W&F 2023/1

Strategische Gewaltfreiheit

Skizze für den Widerstand gegen multinationale Konzerne

von Dalilah Shemia-Goeke

Während strategische gewaltfreie Bewegungen in der Auseinandersetzung mit politischen Akteuren, wie gewählten oder autoritären Regierungen, mittlerweile immer besser erforscht sind, gibt es bislang nur wenige Studien zur Anwendung der Konzepte der strategischen Gewaltfreiheit auf nicht-staatliche, aber nicht minder mächtige Akteure, wie etwa multinationale Unternehmen (eine der wenigen Ausnahmen ist die quantitative Studie von Chenoweth und Olsen (2016)). Wie kann die Macht von Konzernen mithilfe des zivilen Widerstandes eingedämmt und wirksam zur Rechenschaft gezogen werden? Welche Möglichkeiten lassen sich dazu von der allgemeinen strategischen Logik zivilen Widerstandes ableiten?

Andauernde Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörungen durch Produktionsprozesse im Allgemeinen zeigen ebenso wie die Übergewinne von Energie- und Waffenkonzernen im Krieg, dass Staaten oft nicht in der Lage oder willens sind, wirksam gegen die zerstörerische Macht globaler Konzerne vorzugehen. Solche Firmen sind nicht zuletzt wegen ihrer gewaltigen Vermögen oft politisch sehr einflussreich und aufgrund dieses Einflusses in vielerlei Hinsicht schwer zu regulieren. Martin Luther King Jr. sagte einst, dass die politische Machtstruktur auf die wirtschaftliche Machtstruktur hört (Garrow 1986, S. 226). Wäre es möglich, die Hegemonen unserer Zeit durch kollektive systematische und strategische Aktionen so unter Druck zu setzen, dass sie ihr Verhalten ändern müssen?

Wenn Menschen sich zusammentun, systematisch koordinieren und strategisch vorgehen, ist es möglich, durch gewaltfreie Mittel gemeinsame Ziele zu erreichen, auch gegen Interessen anderer Akteure, die mehr Ressourcen und Möglichkeiten zur Verfügung haben oder stellen können. In der Geschichte des 20. Jahrhunderts ebneten strategische gewaltfreie Bewegungen den Weg für große Veränderungen, etwa die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien, die Ausweitung der Bürger*innenrechte in den Vereinigten Staaten oder die Abschaffung der Apartheid in Südafrika. Ebenso führten sie zum Sturz vieler Militärdiktaturen und autoritärer Regime, wie etwa in den Philippinen (1986), in Indonesien (1998), in Serbien (2000) oder die Farbrevolutionen in ehemaligen Sowjetstaaten. Erfolgreiche Mittel kollektiven Handelns in solchen Bewegungen sind etwa Boykotte, Streiks, ziviler Ungehorsam, friedliche Besetzungen oder Sitzblockaden.

Die strategische Machttheorie zivilen Widerstandes

Auch wenn medial gelegentlich der Eindruck entsteht, bei zivilem Widerstand ginge es nur darum, Aufmerksamkeit zu erzeugen, beruht die Kraft gewaltfreier Aktionen doch auf einer strategischen Logik, die über die bloße öffentliche Sichtbarkeit hinausgeht. Die von Gandhi geplanten und durchgeführten Massenaktionen zivilen Ungehorsams für die Unabhängigkeit Indiens von Großbritannien etwa basierten auf der Grundidee, dass jede Ausbeutung auf der (freiwilligen oder erzwungenen) Kooperation der Ausgebeuteten beruht (Gandhi 1960, S. 92). Diese Einsicht entwickelte Gene Sharp, ein US-amerikanischer Gesellschaftswissenschaftler, weiter und schlussfolgerte, dass Macht auf Unterstützung und auf der Zusammenarbeit vieler Menschen beruht (Sharp 1973, S. 7ff.). Er typologisierte Methoden gewaltfreier Aktionen in drei Kategorien: (1) den symbolischen Protest und die Öffentlichkeitsarbeit, wie Kundgebungen, Aufklärungsarbeit oder heutzutage (soziale) Medienkampagnen; (2) Nichtkooperation (Streiks und Boykotte) und (3) gewaltfreie Interventionen, wie etwa Straßenblockaden, gewaltfreie Besetzungen etc.

Erica Chenoweth, die aktuell wahrscheinlich weltweit bekannteste Wissenschaftlerin, die diese Methoden und Mittel in ihrer Wirkung systematisch empirisch beforscht hat, hält grundsätzlich fest, dass gewaltfreier Widerstand funktioniert, wenn er in der Lage ist, die Unterstützung für den angeprangerten Status Quo und für den Adressaten des Protestes zu schwächen (Chenoweth 2021, S. 251). Ganz allgemein drückt sich somit Macht also darin aus, ob ein Akteur es schafft, viele Menschen für seine eigenen Ziele zu mobilisieren und sie dazu zu bringen, sei es gewollt oder ungewollt, zu kooperieren. Mit den enormen Anreizen und Androhungen, die (v.a. multinationale) Konzerne auf politischer Ebene wie im Arbeitsmarkt zu ihren Zwecken nutzen, ist es nicht verwunderlich, dass so viele Menschen sie tagtäglich durch ihre Arbeit und ihren Konsum aktiv unterstützen, auch wenn sie sie persönlich eigentlich verwerflich finden.

Laut der Logik gesellschaftlichen Wandels, auf der gewaltfreie Bewegungen basieren, kann die Macht eines Regimes jedoch bröckeln und in sich zusammenfallen, wenn Menschen kollektiv und koordiniert ihre verschiedenen Formen der Unterstützung entziehen. Denn was passiert, wenn Soldat*innen massenweise den Befehlen nicht mehr Folge leisten, wenn Staatsbeamt*innen die Verwaltung des Systems stören oder wenn Arbeitende die Wirtschaft lahmlegen? Die genannten sozialen Gruppen sind nur einige Beispiele der Säulen, auf denen ein Regime basiert. Auf dieser Logik beruhte die Herangehensweise verschiedener sozialer Bewegungen, zum Beispiel die Jugendbewegung Otpor in Serbien. In Bezug auf Konzerne wurde diese Logik bisher meist eher von Gewerkschaften in Form von Streiks als Strategie genutzt und weniger von anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren. Daher ist diese Denkweise bekannt aus der Gewerkschaftsforschung und der Geschichte der Arbeiter*innenbewegung.

Die kollektive Arbeitsverweigerung, also der Streik, kann die oftmals nur latente Macht der Arbeitenden zum Vorschein bringen. Zwar sind Arbeitende abhängig von Arbeitgebenden für ihr Beschäftigungsverhältnis und Gehalt; doch auch ein Unternehmen benötigt Menschen, die die anfallende Arbeit ausführen, damit der Konzern Profite einfahren und wachsen kann. Das Machtverhältnis ist folglich interdependent, also auf einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis fußend. Wenn Arbeitnehmer*innen nun kollektiv das zurückhalten, was das Unternehmen benötigt, kann das Machtgefälle zwischen Unternehmen und Arbeitenden wieder zeitweise etwas ins Lot gebracht werden.

Diese Logik kann in Auseinandersetzungen mit Konzernen jedoch von weitaus mehr Gruppen genutzt werden als nur von Angestellten. Denn Unternehmen brauchen Menschen nicht nur, um die anfallenden Arbeiten zu verrichten. Sie benötigen auch Konsument*innen, Investor*innen, Kreditgeber*innen, wohlgesonnene Behörden, Politiker*innen, Journalist*innen, Geschäftspartner*innen, Zulieferbetriebe etc. In all diesen Bereichen besteht viel Störpotenzial durch Nichtkooperation und Interventionen. Beispiele für nicht-gewerkschaftliche kollektive Verweigerungen sind etwa der erste internationale Nestlé-Boykott (1977-1984), der zu einem weltweiten Regulierungskodex auf der Ebene der Weltgesundheitsorganisation führte, oder der Divestment-Arm der Klimabewegung (etwa »Fossil Free«), der öffentliche Institutionen (wie etwa Universitäten, Stadtverwaltungen, Pensionsfonds) dazu bewegt, ihr Vermögen nicht mehr wie bisher in fossile Brennstoffe zu investieren, sondern in nachhaltigere Anleihen. Beides sind Beispiele wirtschaftlicher Nichtkooperation: Während im Boykott individuelle oder institutionelle Konsument*innen ihre Kaufkraft verweigern, verweigern im Divestment Anteilseigner*innen ihre finanziellen Ressourcen. Leider wird das Potenzial trotz der historischen Beispiele, in denen ein solcher Ansatz erfolgreich umgesetzt wurde, in den meisten klassischen Kampagnen-Ansätzen gegen Unternehmen nicht ausgeschöpft. Die internationale Kampagne mit Sanktionen, Divestment und Boykott von Unternehmen in Südafrika etwa trug maßgeblich zum Ende der Apartheid bei. Was wäre heute möglich, wenn eine auf diese Weise koordinierte Kampagne Unternehmen fossiler Brennstoffe oder die Waffenindustrie in ihren Fokus nehmen würde?

Skizzen für die Strategieentwicklung

Eine Schwäche klassischer Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen ist, dass der erzeugte Druck oft rein symbolisch bleibt, ohne spezifische, glaubhafte nächste Schritte wie etwa die Ankündigung finanzieller oder materieller Sanktionen, falls Forderungen nicht erfüllt werden. Zudem zielen viele Öffentlichkeitskampagnen lediglich auf das Image der Firma ab. Ein Beispiel ist hier etwa die Kampagne »Play Fair at the Olympics«, mit der fast ein Jahrzehnt (2003-2012) versucht wurde, bei den Olympischen Spielen auf die Arbeitsbedingungen in den Zulieferketten der Sportbekleidungsmarken hinzuweisen. Bis auf vereinzelte, lokal begrenzte Pilotprojekte konnte sie jedoch keine nennenswerten Ergebnisse auf internationaler Ebene vorweisen.

Wenn der Profit einer Firma nicht von ihrem guten Ruf abhängt, wie es etwa bei weniger bekannten Bekleidungsfirmen, unbekannten Zulieferern oder auch bei der Waffenindustrie der Fall ist, dann ist ein Image-Schaden keine Achillesferse, weshalb die Unternehmensführung es sich leisten kann, relativ gleichgültig zu reagieren. Aber auch wenn nicht bei allen Konzernen das Geschäftsmodell gleichermaßen auf ihrer Reputation basiert, braucht jede Firma dennoch stets verschiedene Formen der Unterstützung durch Menschen und sei es nur in Form praktischer Zusammenarbeit. Dies ist symptomatisch für den Großteil der Ansätze von Nichtregierungsorganisationen: Es geht viel um symbolischen Druck und Aufmerksamkeit, jedoch wird die Unterstützungsbasis der kritisierten Konzerne nicht untergraben und auch sonst stellen sie nur eine minimale Herausforderung dar.

Die Theorie des Wandels des zivilen Widerstandes mit ihrer Machtlogik kann für die Strategieplanung helfen zu verstehen, warum das so ist, und ein erweitertes Spektrum an Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Neben den symbolischen Protestformen klassischer NGO-Kampagnen und den gewaltfreien Interventionen, wie Blockaden und Besetzungen, die oft mit zivilem Widerstand assoziiert werden, gibt es eben noch Methoden der kollektiven Verweigerung. Diese Sammelkategorie zielt von den drei genannten am direktesten auf eine Verschiebung des zugrundeliegenden Machtverhältnisses ab. Die Unterstützungbasis, auf der sie fußt, soll durch die Nicht-Kooperation ausgehöhlt werden. Vielleicht ist es an der Zeit, kreativ zu werden und das Repertoire der kollektiven Verweigerung zu erweitern. Zu welcher Form der Nichtkooperation wären heutzutage möglichst viele Menschen bereit, um Energiekonzernen und Waffenindustrie Einhalt zu gebieten?

Literatur

Chenoweth, E. (2021). Civil resistance: What everyone needs to know. Oxford: Oxford University Press.

Chenoweth, E.; Olsen, T. D. (2016): Civil resistance and corporate behavior. Research and Innovation Grants Working Papers Series, August 2016. Denver: Institute for International Education.

Gandhi, M. K. (1960): Selections from Gandhi: Encyclopedia of Gandhi’s thoughts. Ahmedabad Navajivan Mudranalaya.

Garrow, D. J. (1986): Bearing the cross: Martin Luther King, Jr., and the Southern Christian Leadership Conference. New York: Vintage.

Sharp, G. (1973): The politics of nonviolent action. Boston: Porter Sargent.

Dr. Dalilah Shemia-Goeke hat kürzlich erfolgreich ihre Promotion zum Thema des Artikels bei Prof. Dr. Brian Martin abgeschlossen (University of Wollongong) und wohnt im Wendland.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2023/1 Jenseits der Eskalation, Seite 41–42