Strategische Gewaltfreiheit

Strategische Gewaltfreiheit

Skizze für den Widerstand gegen multinationale Konzerne

von Dalilah Shemia-Goeke

Während strategische gewaltfreie Bewegungen in der Auseinandersetzung mit politischen Akteuren, wie gewählten oder autoritären Regierungen, mittlerweile immer besser erforscht sind, gibt es bislang nur wenige Studien zur Anwendung der Konzepte der strategischen Gewaltfreiheit auf nicht-staatliche, aber nicht minder mächtige Akteure, wie etwa multinationale Unternehmen (eine der wenigen Ausnahmen ist die quantitative Studie von Chenoweth und Olsen (2016)). Wie kann die Macht von Konzernen mithilfe des zivilen Widerstandes eingedämmt und wirksam zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Möglichkeiten lassen sich dazu von der allgemeinen strategischen Logik zivilen Widerstandes ableiten?

Andauernde Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen durch Produktionsprozesse im Allgemeinen zeigen ebenso wie die Übergewinne von Energie- und Waffenkonzernen im Krieg, dass Staaten oft nicht in der Lage oder willens sind, wirksam gegen die zerstörerische Macht globaler Konzerne vorzugehen. Solche Firmen sind nicht zuletzt wegen ihrer gewaltigen Vermögen oft politisch sehr einflussreich und aufgrund dieses Einflusses in vielerlei Hinsicht schwer zu regulieren. Martin Luther King Jr. sagte einst, dass die politische Machtstruktur auf die wirtschaftliche Machtstruktur hört (Garrow 1986, S. 226). Wäre es möglich, die Hegemonen unserer Zeit durch kollektive systematische und strategische Aktionen so unter Druck zu setzen, dass sie ihr Verhalten ändern müssen?

Wenn Menschen sich zusammentun, systematisch koordinieren und strategisch vorgehen, ist es möglich, durch gewaltfreie Mittel gemeinsame Ziele zu erreichen, auch gegen Interessen anderer Akteure, die mehr Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung haben oder stellen können. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts ebneten strategische gewaltfreie Bewegungen den Weg für große Veränderungen, etwa die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, die Ausweitung der Bürger*innenrechte in den Vereinigten Staaten oder die Abschaffung der Apartheid in Südafrika. Ebenso führten sie zum Sturz vieler Militärdiktaturen und autoritärer Regime, wie etwa in den Philippinen (1986), in Indonesien (1998), in Serbien (2000) oder die Farbrevolutionen in ehemaligen Sowjetstaaten. Erfolgreiche Mittel kollektiven Handelns in solchen Bewegungen sind etwa Boykotte, Streiks, ziviler Ungehorsam, friedliche Besetzungen oder Sitzblockaden.

Die strategische Machttheorie zivilen Widerstandes

Auch wenn medial gelegentlich der Eindruck entsteht, bei zivilem Widerstand ginge es nur darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen, beruht die Kraft gewaltfreier Aktionen doch auf einer strategischen Logik, die über die bloße öffentliche Sichtbarkeit hinausgeht. Die von Gandhi geplanten und durchgeführten Massenaktionen zivilen Ungehorsams für die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien etwa basierten auf der Grundidee, dass jede Ausbeutung auf der (freiwilligen oder erzwungenen) Kooperation der Ausgebeuteten beruht (Gandhi 1960, S. 92). Diese Einsicht entwickelte Gene Sharp, ein US-amerikanischer Gesellschaftswissenschaftler, weiter und schlussfolgerte, dass Macht auf Unterstützung und auf der Zusammenarbeit vieler Menschen beruht (Sharp 1973, S. 7ff.). Er typologisierte Methoden gewaltfreier Aktionen in drei Kategorien: (1) den symbolischen Protest und die Öffentlichkeitsarbeit, wie Kundgebungen, Aufklärungsarbeit oder heutzutage (soziale) Medienkampagnen; (2) Nichtkooperation (Streiks und Boykotte) und (3) gewaltfreie Interventionen, wie etwa Straßenblockaden, gewaltfreie Besetzungen etc.

Erica Chenoweth, die aktuell wahrscheinlich weltweit bekannteste Wissenschaftlerin, die diese Methoden und Mittel in ihrer Wirkung systematisch empirisch beforscht hat, hält grundsätzlich fest, dass gewaltfreier Widerstand funktioniert, wenn er in der Lage ist, die Unterstützung für den angeprangerten Status Quo und für den Adressaten des Protestes zu schwächen (Chenoweth 2021, S. 251). Ganz allgemein drückt sich somit Macht also darin aus, ob ein Akteur es schafft, viele Menschen für seine eigenen Ziele zu mobilisieren und sie dazu zu bringen, sei es gewollt oder ungewollt, zu kooperieren. Mit den enormen Anreizen und Androhungen, die (v.a. multinationale) Konzerne auf politischer Ebene wie im Arbeitsmarkt zu ihren Zwecken nutzen, ist es nicht verwunderlich, dass so viele Menschen sie tagtäglich durch ihre Arbeit und ihren Konsum aktiv unterstützen, auch wenn sie sie persönlich eigentlich verwerflich finden.

Laut der Logik gesellschaftlichen Wandels, auf der gewaltfreie Bewegungen basieren, kann die Macht eines Regimes jedoch bröckeln und in sich zusammenfallen, wenn Menschen kollektiv und koordiniert ihre verschiedenen Formen der Unterstützung entziehen. Denn was passiert, wenn Soldat*innen massenweise den Befehlen nicht mehr Folge leisten, wenn Staatsbeamt*innen die Verwaltung des Systems stören oder wenn Arbeitende die Wirtschaft lahmlegen? Die genannten sozialen Gruppen sind nur einige Beispiele der Säulen, auf denen ein Regime basiert. Auf dieser Logik beruhte die Herangehensweise verschiedener sozialer Bewegungen, zum Beispiel die Jugendbewegung Otpor in Serbien. In Bezug auf Konzerne wurde diese Logik bisher meist eher von Gewerkschaften in Form von Streiks als Strategie genutzt und weniger von anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Daher ist diese Denkweise bekannt aus der Gewerkschaftsforschung und der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung.

Die kollektive Arbeitsverweigerung, also der Streik, kann die oftmals nur latente Macht der Arbeitenden zum Vorschein bringen. Zwar sind Arbeitende abhängig von Arbeitgebenden für ihr Beschäftigungsverhältnis und Gehalt; doch auch ein Unternehmen benötigt Menschen, die die anfallende Arbeit ausführen, damit der Konzern Profite einfahren und wachsen kann. Das Machtverhältnis ist folglich interdependent, also auf einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis fußend. Wenn Arbeitnehmer*innen nun kollektiv das zurückhalten, was das Unternehmen benötigt, kann das Machtgefälle zwischen Unternehmen und Arbeitenden wieder zeitweise etwas ins Lot gebracht werden.

Diese Logik kann in Auseinandersetzungen mit Konzernen jedoch von weitaus mehr Gruppen genutzt werden als nur von Angestellten. Denn Unternehmen brauchen Menschen nicht nur, um die anfallenden Arbeiten zu verrichten. Sie benötigen auch Konsument*innen, Investor*innen, Kreditgeber*innen, wohlgesonnene Behörden, Politiker*innen, Journalist*innen, Geschäftspartner*innen, Zulieferbetriebe etc. In all diesen Bereichen besteht viel Störpotenzial durch Nichtkooperation und Interventionen. Beispiele für nicht-gewerkschaftliche kollektive Verweigerungen sind etwa der erste internationale Nestlé-Boykott (1977-1984), der zu einem weltweiten Regulierungskodex auf der Ebene der Weltgesundheitsorganisation führte, oder der Divestment-Arm der Klimabewegung (etwa »Fossil Free«), der öffentliche Institutionen (wie etwa Universitäten, Stadtverwaltungen, Pensionsfonds) dazu bewegt, ihr Vermögen nicht mehr wie bisher in fossile Brennstoffe zu investieren, sondern in nachhaltigere Anleihen. Beides sind Beispiele wirtschaftlicher Nichtkooperation: Während im Boykott individuelle oder institutionelle Konsument*innen ihre Kaufkraft verweigern, verweigern im Divestment Anteilseigner*innen ihre finanziellen Ressourcen. Leider wird das Potenzial trotz der historischen Beispiele, in denen ein solcher Ansatz erfolgreich umgesetzt wurde, in den meisten klassischen Kampagnen-Ansätzen gegen Unternehmen nicht ausgeschöpft. Die internationale Kampagne mit Sanktionen, Divestment und Boykott von Unternehmen in Südafrika etwa trug maßgeblich zum Ende der Apartheid bei. Was wäre heute möglich, wenn eine auf diese Weise koordinierte Kampagne Unternehmen fossiler Brennstoffe oder die Waffenindustrie in ihren Fokus nehmen würde?

Skizzen für die Strategieentwicklung

Eine Schwäche klassischer Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen ist, dass der erzeugte Druck oft rein symbolisch bleibt, ohne spezifische, glaubhafte nächste Schritte wie etwa die Ankündigung finanzieller oder materieller Sanktionen, falls Forderungen nicht erfüllt werden. Zudem zielen viele Öffentlichkeitskampagnen lediglich auf das Image der Firma ab. Ein Beispiel ist hier etwa die Kampagne »Play Fair at the Olympics«, mit der fast ein Jahrzehnt (2003-2012) versucht wurde, bei den Olympischen Spielen auf die Arbeitsbedingungen in den Zulieferketten der Sportbekleidungsmarken hinzuweisen. Bis auf vereinzelte, lokal begrenzte Pilotprojekte konnte sie jedoch keine nennenswerten Ergebnisse auf internationaler Ebene vorweisen.

Wenn der Profit einer Firma nicht von ihrem guten Ruf abhängt, wie es etwa bei weniger bekannten Bekleidungsfirmen, unbekannten Zulieferern oder auch bei der Waffenindustrie der Fall ist, dann ist ein Image-Schaden keine Achillesferse, weshalb die Unternehmensführung es sich leisten kann, relativ gleichgültig zu reagieren. Aber auch wenn nicht bei allen Konzernen das Geschäftsmodell gleichermaßen auf ihrer Reputation basiert, braucht jede Firma dennoch stets verschiedene Formen der Unterstützung durch Menschen und sei es nur in Form praktischer Zusammenarbeit. Dies ist symptomatisch für den Großteil der Ansätze von Nichtregierungsorganisationen: Es geht viel um symbolischen Druck und Aufmerksamkeit, jedoch wird die Unterstützungsbasis der kritisierten Konzerne nicht untergraben und auch sonst stellen sie nur eine minimale Herausforderung dar.

Die Theorie des Wandels des zivilen Widerstandes mit ihrer Machtlogik kann für die Strategieplanung helfen zu verstehen, warum das so ist, und ein erweitertes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Neben den symbolischen Protestformen klassischer NGO-Kampagnen und den gewaltfreien Interventionen, wie Blockaden und Besetzungen, die oft mit zivilem Widerstand assoziiert werden, gibt es eben noch Methoden der kollektiven Verweigerung. Diese Sammelkategorie zielt von den drei genannten am direktesten auf eine Verschiebung des zugrundeliegenden Machtverhältnisses ab. Die Unterstützungbasis, auf der sie fußt, soll durch die Nicht-Kooperation ausgehöhlt werden. Vielleicht ist es an der Zeit, kreativ zu werden und das Repertoire der kollektiven Verweigerung zu erweitern. Zu welcher Form der Nichtkooperation wären heutzutage möglichst viele Menschen bereit, um Energiekonzernen und Waffenindustrie Einhalt zu gebieten?

Literatur

Chenoweth, E. (2021). Civil resistance: What everyone needs to know. Oxford: Oxford University Press.

Chenoweth, E.; Olsen, T. D. (2016): Civil resistance and corporate behavior. Research and Innovation Grants Working Papers Series, August 2016. Denver: Institute for International Education.

Gandhi, M. K. (1960): Selections from Gandhi: Encyclopedia of Gandhi’s thoughts. Ahmedabad Navajivan Mudranalaya.

Garrow, D. J. (1986): Bearing the cross: Martin Luther King, Jr., and the Southern Christian Leadership Conference. New York: Vintage.

Sharp, G. (1973): The politics of nonviolent action. Boston: Porter Sargent.

Dr. Dalilah Shemia-Goeke hat kürzlich erfolgreich ihre Promotion zum Thema des Artikels bei Prof. Dr. Brian Martin abgeschlossen (University of Wollongong) und wohnt im Wendland.

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Dogma oder Handlungsmaxime?

von Renate Wanie

In den vorigen zwei Ausgaben von W&F entspann sich eine Debatte zwischen Vordenkern der Gewaltfreiheit über die Begriffe »Gewaltfreiheit« und «Gütekraft«. Sie verknüpften ihre Argumente mit der Frage, welcher Begriff das Konzept am besten transportiere und die Debatte um Gewalt und Gewaltfreiheit voranbringe. Die Autorin des vorliegenden Beitrags befasst sich nicht mit Begriffen sondern mit der Praxis, konkret: mit der Berücksichtigung – oder eben auch bewussten Nichtberücksichtigung – des Konzepts Gewaltfreiheit und seiner Ausprägungen in Aktionskonsensen aktueller Massenproteste. Sie verknüpft dies mit einem Plädoyer für das Konzept der Gewaltfreien Aktion.

Weltweit fanden in den letzten Jahren unter großer Medienaufmerksamkeit Massenproteste in Form der gewaltlosen Besetzung zentraler öffentlicher Plätze statt. Während der Revolution in Ägypten im Jahr 2011 setzten die Akteure dabei Formen der Gewaltfreien Aktion ein, wie Menschenketten in Alexandria, Sitzblockaden auf dem Tahrir-Platz oder Sternmärsche in Kairo. Auch die 2011 entstandene kapitalismuskritische Bewegung »Occupy«, an der sich zumeist junge AktivistInnen beteiligen, versteht sich als basisdemokratisch und gewaltfrei.

In Deutschland sprachen und sprechen sich ebenfalls viele Aktionskonsense eindeutig für Gewaltfreiheit aus: »Resist the war« (gegen den Irakkrieg 2003), »Gen-Dreck weg! « (Initiative gegen genmanipulierte Feldfrüchte), »x-tausendmal quer« (Blockaden gegen Castor-Transporte), »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21« (Widerstand gegen das Bahnprojekt »S 21«) oder Netzwerk ZUGABe (Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion, Bewegung«). Das internationale Bündnis »NATO ZU« berief sich 2009 in Straßburg für seine Aktionen explizit auf das Konzept der Gewaltfreien Aktion. Dies galt auch für die musikalische Baggerblockade »Andante an der Kante« der Musik- und Aktionsgruppe »Lebenslaute« am rheinischen Braunkohlebergbau im August 2015.

Zu einer Verschiebung in Richtung eines nur taktischen Ansatzes bei der Planung von Aktionen in den sozialen Bewegungen kam es jedoch im Rahmen der Aktionsvorbereitungen vor dem Weltwirtschaftsgipfel der G8-Staaten in Heiligendamm 2007. Dazu zwei Thesen:

  • Die seit Heiligendamm verbreitete Anwendung des Begriffs »Ziviler Ungehorsam« als taktischen Ansatz reduziert das Konzept des zivilen Ungehorsams, das auf den Aufsatz »Resistance to Civil Government« von Henry David Thoreau (1849) zurückgeht, auf eine bloße Aktionsform. Das gesellschaftsverändernde Potenzial des Konzepts, wie es in den Theorien des Zivilen Ungehorsams entwickelt wurde, wird im taktischen Ansatz nicht genutzt, ja sogar unterlaufen.
  • Seit Heiligendamm ist es gängig geworden, auf Gewaltfreiheit als Teil des Aktionskonsenses zu verzichten. So hilfreich es auf den ersten Blick erscheint, mit der Absage an die Gewaltfreiheit möglicherweise größere Bündnisse schließen zu können, so problematisch ist es, wenn zugleich die komplexen Möglichkeiten sozialer Lernprozesse, wie sie mit gewaltfrei agierenden sozialen Bewegungen verbunden sind, nicht mehr thematisiert werden. Die Orientierung auf eine gewaltfreie Veränderung von Gesellschaft geht verloren, wenn z.B. die Eskalationsstufen Gewaltfreier Aktion nach Theodor Ebert (ders. 1968) ausgeschlossen werden.

Der neue Geist einer Protestkultur

In ihrer Auswertung der Proteste gegen den G8-Gipfel erklärten die Trainer und Aktivisten Marc Amann und Jonas (der Nachname ist nicht bekannt), das für den Widerstand gegründete TrainerInnen-Netzwerk »Trainings for G8« wolle zukünftig ohne »Dogmatismus« Aktionsunterstützung und Trainings anbieten. Als Beweggrund wurde genannt, dass es „innerhalb des (post-) autonomen Spektrums wenig bis keine Erfahrungen mit Aktionstrainings gab oder sogar eine große Ablehnung, u.a. weil sie mit Gewaltfreiheits-Dogmatismus verbunden wurden“. Für die postautonomen AktivistInnen stand jedoch fest, „dass für erfolgreiche Blockaden des G8-Gipfels in Heiligendamm Aktionstrainings unerlässlich sein würden“. Bis dahin seien „Aktionstrainings für Personen und Gruppen [nur, R.W] aus dem gewaltfreien Spektrum seit den 1980er Jahren ein fester Bestandteil von Aktionen und Kampagnen des Zivilem Ungehorsams“ gewesen (Marc Amann und Jonas 2008, S.62).

In den Aufrufen zu den G8-Protesten wurde die Vielfalt der Bewegungszusammenhänge, die spektrenübergreifende Mischung der Kampagne »Block G8« betont. Als Träger der Aktion wurden linke und globalisierungskritische Gruppen, Gewerkschaften und gewaltfreie Aktions- und kirchliche Gruppen aufgezählt. Ein Jahr später hieß es dann in der Gründungserklärung des TrainerInnen-Netzwerkes »skills for action«: „Ob schwarz oder bunt, wir lieben die Grau-Zonen […] Eine undogmatische Haltung zu Zivilem Ungehorsam, der Versuch über Gräben zu springen und die Zeichen der Zeit zu erkennen, das ist die Klammer, die uns verbindet.“ (Marc Amann und Jonas 2008, S.63) Eine explizite Aussage zur Gewaltfreiheit wurde abgelehnt, denn „die Kampagne Block G8 [ist] gerade der Beleg dafür, wie viel Kreativität und Entschlossenheit freigesetzt werden können, wenn die lähmenden Debatten um Gewalt und Gewaltfreiheit beiseite geschoben werden und AktivistInnen aus verschiedenen Spektren anfangen, praktisch zusammenzuarbeiten“ (Christoph Kleine 2008, S.40).

So haben sich in der Folge von Heiligendamm seit 2007 die Vorbereitung und Durchführung von Massen- oder Großaktionen verändert: Der Bezug auf Gewaltfreiheit fehlt seitdem häufig in Bündnissen der traditionellen Friedensbewegung mit Gruppen aus der Antikriegsbewegung, z.B. der »Interventionistischen Linken« (IL). Gewaltfreiheit wird als ideologisch aufgeladen problematisiert und nicht mehr in Bündnisaufrufe aufgenommen. Aktionen Zivilen Ungehorsams werden rein taktisch eingesetzt und legitimiert „als berechtigter Regelbruch“ (Martin Kaul 2012).

Gängige Aktionskonsense

Das Ziel vieler Aktionskonsense seit 2007 ist eine Bündnispolitik in einem möglichst breiten Spektrum – von der gewaltfreien Friedensbewegung bis hin zu linksradikalen Gruppierungen. Ein Vergleich mehrerer Aktionskonsense, z.B. »Block G8« 2007, der Proteste gegen die Petersberg-II-Konferenz in Bonn 2011, »Castor? Schottern!« 2010, »Dresden Nazifrei« 2011 und »Ende Gelände! Kohlebagger stoppen, Klima schützen« im rheinischen Braunkohlerevier im August 2015 macht die wesentlichen Aspekte deutlich:

  • Für wichtig erachtet wird neben der Vielfalt und Entschlossenheit „die Vermeidung von offensiven Bekenntnissen in der »Gewaltfrage«“ (Erklärung der Kampagne »Block 8« in Christoph Kleine 2008, S.6).
  • Für die Akzeptanz des Konzeptes von »Block G8« beispielsweise war es „zudem entscheidend, ein bewusst und betont solidarisches Verhältnis auch zu anderen Blockadekonzepten, wie [sie] etwa Materialblockaden oder aktive Gegenwehr gegen Polizeiangriffe beinhalteten, zu pflegen“ (Christoph Kleine 2008, S.40). Es wird keine öffentliche Kritik an gewaltvollen Aktionen anderer Gruppen formuliert.
  • Aktuell sei hier der Aktionskonsens von »Ende Gelände!« 2015 genannt: „Wir werden mit unseren Körpern blockieren, wir werden dabei keine Infrastruktur beschädigen. Die Sicherheit der Aktivist_innen sowie die der Arbeiter_innen hat oberste Priorität.“ (ende-gelände.org) Von Gewaltfreiheit ist hier nicht die Rede.

Tendenzen bei Aktionstrainings

Allein der Wunsch, gewaltfrei handeln zu wollen, reicht nicht aus. Gewaltfreies Handeln will geübt sein (Renate Wanie 2012b). Seit den 1970er/80er Jahren werden unterschiedliche Formen gewaltfreier Trainings praktiziert und traditionelle Aktionstrainings verändert. Zur Zeit sind Kurztrainings zur Vorbereitung von Massenblockaden, Stunden- und Tagestrainings, Aktionstrainings ohne konkrete Aktionsplanung (z.B. im S-21-Widerstand), (kurze) Train-the-Trainers-Ausbildungen gefragt. Eingeübt werden vor allem Sitzblockaden und das »Sich-Wegtragen-Lassen«, zunehmend das »Durchfließen« von Polizeiketten.

Im postautonomen Spektrum wendete sich nach den Erfahrungen mit dem Massenprotest in Heiligendamm die anfängliche Ablehnung von Aktionstrainings in die Erkenntnis, „[k]ollektive Handlungsfähigkeit wird sich nicht von alleine verbreiten oder nur theoretisch herbeireden lassen. […] Die G8-Mobilisierung hat gezeigt, wie wertvoll Aktionstrainings sind. In Zukunft wird es darauf ankommen, Aktionstrainings verstärkt auszubauen und auf unterschiedliche Situationen anzuwenden.“ (Amann 2008, S.63) Mit der Gründung des Trainingskollektivs »skills for action« wurde dieses Ziel umgesetzt. Im Unterschied zu den traditionellen Trainings in Gewaltfreier Aktion stehen Einheiten zur Auseinandersetzung mit und Einübung von aktiver Gewaltfreiheit, wie z.B. die Dialogbereitschaft mit dem politischen Gegner, nicht mehr auf dem Programm.

Gewaltfreiheit – harmlos, spaltend?

Im postautonomen Spektrum ist der Vorwurf verbreitet, mit der Kritik an der »Gewalt aus den eigenen Reihen« und dem Insistieren auf Gewaltfreiheit würde die Spaltung der Bewegung betrieben. Dem ist entgegenzuhalten, dass Steinewerfen die Friedens- und Antikriegsbewegung spaltet, ihre Glaubwürdigkeit untergräbt und Provokateuren der Polizei den Boden für ihr friedloses Handwerk bereitet – wie es in Straßburg 2009 geschah (Renate Wanie 2011).

Durch einen gewalttätigen, spektakulären Schlagabtausch wird Gewalt in der öffentlichen Berichterstattung zum dominanten Thema, verdeckt das eigentliche politische Anliegen und verschreckt die Bevölkerung anstatt sie zu gewinnen. Die Anwendung von Gewalt trägt überdies autoritären Charakter, denn der eigene Standpunkt wird verabsolutiert. Soziale Lernprozesse bei den AktivistInnen und in der Gesellschaft werden blockiert.

Was also soll man tun – breite Bündnisse anstreben, um beim Massenprotest im »solidarischen Miteinander« der herrschenden Politik zu widerstehen, oder in zwei räumlich getrennten Protestgruppen auftreten, die eine in einer dezidiert gewaltfreien und die andere in einer taktisch konzipierten Aktion?

Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktion

Nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm konstatierte Christoph Kleine, bei künftigen Aktionen sollte es nicht um die radikalste aller Aktionsformen gehen, sondern um diejenige, „die am besten geeignet ist, mit vielen Menschen gemeinsam einen bewussten Schritt vom Protest zum Widerstand zu gehen“. Dazu gehörten kollektive Selbstermächtigung und der „berechtigte Regelübertritt“ durch Zivilen Ungehorsam, z.B. mit Sitzblockaden. Darin spiegele sich, „dass der Kapitalismus nicht im Rahmen der Spielregeln des bürgerlichen Staates“ zu überwinden sei, sondern nur durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht. Diese theoretische Erkenntnis verfestige sich in der Praxis „in der gemeinsamen, grenzüberschreitenden Aktion“ (Kleine 2008, S.40).

Doch kann mit spektakulären Einzelaktionen alleine überhaupt gesellschaftliche Veränderung erreicht werden? Bekommt der Zivile Ungehorsam ohne Einbindung in ein Konzept bzw. eine Kampagne nicht einen inflationären und damit beliebigen Charakter? Taktische, möglichst radikale Aktionsformen, wie der »legitime Regelbruch« der Massenblockade, führen selbst wiederholt eingesetzt nicht unmittelbar zu sozialer oder gesellschaftlicher Veränderung. Ziviler Ungehorsam ist vielmehr nach gewaltfreiem Verständnis gerade dann legitim und wirksam, wenn zur Abwendung des Unrechts bereits eine Vielzahl eskalierender Aktionsformen angewendet worden sind.

Gewaltfreie AktivistInnen greifen aktiv in gesellschaftliche Konflikte ein. Dass sie auf Gewalt verzichten, bedeutet keineswegs, dass sie keine Macht- bzw. Druckmittel einsetzen. Sie artikulieren nicht nur Protest, sondern greifen kämpferisch und direkt ins bestehende gesellschaftliche System ein. Beispielsweise können gut vorbereitete Boykotts starke Mittel sein, um legitime menschenrechtliche oder ökologische Interessen durchzusetzen. Ein Beispiel war der Umsatzrückgang bei der Ölfirma Shell nach Boykottaufrufen, die sich 1995 gegen die Versenkung der Ölplattform »Brent Spar« richteten.

Im Unterschied zum taktischen Verständnis von Zivilem Ungehorsam bietet das Konzept der Gewaltfreien Aktion eine deutlich breite Palette sozialen Drucks an. Der Konflikt- und Friedensforscher Theodor Ebert unterscheidet Formen Gewaltfreier Aktion, auf drei verschiedenen Eskalationsstufen – je nach Analyse der politischen Situation, der Zielsetzung und der zu erwartenden Wirkungsweise. Demonstrationen z.B. liegen als Protestform auf der untersten Eskalationsstufe, Boykotts – eine Form legaler Nichtzusammenarbeit – auf der zweiten und Blockaden auf der höchsten. So bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten, dem politischen Gegner öffentlich die Legitimation für sein Handeln zu entziehen und Druck aufzubauen. Gewaltfreie Aktionen beinhalten zugleich immer auch einen konstruktiven Gegenentwurf zum kritisierten gesellschaftlichen Zustand. „Gewaltfreie Aktionen sollten zugleich Lernfelder für weitergehende Gesellschaftsveränderung sein.“ (Wolfgang Hertle 2011)

Die Beweggründe zur Teilnahme an einer Gewaltfreien Aktion sind unterschiedlich, sie bewegen sich zwischen gewaltfrei-anarchistisch, religiös, humanistisch und pragmatisch. Es geht darum, die gewaltfreie Philosophie klar und durchaus überzeugend zu vermitteln, jedoch ohne Dogmatismus. Im Zentrum steht dabei nicht die Frage nach der Gewalt, sondern wie gesellschaftliche Veränderung wirksam wird. Gewaltfreiheit ist gleichzeitig politische Strategie und Handlungsmaxime in politischen Auseinandersetzungen.

Literaturverzeichnis

Marc Amann und Jonas (2008): Aktionstrainings – Selbstermächtigung durch Üben. In: Christoph Kleine (Hrsg.): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i.Br.: Waldkircher Verlagsgesellschaft, S.37.

Wolfgang Hertle (2011): Stärke durch Vielfalt – Einheit durch Klarheit. Rückblick auf Zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand in Deutschland und Frankreich seit den 1970er Jahren und Schlussfolgerungen für die Zukunft. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.266.

Kampagne Block G8 (Hrsg.) (2008): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Martin Kaul: „Trittbrettfahrer!“ – „Formfetischisten!“. Streitgespräch Ziviler Ungehorsam mit Tadzio Müller und Felix Kolb. tageszeitung, 26.1.2012, S.3.

Christoph Kleine (2008): Jenseits der Gewaltdebatte. In: Kampagne Block G9, op.cit., S.40.

Skills for Action – Netzwerk bewegungsorientierter Aktions-TrainerInnen: Über uns. skills-for-action.org.

Henry Thoreau (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich: Diogenes.

Renate Wanie (2011): Neun Thesen für die Weiterarbeit nach Straßburg. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.254.

Renate Wanie (2012a): Ein »neuer Geist in der Protestkultur« und sein Verhältnis zur Gewaltfreien Aktion. In: Christine Schweitzer (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktionen in den Bewegungen. Berlin: AphorismA, S.14-22.

Renate Wanie (2012b): Gewaltfreie Aktion – ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse verändern. Zur Grundlage und Vorbereitung Gewaltfreier Aktion, nicht nur in Ägypten. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden- und Konfliktlösung (Hrsg.): Zeitenwende im arabischen Raum. Welche Antwort findet Europa? S.39.

Renate Wanie ist freie Mitarbeiterin in der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden«, Bildungsreferentin und Trainerin für Gewaltfreie Aktion, Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung und Co-Sprecherin der Kooperation für den Frieden.