Radikal gewaltfrei
Radikal gewaltfrei
Zu den Wirkungsbedingungen disruptiver Proteste
von Jannis J. Grimm
Bewegungen weltweit wenden unterschiedliche Ausprägungen von zivilem Ungehorsam an, die zum Teil mit hegemonialen Formverständnissen von Protest brechen und ein radikales Element bergen. Gleichzeitig ist die Bewertung dieser Proteste geformt von liberalen Lesarten historischer Vorbilder. Radikaler und disruptiver Protest wird dadurch oft als Gegenpol zu gewaltfreiem und demokratischem Protest missverstanden. Doch eine historische Bestandsaufnahme zeigt, dass diese Unterscheidung weder zutreffend ist, noch geeignet, um über die Legitimität von zivilen Widerstandskämpfen zu entscheiden. Für die gesellschaftliche Wirksamkeit von Protest kann sie allerdings dramatische Auswirkungen haben.
Protest sieht nicht überall gleich aus und wirkt auch nicht überall auf dieselbe Art und Weise. Was in einem anderen Kontext als gewaltfreier Massenwiderstand gefeiert wird, würde hierzulande häufig als extrem disruptiv oder sogar gewaltsam und deshalb als illegitim verstanden. Hierfür liefern Volksaufstände wie 2022/23 im Iran oder 2010/11 in der arabischen Welt1 gute Beispiele, welche zwar überwiegend von friedlichem Protest bestimmt waren, jedoch allesamt auch mit teils sehr gewaltsamen Aktionen einhergingen – von Straßenschlachten, über Brandanschläge auf Regierungsgebäude und Polizeistationen, bis hin zu bewaffneter Gegenwehr. Der Zweck heiligt diese Mittel, mag man nun argumentieren und auf den autoritären Regimekontext verweisen, innerhalb dessen diese Proteste stattfanden und den selbige zu beseitigen suchten. Doch wenn dem so wäre, woher käme dann die Entrüstung über die »Klimakleber«, die mit deutlich weniger konfrontativen Mitteln im Grunde ja nur auf eines der größten Probleme unserer Zeit aufmerksam machen? Oder über die Proteste in Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung, welche sich mit überwiegend friedlichen Mitteln vor allem gegen eine seit Jahrzehnten fortbestehende Besatzungssituation richten und auf eine konsequente Anwendung des Völkerrechts pochen?
Prämissen des gewaltfreien Widerstands
Die unterschiedliche Wahrnehmung von sozialer Mobilisierung weltweit konfrontiert Aktivist*innen wie Protestforscher*innen mit der Frage, unter welchen Bedingungen disruptiver Protest – also Spielarten des zivilen Widerstands, welche mit Erwartungshaltungen an die Form von Protesten brechen und bei denen durch bewusste Störungen der öffentlichen Ordnung oder Unterbrechung alltäglicher Abläufe auf Anliegen aufmerksam gemacht werden soll – die Ziele sozialer Bewegungen befördert. Welches Verhältnis besteht also zwischen Disruption, Gewalt(-freiheit), Radikalität und sozialem Wandel? Ist Protest, um wirksam zu sein, auf maximale Irritations- und Störwirkung angewiesen, oder wird sein Potenzial hierdurch mitunter begrenzt? Ab wann werden zivilgesellschaftliche Akteure und ihre direkten Aktionen als zu radikal oder sogar als gewaltsam wahrgenommen und dadurch Mobilisierungspotenziale begrenzt?
Die medialen Kontroversen um die »Letzte Generation« und die Solidaritätsproteste mit Palästina haben diese Fragen hierzulande ins Zentrum der sozialen Bewegungsforschung gerückt. Sie bilden einen guten Ausgangspunkt, um die im Kontext historischer Massenbewegungen entwickelten Theorien des zivilen Widerstands und ihre Prämissen mit Blick auf Proteste der Gegenwart kritisch zu beleuchten.
Wie wenig andere Bewegungen stützte sich die Letzte Generation zur Legitimation ihrer Taktiken ganz explizit auf Theorien des zivilen Ungehorsams, und auch eine Reihe von Palästina-Solidaritätsgruppen zitieren die Arbeiten historischer Vordenker*innen des zivilen Widerstands, darunter vor allem Gene Sharp, Brian Martin und Erica Chenoweth. Ersterer inspirierte vor allem den Begriff des „politischen Jiu-Jitsu“ (Sharp 1973), der als grundlegender Wirkungsmechanismus zivilen Widerstands angenommen wird. Die Idee: Wenn es gelingt, durch gewaltfreie kollektive Aktionen überzogene Gegenreaktionen zu provozieren, ohne dass diese überzeugend legitimiert werden, dann schwächt dies die moralische Autorität derjenigen, die Repression ausüben. Wie beim Jiu-Jitsu nutzt man also die Energie des politischen Gegners für sich. Der moralische Schock, den die Öffentlichkeit über unverhältnismäßige Gewaltanwendung empfindet, so die Annahme, wird zum Mobilisierungsmechanismus.
Brian Martin (2007) prägte hierfür den Begriff des „backfire“, das heißt: Repression geht nach hinten los, erzeugt das Gegenteil des intendierten Effekts. Den empirisch belastbarsten Beleg für den von Sharp und Martin postulierten Wirkungszusammenhang lieferten schließlich Erica Chenoweth und Maria Stephan (2011). Mit ihrem NAVCO-Datensatz zu den Erfolgsbedingungen gewaltfreier und gewaltsamer Mobilisierungskampagnen im letzten Jahrhundert legten sie den Grundstein für das damals kontraintuitive, heute aber kaum noch hinterfragte Dogma von der Überlegenheit friedfertigen Protests gegenüber bewaffnetem Widerstand. Zwar hat diese Annahme in den jüngsten Jahren Kritik erfahren (Onken et al. 2021, für eine kritische Bestandsaufnahme unterschiedlicher Datenbanken zu quantitativer Bewegungsforschung siehe auch Nennstiel in dieser Ausgabe, S. 12) und ist jenseits von Volksaufständen in autoritären Kontexten nur schwach belegt, doch prägt sie weiterhin das Kalkül von Protestakteuren weltweit, die durch zivilen Ungehorsam gesellschaftlichen Wandel anstoßen wollen.
Aufmerksamkeit: Zur Notwendigkeit von Disruption
Die Arbeiten von Chenoweth und ihren Vorreiter*innen stellten eindrucksvoll frühere Paradigmen von der Effizienz bewaffneter Aufstandsbewegungen auf den Kopf: Historisch gesehen weisen gewaltfreie Kampagnen gegenüber gemischten und gewalttätigen eine annähernd doppelt so hohe Erfolgsrate auf, indem sie Loyalitätsbrüche innerhalb des Establishments erzeugen und die Kosten von Repression in die Höhe treiben. Dass diese Mechanismen auch bei kleineren sozialen Bewegungen greifen, setzt indes zumindest eine Grundbedingung voraus: Sie müssen überhaupt erst einmal als relevant wahrgenommen werden. Massenproteste erzeugen allein aufgrund ihrer hohen Beteiligung und ihres Medienechos zumeist ein gewisses Ausmaß an Disruption. Vor diesem Hintergrund liegt für Chenoweth und Co. auch der Schluss nahe, dass soziale Bewegungen alle Praktiken, die als gewaltsam interpretiert werden könnten, besser unterlassen sollten, um ihren Erfolg nicht zu gefährden. Demgegenüber haben es kollektive Aktionen unterhalb der Schwelle von Massenprotest deutlich schwerer, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie sind daher, ganz im Gegenteil, gerade auf Disruption angewiesen, um überhaupt eine Reaktion zu erzeugen.
Ebenso ist Chenoweths These, dass auch „radikale Flanken“ (Haines 2013) von Bewegungen ihren Protest gemäß den gesellschaftlichen Bedingungen für die Akzeptanz von Protest gestalten müssten, für solche kleineren Protestformen nur schwer haltbar – gerade, wenn man bedenkt, dass soziale Bewegungen den Diskurs über die Grenzen legitimen Widerstands mitprägen und durch ihr Handeln immer wieder neu formen, wie nicht zuletzt auch die historischen Vorreiter des zivilen Widerstands zeigen. Protestierende müssen hierfür dahin gehen, wo es einer Gesellschaft »weh tut« – und setzen sich damit auch dem Risiko aus, als gewaltsam empfunden zu werden.
Dies ist die Logik von zivilem Ungehorsam und radikalem Protest. Bürger*innen nehmen hier in Abgrenzung zu anderen Formen des Protests den Bruch von Gesetzen in Kauf, was eine höhere Risikobereitschaft voraussetzt. Dies geschieht meist in Form von direkter Aktion – also Maßnahmen wie Besetzungen, Boykotte, Nichterfüllung oder Sabotage, die darauf abzielen, durch direkt zugefügte Kosten unmittelbaren politischen Einfluss auf Gegenspieler*innen oder die breitere Gesellschaft zu nehmen. Ein Mindestmaß an Disruption ist dabei essenziell, vor allem bei themenspezifischen Protesten. Nur so verhindern Protestierende, schlichtweg ignoriert zu werden. Robin Celikates zufolge hängt die Wirkung gerade von zivilem Ungehorsam in entscheidendem Maße davon ab, wie effektiv das Konfrontationsmoment ist, das er erzeugt. Protest „kann nur dann als symbolischer Protest funktionieren, wenn er Momente der realen Konfrontation beinhaltet, Praktiken wie Blockaden und Besetzungen, die manchmal auch Gewaltelemente enthalten“ (Celikates 2016, S. 43).
Eine solche Verquickung von Disruption und zivilem Ungehorsam als einem zentralen Pfeiler demokratischer Praxis mag zunächst überraschen, läuft sie doch der allgemeinen Debatte zuwider, die vor allem vor der normativen Schablone liberaler Demokratievorstellungen geführt wird. Darin wird legitimer Protest zumeist auf legale und angemeldete Demonstrationen im Rahmen des geltenden Versammlungsrechts reduziert, oder aber in Anlehnung an liberale Auffassungen von zivilem Ungehorsam auf einen symbolischen Regelbruch mit appellativem Charakter an eine demokratische Mehrheitsgesellschaft. Doch wird diese gängige Sichtweise des zivilen Ungehorsams, welche über konfrontative Taktiken hinwegblendet, der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht. Disruption bis hin zu Sachbeschädigung und Blockaden sind seit je her ein wesentlicher Bestandteil des zivilen Widerstands, etwa der indischen Freiheitsbewegung um Gandhi, der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King Jr. und der Suffragetten, kommen aber auch in gegenwärtigen Bewegungen wie »Occupy«, »Black Lives Matter« oder auch »Extinction Rebellion« und »Letzte Generation « in unterschiedlicher Ausprägung vor.
Candice Delmas plädiert vor diesem Hintergrund ganz explizit dafür, nicht nur »zivile« Protestformen als legitim wahrzunehmen, sondern auch »unzivile«, einschließlich Sabotage, der Zerstörung von Eigentum, der Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung, verdeckter Guerilla-Aktionen, oder ungeplanter kollektiver Mobilisierungsformen wie Riots (Delmas 2018). Sie stellt die problematische Vorstellung von der Neutralität des Status quo und die Fehlannahme, es gäbe doch immer andere, zivilere und weniger disruptive Wege, Dissens auszudrücken, in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Legitimation von zivilem Ungehorsam. Viele von Gewalt Betroffene, so Delmas, verfügten de facto über gar kein anderes Mittel, um auf soziale Missstände hinzuweisen – und schon gar nicht über effektivere. Eine prinzipielle Delegitimierung ihres Widerstands gelte es daher abzulehnen. Vielmehr sei für Bewegungen des zivilen Ungehorsams vor allem charakteristisch, dass es ihnen nicht nur darum gehe, ein bestehendes System der Ungerechtigkeit zu reformieren, sondern es grundlegend umzuwälzen. Ihre prinzipielle Ablehnung von Gewalt stellt dabei nicht etwa nur einen moralischen Appell an das Gewissen der schweigenden Mehrheit dar. Vielmehr setzen Bürgerrechtsaktivist*innen einem als gewaltsam und unmoralisch empfundenen System eine höhere eigene Moral entgegen.
Die jüngere kritische Forschung stellt vor diesem Hintergrund vor allem den antikolonialen Charakter von zivilen Widerstandsbewegungen heraus (Pineda 2022; Souza dos Santos 2024; Chabot und Vinthagen 2015). Sie wirft dabei eine alternative Sichtweise auf: Ziviler Ungehorsam wird hier gefasst als eine transnationale und weltbildende Aktivität, die immer schon globale koloniale oder neokoloniale Herrschaftsstrukturen adressierte. So verstanden wird die binäre Unterscheidung zwischen Protest in demokratischen und nicht-demokratischen Staaten in Frage gestellt, die von liberalen Theorien des zivilen Ungehorsams vorangetrieben wird (Çıdam et al. 2020) – und damit die grundlegende Annahme, dass in diesen unterschiedlichen Regimekontexten eben auch unterschiedliche Formen des Widerstands legitim sind.
Diese alternative Konzeptualisierung des zivilen Ungehorsams erlaubt uns insbesondere, ungehorsame Praktiken in den Blick zu nehmen, die in demokratischen Gesellschaften stattfinden, ihren moralischen Appell aber nicht an diese Gesellschaften, sondern an eine transnationale Gemeinschaft richten – etwa militante anarchistische Netzwerke gegen Grenzen, Solidaritätsbewegungen mit staatenlosen Völkern oder internationale Boykottbewegungen. Darüber hinaus schließt sie auch disruptive Protestpraktiken außerhalb liberaldemokratischer Regime ein, die an eine lokale oder globale moralische Resonanzstruktur appellieren – von feministischem und queerem Aktivismus im Kontext patriarchaler Gesellschaften, über transnationale kurdische »Survivance«-Praktiken (Burç et al. 2022), bis hin zum illegalen Pflücken traditioneller Kräuter durch palästinensische Frauen als einer alltäglichen Widerstandshandlung gegen die israelische Besatzung (Manna 2022).
Verzicht auf Gewalt allein reicht nicht
Disruption ist also nicht nur rechtfertigbar, sondern essenziell. Gleichzeitig bildet Gewaltlosigkeit aber eine Voraussetzung für die von Sharp und Martin thematisieren Wirkungsmechanismen zivilen Ungehorsams – ein Dilemma? Nicht unbedingt. Denn vor diesem Hintergrund sind die Trainings in Deeskalation und Aggressionskontrolle zu verstehen, denen sich Bewegungen des zivilen Widerstands seit Generationen bewusst unterziehen. Ungehorsame sollen dadurch befähigt werden, entwürdigende Behandlung und im Zweifel auch physische Leiderfahrung zu ertragen. Denn Gegengewalt riskiert, den politischen Kampf direkt auf ein Spielfeld zu tragen, auf dem repressive Akteur*innen meist besser aufgestellt sind und über ein Monopol auf legitime Gewaltanwendung verfügen. Überdies verlieren zivilgesellschaftliche Akteure bei Gewaltanwendung in den Augen der Öffentlichkeit schnell die moralische Oberhand.
Denn gewaltsame Selbstverteidigung oder Vergeltung gegen brutale Repression untergräbt das moralische Schockempfinden und erzeugt im besten Fall den Eindruck eines Konflikts auf Augenhöhe, im schlechtesten rechtfertigt es noch schärfere Repressionen. Auch die langfristigen Effekte von zivilem Ungehorsam werden dadurch untergraben. Ziviler Ungehorsam will nicht nur Gesetze reformieren, sondern auch moralische Veränderungen bei seinem Publikum bewirken (Brownlee 2004). Christian Volk (2022) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass ziviler Ungehorsam als Beitrag zur Demokratisierung der sozialen Ordnung interpretierbar sein muss. Entscheidend ist dafür nicht zwangsläufig, dass Protest rein symbolischer Natur sein muss, oder »zivilisiert« bleibt. Sondern, so Robin Celikates (2016), dass er sich vor allem einer militärischen Logik verschließt, welche auf die Vernichtung eines (imaginierten) Feindes abzielt. Ist dies nicht der Fall, wird das Spiel mit der Moral riskant und läuft Gefahr, in einer Art sekundärem »backfire«-Effekt, seinerseits nach hinten loszugehen und Protestbewegungen zu schaden. Die Frage ist insofern „ob die konkrete Aktion, die konkrete Protestbewegung so gestrickt ist, dass sie die Selbstlegitimierung, die mit dem Begriff einhergeht, auch erfüllt“ (Volk und Grimm 2023).
Ein gutes Beispiel hierfür boten zuletzt die Studierendenproteste an Berliner Universitäten gegen den Krieg in Gaza. Dort wiederholte sich ein Ausschnitt der Debatte um die »Klimakleber«, ob die Art des Protests den Anliegen der Protestierenden schadet. Anders als während der Straßenblockaden steht bei den Antikriegsdemonstrationen aber nicht primär das taktische Repertoire (also Hörsaalbesetzungen, Protestcamps etc.) im Vordergrund. Im Gegensatz zu den Klimaprotesten orientieren sich die Antikriegsdemonstrationen sehr viel stärker an konventionellen Protesttaktiken. Ihre Sit-ins und Demonstrationen sind größtenteils als angemeldete oder auch als spontane Demonstrationen verfassungsrechtlich von der Versammlungsfreiheit gedeckt, als kollektive Aktionen handelt es sich bei ihnen nicht um Gesetzesübertretungen. Der Gewaltvorwurf, der ihnen dennoch entgegengebracht wird, entzündet sich daher auch nicht an der Protestform, sondern vor allem an der Symbolik der Bewegung, die von Teilen der Gesellschaft als gewaltverherrlichend (oder zumindest relativierend) wahrgenommen wird.
Insbesondere die Reproduktion des roten Dreiecks, mit dem in Hamas-Propagandavideos Ziele der Qassam-Brigaden markiert werden, als Graffiti wurden in der deutschen Öffentlichkeit als Sympathiebekundung mit dem palästinensischen bewaffneten Kampf sowie als unverhohlene Drohung an Protestgegner verstanden. Die roten Dreiecke brachten auf Instagram zwar oberflächliche Zustimmung (Likes) von einem transnationalen Publikum, im unmittelbaren lokalen Kontext der Proteste untergruben sie aber den moralischen Anspruch der Demonstrierenden, verkomplizierten die Skandalisierung von Polizeigewalt bei der Räumung von Protestcamps und unterminierten letztlich das größere Anliegen der Demonstrierenden. Während die Blockaden von XR, der Letzten Generation oder der britischen Gruppe »Just Stop Oil« Ressentiments gegen die Gruppen selbst produzierten, aber das gesamtgesellschaftliche Problembewusstsein für den Klimawandel steigerten, stellte sich so ein indirekter Effekt bei den Gaza-Protesten nicht ein, da ihr Anliegen immer wieder in Sprache und Symbolik eingebettet war, die innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Resonanzstrukturen keinen Anschluss fanden.
Performative Gewaltfreiheit und Legalität allein reichen also nicht aus, um nicht als gewaltsam wahrgenommen zu werden. Das Beispiel zeigt insofern eindrucksvoll, wie selbst die Legitimität von »zivilisierten« Formen des Protests durch dessen Inhalt und Symbolik konterkariert werden können. Der auch durch mediale Skandalisierung verbreitete Eindruck, die Palästina-Proteste folgten einem dichotomen Freund-Feind-Schema, untergrub im Kontext der Studierendenproteste die breiteren Solidarisierungseffekte, auf welche die Demonstrierenden hofften. Mit Ausnahme der nicht inhaltlichen Solidaritätsbekundungen von Dozent*innen, die das Grundrecht auf Protest an Universitäten verteidigten, blieb der moralische Schock über Polizeigewalt auf dem Campus begrenzt. Auch ein positiver „radikaler Flankeneffekt” (Haines 2013) blieb aus. Hiermit beschreiben Protestforschende den Sympathiezuwachs für moderate Protestakteure, den radikale Taktiken bewirken können: Wenn man den Anliegen radikaler Akteure zustimmt, nicht aber ihren Methoden, kann dies das Engagement moderaterer Akteure für dasselbe Anliegen aufwerten. Diese werden fortan im Kontrast zu den Radikalen als der vernünftigere Gegenpol wahrgenommen. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Öffentlichkeit klar zwischen beiden Flanken entscheiden kann. Dies war bei den Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg nicht der Fall, wo sich moderatere Protestierende vielerorts nicht explizit von kontroversen Aktionen distanzierten – entweder, um den internen Zusammenhalt der ohnehin stark unter Beschuss stehenden Bewegung nicht zu gefährden, oder auch, da vielen die Einordnung der Bewegungssymbolik als »gewaltsam« im Kontext der Völkerrechtsverletzungen und der extremen Gewalt in Gaza schlichtweg unpassend schien.
Form follows function
Das Beispiel zeigt indes, dass beim Nachdenken über Wirkungsbedingungen von disruptiven Protesten eine getrennte Betrachtung von moralischen und strategischen Fragen sowie eine Berücksichtigung ihres sozialen und geografischen Wirkungskontexts wichtig ist. Es mag richtig sein, dass die Skandalisierung gewisser Aspekte konkreter Protestaktionen – Sachbeschädigung, Graffiti, Verständnis für bewaffneten Kampf etc. – als »Gewalt« stark konstruiert ist. Auch mag sie in keinem Verhältnis stehen zu den Missständen, die der Protest zu adressieren sucht. Ebenfalls mag richtig sein, dass diese Missstände ohne solche medienwirksamen Elemente möglicherweise gar keine Aufmerksamkeit erhalten und dass ohne disruptiven Widerstand ein sehr gewaltvoller Status quo erhalten bleibt – im Kontext der Klima-Proteste das Ausbleiben effektiver Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung; im Kontext der Gaza-Proteste, dass weiter deutsche Waffen an eine Kriegspartei geliefert werden.
Doch ändert dies auf einer praktischen Ebene wenig an der negativen Resonanz gewisser Protestformen in einem sozialen Kontext, der eben jene Missstände ausblendet. Zu Ende gedacht: Disruption und sogar Gewalt mögen – wenn auch nicht ethisch – als Mittel bisweilen sogar durch einen Zweck rechtfertigbar sein. Aber diese Rechtfertigungsgrundlage zerbröckelt sofort, wenn die Mittel aufgrund ihres gesellschaftlichen Wirkungskontextes gar nicht in der Lage sind, diesem Zweck zu dienen. Oder schlimmer, wenn sie anderweitige Bemühungen zur Adressierung eben jener Missstände kompromittieren.
In diesem Falle ginge dann auch beim Versuch, durch provozierte Gegenreaktionen über Bande zu spielen, der Ball ins Leere. Repressionen können dann immer noch Protestteilnehmer*innen in ihrem individuellen Engagement bestärken, oder als kollektive Erfahrungen den Gruppenzusammenhalt einer Bewegung festigen. Aber sie zementieren dabei oft auch Grenzziehungen und bewegungsinterne Narrative, die Bewegungs-Outsider kaum noch mitnehmen und eine breitere gesellschaftliche »Rekrutierung« erschweren. Selbst Robin Celikates (2016), der die Notwendigkeit konfrontativer Momente für die Wirkungsweise von zivilem Ungehorsam betont, unterstreicht, dass Proteste nur dann als breitenwirksame Konfrontationen funktionieren, wenn sich seine Teilnehmer*innen der unabdingbaren symbolischen Dimension ihres Handelns bewusst werden – der Tatsache also, dass Protest immer auch eine Inszenierung ist, die eine Bühne braucht und ein Publikum sucht. Die gesellschaftliche Kontroverse um die Besetzung des Theaterhofs der Freien Universität Berlin zeigt, wie wörtlich diese Metapher zu verstehen ist. Am Ende entscheidet das Publikum darüber, wie gut die Show war.2
Unbeabsichtigte Folgen, begrenzte Kontrolle
Grundsätzlich bringen radikale Aktionen immer auch sekundäre Dynamiken mit sich. Hierzu zählt das Ausbrennen einer Bewegung, wenn immer mehr Mitstreitende von Repression oder Diffamierung belastet sind und jene, die selbst nicht betroffen sind, eine immer größere Organisationslast schultern müssen. Zudem binden juristische Auseinandersetzungen um Gesetzesübertritte im Kontext radikaler Aktionen die ohnehin meist knappen Ressourcen. Auch die Rekrutierung neuer Unterstützer*innen, um Abreibungseffekte zu kompensieren, wird durch fortgesetzte Repression erschwert. Darüber hinaus machen jene, die durch disruptive Taktiken eine überzogene Gegenreaktion auslösen, oft die schmerzliche Erfahrung, dass die provozierten Repressionen besser funktionieren als gedacht, indem sie Organisationsstrukturen zerschlagen, Sympathisant*innen abschrecken und langanhaltende Medienbilder bzw. Vorurteile prägen.
Dies erleben Bewegungen in autoritären Kontexten wie Ägypten, wo ein Massaker der Armee gegen islamistische Demonstrierende nicht etwa Solidaritätseffekte erzeugte, sondern den Weg für eine autokratische Restauration ebnete (Grimm 2022). Aber sie erleben es auch in demokratischen Zusammenhängen wie nach dem G20-Gipfel in Hamburg, als die Bilder brennender Barrikaden im Schanzenviertel den öffentlichen Diskurs zu den Gipfelprotesten prägten und damit der Skandalisierung von Polizeigewalt den Wind aus den Segeln nahmen (Malthaner und Teune 2023) – was sich bis heute beispielsweise in der weitgehend unkritischen Berichterstattung über die »Rondenbarg-Prozesse« als Aburteilung politischer Gewalttäter*innen zeigt, anstatt Taktik und Strategie der Polizei kritisch zu befragen.
Schließlich ist auch bewegungsinterne Radikalisierung als ein Effekt von Konfrontationen gut belegt, d.h. eine Hinwendung von Betroffenen zu Einstellungen, die bisherige politische Denk- und Handlungsmuster radikal in Frage stellen und mit den gängigen Erwartungen an das Verhalten von Protestbewegungen brechen. Dies kann durch eine Hinwendung zu physischer Gewaltanwendung geschehen, wie die Genese dutzender bewaffneter Widerstandsbewegungen – nicht zuletzt auch in der deutschen Geschichte – eindrucksvoll belegt. Die Fragmentierung anfangs friedfertiger Bewegungen und die Entstehung von bewaffneten Gruppen infolge staatlicher Repression, etwa während des arabischen Frühlings (Della Porta et al. 2018), zeigen die Herausforderungen für prinzipiell gewaltfreie Bewegungsakteure, solchen Tendenzen effektiv entgegenzuwirken.
Radikalisierung muss sich aber nicht zwingend in der Legitimierung von Gewalt als Mittel des politischen Kampfes äußern. Im Gegenteil kann gerade die Entscheidung, gewaltfrei zu bleiben, viel radikaler sein als der Griff zur Waffe, wie die Forschung zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aufzeigt. In einem Kontext, der geprägt war von gewaltsamer Unterdrückung, Ausbeutung und der klandestinen Gewalt rassistischer Milizen, stellte gerade die Schwarze Friedfertigkeit einen Bruch mit den etablierten Konfliktmodi dar (Pineda 2021). Radikalisierung lässt sich in dieser Perspektive also vor allem als eine gegenhegemoniale Tendenz beschreiben – eine Definition, mit dem sich auch viele gegenwärtige radikale Bewegungen besser fassen lassen als über ihr Verhältnis zu physischer Gewalt. Beliebte journalistische Nachfragen nach dem Radikalisierungspotenzial sozialer Bewegungen – etwa nach der »Klima-RAF« – gehen insofern auch am Ziel vorbei. Denn man müsste antworten: Radikalisierung ja, aber Gewalt nein – radikal gewaltfrei eben.
Fazit: Das transformative Potenzial radikaler Proteste
Gewaltzuschreibungen sind in gesellschaftlichen Debatten schnell bei der Hand, um Protest zu delegitimieren (Grimm et al. 2023). Gleichzeitig benennen theoretische Stichwortgeber*innen, wenn es um die Erfolgschancen radikaler Proteste geht, Gewaltlosigkeit als sine qua non des zivilen Ungehorsams. Vor diesem Hintergrund erfordert ein Nachdenken über Wirkungsbedingungen von Protesten, dass die Mechanismen aufgearbeitet werden, nach denen diese Gewaltzuschreibungen erfolgen – und bewegungsinterne wie innerwissenschaftliche Selbstreflexion darüber, unter welchen Bedingungen diese Zuschreibungen gesellschaftlich unkritisch übernommen werden, um Proteste als »radikal« zu diskreditieren.
Aktionen des zivilen Ungehorsams und die Disruptionen, die sie erzeugen, sind bewusst darauf ausgerichtet, sedimentierte Vorstellungen und Ordnungsmechanismen der Realität zu destabilisieren, durch die soziale Missstände reproduziert werden. Sie zielen darauf ab, ihr Publikum zu treffen, herauszufordern und es mit der Frage zu konfrontieren, was es bereit ist zu tun, um diese Missstände zu adressieren. Die Störung und der Schock-Effekt, den sie erzeugen, sind (meist) nicht die Folge einer schlecht durchdachten Strategie, sondern Teil der Aktion. Ziel ist es, eine als absurd empfundene gesellschaftliche Situation zu beleuchten: Etwa die Tatsache, dass die Proteste für einen Waffenstillstand im Nahen Osten mehr mediales Echo erzeugen als das Leid in Gaza; oder dass unsere Gesellschaft um die Dringlichkeit der Klimakrise weiß, aber keinen massiven politischen Kurswechsel einfordert.
Die Wahrnehmung von direkten Aktionen, radikalem Protest, zivilem Ungehorsam – auch die Wahrnehmung von Sachbeschädigungen (großer und kleiner) und der Übertretung von Grenzen ist stark kontextabhängig. Was als Disruption gelesen und empfunden wird, hängt wesentlich von den Skandalisierungsnarrativen und institutionellen Logiken einer Gesellschaft und ihrer Herrschaftsapparate ab, nicht allein von der Protestpraxis an sich. Es hängt auch davon ab, wie viele Menschen durch diese Aktionen kritisiert werden und wie stark sie mit hegemonialen Meinungs- und Handlungsmustern brechen. Disruptive Proteste, die uns kollektiv in die Verantwortung nehmen oder den Spiegel vorhalten – uns konfrontieren mit unserem individuellen Beitrag zum Klimawandel oder mit den Dissonanzen zwischen der deutschen Staatsräson und dem Bekenntnis zu einer völkerrechtszentrierten Weltordnung – haben es grundsätzlich schwerer als themenspezifische Mobilisierung mit engem Adressat*innenkreis.
Klar ist jedoch, dass gerade diese Formen des Protests eine wichtige demokratische Impulsfunktion ausüben, indem sie die Gesellschaft herausfordern und Themen auf die Agenda setzen, die innerhalb institutionalisierter demokratischer Arenen unzureichend Gehör finden. Dieses transformative Potenzial von radikalem gewaltfreiem Protest gilt es zu erkennen, statt zivilgesellschaftliche Anliegen aufgrund ihrer Form oder Symbolik abzulehnen, ohne sich mit ihren Inhalten auseinanderzusetzen.
Anmerkungen
1) vgl. W&F 4/2011 »Arabellion«
2) Unter diesem Gesichtspunkt passen auch die anfänglichen Aktionen der Letzten Generation, die sogenannten Bildattacken, perfekt in eine Kultureinrichtung: Zu anderen Zeiten hätten man sie möglicherweise sogar als Performance Art gefeiert.
Literatur
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Dr. Jannis Julien Grimm leitet die Forschungsgruppe »Radical Spaces« am Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung (INTERACT) der Freien Universität Berlin.
Zu diesem Artikel bringt unser Partnerpodcast »Fokus Frieden« im Oktober eine Folge. Hier vorab schon in die Podcast-Serie reinhören: www.podcast.de/podcast/1513467/fokus-frieden