Radikal gewaltfrei

Radikal gewaltfrei

Zu den Wirkungsbedingungen disruptiver Proteste

von Jannis J. Grimm

Bewegungen weltweit wenden unterschiedliche Ausprägungen von zivilem Ungehorsam an, die zum Teil mit hegemonialen Formverständnissen von Protest brechen und ein radikales Element bergen. Gleichzeitig ist die Bewertung dieser Proteste geformt von liberalen Lesarten historischer Vorbilder. Radikaler und disruptiver Protest wird dadurch oft als Gegenpol zu gewaltfreiem und demokratischem Protest missverstanden. Doch eine historische Bestandsaufnahme zeigt, dass diese Unterscheidung weder zutreffend ist, noch geeignet, um über die Legitimität von zivilen Widerstandskämpfen zu entscheiden. Für die gesellschaftliche Wirksamkeit von Protest kann sie allerdings dramatische Auswirkungen haben.

Protest sieht nicht überall gleich aus und wirkt auch nicht überall auf dieselbe Art und Weise. Was in einem anderen Kontext als gewaltfreier Massenwiderstand gefeiert wird, würde hierzulande häufig als extrem disruptiv oder sogar gewaltsam und deshalb als illegitim verstanden. Hierfür liefern Volksaufstände wie 2022/23 im Iran oder 2010/11 in der arabischen Welt1 gute Beispiele, welche zwar überwiegend von friedlichem Protest bestimmt waren, jedoch allesamt auch mit teils sehr gewaltsamen Aktionen einhergingen – von Straßenschlachten, über Brandanschläge auf Regierungsgebäude und Polizeistationen, bis hin zu bewaffneter Gegenwehr. Der Zweck heiligt diese Mittel, mag man nun argumentieren und auf den autoritären Regimekontext verweisen, innerhalb dessen diese Proteste stattfanden und den selbige zu beseitigen suchten. Doch wenn dem so wäre, woher käme dann die Entrüstung über die »Klimakleber«, die mit deutlich weniger konfrontativen Mitteln im Grunde ja nur auf eines der größten Probleme unserer Zeit aufmerksam machen? Oder über die Proteste in Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung, welche sich mit überwiegend friedlichen Mitteln vor allem gegen eine seit Jahrzehnten fortbestehende Besatzungssituation richten und auf eine konsequente Anwendung des Völkerrechts pochen?

Prämissen des gewaltfreien Widerstands

Die unterschiedliche Wahrnehmung von sozialer Mobilisierung weltweit konfrontiert Aktivist*innen wie Protestforscher*innen mit der Frage, unter welchen Bedingungen disruptiver Protest – also Spielarten des zivilen Widerstands, welche mit Erwartungshaltungen an die Form von Protesten brechen und bei denen durch bewusste Störungen der öffentlichen Ordnung oder Unterbrechung alltäglicher Abläufe auf Anliegen aufmerksam gemacht werden soll – die Ziele sozialer Bewegungen befördert. Welches Verhältnis besteht also zwischen Disruption, Gewalt(-freiheit), Radikalität und sozialem Wandel? Ist Protest, um wirksam zu sein, auf maximale Irritations- und Störwirkung angewiesen, oder wird sein Potenzial hierdurch mitunter begrenzt? Ab wann werden zivilgesellschaftliche Akteure und ihre direkten Aktionen als zu radikal oder sogar als gewaltsam wahrgenommen und dadurch Mobilisierungspotenziale begrenzt?

Die medialen Kontroversen um die »Letzte Generation« und die Solidaritätsproteste mit Palästina haben diese Fragen hierzulande ins Zentrum der sozialen Bewegungsforschung gerückt. Sie bilden einen guten Ausgangspunkt, um die im Kontext historischer Massenbewegungen entwickelten Theorien des zivilen Widerstands und ihre Prämissen mit Blick auf Proteste der Gegenwart kritisch zu beleuchten.

Wie wenig andere Bewegungen stützte sich die Letzte Generation zur Legitimation ihrer Taktiken ganz explizit auf Theorien des zivilen Ungehorsams, und auch eine Reihe von Palästina-Solidaritätsgruppen zitieren die Arbeiten historischer Vordenker*innen des zivilen Widerstands, darunter vor allem Gene Sharp, Brian Martin und Erica Chenoweth. Ersterer inspirierte vor allem den Begriff des „politischen Jiu-Jitsu“ (Sharp 1973), der als grundlegender Wirkungsmechanismus zivilen Widerstands angenommen wird. Die Idee: Wenn es gelingt, durch gewaltfreie kollektive Aktionen überzogene Gegenreaktionen zu provozieren, ohne dass diese überzeugend legitimiert werden, dann schwächt dies die moralische Autorität derjenigen, die Repression ausüben. Wie beim Jiu-Jitsu nutzt man also die Energie des politischen Gegners für sich. Der moralische Schock, den die Öffentlichkeit über unverhältnismäßige Gewaltanwendung empfindet, so die Annahme, wird zum Mobilisierungsmechanismus.

Brian Martin (2007) prägte hierfür den Begriff des „backfire“, das heißt: Repression geht nach hinten los, erzeugt das Gegenteil des intendierten Effekts. Den empirisch belastbarsten Beleg für den von Sharp und Martin postulierten Wirkungszusammenhang lieferten schließlich Erica Chenoweth und Maria Stephan (2011). Mit ihrem NAVCO-Datensatz zu den Erfolgsbedingungen gewaltfreier und gewaltsamer Mobilisierungskampagnen im letzten Jahrhundert legten sie den Grundstein für das damals kontraintuitive, heute aber kaum noch hinterfragte Dogma von der Überlegenheit friedfertigen Protests gegenüber bewaffnetem Widerstand. Zwar hat diese Annahme in den jüngsten Jahren Kritik erfahren (Onken et al. 2021, für eine kritische Bestandsaufnahme unterschiedlicher Datenbanken zu quantitativer Bewegungsforschung siehe auch Nennstiel in dieser Ausgabe, S. 12) und ist jenseits von Volksaufständen in autoritären Kontexten nur schwach belegt, doch prägt sie weiterhin das Kalkül von Protestakteuren weltweit, die durch zivilen Ungehorsam gesellschaftlichen Wandel anstoßen wollen.

Aufmerksamkeit: Zur Notwendigkeit von Disruption

Die Arbeiten von Chenoweth und ihren Vorreiter*innen stellten eindrucksvoll frühere Paradigmen von der Effizienz bewaffneter Aufstandsbewegungen auf den Kopf: Historisch gesehen weisen gewaltfreie Kampagnen gegenüber gemischten und gewalttätigen eine annähernd doppelt so hohe Erfolgsrate auf, indem sie Loyalitätsbrüche innerhalb des Establishments erzeugen und die Kosten von Repression in die Höhe treiben. Dass diese Mechanismen auch bei kleineren sozialen Bewegungen greifen, setzt indes zumindest eine Grundbedingung voraus: Sie müssen überhaupt erst einmal als relevant wahrgenommen werden. Massenproteste erzeugen allein aufgrund ihrer hohen Beteiligung und ihres Medienechos zumeist ein gewisses Ausmaß an Disruption. Vor diesem Hintergrund liegt für Chenoweth und Co. auch der Schluss nahe, dass soziale Bewegungen alle Praktiken, die als gewaltsam interpretiert werden könnten, besser unterlassen sollten, um ihren Erfolg nicht zu gefährden. Demgegenüber haben es kollektive Aktionen unterhalb der Schwelle von Massenprotest deutlich schwerer, Aufmerksamkeit zu erzeugen. Sie sind daher, ganz im Gegenteil, gerade auf Disruption angewiesen, um überhaupt eine Reaktion zu erzeugen.

Ebenso ist Chenoweths These, dass auch „radikale Flanken“ (Haines 2013) von Bewegungen ihren Protest gemäß den gesellschaftlichen Bedingungen für die Akzeptanz von Protest gestalten müssten, für solche kleineren Protestformen nur schwer haltbar – gerade, wenn man bedenkt, dass soziale Bewegungen den Diskurs über die Grenzen legitimen Widerstands mitprägen und durch ihr Handeln immer wieder neu formen, wie nicht zuletzt auch die historischen Vorreiter des zivilen Widerstands zeigen. Protestierende müssen hierfür dahin gehen, wo es einer Gesellschaft »weh tut« – und setzen sich damit auch dem Risiko aus, als gewaltsam empfunden zu werden.

Dies ist die Logik von zivilem Ungehorsam und radikalem Protest. Bürger*innen nehmen hier in Abgrenzung zu anderen Formen des Protests den Bruch von Gesetzen in Kauf, was eine höhere Risikobereitschaft voraussetzt. Dies geschieht meist in Form von direkter Aktion – also Maßnahmen wie Besetzungen, Boykotte, Nichterfüllung oder Sabotage, die darauf abzielen, durch direkt zugefügte Kosten unmittelbaren politischen Einfluss auf Gegenspieler*innen oder die breitere Gesellschaft zu nehmen. Ein Mindestmaß an Disruption ist dabei essenziell, vor allem bei themenspezifischen Protesten. Nur so verhindern Protestierende, schlichtweg ignoriert zu werden. Robin Celikates zufolge hängt die Wirkung gerade von zivilem Ungehorsam in entscheidendem Maße davon ab, wie effektiv das Konfrontationsmoment ist, das er erzeugt. Protest „kann nur dann als symbolischer Protest funktionieren, wenn er Momente der realen Konfrontation beinhaltet, Praktiken wie Blockaden und Besetzungen, die manchmal auch Gewaltelemente enthalten“ (Celikates 2016, S. 43).

Eine solche Verquickung von Disruption und zivilem Ungehorsam als einem zentralen Pfeiler demokratischer Praxis mag zunächst überraschen, läuft sie doch der allgemeinen Debatte zuwider, die vor allem vor der normativen Schablone liberaler Demokratievorstellungen geführt wird. Darin wird legitimer Protest zumeist auf legale und angemeldete Demonstrationen im Rahmen des geltenden Versammlungsrechts reduziert, oder aber in Anlehnung an liberale Auffassungen von zivilem Ungehorsam auf einen symbolischen Regelbruch mit appellativem Charakter an eine demokratische Mehrheitsgesellschaft. Doch wird diese gängige Sichtweise des zivilen Ungehorsams, welche über konfrontative Taktiken hinwegblendet, der empirischen Wirklichkeit nicht gerecht. Disruption bis hin zu Sachbeschädigung und Blockaden sind seit je her ein wesentlicher Bestandteil des zivilen Widerstands, etwa der indischen Freiheitsbewegung um Gandhi, der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King Jr. und der Suffragetten, kommen aber auch in gegenwärtigen Bewegungen wie »Occupy«, »Black Lives Matter« oder auch »Extinction Rebellion« und »Letzte Generation « in unterschiedlicher Ausprägung vor.

Candice Delmas plädiert vor diesem Hintergrund ganz explizit dafür, nicht nur »zivile« Protestformen als legitim wahrzunehmen, sondern auch »unzivile«, einschließlich Sabotage, der Zerstörung von Eigentum, der Anwendung von Gewalt zur Selbstverteidigung, verdeckter Guerilla-Aktionen, oder ungeplanter kollektiver Mobilisierungsformen wie Riots (Delmas 2018). Sie stellt die problematische Vorstellung von der Neutralität des Status quo und die Fehlannahme, es gäbe doch immer andere, zivilere und weniger disruptive Wege, Dissens auszudrücken, in den Mittelpunkt ihrer theoretischen Legitimation von zivilem Ungehorsam. Viele von Gewalt Betroffene, so Delmas, verfügten de facto über gar kein anderes Mittel, um auf soziale Missstände hinzuweisen – und schon gar nicht über effektivere. Eine prinzipielle Delegitimierung ihres Widerstands gelte es daher abzulehnen. Vielmehr sei für Bewegungen des zivilen Ungehorsams vor allem charakteristisch, dass es ihnen nicht nur darum gehe, ein bestehendes System der Ungerechtigkeit zu reformieren, sondern es grundlegend umzuwälzen. Ihre prinzipielle Ablehnung von Gewalt stellt dabei nicht etwa nur einen moralischen Appell an das Gewissen der schweigenden Mehrheit dar. Vielmehr setzen Bürgerrechtsaktivist*innen einem als gewaltsam und unmoralisch empfundenen System eine höhere eigene Moral entgegen.

Die jüngere kritische Forschung stellt vor diesem Hintergrund vor allem den antikolonialen Charakter von zivilen Widerstandsbewegungen heraus (Pineda 2022; Souza dos Santos 2024; Chabot und Vint­hagen 2015). Sie wirft dabei eine alternative Sichtweise auf: Ziviler Ungehorsam wird hier gefasst als eine transnationale und weltbildende Aktivität, die immer schon globale koloniale oder neokoloniale Herrschaftsstrukturen adressierte. So verstanden wird die binäre Unterscheidung zwischen Protest in demokratischen und nicht-demokratischen Staaten in Frage gestellt, die von liberalen Theorien des zivilen Ungehorsams vorangetrieben wird (Çıdam et al. 2020) – und damit die grundlegende Annahme, dass in diesen unterschiedlichen Regimekontexten eben auch unterschiedliche Formen des Widerstands legitim sind.

Diese alternative Konzeptualisierung des zivilen Ungehorsams erlaubt uns insbesondere, ungehorsame Praktiken in den Blick zu nehmen, die in demokratischen Gesellschaften stattfinden, ihren moralischen Appell aber nicht an diese Gesellschaften, sondern an eine transnationale Gemeinschaft richten – etwa militante anarchistische Netzwerke gegen Grenzen, Solidaritätsbewegungen mit staatenlosen Völkern oder internationale Boykottbewegungen. Darüber hinaus schließt sie auch disruptive Protestpraktiken außerhalb liberaldemokratischer Regime ein, die an eine lokale oder globale moralische Resonanzstruktur appellieren – von feministischem und queerem Aktivismus im Kontext patriarchaler Gesellschaften, über transnationale kurdische »Survivance«-Praktiken (Burç et al. 2022), bis hin zum illegalen Pflücken traditioneller Kräuter durch palästinensische Frauen als einer alltäglichen Widerstandshandlung gegen die israelische Besatzung (Manna 2022).

Verzicht auf Gewalt allein reicht nicht

Disruption ist also nicht nur rechtfertigbar, sondern essenziell. Gleichzeitig bildet Gewaltlosigkeit aber eine Voraussetzung für die von Sharp und Martin thematisieren Wirkungsmechanismen zivilen Ungehorsams – ein Dilemma? Nicht unbedingt. Denn vor diesem Hintergrund sind die Trainings in Deeskalation und Aggressionskontrolle zu verstehen, denen sich Bewegungen des zivilen Widerstands seit Generationen bewusst unterziehen. Ungehorsame sollen dadurch befähigt werden, entwürdigende Behandlung und im Zweifel auch physische Leiderfahrung zu ertragen. Denn Gegengewalt riskiert, den politischen Kampf direkt auf ein Spielfeld zu tragen, auf dem repressive Akteur*innen meist besser aufgestellt sind und über ein Monopol auf legitime Gewaltanwendung verfügen. Überdies verlieren zivilgesellschaftliche Akteure bei Gewaltanwendung in den Augen der Öffentlichkeit schnell die moralische Oberhand.

Denn gewaltsame Selbstverteidigung oder Vergeltung gegen brutale Repression untergräbt das moralische Schockempfinden und erzeugt im besten Fall den Eindruck eines Konflikts auf Augenhöhe, im schlechtesten rechtfertigt es noch schärfere Repressionen. Auch die langfristigen Effekte von zivilem Ungehorsam werden dadurch untergraben. Ziviler Ungehorsam will nicht nur Gesetze reformieren, sondern auch moralische Veränderungen bei seinem Publikum bewirken (Brownlee 2004). Christian Volk (2022) spricht in diesem Zusammenhang davon, dass ziviler Ungehorsam als Beitrag zur Demokratisierung der sozialen Ordnung interpretierbar sein muss. Entscheidend ist dafür nicht zwangsläufig, dass Protest rein symbolischer Natur sein muss, oder »zivilisiert« bleibt. Sondern, so Robin Celikates (2016), dass er sich vor allem einer militärischen Logik verschließt, welche auf die Vernichtung eines (imaginierten) Feindes abzielt. Ist dies nicht der Fall, wird das Spiel mit der Moral riskant und läuft Gefahr, in einer Art sekundärem »backfire«-­Effekt, seinerseits nach hinten loszugehen und Protestbewegungen zu schaden. Die Frage ist insofern „ob die konkrete Aktion, die konkrete Protestbewegung so gestrickt ist, dass sie die Selbstlegitimierung, die mit dem Begriff einhergeht, auch erfüllt“ (Volk und Grimm 2023).

Ein gutes Beispiel hierfür boten zuletzt die Studierendenproteste an Berliner Universitäten gegen den Krieg in Gaza. Dort wiederholte sich ein Ausschnitt der Debatte um die »Klimakleber«, ob die Art des Protests den Anliegen der Protestierenden schadet. Anders als während der Straßenblockaden steht bei den Antikriegsdemonstrationen aber nicht primär das taktische Repertoire (also Hörsaalbesetzungen, Protestcamps etc.) im Vordergrund. Im Gegensatz zu den Klimaprotesten orientieren sich die Antikriegsdemonstrationen sehr viel stärker an konventionellen Protesttaktiken. Ihre Sit-ins und Demonstrationen sind größtenteils als angemeldete oder auch als spontane Demonstrationen verfassungsrechtlich von der Versammlungsfreiheit gedeckt, als kollektive Aktionen handelt es sich bei ihnen nicht um Gesetzesübertretungen. Der Gewaltvorwurf, der ihnen dennoch entgegengebracht wird, entzündet sich daher auch nicht an der Protestform, sondern vor allem an der Symbolik der Bewegung, die von Teilen der Gesellschaft als gewaltverherrlichend (oder zumindest relativierend) wahrgenommen wird.

Insbesondere die Reproduktion des roten Dreiecks, mit dem in Hamas-Propagandavideos Ziele der Qassam-Brigaden markiert werden, als Graffiti wurden in der deutschen Öffentlichkeit als Sympathiebekundung mit dem palästinensischen bewaffneten Kampf sowie als unverhohlene Drohung an Protestgegner verstanden. Die roten Dreiecke brachten auf Instagram zwar oberflächliche Zustimmung (Likes) von einem transnationalen Publikum, im unmittelbaren lokalen Kontext der Proteste untergruben sie aber den moralischen Anspruch der Demonstrierenden, verkomplizierten die Skandalisierung von Polizeigewalt bei der Räumung von Protestcamps und unterminierten letztlich das größere Anliegen der Demonstrierenden. Während die Blockaden von XR, der Letzten Generation oder der britischen Gruppe »Just Stop Oil« Ressentiments gegen die Gruppen selbst produzierten, aber das gesamtgesellschaftliche Problembewusstsein für den Klimawandel steigerten, stellte sich so ein indirekter Effekt bei den Gaza-Protesten nicht ein, da ihr Anliegen immer wieder in Sprache und Symbolik eingebettet war, die innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Resonanzstrukturen keinen Anschluss fanden.

Performative Gewaltfreiheit und Legalität allein reichen also nicht aus, um nicht als gewaltsam wahrgenommen zu werden. Das Beispiel zeigt insofern eindrucksvoll, wie selbst die Legitimität von »zivilisierten« Formen des Protests durch dessen Inhalt und Symbolik konterkariert werden können. Der auch durch mediale Skandalisierung verbreitete Eindruck, die Palästina-Proteste folgten einem dichotomen Freund-Feind-Schema, untergrub im Kontext der Studierendenproteste die breiteren Solidarisierungseffekte, auf welche die Demonstrierenden hofften. Mit Ausnahme der nicht inhaltlichen Solidaritätsbekundungen von Dozent*innen, die das Grundrecht auf Protest an Universitäten verteidigten, blieb der moralische Schock über Polizeigewalt auf dem Campus begrenzt. Auch ein positiver „radikaler Flankeneffekt” (Haines 2013) blieb aus. Hiermit beschreiben Protestforschende den Sympathiezuwachs für moderate Protestakteure, den radikale Taktiken bewirken können: Wenn man den Anliegen radikaler Akteure zustimmt, nicht aber ihren Methoden, kann dies das Engagement moderaterer Akteure für dasselbe Anliegen aufwerten. Diese werden fortan im Kon­trast zu den Radikalen als der vernünftigere Gegenpol wahrgenommen. Voraussetzung hierfür ist aber, dass die Öffentlichkeit klar zwischen beiden Flanken entscheiden kann. Dies war bei den Demonstrationen gegen den Gaza-Krieg nicht der Fall, wo sich moderatere Protestierende vielerorts nicht explizit von kontroversen Aktionen distanzierten – entweder, um den internen Zusammenhalt der ohnehin stark unter Beschuss stehenden Bewegung nicht zu gefährden, oder auch, da vielen die Einordnung der Bewegungssymbolik als »gewaltsam« im Kontext der Völkerrechtsverletzungen und der extremen Gewalt in Gaza schlichtweg unpassend schien.

Form follows function

Das Beispiel zeigt indes, dass beim Nachdenken über Wirkungsbedingungen von disruptiven Protesten eine getrennte Betrachtung von moralischen und strategischen Fragen sowie eine Berücksichtigung ihres sozialen und geografischen Wirkungskontexts wichtig ist. Es mag richtig sein, dass die Skandalisierung gewisser Aspekte konkreter Protestaktionen – Sachbeschädigung, Graffiti, Verständnis für bewaffneten Kampf etc. – als »Gewalt« stark konstruiert ist. Auch mag sie in keinem Verhältnis stehen zu den Missständen, die der Protest zu adressieren sucht. Ebenfalls mag richtig sein, dass diese Missstände ohne solche medienwirksamen Elemente möglicherweise gar keine Aufmerksamkeit erhalten und dass ohne disruptiven Widerstand ein sehr gewaltvoller Status quo erhalten bleibt – im Kontext der Klima-Proteste das Ausbleiben effektiver Maßnahmen zur Begrenzung der Erderwärmung; im Kontext der Gaza-Proteste, dass weiter deutsche Waffen an eine Kriegspartei geliefert werden.

Doch ändert dies auf einer praktischen Ebene wenig an der negativen Resonanz gewisser Protestformen in einem sozialen Kontext, der eben jene Missstände ausblendet. Zu Ende gedacht: Disruption und sogar Gewalt mögen – wenn auch nicht ethisch – als Mittel bisweilen sogar durch einen Zweck rechtfertigbar sein. Aber diese Rechtfertigungsgrundlage zerbröckelt sofort, wenn die Mittel aufgrund ihres gesellschaftlichen Wirkungskontextes gar nicht in der Lage sind, diesem Zweck zu dienen. Oder schlimmer, wenn sie anderweitige Bemühungen zur Adressierung eben jener Missstände kompromittieren.

In diesem Falle ginge dann auch beim Versuch, durch provozierte Gegenreaktionen über Bande zu spielen, der Ball ins Leere. Repressionen können dann immer noch Protestteilnehmer*innen in ihrem individuellen Engagement bestärken, oder als kollektive Erfahrungen den Gruppenzusammenhalt einer Bewegung festigen. Aber sie zementieren dabei oft auch Grenzziehungen und bewegungsinterne Narrative, die Bewegungs-Outsider kaum noch mitnehmen und eine breitere gesellschaftliche »Rekrutierung« erschweren. Selbst Robin Celikates (2016), der die Notwendigkeit konfrontativer Momente für die Wirkungsweise von zivilem Ungehorsam betont, unterstreicht, dass Proteste nur dann als breitenwirksame Konfrontationen funktionieren, wenn sich seine Teilnehmer*innen der unabdingbaren symbolischen Dimension ihres Handelns bewusst werden – der Tatsache also, dass Protest immer auch eine Inszenierung ist, die eine Bühne braucht und ein Publikum sucht. Die gesellschaftliche Kontroverse um die Besetzung des Theaterhofs der Freien Universität Berlin zeigt, wie wörtlich diese Metapher zu verstehen ist. Am Ende entscheidet das Publikum darüber, wie gut die Show war.2

Unbeabsichtigte Folgen, begrenzte Kontrolle

Grundsätzlich bringen radikale Aktionen immer auch sekundäre Dynamiken mit sich. Hierzu zählt das Ausbrennen einer Bewegung, wenn immer mehr Mitstreitende von Repression oder Diffamierung belastet sind und jene, die selbst nicht betroffen sind, eine immer größere Organisationslast schultern müssen. Zudem binden juristische Auseinandersetzungen um Gesetzesübertritte im Kontext radikaler Aktionen die ohnehin meist knappen Ressourcen. Auch die Rekrutierung neuer Unterstützer*innen, um Abreibungseffekte zu kompensieren, wird durch fortgesetzte Repression erschwert. Darüber hinaus machen jene, die durch disruptive Taktiken eine überzogene Gegenreaktion auslösen, oft die schmerzliche Erfahrung, dass die provozierten Repressionen besser funktionieren als gedacht, indem sie Organisationsstrukturen zerschlagen, Sympathisant*innen abschrecken und langanhaltende Medienbilder bzw. Vorurteile prägen.

Dies erleben Bewegungen in autoritären Kontexten wie Ägypten, wo ein Massaker der Armee gegen islamistische Demonstrierende nicht etwa Solidaritätseffekte erzeugte, sondern den Weg für eine autokratische Restauration ebnete (Grimm 2022). Aber sie erleben es auch in demokratischen Zusammenhängen wie nach dem G20-Gipfel in Hamburg, als die Bilder brennender Barrikaden im Schanzenviertel den öffentlichen Diskurs zu den Gipfelprotesten prägten und damit der Skandalisierung von Polizeigewalt den Wind aus den Segeln nahmen (Malthaner und Teune 2023) – was sich bis heute beispielsweise in der weitgehend unkritischen Berichterstattung über die »Rondenbarg-Prozesse« als Aburteilung politischer Gewalttäter*innen zeigt, anstatt Taktik und Strategie der Polizei kritisch zu befragen.

Schließlich ist auch bewegungsinterne Radikalisierung als ein Effekt von Konfrontationen gut belegt, d.h. eine Hinwendung von Betroffenen zu Einstellungen, die bisherige politische Denk- und Handlungsmuster radikal in Frage stellen und mit den gängigen Erwartungen an das Verhalten von Protestbewegungen brechen. Dies kann durch eine Hinwendung zu physischer Gewaltanwendung geschehen, wie die Genese dutzender bewaffneter Widerstandsbewegungen – nicht zuletzt auch in der deutschen Geschichte – eindrucksvoll belegt. Die Fragmentierung anfangs friedfertiger Bewegungen und die Entstehung von bewaffneten Gruppen infolge staatlicher Repression, etwa während des arabischen Frühlings (Della Porta et al. 2018), zeigen die Herausforderungen für prinzipiell gewaltfreie Bewegungsakteure, solchen Tendenzen effektiv entgegenzuwirken.

Radikalisierung muss sich aber nicht zwingend in der Legitimierung von Gewalt als Mittel des politischen Kampfes äußern. Im Gegenteil kann gerade die Entscheidung, gewaltfrei zu bleiben, viel radikaler sein als der Griff zur Waffe, wie die Forschung zur amerikanischen Bürgerrechtsbewegung aufzeigt. In einem Kontext, der geprägt war von gewaltsamer Unterdrückung, Ausbeutung und der klandestinen Gewalt rassistischer Milizen, stellte gerade die Schwarze Friedfertigkeit einen Bruch mit den etablierten Konfliktmodi dar (Pineda 2021). Radikalisierung lässt sich in dieser Perspektive also vor allem als eine gegenhegemoniale Tendenz beschreiben – eine Definition, mit dem sich auch viele gegenwärtige radikale Bewegungen besser fassen lassen als über ihr Verhältnis zu physischer Gewalt. Beliebte journalistische Nachfragen nach dem Radikalisierungspotenzial sozialer Bewegungen – etwa nach der »Klima-RAF« – gehen insofern auch am Ziel vorbei. Denn man müsste antworten: Radikalisierung ja, aber Gewalt nein – radikal gewaltfrei eben.

Fazit: Das transformative Potenzial radikaler Proteste

Gewaltzuschreibungen sind in gesellschaftlichen Debatten schnell bei der Hand, um Protest zu delegitimieren (Grimm et al. 2023). Gleichzeitig benennen theoretische Stichwortgeber*innen, wenn es um die Erfolgschancen radikaler Proteste geht, Gewaltlosigkeit als sine qua non des zivilen Ungehorsams. Vor diesem Hintergrund erfordert ein Nachdenken über Wirkungsbedingungen von Protesten, dass die Mechanismen aufgearbeitet werden, nach denen diese Gewaltzuschreibungen erfolgen – und bewegungsinterne wie innerwissenschaftliche Selbstreflexion darüber, unter welchen Bedingungen diese Zuschreibungen gesellschaftlich unkritisch übernommen werden, um Proteste als »radikal« zu diskreditieren.

Aktionen des zivilen Ungehorsams und die Disruptionen, die sie erzeugen, sind bewusst darauf ausgerichtet, sedimentierte Vorstellungen und Ordnungsmechanismen der Realität zu destabilisieren, durch die soziale Missstände reproduziert werden. Sie zielen darauf ab, ihr Publikum zu treffen, herauszufordern und es mit der Frage zu konfrontieren, was es bereit ist zu tun, um diese Missstände zu adressieren. Die Störung und der Schock-Effekt, den sie erzeugen, sind (meist) nicht die Folge einer schlecht durchdachten Strategie, sondern Teil der Aktion. Ziel ist es, eine als absurd empfundene gesellschaftliche Situation zu beleuchten: Etwa die Tatsache, dass die Proteste für einen Waffenstillstand im Nahen Osten mehr mediales Echo erzeugen als das Leid in Gaza; oder dass unsere Gesellschaft um die Dringlichkeit der Klimakrise weiß, aber keinen massiven politischen Kurswechsel einfordert.

Die Wahrnehmung von direkten Aktionen, radikalem Protest, zivilem Ungehorsam – auch die Wahrnehmung von Sachbeschädigungen (großer und kleiner) und der Übertretung von Grenzen ist stark kontextabhängig. Was als Disruption gelesen und empfunden wird, hängt wesentlich von den Skandalisierungsnarrativen und institutionellen Logiken einer Gesellschaft und ihrer Herrschaftsapparate ab, nicht allein von der Protestpraxis an sich. Es hängt auch davon ab, wie viele Menschen durch diese Aktionen kritisiert werden und wie stark sie mit hegemonialen Meinungs- und Handlungsmustern brechen. Disruptive Proteste, die uns kollektiv in die Verantwortung nehmen oder den Spiegel vorhalten – uns konfrontieren mit unserem individuellen Beitrag zum Klimawandel oder mit den Dissonanzen zwischen der deutschen Staatsräson und dem Bekenntnis zu einer völkerrechtszentrierten Weltordnung – haben es grundsätzlich schwerer als themenspezifische Mobilisierung mit engem Adressat*innenkreis.

Klar ist jedoch, dass gerade diese Formen des Protests eine wichtige demokratische Impulsfunktion ausüben, indem sie die Gesellschaft herausfordern und Themen auf die Agenda setzen, die innerhalb institutionalisierter demokratischer Arenen unzureichend Gehör finden. Dieses transformative Potenzial von radikalem gewaltfreiem Protest gilt es zu erkennen, statt zivilgesellschaftliche Anliegen aufgrund ihrer Form oder Symbolik abzulehnen, ohne sich mit ihren Inhalten auseinanderzusetzen.

Anmerkungen

1) vgl. W&F 4/2011 »Arabellion«

2) Unter diesem Gesichtspunkt passen auch die anfänglichen Aktionen der Letzten Generation, die sogenannten Bildattacken, perfekt in eine Kultureinrichtung: Zu anderen Zeiten hätten man sie möglicherweise sogar als Performance Art gefeiert.

Literatur

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Volk, Ch.; Grimm, J. (2023): Über den demokratischen Gestus von Aktionen des zivilen Ungehorsams im Regime der Unruhe. Forschungsjournal Soziale Bewegungen 36(2), S. 298-313.

Dr. Jannis Julien Grimm leitet die Forschungsgruppe »Radical Spaces« am Zentrum für Interdisziplinäre Friedens- und Konfliktforschung (INTERACT) der Freien Universität Berlin.

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Strategische Gewaltfreiheit

Strategische Gewaltfreiheit

Skizze für den Widerstand gegen multinationale Konzerne

von Dalilah Shemia-Goeke

Während strategische gewaltfreie Bewegungen in der Auseinandersetzung mit politischen Akteuren, wie gewählten oder autoritären Regierungen, mittlerweile immer besser erforscht sind, gibt es bislang nur wenige Studien zur Anwendung der Konzepte der strategischen Gewaltfreiheit auf nicht-staatliche, aber nicht minder mächtige Akteure, wie etwa multinationale Unternehmen (eine der wenigen Ausnahmen ist die quantitative Studie von Chenoweth und Olsen (2016)). Wie kann die Macht von Konzernen mithilfe des zivilen Widerstandes eingedämmt und wirksam zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Möglichkeiten lassen sich dazu von der allgemeinen strategischen Logik zivilen Widerstandes ableiten?

Andauernde Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen durch Produktionsprozesse im Allgemeinen zeigen ebenso wie die Übergewinne von Energie- und Waffenkonzernen im Krieg, dass Staaten oft nicht in der Lage oder willens sind, wirksam gegen die zerstörerische Macht globaler Konzerne vorzugehen. Solche Firmen sind nicht zuletzt wegen ihrer gewaltigen Vermögen oft politisch sehr einflussreich und aufgrund dieses Einflusses in vielerlei Hinsicht schwer zu regulieren. Martin Luther King Jr. sagte einst, dass die politische Machtstruktur auf die wirtschaftliche Machtstruktur hört (Garrow 1986, S. 226). Wäre es möglich, die Hegemonen unserer Zeit durch kollektive systematische und strategische Aktionen so unter Druck zu setzen, dass sie ihr Verhalten ändern müssen?

Wenn Menschen sich zusammentun, systematisch koordinieren und strategisch vorgehen, ist es möglich, durch gewaltfreie Mittel gemeinsame Ziele zu erreichen, auch gegen Interessen anderer Akteure, die mehr Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung haben oder stellen können. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts ebneten strategische gewaltfreie Bewegungen den Weg für große Veränderungen, etwa die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, die Ausweitung der Bürger*innenrechte in den Vereinigten Staaten oder die Abschaffung der Apartheid in Südafrika. Ebenso führten sie zum Sturz vieler Militärdiktaturen und autoritärer Regime, wie etwa in den Philippinen (1986), in Indonesien (1998), in Serbien (2000) oder die Farbrevolutionen in ehemaligen Sowjetstaaten. Erfolgreiche Mittel kollektiven Handelns in solchen Bewegungen sind etwa Boykotte, Streiks, ziviler Ungehorsam, friedliche Besetzungen oder Sitzblockaden.

Die strategische Machttheorie zivilen Widerstandes

Auch wenn medial gelegentlich der Eindruck entsteht, bei zivilem Widerstand ginge es nur darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen, beruht die Kraft gewaltfreier Aktionen doch auf einer strategischen Logik, die über die bloße öffentliche Sichtbarkeit hinausgeht. Die von Gandhi geplanten und durchgeführten Massenaktionen zivilen Ungehorsams für die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien etwa basierten auf der Grundidee, dass jede Ausbeutung auf der (freiwilligen oder erzwungenen) Kooperation der Ausgebeuteten beruht (Gandhi 1960, S. 92). Diese Einsicht entwickelte Gene Sharp, ein US-amerikanischer Gesellschaftswissenschaftler, weiter und schlussfolgerte, dass Macht auf Unterstützung und auf der Zusammenarbeit vieler Menschen beruht (Sharp 1973, S. 7ff.). Er typologisierte Methoden gewaltfreier Aktionen in drei Kategorien: (1) den symbolischen Protest und die Öffentlichkeitsarbeit, wie Kundgebungen, Aufklärungsarbeit oder heutzutage (soziale) Medienkampagnen; (2) Nichtkooperation (Streiks und Boykotte) und (3) gewaltfreie Interventionen, wie etwa Straßenblockaden, gewaltfreie Besetzungen etc.

Erica Chenoweth, die aktuell wahrscheinlich weltweit bekannteste Wissenschaftlerin, die diese Methoden und Mittel in ihrer Wirkung systematisch empirisch beforscht hat, hält grundsätzlich fest, dass gewaltfreier Widerstand funktioniert, wenn er in der Lage ist, die Unterstützung für den angeprangerten Status Quo und für den Adressaten des Protestes zu schwächen (Chenoweth 2021, S. 251). Ganz allgemein drückt sich somit Macht also darin aus, ob ein Akteur es schafft, viele Menschen für seine eigenen Ziele zu mobilisieren und sie dazu zu bringen, sei es gewollt oder ungewollt, zu kooperieren. Mit den enormen Anreizen und Androhungen, die (v.a. multinationale) Konzerne auf politischer Ebene wie im Arbeitsmarkt zu ihren Zwecken nutzen, ist es nicht verwunderlich, dass so viele Menschen sie tagtäglich durch ihre Arbeit und ihren Konsum aktiv unterstützen, auch wenn sie sie persönlich eigentlich verwerflich finden.

Laut der Logik gesellschaftlichen Wandels, auf der gewaltfreie Bewegungen basieren, kann die Macht eines Regimes jedoch bröckeln und in sich zusammenfallen, wenn Menschen kollektiv und koordiniert ihre verschiedenen Formen der Unterstützung entziehen. Denn was passiert, wenn Soldat*innen massenweise den Befehlen nicht mehr Folge leisten, wenn Staatsbeamt*innen die Verwaltung des Systems stören oder wenn Arbeitende die Wirtschaft lahmlegen? Die genannten sozialen Gruppen sind nur einige Beispiele der Säulen, auf denen ein Regime basiert. Auf dieser Logik beruhte die Herangehensweise verschiedener sozialer Bewegungen, zum Beispiel die Jugendbewegung Otpor in Serbien. In Bezug auf Konzerne wurde diese Logik bisher meist eher von Gewerkschaften in Form von Streiks als Strategie genutzt und weniger von anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Daher ist diese Denkweise bekannt aus der Gewerkschaftsforschung und der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung.

Die kollektive Arbeitsverweigerung, also der Streik, kann die oftmals nur latente Macht der Arbeitenden zum Vorschein bringen. Zwar sind Arbeitende abhängig von Arbeitgebenden für ihr Beschäftigungsverhältnis und Gehalt; doch auch ein Unternehmen benötigt Menschen, die die anfallende Arbeit ausführen, damit der Konzern Profite einfahren und wachsen kann. Das Machtverhältnis ist folglich interdependent, also auf einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis fußend. Wenn Arbeitnehmer*innen nun kollektiv das zurückhalten, was das Unternehmen benötigt, kann das Machtgefälle zwischen Unternehmen und Arbeitenden wieder zeitweise etwas ins Lot gebracht werden.

Diese Logik kann in Auseinandersetzungen mit Konzernen jedoch von weitaus mehr Gruppen genutzt werden als nur von Angestellten. Denn Unternehmen brauchen Menschen nicht nur, um die anfallenden Arbeiten zu verrichten. Sie benötigen auch Konsument*innen, Investor*innen, Kreditgeber*innen, wohlgesonnene Behörden, Politiker*innen, Journalist*innen, Geschäftspartner*innen, Zulieferbetriebe etc. In all diesen Bereichen besteht viel Störpotenzial durch Nichtkooperation und Interventionen. Beispiele für nicht-gewerkschaftliche kollektive Verweigerungen sind etwa der erste internationale Nestlé-Boykott (1977-1984), der zu einem weltweiten Regulierungskodex auf der Ebene der Weltgesundheitsorganisation führte, oder der Divestment-Arm der Klimabewegung (etwa »Fossil Free«), der öffentliche Institutionen (wie etwa Universitäten, Stadtverwaltungen, Pensionsfonds) dazu bewegt, ihr Vermögen nicht mehr wie bisher in fossile Brennstoffe zu investieren, sondern in nachhaltigere Anleihen. Beides sind Beispiele wirtschaftlicher Nichtkooperation: Während im Boykott individuelle oder institutionelle Konsument*innen ihre Kaufkraft verweigern, verweigern im Divestment Anteilseigner*innen ihre finanziellen Ressourcen. Leider wird das Potenzial trotz der historischen Beispiele, in denen ein solcher Ansatz erfolgreich umgesetzt wurde, in den meisten klassischen Kampagnen-Ansätzen gegen Unternehmen nicht ausgeschöpft. Die internationale Kampagne mit Sanktionen, Divestment und Boykott von Unternehmen in Südafrika etwa trug maßgeblich zum Ende der Apartheid bei. Was wäre heute möglich, wenn eine auf diese Weise koordinierte Kampagne Unternehmen fossiler Brennstoffe oder die Waffenindustrie in ihren Fokus nehmen würde?

Skizzen für die Strategieentwicklung

Eine Schwäche klassischer Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen ist, dass der erzeugte Druck oft rein symbolisch bleibt, ohne spezifische, glaubhafte nächste Schritte wie etwa die Ankündigung finanzieller oder materieller Sanktionen, falls Forderungen nicht erfüllt werden. Zudem zielen viele Öffentlichkeitskampagnen lediglich auf das Image der Firma ab. Ein Beispiel ist hier etwa die Kampagne »Play Fair at the Olympics«, mit der fast ein Jahrzehnt (2003-2012) versucht wurde, bei den Olympischen Spielen auf die Arbeitsbedingungen in den Zulieferketten der Sportbekleidungsmarken hinzuweisen. Bis auf vereinzelte, lokal begrenzte Pilotprojekte konnte sie jedoch keine nennenswerten Ergebnisse auf internationaler Ebene vorweisen.

Wenn der Profit einer Firma nicht von ihrem guten Ruf abhängt, wie es etwa bei weniger bekannten Bekleidungsfirmen, unbekannten Zulieferern oder auch bei der Waffenindustrie der Fall ist, dann ist ein Image-Schaden keine Achillesferse, weshalb die Unternehmensführung es sich leisten kann, relativ gleichgültig zu reagieren. Aber auch wenn nicht bei allen Konzernen das Geschäftsmodell gleichermaßen auf ihrer Reputation basiert, braucht jede Firma dennoch stets verschiedene Formen der Unterstützung durch Menschen und sei es nur in Form praktischer Zusammenarbeit. Dies ist symptomatisch für den Großteil der Ansätze von Nichtregierungsorganisationen: Es geht viel um symbolischen Druck und Aufmerksamkeit, jedoch wird die Unterstützungsbasis der kritisierten Konzerne nicht untergraben und auch sonst stellen sie nur eine minimale Herausforderung dar.

Die Theorie des Wandels des zivilen Widerstandes mit ihrer Machtlogik kann für die Strategieplanung helfen zu verstehen, warum das so ist, und ein erweitertes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Neben den symbolischen Protestformen klassischer NGO-Kampagnen und den gewaltfreien Interventionen, wie Blockaden und Besetzungen, die oft mit zivilem Widerstand assoziiert werden, gibt es eben noch Methoden der kollektiven Verweigerung. Diese Sammelkategorie zielt von den drei genannten am direktesten auf eine Verschiebung des zugrundeliegenden Machtverhältnisses ab. Die Unterstützungbasis, auf der sie fußt, soll durch die Nicht-Kooperation ausgehöhlt werden. Vielleicht ist es an der Zeit, kreativ zu werden und das Repertoire der kollektiven Verweigerung zu erweitern. Zu welcher Form der Nichtkooperation wären heutzutage möglichst viele Menschen bereit, um Energiekonzernen und Waffenindustrie Einhalt zu gebieten?

Literatur

Chenoweth, E. (2021). Civil resistance: What everyone needs to know. Oxford: Oxford University Press.

Chenoweth, E.; Olsen, T. D. (2016): Civil resistance and corporate behavior. Research and Innovation Grants Working Papers Series, August 2016. Denver: Institute for International Education.

Gandhi, M. K. (1960): Selections from Gandhi: Encyclopedia of Gandhi’s thoughts. Ahmedabad Navajivan Mudranalaya.

Garrow, D. J. (1986): Bearing the cross: Martin Luther King, Jr., and the Southern Christian Leadership Conference. New York: Vintage.

Sharp, G. (1973): The politics of nonviolent action. Boston: Porter Sargent.

Dr. Dalilah Shemia-Goeke hat kürzlich erfolgreich ihre Promotion zum Thema des Artikels bei Prof. Dr. Brian Martin abgeschlossen (University of Wollongong) und wohnt im Wendland.

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Gewaltfreiheit im Aktionskonsens

Dogma oder Handlungsmaxime?

von Renate Wanie

In den vorigen zwei Ausgaben von W&F entspann sich eine Debatte zwischen Vordenkern der Gewaltfreiheit über die Begriffe »Gewaltfreiheit« und «Gütekraft«. Sie verknüpften ihre Argumente mit der Frage, welcher Begriff das Konzept am besten transportiere und die Debatte um Gewalt und Gewaltfreiheit voranbringe. Die Autorin des vorliegenden Beitrags befasst sich nicht mit Begriffen sondern mit der Praxis, konkret: mit der Berücksichtigung – oder eben auch bewussten Nichtberücksichtigung – des Konzepts Gewaltfreiheit und seiner Ausprägungen in Aktionskonsensen aktueller Massenproteste. Sie verknüpft dies mit einem Plädoyer für das Konzept der Gewaltfreien Aktion.

Weltweit fanden in den letzten Jahren unter großer Medienaufmerksamkeit Massenproteste in Form der gewaltlosen Besetzung zentraler öffentlicher Plätze statt. Während der Revolution in Ägypten im Jahr 2011 setzten die Akteure dabei Formen der Gewaltfreien Aktion ein, wie Menschenketten in Alexandria, Sitzblockaden auf dem Tahrir-Platz oder Sternmärsche in Kairo. Auch die 2011 entstandene kapitalismuskritische Bewegung »Occupy«, an der sich zumeist junge AktivistInnen beteiligen, versteht sich als basisdemokratisch und gewaltfrei.

In Deutschland sprachen und sprechen sich ebenfalls viele Aktionskonsense eindeutig für Gewaltfreiheit aus: »Resist the war« (gegen den Irakkrieg 2003), »Gen-Dreck weg! « (Initiative gegen genmanipulierte Feldfrüchte), »x-tausendmal quer« (Blockaden gegen Castor-Transporte), »Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21« (Widerstand gegen das Bahnprojekt »S 21«) oder Netzwerk ZUGABe (Ziviler Ungehorsam, Gewaltfreie Aktion, Bewegung«). Das internationale Bündnis »NATO ZU« berief sich 2009 in Straßburg für seine Aktionen explizit auf das Konzept der Gewaltfreien Aktion. Dies galt auch für die musikalische Baggerblockade »Andante an der Kante« der Musik- und Aktionsgruppe »Lebenslaute« am rheinischen Braunkohlebergbau im August 2015.

Zu einer Verschiebung in Richtung eines nur taktischen Ansatzes bei der Planung von Aktionen in den sozialen Bewegungen kam es jedoch im Rahmen der Aktionsvorbereitungen vor dem Weltwirtschaftsgipfel der G8-Staaten in Heiligendamm 2007. Dazu zwei Thesen:

  • Die seit Heiligendamm verbreitete Anwendung des Begriffs »Ziviler Ungehorsam« als taktischen Ansatz reduziert das Konzept des zivilen Ungehorsams, das auf den Aufsatz »Resistance to Civil Government« von Henry David Thoreau (1849) zurückgeht, auf eine bloße Aktionsform. Das gesellschaftsverändernde Potenzial des Konzepts, wie es in den Theorien des Zivilen Ungehorsams entwickelt wurde, wird im taktischen Ansatz nicht genutzt, ja sogar unterlaufen.
  • Seit Heiligendamm ist es gängig geworden, auf Gewaltfreiheit als Teil des Aktionskonsenses zu verzichten. So hilfreich es auf den ersten Blick erscheint, mit der Absage an die Gewaltfreiheit möglicherweise größere Bündnisse schließen zu können, so problematisch ist es, wenn zugleich die komplexen Möglichkeiten sozialer Lernprozesse, wie sie mit gewaltfrei agierenden sozialen Bewegungen verbunden sind, nicht mehr thematisiert werden. Die Orientierung auf eine gewaltfreie Veränderung von Gesellschaft geht verloren, wenn z.B. die Eskalationsstufen Gewaltfreier Aktion nach Theodor Ebert (ders. 1968) ausgeschlossen werden.

Der neue Geist einer Protestkultur

In ihrer Auswertung der Proteste gegen den G8-Gipfel erklärten die Trainer und Aktivisten Marc Amann und Jonas (der Nachname ist nicht bekannt), das für den Widerstand gegründete TrainerInnen-Netzwerk »Trainings for G8« wolle zukünftig ohne »Dogmatismus« Aktionsunterstützung und Trainings anbieten. Als Beweggrund wurde genannt, dass es „innerhalb des (post-) autonomen Spektrums wenig bis keine Erfahrungen mit Aktionstrainings gab oder sogar eine große Ablehnung, u.a. weil sie mit Gewaltfreiheits-Dogmatismus verbunden wurden“. Für die postautonomen AktivistInnen stand jedoch fest, „dass für erfolgreiche Blockaden des G8-Gipfels in Heiligendamm Aktionstrainings unerlässlich sein würden“. Bis dahin seien „Aktionstrainings für Personen und Gruppen [nur, R.W] aus dem gewaltfreien Spektrum seit den 1980er Jahren ein fester Bestandteil von Aktionen und Kampagnen des Zivilem Ungehorsams“ gewesen (Marc Amann und Jonas 2008, S.62).

In den Aufrufen zu den G8-Protesten wurde die Vielfalt der Bewegungszusammenhänge, die spektrenübergreifende Mischung der Kampagne »Block G8« betont. Als Träger der Aktion wurden linke und globalisierungskritische Gruppen, Gewerkschaften und gewaltfreie Aktions- und kirchliche Gruppen aufgezählt. Ein Jahr später hieß es dann in der Gründungserklärung des TrainerInnen-Netzwerkes »skills for action«: „Ob schwarz oder bunt, wir lieben die Grau-Zonen […] Eine undogmatische Haltung zu Zivilem Ungehorsam, der Versuch über Gräben zu springen und die Zeichen der Zeit zu erkennen, das ist die Klammer, die uns verbindet.“ (Marc Amann und Jonas 2008, S.63) Eine explizite Aussage zur Gewaltfreiheit wurde abgelehnt, denn „die Kampagne Block G8 [ist] gerade der Beleg dafür, wie viel Kreativität und Entschlossenheit freigesetzt werden können, wenn die lähmenden Debatten um Gewalt und Gewaltfreiheit beiseite geschoben werden und AktivistInnen aus verschiedenen Spektren anfangen, praktisch zusammenzuarbeiten“ (Christoph Kleine 2008, S.40).

So haben sich in der Folge von Heiligendamm seit 2007 die Vorbereitung und Durchführung von Massen- oder Großaktionen verändert: Der Bezug auf Gewaltfreiheit fehlt seitdem häufig in Bündnissen der traditionellen Friedensbewegung mit Gruppen aus der Antikriegsbewegung, z.B. der »Interventionistischen Linken« (IL). Gewaltfreiheit wird als ideologisch aufgeladen problematisiert und nicht mehr in Bündnisaufrufe aufgenommen. Aktionen Zivilen Ungehorsams werden rein taktisch eingesetzt und legitimiert „als berechtigter Regelbruch“ (Martin Kaul 2012).

Gängige Aktionskonsense

Das Ziel vieler Aktionskonsense seit 2007 ist eine Bündnispolitik in einem möglichst breiten Spektrum – von der gewaltfreien Friedensbewegung bis hin zu linksradikalen Gruppierungen. Ein Vergleich mehrerer Aktionskonsense, z.B. »Block G8« 2007, der Proteste gegen die Petersberg-II-Konferenz in Bonn 2011, »Castor? Schottern!« 2010, »Dresden Nazifrei« 2011 und »Ende Gelände! Kohlebagger stoppen, Klima schützen« im rheinischen Braunkohlerevier im August 2015 macht die wesentlichen Aspekte deutlich:

  • Für wichtig erachtet wird neben der Vielfalt und Entschlossenheit „die Vermeidung von offensiven Bekenntnissen in der »Gewaltfrage«“ (Erklärung der Kampagne »Block 8« in Christoph Kleine 2008, S.6).
  • Für die Akzeptanz des Konzeptes von »Block G8« beispielsweise war es „zudem entscheidend, ein bewusst und betont solidarisches Verhältnis auch zu anderen Blockadekonzepten, wie [sie] etwa Materialblockaden oder aktive Gegenwehr gegen Polizeiangriffe beinhalteten, zu pflegen“ (Christoph Kleine 2008, S.40). Es wird keine öffentliche Kritik an gewaltvollen Aktionen anderer Gruppen formuliert.
  • Aktuell sei hier der Aktionskonsens von »Ende Gelände!« 2015 genannt: „Wir werden mit unseren Körpern blockieren, wir werden dabei keine Infrastruktur beschädigen. Die Sicherheit der Aktivist_innen sowie die der Arbeiter_innen hat oberste Priorität.“ (ende-gelände.org) Von Gewaltfreiheit ist hier nicht die Rede.

Tendenzen bei Aktionstrainings

Allein der Wunsch, gewaltfrei handeln zu wollen, reicht nicht aus. Gewaltfreies Handeln will geübt sein (Renate Wanie 2012b). Seit den 1970er/80er Jahren werden unterschiedliche Formen gewaltfreier Trainings praktiziert und traditionelle Aktionstrainings verändert. Zur Zeit sind Kurztrainings zur Vorbereitung von Massenblockaden, Stunden- und Tagestrainings, Aktionstrainings ohne konkrete Aktionsplanung (z.B. im S-21-Widerstand), (kurze) Train-the-Trainers-Ausbildungen gefragt. Eingeübt werden vor allem Sitzblockaden und das »Sich-Wegtragen-Lassen«, zunehmend das »Durchfließen« von Polizeiketten.

Im postautonomen Spektrum wendete sich nach den Erfahrungen mit dem Massenprotest in Heiligendamm die anfängliche Ablehnung von Aktionstrainings in die Erkenntnis, „[k]ollektive Handlungsfähigkeit wird sich nicht von alleine verbreiten oder nur theoretisch herbeireden lassen. […] Die G8-Mobilisierung hat gezeigt, wie wertvoll Aktionstrainings sind. In Zukunft wird es darauf ankommen, Aktionstrainings verstärkt auszubauen und auf unterschiedliche Situationen anzuwenden.“ (Amann 2008, S.63) Mit der Gründung des Trainingskollektivs »skills for action« wurde dieses Ziel umgesetzt. Im Unterschied zu den traditionellen Trainings in Gewaltfreier Aktion stehen Einheiten zur Auseinandersetzung mit und Einübung von aktiver Gewaltfreiheit, wie z.B. die Dialogbereitschaft mit dem politischen Gegner, nicht mehr auf dem Programm.

Gewaltfreiheit – harmlos, spaltend?

Im postautonomen Spektrum ist der Vorwurf verbreitet, mit der Kritik an der »Gewalt aus den eigenen Reihen« und dem Insistieren auf Gewaltfreiheit würde die Spaltung der Bewegung betrieben. Dem ist entgegenzuhalten, dass Steinewerfen die Friedens- und Antikriegsbewegung spaltet, ihre Glaubwürdigkeit untergräbt und Provokateuren der Polizei den Boden für ihr friedloses Handwerk bereitet – wie es in Straßburg 2009 geschah (Renate Wanie 2011).

Durch einen gewalttätigen, spektakulären Schlagabtausch wird Gewalt in der öffentlichen Berichterstattung zum dominanten Thema, verdeckt das eigentliche politische Anliegen und verschreckt die Bevölkerung anstatt sie zu gewinnen. Die Anwendung von Gewalt trägt überdies autoritären Charakter, denn der eigene Standpunkt wird verabsolutiert. Soziale Lernprozesse bei den AktivistInnen und in der Gesellschaft werden blockiert.

Was also soll man tun – breite Bündnisse anstreben, um beim Massenprotest im »solidarischen Miteinander« der herrschenden Politik zu widerstehen, oder in zwei räumlich getrennten Protestgruppen auftreten, die eine in einer dezidiert gewaltfreien und die andere in einer taktisch konzipierten Aktion?

Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktion

Nach dem G8-Gipfel in Heiligendamm konstatierte Christoph Kleine, bei künftigen Aktionen sollte es nicht um die radikalste aller Aktionsformen gehen, sondern um diejenige, „die am besten geeignet ist, mit vielen Menschen gemeinsam einen bewussten Schritt vom Protest zum Widerstand zu gehen“. Dazu gehörten kollektive Selbstermächtigung und der „berechtigte Regelübertritt“ durch Zivilen Ungehorsam, z.B. mit Sitzblockaden. Darin spiegele sich, „dass der Kapitalismus nicht im Rahmen der Spielregeln des bürgerlichen Staates“ zu überwinden sei, sondern nur durch den Aufbau einer gesellschaftlichen Gegenmacht. Diese theoretische Erkenntnis verfestige sich in der Praxis „in der gemeinsamen, grenzüberschreitenden Aktion“ (Kleine 2008, S.40).

Doch kann mit spektakulären Einzelaktionen alleine überhaupt gesellschaftliche Veränderung erreicht werden? Bekommt der Zivile Ungehorsam ohne Einbindung in ein Konzept bzw. eine Kampagne nicht einen inflationären und damit beliebigen Charakter? Taktische, möglichst radikale Aktionsformen, wie der »legitime Regelbruch« der Massenblockade, führen selbst wiederholt eingesetzt nicht unmittelbar zu sozialer oder gesellschaftlicher Veränderung. Ziviler Ungehorsam ist vielmehr nach gewaltfreiem Verständnis gerade dann legitim und wirksam, wenn zur Abwendung des Unrechts bereits eine Vielzahl eskalierender Aktionsformen angewendet worden sind.

Gewaltfreie AktivistInnen greifen aktiv in gesellschaftliche Konflikte ein. Dass sie auf Gewalt verzichten, bedeutet keineswegs, dass sie keine Macht- bzw. Druckmittel einsetzen. Sie artikulieren nicht nur Protest, sondern greifen kämpferisch und direkt ins bestehende gesellschaftliche System ein. Beispielsweise können gut vorbereitete Boykotts starke Mittel sein, um legitime menschenrechtliche oder ökologische Interessen durchzusetzen. Ein Beispiel war der Umsatzrückgang bei der Ölfirma Shell nach Boykottaufrufen, die sich 1995 gegen die Versenkung der Ölplattform »Brent Spar« richteten.

Im Unterschied zum taktischen Verständnis von Zivilem Ungehorsam bietet das Konzept der Gewaltfreien Aktion eine deutlich breite Palette sozialen Drucks an. Der Konflikt- und Friedensforscher Theodor Ebert unterscheidet Formen Gewaltfreier Aktion, auf drei verschiedenen Eskalationsstufen – je nach Analyse der politischen Situation, der Zielsetzung und der zu erwartenden Wirkungsweise. Demonstrationen z.B. liegen als Protestform auf der untersten Eskalationsstufe, Boykotts – eine Form legaler Nichtzusammenarbeit – auf der zweiten und Blockaden auf der höchsten. So bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten, dem politischen Gegner öffentlich die Legitimation für sein Handeln zu entziehen und Druck aufzubauen. Gewaltfreie Aktionen beinhalten zugleich immer auch einen konstruktiven Gegenentwurf zum kritisierten gesellschaftlichen Zustand. „Gewaltfreie Aktionen sollten zugleich Lernfelder für weitergehende Gesellschaftsveränderung sein.“ (Wolfgang Hertle 2011)

Die Beweggründe zur Teilnahme an einer Gewaltfreien Aktion sind unterschiedlich, sie bewegen sich zwischen gewaltfrei-anarchistisch, religiös, humanistisch und pragmatisch. Es geht darum, die gewaltfreie Philosophie klar und durchaus überzeugend zu vermitteln, jedoch ohne Dogmatismus. Im Zentrum steht dabei nicht die Frage nach der Gewalt, sondern wie gesellschaftliche Veränderung wirksam wird. Gewaltfreiheit ist gleichzeitig politische Strategie und Handlungsmaxime in politischen Auseinandersetzungen.

Literaturverzeichnis

Marc Amann und Jonas (2008): Aktionstrainings – Selbstermächtigung durch Üben. In: Christoph Kleine (Hrsg.): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Theodor Ebert (1968): Gewaltfreier Aufstand – Alternative zum Bürgerkrieg. Freiburg i.Br.: Waldkircher Verlagsgesellschaft, S.37.

Wolfgang Hertle (2011): Stärke durch Vielfalt – Einheit durch Klarheit. Rückblick auf Zivilen Ungehorsam und gewaltfreien Widerstand in Deutschland und Frankreich seit den 1970er Jahren und Schlussfolgerungen für die Zukunft. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.266.

Kampagne Block G8 (Hrsg.) (2008): Chef, es sind zu viele … – Die Block-G8-Broschüre. Selbstverlag.

Martin Kaul: „Trittbrettfahrer!“ – „Formfetischisten!“. Streitgespräch Ziviler Ungehorsam mit Tadzio Müller und Felix Kolb. tageszeitung, 26.1.2012, S.3.

Christoph Kleine (2008): Jenseits der Gewaltdebatte. In: Kampagne Block G9, op.cit., S.40.

Skills for Action – Netzwerk bewegungsorientierter Aktions-TrainerInnen: Über uns. skills-for-action.org.

Henry Thoreau (1973): Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat und andere Essays. Zürich: Diogenes.

Renate Wanie (2011): Neun Thesen für die Weiterarbeit nach Straßburg. In: Reiner Steinweg und Ulrike Laubenthal (Hrsg.): Gewaltfreie Aktion – Erfahrungen und Analyse. Frankfurt: Brandes und Apsel, S.254.

Renate Wanie (2012a): Ein »neuer Geist in der Protestkultur« und sein Verhältnis zur Gewaltfreien Aktion. In: Christine Schweitzer (Hrsg.): Ziviler Ungehorsam und Gewaltfreie Aktionen in den Bewegungen. Berlin: AphorismA, S.14-22.

Renate Wanie (2012b): Gewaltfreie Aktion – ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse verändern. Zur Grundlage und Vorbereitung Gewaltfreier Aktion, nicht nur in Ägypten. In: Österreichisches Studienzentrum für Frieden- und Konfliktlösung (Hrsg.): Zeitenwende im arabischen Raum. Welche Antwort findet Europa? S.39.

Renate Wanie ist freie Mitarbeiterin in der »Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden«, Bildungsreferentin und Trainerin für Gewaltfreie Aktion, Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung und Co-Sprecherin der Kooperation für den Frieden.