die NWP gegenüber der Strecke durch den Panama-Kanal immerhin noch knapp 20 % (Christensen 2009, S. 2). Viele Strecken würden sich mit Nutzung der TPP um zusätzliche 10 % verkürzen, diese setzt aber eine nahezu eisfreie Arktis voraus (Østreng et al. 2013, S. 49).

Die Vorteile wären also relevant, jedoch bestehen neben der vorhandenen Meer­eisbedeckung weitere Hindernisse für die arktische Schifffahrt. So erschweren treibende Eisberge und schwierige, teils unvorhersehbare Wetterbedingungen die Durchfahrt. Darüber hinaus mangelt es an Infrastruktur: Es gibt in der Region nur wenige Häfen, die große, für den Transit geeignete Schiffe aufnehmen und versorgen können. Außerdem sind die arktischen Gewässer nur zu etwa 10 % kartiert und Wegmarken sind kaum vorhanden. Es mangelt an für die Arktisschifffahrt ausgebildeter Besatzung und Systemen zur Überwachung der Marineaktivität und zum besseren Management der Schiffe, was das Risiko für Zwischenfälle erhöht. »Search-and-Rescue« (SAR) Operationen sind in der Arktis besonders schwer durchzuführen. Trotz zehn entsprechender Übereinkommen zwischen 1949 und 1994 ist die dortige SAR-Infrastruktur gerade für die zunehmende Schifffahrt weiterhin unterentwickelt. So ist es nur bedingt möglich, einem Schiff in Not Hilfe zu leisten oder zur Verhinderung bzw. Bekämpfung einer Umweltkatastrophe beizutragen, was besonders angesichts einer Vielzahl an Tankschiffen von Bedeutung ist.

Karte: Mögliche Nordische Seerouten

Karte: Mögliche Nordische Seerouten (Quelle: Arctic Centre University of Lapland).

Die acht Arktisstaaten (»A8«) Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und die Vereinigten Staaten unterzeichneten 2011 ein Übereinkommen, das die SAR-Zusammenarbeit verbessern, Zuständigkeiten definieren und internationale Hilfe koordinieren soll. Seit 2015 tagt außerdem das Arctic Coast Guard Forum, das die Zusammenarbeit der A8 stärkt. Auch wenn die praktischen Auswirkungen noch begrenzt sind, tragen diese Maßnahmen zur Reduzierung der durch zunehmende Schifffahrt entstehenden Risiken bei.

Nichtsdestotrotz führt die gefährlichere Durchfahrt zu hohen Kosten, etwa durch Versicherungsprämien oder Kosten für eine Eisbrecherbegleitung. Neben der ökonomischen ist jedoch auch die geostrategische Perspektive zu beachten. So sieht bspw. China die arktischen Seewege als Alternative zu den gängigen Transportrouten, welche im Konfliktfall insbesondere von den Vereinigten Staaten blockiert werden könnten.

Territorialkonflikte

Mit zunehmender Nutzbarkeit der Arktis treten auch territoriale Fragen wieder mehr in den Vordergrund. Kanada etwa sieht die NWP als Teil seiner internen Gewässer an (da die Route durch das kanadisch-arktische Archipel führt), viele andere Staaten verstehen die Nordwestpassage jedoch als eine internationale Wasserstraße, die auch ohne Zustimmung Kanadas durchschifft werden darf.

Da es sich bei der Arktis größtenteils um einen Ozean handelt, werden territoriale Ansprüche von der UN-Seerechtskonvention bestimmt. Diese besagt, dass sich die Hoheitsgewässer eines Staates von der sogenannten Basislinie an dessen Küste bis zu zwölf Seemeilen aufs offene Meer hinaus erstrecken. Daran anschließend hat der Staat für weitere zwölf Seemeilen erweiterte Rechte, um etwa Verstöße gegen dessen Zoll- oder Einwanderungsvorschriften zu verhindern und zu ahnden. In der sich bis zu 200 Seemeilen von der Basislinie erstreckenden Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) hat der Staat das Recht auf die alleinige Nutzung der dort vorhandenen natürlichen Ressourcen. Im Bereich des Festlandsockels hat der Staat die Hoheitsrechte zur Erforschung und Nutzung der am und unter dem Meeresboden gelegenen Ressourcen. Der Festlandsockel ist zunächst deckungsgleich mit der AWZ, lässt sich aber auf bis zu 350 Seemeilen von der Basislinie erweitern, sofern der jeweilige Staat nachweisen kann, dass es sich dabei um eine natürliche Verlängerung von dessen Landmasse handelt. Ein solcher Anspruch kann unter Vorlage einer wissenschaftlich fundierten Begründung an eine UN-Kommission gestellt werden, welche den Antrag ausgiebig prüft und ablehnt oder bewilligt. Auf dessen Grundlage erheben Dänemark, Kanada und Russland Anspruch auf den Nordpol.

Besondere Aufmerksamkeit erlangten die territorialen Streitigkeiten im August 2007, als eine russische Arktisexpedition auf dem Meeresboden am geographischen Nordpol eine russische Flagge platzierte und damit Sorge über einen möglicherweise aufflammenden Territorialkonflikt auslöste. Zwar konnte die Lage entspannt werden und die Arktisanrainerstaaten bekannten sich im darauffolgenden Jahr noch einmal dazu, sämtliche Gebietsstreitigkeiten im Einklang mit der Seerechtskonvention der Vereinten Nationen zu lösen, dennoch kann dies als Startpunkt dafür gesehen werden, dass die Arktis auch geostrategisch wieder mehr in den Fokus rückte.

Natürliche Ressourcen

Bedeutung erlangen die Territorien insbesondere durch die in und auf ihnen zu findenden Ressourcen. Diese lassen sich in der Region in zwei Kategorien unterteilen: Bodenschätze, umfassen sowohl fossile Energieträger als auch metallische Erze, und maritime Ressourcen, betreffen neben der Fischerei auch im weiteren Sinne die zuvor beschriebenen Schifffahrtsrouten und den Tourismus.

In der Arktis wurden bisher Vorkommen von etwa 61 Mrd. Barrel Öl und 269 Mrd. Barrel Erdgas entdeckt, die auch heute schon erschließbar sind (Spencer et al. 2011, S. 2). Schätzungen zufolge gibt es darüber hinaus noch weitere 90 Mrd. Barrel Öl und 1,669 Bill. Barrel Gas, die bisher unentdeckt sind. Etwa 84 % davon werden Off-Shore, also im arktischen Ozean, erwartet (USGS 2008). Neben den fossilen Energieträgern erleichtert der Klimawandel außerdem den Zugang zu Seltenen Erden, die eine wichtige Ressource für erneuerbare Energieerzeuger, und damit im Kampf gegen den Klimawandel, sind. Doch obwohl die Förderung arktischer Ressourcen an Attraktivität gewinnt, lässt sich das Konfliktrisiko zunächst als eher gering bewerten, da sich 90 bis 95 % der Vorkommen in den ausschließlichen Wirtschaftszonen der umliegenden Staaten befinden.

Die schmelzenden Permafrostböden sind ein wachsendes Problem für die arktische Ressourcenförderung, aber weitgehend auch für die dortige Infrastruktur. Mit steigenden Temperaturen wird deren aktive Schicht dicker, die im Jahresverlauf friert und wieder taut und sich dabei hebt und senkt. Dabei verlieren die Böden an Tragkraft und werden anfälliger für Erosionsprozesse. Bis 2050 könnte deshalb etwa 70 % der auf Permafrostböden der nördlichen Hemisphäre gebauten Infrastruktur beschädigt sein (Hjort et al. 2022). Etwa 45 % der russischen Öl- und Gasproduktion in der Arktis finden in Gebieten mit einem hohen permafrostbedingten Risiko statt (Hjort et al. 2018, S. 2).

Im Bereich der maritimen Ressourcen ist der Einfluss des Klimawandels vermutlich am stärksten in der Fischerei zu beobachten. Die steigende Wassertemperatur verändert die Lebensweise der darin lebenden Fischbestände. Ein anschauliches Beispiel dafür ist die Makrele: Ihr Lebensraum lag traditionell im nordöstlichen Atlantik, etwa in schottischen Gewässern. Seit 1999 werden zum Erhalt des Bestands jährliche Fangmengen festgelegt und unter der EU (damals noch einschließlich Großbritannien), Norwegen und den Faröer Inseln aufgeteilt. Seit 2006 hält sich die Makrele im Sommer allerdings zunehmend in den wärmer gewordenen isländischen Gewässern auf, wo sie zuvor kaum gesichtet wurde. Island nutzte diese neu gewonnenen Makrelenbestände und fischte 2008 und 2009 fast ein Viertel der gesamten Fangmenge, sehr zum Unmut der anderen Staaten. Auch im Rahmen der von Norwegen ins Leben gerufenen Fischereischutzzone um Spitzbergen kommt es immer wieder zu Zwischenfällen zwischen Norwegen und Russland. Generell gibt es sowohl Gewinner als auch Verlierer der Auswirkungen des Klimawandels auf die Fischbestände, was insbesondere dann relevant wird, wenn diese aus der AWZ eines Staates in die eines anderen ziehen und Fischerinnen und Fischer ggf. ihre Lebensgrundlage verlieren.

Das Eskalationspotenzial um maritime Ressourcen zeigt sich an den Kabeljaukriegen (»Cod Wars«) zwischen Island und Großbritannien, die zwischen 1958 und 1976 immer wieder für Spannungen innerhalb der NATO sorgten und 1976 sogar zu einer zeitweisen Unterbrechung der diplomatischen Beziehung der beiden NATO-Mitgliedsstaaten führte. Entgegen vieler Medienberichte könnte also die Ressource Fisch ein höheres Konfliktpotenzial haben als die in der Arktis lagernden Hydrokarbonate. Bislang ist es aber gut gelungen, die jeweiligen Konfliktfelder von anderen arktischen Themen und Verhandlungen zu trennen und damit die Kooperation in diesen Bereichen nicht erheblich zu beeinträchtigen. So fand insbesondere in der Forschung ungeachtet sonstiger Zerwürfnisse eine gute internationale Kooperation statt.

Militärische Konflikte

Von den acht Arktisstaaten sind in Folge der Eskalation des Ukrainekonfliktes nun sieben Staaten Mitglied der NATO oder in der Endphase des Beitrittsprozesses. Damit bilden sich militärisch klar zwei Lager: NATO auf der einen, Russland auf der anderen Seite. Nach einer ruhigeren Phase nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schenkt Russland der Arktis seit etwa zehn Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit. Wenige Jahre vorher, um 2009/2010, begann die Modernisierung der bröckelnden russischen Streitkräfte, die in großen Teilen durch die Erträge aus den Hydrokarbonaten aus der Arktis finanziert wurde. In diesem Zuge wurden auch vorhandene Militäreinrichtungen in der Arktis erweitert und modernisiert. Die NATO hingegen fand es lange Zeit nicht nötig, sich stärker in der Arktis zu engagieren. Die Kooperationen in der Region sollten nicht beeinträchtigt werden, zudem befürchteten die Arktisstaaten, dass durch solches Engagement die übrigen, nicht arktischen NATO-Staaten einen stärkeren Einfluss in der Region ausüben könnten als bis dato.

Trotz der begrenzten NATO-Aktivität in der Arktis änderte sich aufgrund des Klimawandels die russische Bedrohungsperzeption. Das schmelzende Eis an der russischen Nordflanke eröffnet nicht nur wirtschaftlich neue Möglichkeiten, sondern erleichtert auch den Zugang aus einer zuvor noch unwegsameren Richtung. Neben den arktischen Wirtschaftszonen befindet sich hier auch die zu einem großen Teil an der arktischen Kola-Halbinsel stationierte nukleare Zweitschlagkapazität Russlands. Und tatsächlich lassen sich in Folge des Klimawandels neben den dort seit dem Kalten Krieg vorhandenen U-Booten zunehmend auch Überwasserkriegsschiffe in der Arktis finden. Dennoch ist eine militärische Konfliktaustragung in der Region, unabhängig vom Motiv, insbesondere aufgrund der immer noch widrigen Bedingungen weiterhin unwahrscheinlich.

Russland: Von der Kooperation zum Konflikt

Die Beziehungen der Arktisstaaten waren zwar insbesondere seit 2007 von zunehmenden Spannungen geprägt, dennoch fand neben der stetigen Forschungskooperation auch immer wieder ein Austausch über sicherheitsrelevante Themen statt. Mit Russlands Angriff auf die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte sich das Bild Russlands schlagartig, was auch die Situation in der Arktis beeinflusste. Die Kooperationen kamen zum Erliegen, das Vertrauen in stabilisierend wirkende gemeinsame Interessen war erschüttert. Im Arktischen Rat erklärten die übrigen sieben Staaten, ihre Teilnahme an allen Sitzungen vorerst zu unterbrechen, später wurde die Arbeit an Projekten ohne russische Beteiligung fortgesetzt. Auch in anderen Foren wie dem Barents Euro-Arctic Council und der Northern Dimension fand kein Austausch mehr mit Russland statt, selbst die Forschungskooperation kam zum Erliegen. Der Bruch Russlands mit internationalem Recht wirft die Frage auf, ob es sich in anderen Regionen – wie der Arktis – noch an dieses gebunden fühlt. Eine Nichtbeachtung der Seerechtskonvention hätte vermutlich die gravierendsten Auswirkungen, da dies territoriale Konflikte zur Folge haben könnte.

Darüber hinaus führt das neue EU-Russland-Verhältnis dazu, dass die EU von russischen Energieträgern unabhängig sein möchte. Zunehmend finden Alternativen der Energieversorgung Aufmerksamkeit, darunter erneuerbare Energien, weshalb Grönland oder Norwegen, die über Vorkommen von Seltenen Erden verfügen, von der Abkehr von Russland profitieren könnten.

Was bringt die Zukunft?

Während die Antarktis nicht zuletzt aufgrund ihrer geographischen Lage und früher internationaler Verträge unabhängig vom Klimawandel auf längere Sicht ein geringes Konfliktpotenzial birgt, sind in der Arktis Risiken und Konflikte aufgrund der höheren menschlichen Aktivitäten schon deutlich stärker zu bemerken. Diese werden durch den Klimawandel nun noch einmal verstärkt. Während die Konfliktrisiken um Öl und Gas sowie Schifffahrtsrouten in den öffentlichen Debatten häufig eher überschätzt werden, birgt insbesondere die Fischerei ein nicht zu vernachlässigendes Konfliktpotenzial. Grundsätzlich ist aber, gerade auch wegen der widrigen Bedingungen, zumindest nicht mit einem bewaffneten Konflikt in den Polarregionen zu rechnen, dieser würde vermutlich dann eher niedrigschwellig sein oder andernorts ausgetragen werden.

Literatur

Christensen, S. A. (2009): Are northern sea routes really the shortest? Maybe a too rose-coloured picture of the blue Arctic Ocean. Kopenhagen: Danish Institute for International Studies, DIIS Brief, März 2009.

Hjort, J.; Karjalainen, O.; Aalto, J.; Westermann, S.; Romanovsky, V. E., Nelson, F. E.; Etzelmüller, B.; Luoto, M. (2018): Degrading permafrost puts Arc­tic infrastructure at risk by mid-century. Nature Communications 9, 5147.

Hjort, J.; Streletskiy, D.; Doré, G.; Wu, Q.; Bjella, K.; Luoto, M. (2022): Impacts of permafrost degradation on infrastructure. Nature Reviews Earth & Environment Bd. 3, S. 24-38.

Lesmann, H. (2022): Konflikt und Kooperation in der Arktis: Klimawandel, Ukrainekrieg und die arktische Sicherheit. Hamburg. Unveröffentlichte Bachelorarbeit.

Østreng, W.; Eger, K. M.; Fløistad, B.; Jørgensen-Dahl, A.; Lothe, L.; Mejlænder-Larsen, M.; Wergeland, T. (2013): Shipping in Arctic waters. A comparison of the Northeast, Northwest and Trans Polar Passages. Berlin: Springer.

Spencer, A. M.; Embry, A. F.; Gautier, D. L.; Stoupakova, A. V.; Sørensen, K. (2011): An overview of the petroleum geology of the Arctic. In: Spencer, A. M.; Embry, A. F.; Gautier, D. L.; Stoupakova, A. V. & Sørensen, K. (Hrsg.): Arctic petroleum geology. London: Geological Society, S. 1-15.

USGS (2008): Circum-Arctic resource appraisal: Estimates of undiscovered oil and gas north of the Arctic Circle. U.S. Geological Survey Fact Sheet 2008-3049.

Henry Lesmann hat 2022 sein Bachelorstudium der Geographie an der Universität Hamburg abgeschlossen.

Zivilgesellschaft und die UNO

Zivilgesellschaft und die UNO

Kritik, Verankerung, Zukunftsperspektiven

von Susanne Schmelter

Seit über 75 Jahren bietet das UN-System ein Forum zur multilateralen Konfliktregelung und hat wichtige Erfolge erzielt: etwa bei Abkommen zur Rüstungsbeschränkung, Einsätzen zur Friedenssicherung und Nothilfe. Druck aus der Zivilgesellschaft, von NGOs und durch Proteste, spielte dabei des Öfteren eine entscheidende Rolle. Trotz Erfolgen ist die Frustration über die UN und ihre Versäumnisse, internationale Kooperation und gewaltfreie Konfliktaustragung zu ermöglichen, gewachsen. Welche Möglichkeiten und Hindernisse gibt es für zivilgesellschaftliches Engagement, die Foren des multilateralen Dialogs mit Leben zu füllen?

Zeitgleich zum 40-Jahres-Symposium von W&F am 6./7. Oktober 2023 in Bonn eskalierte die Gewalt in Israel-Palästina in einen neuen Krieg. Die Anschläge und das Massaker der Hamas und die darauf folgende kollektive Bestrafung der Zivilbevölkerung Gazas durch das israelische Militär sorgen seitdem täglich für Entsetzen. Die UNO befasste sich in ihrer Geschichte mit keinem Konflikt so häufig und intensiv wie mit dem israelisch-palästinensischen, doch gescheiterte Friedensverhandlungen, miss­achtete Resolutionen und permanente Völkerrechtsverstöße haben insbesondere unter der betroffenen Zivilbevölkerung zu massiven Enttäuschungen geführt. Heute wird in der öffentlichen Entrüstung und den zahlreichen Stellungnahmen kaum noch an die UNO appelliert. Dabei hätten die UN-Institutionen durchaus die Möglichkeit, Friedenspläne zu oktroyieren und Völkerrechtsbruch zu sanktionieren, doch bleiben sie oft weit hinter ihren Möglichkeiten und eigentlichen Zielen zurück. Es greift allerdings zu kurz, die UNO als solche für dieses Scheitern zu kritisieren, denn es sind die derzeit 193 Mitgliedsstaaten, die der UNO ihre Bedeutung und Durchsetzungskraft verleihen.

Zivilgesellschaft und ihre Vertretung in den UN-Institutionen

Im Bereich von internationaler Kooperation und Konfliktbearbeitung wird neben staatlichen Akteuren oft »die Zivilgesellschaft« adressiert. Allerdings ist oft nicht eindeutig, wer oder was damit gemeint ist. Andreas Zumach verwies (beim Panel »Zivilgesellschaft und die UN« auf dem W&F Symposium in Bonn) darauf, dass es den Begriff »Zivilgesellschaft« vor Ende des Kalten Krieges praktisch nicht gab. Bis dahin handelte es sich eher um „thematische Druckbewegungen wie etwa die Frauenbewegung, Umweltbewegung, Anti-Atomkraftbewegung, die Friedensbewegung oder die damals so genannte Dritte-Welt-Solidaritätsbewegung“. Videoausschnitte zur Erinnerung an die Gründungszeit von W&F (am Vorabend) veranschaulichten dies eindrucksvoll: Bei Demonstrationen gegen den NATO-Doppelbeschluss versammelten sich allein in Bonn rund 150.000 Menschen, bundesweit mehrere hunderttausend Friedensbewegte.

Ab Anfang der 1990er Jahre seien zunehmend neue Begrifflichkeiten wie etwa »Soziale Bewegungen« und schließlich »Zivilgesellschaft« in der Forschung verwendet worden, führte Zumach aus und erinnerte, dass damals mit Zivilgesellschaft vor allem Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch im Menschenrechtsbereich oder große Organisationen wie die Women’s International League for Peace and Freedom (WILPF) gemeint waren. Seit 2000 wurde es jedoch schwieriger mit der Begrifflichkeit: Nach drastischen Budgetkürzungen innerhalb der UNO, bei denen zehn Prozent der Stellen ohne Diskussion über Priorisierungen gekürzt wurden, erklärte der damalige Generalsekretär Kofi Annan in Davos, neue »stakeholder« in der Gesellschaft zu brauchen und appellierte damit auch an die Verantwortung multinationaler Konzerne. Der sogenannte »Global Compact« bezog nicht nur klassische Menschenrechtsorganisationen ein, sondern auch Wirtschaftskonzerne, die sich fortan mit neun sehr allgemein gehaltenen Verpflichtungen zu Menschenrechtsfragen als zivilgesellschaftliche Akteure und UN-Partner begreifen durften. Viele Nichtregierungsorganisationen (NGOs) kritisierten den Mangel an verbindlichen Standards des »Global Compact«, einige, darunter auch Amnesty International, schlossen sich dem Pakt jedoch auch an.

Institutionalisierte Teilhabe

Der Bereich im UN-System, in dem die Partizipation von NGOs zumindest formal am weitreichendsten geregelt ist, ist der Bereich Menschenrechte. In der Menschenrechtskommission, seit 2006 Menschenrechtsrat, haben NGOs ein formales Teilnahmerecht, Rederecht und auch das Recht, Anträge zu stellen. Abstimmen können sie nicht, das Stimmrecht liegt weiterhin bei den Staaten. Diese Teilhabemöglichkeiten auch in andere Gremien der UN auszuweiten, wäre eine wichtige Komponente, um den Schutz von Menschenrechten noch besser zu gewährleisten: NGOs könnten so verstärkt für die Rechte der zivilen Bevölkerung eintreten – gerade wenn die Staaten diese Pflichten nicht ausreichend wahrnehmen oder wenn multinationale Wirtschaftsunternehmen Menschenrechtsstandards untergraben. Allerdings versuchen immer mehr Staaten (z.B. China, Pakistan, Saudi-Arabien) in Reaktion auf die Erfolge und Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die Partizipationsrechte und Einflussmöglichkeiten von NGOs bei multilateralen Verhandlungen innerhalb und außerhalb des UN-Systems einzuschränken.

Erfolge für die Zivilgesellschaft

Auch wenn es diskussionswürdig ist, welche Gruppen sich unter dem Label der »Zivilgesellschaft« bei UN-Foren präsentieren und akkreditieren, lässt sich festhalten, dass die wichtigsten internationalen Abkommen seit Ende des Kalten Krieges nur durch starkes Engagement globaler Koalitionen von NGOs innerhalb wie außerhalb der UNO zustande kamen.

Einige Erfolge zivilgesellschaftlichen Drucks aus den vergangenen Jahren:

  • Der völkerrechtlich verbindliche Vertrag über das Verbot von Atomwaffen von 2017, der 2021 ratifiziert wurde, darf als größter Erfolg der Friedensbewegung angesehen werden.
  • Eine breite internationale Koalition von über 1.000 NGOs setzte sich für den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) ein, der 1998 eingerichtet und 2003 ratifiziert wurde.
  • Das Kyoto-Rahmenabkommen (1997) und die Klimaverträge von Paris (2016).
  • Das bilaterale Abkommen zwischen der Sowjetunion und USA zur Abrüstung von Kurz- und Mittelstreckenraketen (INF-Vertrag), 1987 unterzeichnet, 1998 ratifiziert.
  • Die Abkommen zur Ächtung von Anti-Personenminen (1997) und von Streumunition (2008) kamen auf Druck einer internationalen Koalition von NGOs außerhalb der UNO zustande und haben seitdem 122 Unterzeichnerstaaten gewonnen.

Aktionsformen und -formate

Während der Unterhalt von Organisationen oft aufwendig sei (Zeit, Geld, Energie, Reisen), wirke der Druck »daheim«, also auf die Vertreter der eigenen Regierung, oft am effektivsten, fasste Zumach zusammen. Die Diplomaten und gewählten Vertreter würden so in ihrem Abstimmungsverhalten durch die Stimmung in der Bevölkerung beeinflusst.

Aktionen, die von großen NGOs direkt an den Orten multilateraler Verhandlungen an die UN-Gremien gerichtet werden, hätten da oft weniger Auswirkungen. Doch es gäbe auch beachtliche Beispiele für NGO-Engagement am Ort der Verhandlungen: Zumach führte hier die Verhandlungen zum Giftmüllabkommen an. Greenpeace habe damals kurz vor Verhandlungsbeginn in einer sehr medienwirksamen Aktion Behälter von Giftmüll direkt vor den Konferenzort gebracht (»Toxic Trade Campaign«). Das habe die Diplomaten derart beeindruckt, dass schließlich – und nach mehreren Sondersitzungen der europäischen Staaten – eine Mehrheit für das Verbot zum Export gewonnen wurde.

Andere Aktionen, wie etwa eine Mahnwache, die über 20 Jahre in Genf gegen ein geheimes Abkommen protestierte, wonach die WHO kein Recht hat, sich um Opfer radioaktiver Strahlung zu kümmern, haben allerdings nichts bewirkt – es fehlte der zivilgesellschaftliche Druck in den relevanten Mitgliedsländern. Auch im Falle Syriens mangelte es an nennenswertem zivilgesellschaftlichen Druck, um zum Ende des Krieges und zu einer Vereinbarung zu kommen.

Generell orientieren sich die diplomatischen Vertretungen – zumindest aus demokratischen Staaten – an der Stimmung ihrer Wählerschaft und sind damit durch Protest »zuhause« leichter zu beeinflussen. Um die Stimmung bzw. das Abstimmungsverhalten direkt am Ort der Verhandlungen zu beeinflussen, braucht es strategisch kluge und medienwirksame Aktionen.

Beispiel Syrien: Zivilgesellschaft zwischen Vernachlässigung und »local turn«

Im Falle Syriens zeigt sich das ambivalente Verhältnis von zivilgesellschaftlichen Akteuren und der UNO besonders deutlich: Als die Proteste 2011 in Syrien begannen, waren die wenigen existierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen und Interessenvertretungen streng vom Regime reglementiert und freie Meinungsäußerung war kaum möglich. Als die Menschen mit den Rufen nach Freiheit und Würde auf die Straße gingen, brach sich ein oft kreativer Aktivismus Bahn. Syrische »Aktivisten« fanden fortan als Vertreter der syrischen Zivilgesellschaft auch international Gehör – doch wurde der Wunsch nach einer Öffnung des Landes und einer Geltendmachung internationaler Normen auch für Syriens Bevölkerung bitter enttäuscht.

Zu den sogenannten Genfer-Verhandlungsrunden (2012, 2014, 2016, 2017) wurden auch zahlreiche Aktivisten und Vertreter der Opposition eingeladen. Allerdings einigten sich die Konfliktparteien mitnichten auf eine politische Lösung; allenfalls Zugeständnisse des Regimes zur Errichtung humanitärer Korridore wurden als »Erfolge« verbucht – obwohl dessen Abriegelung von Wohngegenden (wie auch die Verwendung von Chemiewaffen und Fassbomben) Verstöße gegen das Völkerrecht darstellen. Den UN-Vermittlern gelang es angesichts der Blockaden im Sicherheitsrat nicht, einen Friedensplan durchzusetzen. Auch in weiteren Formaten außerhalb der UNO (Astana-Formate, u.a.) gelang kein Durchbruch, die Beteiligung der Zivilgesellschaft schwankte jeweils deutlich.

Aufbauend auf ihrer Forschung zur syrischen Diaspora, schilderte Maria Hartmann auf dem W&F-Symposium, wie syrische Menschenrechtler dennoch beharrlich an die UN-Institutionen appellierten. Zuletzt wirkten Menschenrechtsorganisationen immerhin erfolgreich auf eine unabhängige UN-Institution für die Verschwundenen (»UN Independent Institution on Missing Persons in the Syrian Arab Republic«) hin. Strafrechtlich relevante Erfolge wurden allerdings andernorts erwirkt: So gelang 2022 unter Berufung auf das Weltrechtsprinzip die Verurteilung zweier syrischer Kriegsverbrecher vor dem Oberverwaltungsgericht in Koblenz. Bei aller Bedeutung dieser Erfolge würden sie doch nicht ausreichen, um der eklatanten Straflosigkeit, mit der das Regime agiert, etwas entgegenzusetzen, so Hartmann. Dies habe verheerende Signalwirkungen auch für andere Machthaber und biete keine Rückkehrperspektive für die vielen Geflüchteten.

Bei meiner Forschung im Libanon zur Flucht aus Syrien (Schmelter 2021) konnte ich die um sich greifende Rechtlosigkeit der Zivilbevölkerung noch auf einer anderen Ebene beobachten: Obwohl der politische Aktivismus, der im Zuge der Proteste aufkeimte, im Exil neue Möglichkeiten zur Organisation fand, drängte die kriegsbedingte humanitäre Notlage die Aktivisten oft zu einer humanitären Ausrichtung ihres Engagements. Dies geht im Sinne der Finanzierungslogik gewöhnlich mit einem Bekenntnis zum humanitären Prinzip der »Neutralität« einher. Das Eintreten für Bürgerrechte oder einen rechtebasierten Status im Exil stand dann nicht mehr im Vordergrund. Dies führt in der Konsequenz zu einer Entpolitisierung der Möglichkeiten von Zivilgesellschaft, sich im Rahmen internationalisierter Strukturen und Zusammenhänge Gehör zu verschaffen.

Im Libanon hörte ich zudem oft Kritik von Personen, die selbst aus Syrien kamen und sich nun vor Ort für die Versorgung von anderen Geflüchteten engagierten. Während diese Aktivisten bzw. zivilgesellschaftlichen Akteure meist einräumten, dass internationales Engagement an sich wichtig sei, beklagten sie auch, dass ihr Wissen von den Verhältnissen vor Ort nicht ausreichend mit einbezogen werde, dass UN-Engagement abgehoben und überteuert sei. Während sie als lokale Akteure zwar hinsichtlich ihrer Kenntnisse (etwa für sogenannte »needs assessments«) angefragt würden, hätten sie nur wenig Entscheidungsbefugnisse über die Verteilung der Mittel. Verfahrensstandards, Sprache und professionelle Verwaltung wirkten zudem manchmal gar als Ausschlusskriterium für lokale Initiativen, die Interesse an der Kooperation mit internationalen Organisationen gehabt hätten.

In Anbetracht solcher und ähnlicher Kritik hat die Bedeutung lokal verankerter Ansätze auch international zunehmend Beachtung gefunden. Im humanitären Bereich zielt der 2016 von Geberländern und internationalen Organisationen beschlossene »Grand Bargain« u.a. darauf ab, die Vertretung und den Einfluss lokaler Akteure zu stärken – blieb allerdings gerade bei dieser Zielsetzung bis 2023 weit hinter den Erwartungen zurück. Unter dem Stichwort »Localisation« wird auch im Bereich von Entwicklung und Friedenssicherung versucht, möglichst viel Handlungsmacht bei den lokalen Akteuren zu lassen. Begriffe wie »local ownership« und »capacity building« sind dabei prominent geworden. Eine Kritik am Ansatz ist jedoch, dass oft ungeklärt bleibt, was mit lokal genau gemeint ist und wer das Lokale repräsentieren soll. Der zivile Friedensdienst aus Deutschland leistet einige Pionierarbeit in dem Versuch, internationale Kooperation, insbesondere im Bereich der Friedensförderung, partnerschaftlich zu gestalten. Dennoch bleiben Spannungen: Machtungleichgewichte zwischen lokal und international agierenden zivilgesellschaftlichen Organisationen manifestieren sich bspw. in Projektlaufzeiten und Finanzierungsmöglichkeiten – und die Zivilgesellschaft in den Länderprogrammen tritt v.a. als Projektpartner in Erscheinung (Ruppel 2023).

Heterogenes Engagement und eine gemeinsame Vision

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass »die Zivilgesellschaft« sehr heterogen ist, sowohl in ihrer politischen Ausrichtung als auch in ihrem Organisationsgrad. Wohl jedoch scheint beim Sprechen von Zivilgesellschaft – insbesondere im Vergleich zu Bewegungen – eine Konnotation von Organisiertheit mitzuschwingen, die mit einem Trend zur Professionalisierung des Engagements einhergeht. In vielen Fällen ist eine Kenntnis der Abläufe im UN-System bzw. das Verständnis einer bestimmten Programmlogik ausschlaggebend für das Gelingen zivilgesellschaftlichen Engagements im internationalen Rahmen.

Wichtiger als die Professionalität der Organisationsstruktur scheint jedoch das Erfassen der politischen Thematik bzw. das Konfliktverständnis, um auf relevante Prozesse und Entscheidungen bei der UNO bzw. die Entscheidungsträger der staatlichen Vertretungen Einfluss zu nehmen. Eine geschickte Auswahl der politischen Kräfte und der Orte für solche Interventionen sowie eine medienwirksame Inszenierung scheint dafür unerlässlich.

Auch wenn bei der UNO vieles reformbedürftig ist, so bieten ihre multilateralen Foren doch einen Verhandlungsrahmen für globale Themen wie gewaltfreie Konfliktbearbeitung, gerechte Handelsabkommen, Wahrung der Menschenrechte sowie den Schutz natürlicher Lebensgrundlagen und Ressourcen. Sie erlauben außerdem die Vernetzung und Bündelung zivilgesellschaftlicher Kräfte und ermöglichen damit, auch lokales Engagement in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Das Festhalten am Völkerrecht und der Vision eines friedlichen Zusammenlebens gewinnt gerade in Kriegszeiten eine besondere Bedeutung.

Literatur

Ruppel, S. (2023): Lokal verankerte Zivile Konfliktbearbeitung zwischen Partnerschaft und Machtungleichgewicht. Studien des Leibniz-Instituts Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung. Wiesbaden: Springer.

Schmelter, S. (2021): Humanitäres Regieren und die Flucht aus Syrien. Ethnographische Untersuchungen zum Migrations- und Grenzregime im Libanon. Doktorarbeit, Georg-August-Universität Göttingen. DOI: doi.org/10.53846/goediss-8238.

Dr. Susanne Schmelter, Friedens- und Konfliktforscherin und Anthropologin. Nach Studium in Marburg und längeren Forschungsaufenthalten im Nahen Osten, lebt sie nun in Genf, wo sie 2022 »Manara Association for Multilateral Dialogue« gegründet hat; zudem arbeitet sie freiberuflich als Beraterin für Friedensorganisationen.

Abrüstung und Rüstungskontrolle in Zeiten des Krieges

Abrüstung und Rüstungskontrolle in Zeiten des Krieges

von Rolf Mützenich

Vor 60 Jahren, am 10. Oktober 1963, trat der Vertrag über das Verbot von Kernwaffenversuchen in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser in Kraft. Das sogenannte Moskauer Atomteststoppabkommen war das erste Rüstungskontrollabkommen im Kalten Krieg und markierte den Beginn der multilateralen Abrüstungs- und Nichtverbreitungsdiplomatie. Die Politik der Abrüstung und Rüstungskontrolle führte in den Jahren darauf u.a. zum Atomwaffensperrvertrag (1968), ABM-Vertrag (1972), INF-Vertrag (1987) und KSE-Vertrag (1990). In den vergangenen Jahrzehnten haben diese Errungenschaften der Entspannungspolitik und Rüstungskontrolle die Welt sicherer gemacht. Vor allem während des Kalten Krieges waren sie wichtige Instrumente zur Kriegsverhütung und Vertrauensbildung und entwickelten sich zu einem integralen Bestandteil der globalen Sicherheitsarchitektur.

Dreißig Jahre nach Ende des Kalten Krieges befindet sich die nukleare Ordnung jedoch in einer tiefen und existentiellen Krise. Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist nicht nur der Krieg, sondern auch die Gefahr eines Atomschlags nach Europa zurückgekehrt. Seit Beginn des Krieges hat Putin bereits mehrmals mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen gedroht. Im Februar dieses Jahres setzte Russland zudem die Teilnahme an New START aus – dem letzten verbleibenden großen nuklearen Abrüstungsabkommen zwischen Washington und Moskau. Einen Monat später kündigte Putin an, taktische Atomwaffen in Belarus stationieren zu wollen. Mit dem Austritt Russlands aus dem KSE-Vertrag kündigte der Kreml im Mai 2023 schließlich einen weiteren Abrüstungsvertrag aus der Endphase des Kalten Krieges auf.

Neben dem russischen Krieg gegen die Ukraine und der Erosion elementarer Rüstungskontrollverträge, ist die sich zuspitzende strategische Rivalität zwischen den USA und China ein weiterer wichtiger Grund für die gegenwärtige Krise der nuklearen Ordnung. Laut Ergebnissen von SIPRI stiegen die weltweiten Rüstungsausgaben im Jahr 2022 bereits das achte Jahr in Folge und erreichten mit 2.240 Mrd. US$ einen neuen Höchststand. Alle neun Nuklearmächte führen derzeit umfangreiche Modernisierungsprogramme ihrer atomaren Arsenale durch und entwickeln neue Trägersysteme und Produktionskapazitäten. Besonders China hat in den vergangenen Jahren erheblich aufgerüstet und hat sein nukleares Arsenal zuletzt auf 410 Sprengköpfe deutlich erhöht.

Fakt ist: Wir befinden uns längst wieder in einem neuen atomaren Rüstungswettlauf. In den Militärdoktrinen der Großmächte erlebt die Atombombe eine strategische Renaissance und wird dabei zunehmend auch als Mittel der Kriegsführung gesehen. Hinzu kommen die technologische Modernisierung hochkomplexer Waffensysteme und eine Vermischung von nuklearen und konventionellen Waffensystemen. Besonders die technologischen Entwicklungen im Bereich der Künstlichen Intelligenz, für die es bislang noch keine Regelwerke gibt, könnten bereits in naher Zukunft unvorhersehbare Folgen für die globale Sicherheit haben. Die Zeitschrift »Bulletin of the Atomic Scientists« hat angesichts dieser dramatischen Entwicklungen am 24. Januar 2023 den Zeiger der Weltuntergangsuhr auf 90 Sekunden vor Mitternacht vorgestellt – so nah an einer globalen Katastrophe wie noch nie seit ihrer Einführung im Jahr 1947.

All dies zeigt: Rüstungskontrolle und Abrüstung sind keine Themen längst vergangener Zeiten, sondern notwendiger als je zuvor. Wir müssen dabei allerdings auch realistisch bleiben. Momentan ist kein großer Wurf bei der Rüstungskontrolle zu erwarten. Seit dem russischen Krieg gegen die Ukraine gibt es kein Vertrauen zu Putin und der russischen Führung. Auch Chinas Führung zeigt bislang kein Interesse an nuklearer Rüstungskontrolle. Dennoch sind bereits jetzt Verhandlungen über Abrüstung und Rüstungskontrolle notwendig, um auch in Zeiten des Krieges und zunehmender geopolitischer Spannungen ein Minimum an strategischer Stabilität zu erhalten. Nach dem Krieg könnten sie auch wichtige Instrumente sein, um verlorengegangenes Vertrauen wieder langsam aufzubauen – wenn Russland und China bereit dazu sind. Deshalb war es auch richtig und wichtig, dass die Biden-Adminis­tration im Juni dieses Jahres Moskau und Peking zu einem Dialog über nukleare Rüstungskontrolle ohne Vorbedingungen aufgerufen hat. Dass solche Bemühungen nicht vergebens sind, zeigte Bundeskanzler Olaf Scholz bei seinem Besuch in China im November 2022, bei dem das nukleare Tabu auch von Peking nochmals bekräftigt wurde. Abrüstung und Rüstungskontrolle sind letztlich unerlässlich, um den Großmächtewettbewerb und die gegenseitigen Beziehungen wieder etwas berechenbarer zu gestalten. Weder im Kalten Krieg noch heute war militärische Abschreckung allein ein erschöpfendes Konzept für Sicherheit. Dies gilt umso mehr in einer multipolaren Weltordnung mit mehreren Nuklearmächten. Die einzige Alternative – ein weltweites atomares Wettrüsten – kann jedenfalls in niemandes Interesse liegen.

Dr. Rolf Mützenich ist seit 2019 Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Er gehört seit 2002 dem Deutschen Bundestag an. Er wurde 1991 über eine Arbeit zu atomwaffenfreien Zonen promoviert.