»Nulltoleranz gegen Clan-Kriminalität«
»Nulltoleranz gegen Clan-Kriminalität«
Rassistische Polizeirazzien in Shisha-Bars
von Maraike Henschel und Joschka Dreher
Das Thema ist ein dominanter Dauerbrenner: organisierte »Clan-Kriminalität«. Beinahe täglich kommt es zu schwerbewaffneten Polizeirazzien an migrantisch markierten Orten in Berlin, Frankfurt, Essen und anderen Städten. Obwohl kritische Stimmen laut werden, die die Rechtmäßigkeit der Razzien und das harte Vorgehen in Frage stellen, bleibt das polizeiliche Eindringen in den Ort der Shisha-Bar alltägliche Routine. Dieses Vorgehen hat Konsequenzen – für die Menschen, die davon betroffen sind, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Der Beitrag entfaltet diese Konsequenzen und wirft einen Blick auf Veränderungspotential.
Seit einigen Jahren avanciert das Thema sogenannter »Clan-Kriminalität« zum politischen, medialen und popkulturellen Dauerbrenner, zum öffentlichen Spektakel (Bartosz und Fröhlich 2021; NDR 2021; Serien »4 Blocks« oder »Dogs of Berlin«; siehe etwa Al-Zein 2020). Dabei scheint es als würde Deutschland von organisierter »Clan-Kriminalität« beherrscht. Die Polizei sieht sich zum Handeln veranlasst und stilisiert den „Kampf gegen Clan-Kriminalität“ (BDK 2020) zu einem Schwerpunktthema. Der »administrative Ansatz«, das jüngste Instrument der Behörden, erweitert durch die interbehördliche Zusammenarbeit von Jugendämtern, Finanz- und Ordnungsbehörden die Zugriffsmöglichkeiten für die Polizei und weicht rechtsstaatliche Grenzen auf (Rauls und Feltes 2020a).
Nicht nur kommt es zu einer Kriminalisierung migrantischen Lebens in Deutschland, sondern auch zu einer Markierung migrantischer Räume als Ziele rechter Gewaltakte und einer Prekarisierung migrantischen Lebens. Im Kontext des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau ist dies bedrohliche Realität geworden: So verweisen neueste Untersuchungen des Forschungsclusters »Forensic Architecture«, das sich auf digitale Rekonstruktion von Abläufen in Gewaltsituationen spezialisiert hat, darauf, dass die in der Shisha-Bar »Arena Bar« Ermordeten hätten fliehen können, wenn der Notausgang nicht im Zuge einer polizeilichen Razzia verschlossen worden wäre (Forensic Architecture 2021).
Zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie die »Initiative 19. Februar Hanau« oder »Kein Generalverdacht« prangern diese rassistischen Stigmatisierungen ganzer Menschengruppen zunehmend öffentlich an. Das Thema »Clan-Kriminalität« wird damit zum Brennglas gesellschaftlicher Deutungskämpfe um die Legitimität polizeilicher Praktiken und rassistischer Polizeigewalt.
Methode und Forschungsperspektiven
Die nachfolgenden Ergebnisse basieren auf einer qualitativen Forschung, die analysierte, inwieweit die Razzien im Zuge einer »Politik der tausend Nadelstiche« den migrantisch markierten kriminellen Raum und Körper produzieren und welche Konsequenzen hieraus für rassifizierte Körper und Orte folgen. Unsere Positionierung als weiße Forschende ohne rassistische Gewalterfahrung stellte uns zunächst vor die Frage nach dem Umgang mit diesen Privilegien. Erstens galt es den dominanten Sicherheitsdiskurs herauszufordern, strukturelle Lücken im Forschungsumfeld kritisch zu reflektieren und marginalisiertes Wissen aus einer Verbündeten-Position heraus sichtbar zu machen. Zweitens nahmen wir eine kritische Position als Verbündete ein und stellten die polizeilichen und gesellschaftlichen Rassifizierungsmechanismen im Rahmen der »Clan-Kriminalität« ins Zentrum unserer Arbeit. So führten wir Interviews mit aktivistischen Expert*innen, die wir aufgrund eigener Betroffenheit und/oder ihrer Rolle als Advokat*innen Betroffener auswählten.
Historisch gewachsene Ausgrenzungspolitik
Um die heutige Debatte um »Clan-Kriminalität« zu verstehen und historisch einordnen zu können, bedarf es der Kontextualisierung in eine historisch gewachsene Ausgrenzungspolitik des Staates. Dazu zählt auch ein Verständnis von der Flucht- und Migrationsgeschichte vieler Betroffener. Der Bürger*innenkrieg im Libanon (1975-1990) zwang tausende Menschen in die Flucht. Zu der Gruppe der Geflüchteten gehörten unter anderem Palästinenser*innen und Kurd*innen, die meist schon in zweiter Generation ohne Staatsbürger*innenschaft im Libanon lebten. Als solche hatten sie weder einen Zugang zu sozialrechtlichen Absicherungen noch zu gesellschaftlicher Teilhabe. In Deutschland angekommen erwartete die Menschen eine erneute Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft, die sich bis heute im rechtlichen Status der Duldung materialisiert. Zwar setzt die Duldung die Abschiebung für Personen mit ungeklärter Identität für einen bestimmten Zeitraum aus. Doch die Menschen befinden sich quasi illegal (§95 Abs. 1 und 2 AufenthG) in Deutschland und sind verpflichtet, einen Identitätsnachweis (§48 Abs. 1 und 3 AufenthG) zu erbringen. Trotz jahrelangem Aufenthalt in Deutschland kann die Abschiebung erfolgen, wenn die geduldete Person sich nicht „rechtstreu verhalten hat“ (§53 Abs. 2 AufenthG). Die Bedingungen unter denen Menschen mit einem Duldungsstatus leben sind zudem von vielen Einschränkungen und Sanktionen geprägt: alle drei bis sechs Monate muss der Aufenthaltstitel erneuert werden, es besteht Residenzpflicht (Wohnortnahme am zugewiesenen Ort, §56 AsylG, §61 AufenthG), in den meisten Fällen wird von der Ausländerbehörde ein Arbeits- und Ausbildungsverbot ausgesprochen und die Behörde kann Kürzungen der ohnehin geringen Sozialleistungen aufgrund (vermeintlich) fehlender Bemühungen bei der Passbeschaffung durchsetzen (vgl. Boettner und Schweitzer 2020, S. 350). Im Falle der aus dem Libanon Geflüchteten erhielt nicht nur die erste Generation den Status der Duldung, sondern auch die Kinder und Enkelkinder »erbten« die Duldung ihrer Eltern (Schweitzer 2020, S. 365).
Hinzu kam die in den 2000ern aktiv geführte „Hetzkampagne“ (Flüchtlingsrat 2001, S. 2) gegen libanesische Bürger*innenkriegsflüchtlinge. So wurde der Gruppe der arabisch-sprechenden Kurd*innen unterstellt, dass sie falsche Angaben gemacht hätten und eigentlich türkischer Herkunft seien. Diese Vorwürfe mündeten in einem Generalverdacht, im Zuge dessen konservative Politiker*innen forderten, die Menschen mit ungeklärter libanesischer Identität zu verfolgen und sofort abzuschieben: „und wenn wir sie mit dem Flugzeug abwerfen“ (Ludger Hinsen, CDU, zit. n. Flüchtlingsrat 2001, S. 88). Zur Aufdeckung der vermeintlich echten Staatsbürger*innenschaft wurde die rassistische Methode der geographischen DNA-Kategorisierung gewählt, um anhand der DNA-Ergebnisse die vermeintliche Abstammung der Familien aus der Türkei sowie damit ihre fehlende Asylberechtigung »beweisen« zu wollen (Schweitzer 2020, S. 366).
Gesellschaftliche Segregation
Die Expert*innen betonten in den Interviews, dass die politische, mediale und polizeiliche Darstellung der aktiv betriebenen »ethnischen Abschottung« der vom »Clan-Diskurs« betroffenen Familien eine falsche Bewertung der Umstände sei. Vielmehr müsse man von einer gewollten staatlichen „Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik“ (I, Zeile 162f.) sprechen.
Der Ausschluss vom Arbeitsmarkt führt in den meisten Fällen zu einer Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Auch wenn Einzelne eine Arbeitserlaubnis erhalten, so sehen sie sich dennoch mit verschiedenen Schließungsmechanismen und Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert. Oft werden Menschen mit einem »Clan-markierten« Nachnamen pauschal in „Sippenhaft“ (IV, Zeile 140; V, Zeile 230) genommen. Ihnen wird unterstellt „sie seien Teil bzw. zumindest Sympathisanten einer kriminellen Struktur ‚arabischer Familien-Clans‘“ (Schweitzer 2020, S. 369). Dadurch werden die Betroffenen als »fremd« und »anders« markiert. Die verschiedenen Ebenen der Segregation sind eng mit einem rassistischen „Zugehörigkeitsregime“ (Rommelspacher 2011, S. 31), das gesellschaftliche In- und Exklusion regelt, verbunden. Die Folgen dieser Exklusionsmechanismen treten dann zutage: Zum einen stärkten die diversen Exklusionsmomente für einige den Bezug zum eigenen Familiensystem, da nur dieses aufgrund historischer und struktureller Unsicherheit ein beständiges soziales Netzwerk und Zugehörigkeit bot. Zum anderen schuf die Platzierung außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges für einige – wenige – die Grundlage für illegale Erwerbstätigkeiten und Kriminalität (Boettner und Schweitzer 2020, S. 349f.).
Welches Wissen, welche Macht?
Um zu verstehen wie es zur Manifestierung des »Clan-Diskurses« kommt, muss die Wissensformation kritisch beleuchtet werden. Da die Kriminologin Dorothee Dienstbühl von den Interviewpartner*innen als treibende wissenschaftliche Figur identifiziert wurde, lohnt sich ein Blick in die umstrittene polizeiliche Handreichung »Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung« (Dienstbühl und Richter 2020). Hierin wird das »Clan-kriminell« markierte Andere in den „islamischen Kulturkreis“ (2020, S. 4) verwiesen. In diesem abgegrenzten Raum würden die Familien nach „Prinzipien [leben], die hunderte Jahre alt [seien]“ (ebd.). Anstatt zu differenzieren, legitimiert das Handbuch einen pauschalen Generalverdacht und die damit einhergehende Stigmatisierung ganzer Familien. So seien die „[kriminellen] Denkmuster häufig auch bei [unschuldigen] Familienmitgliedern verankert“ (ebd.). Dies macht deutlich, dass Kriminalität hier als Wesensart der Menschen und damit als naturgegeben angesehen wird (vgl. kritisch dazu: Terkessidis 2004, S. 98). Dadurch wird eine rassifizierende Kategorisierung vollzogen, die das Andere als essenzielle Einheit skizziert und gegenüber dem vermeintlich Eigenen abwertet (vgl. Attia 2012, S. 8). Anstatt strukturelle Kontexte einzelner Straftaten zu berücksichtigen, wird in einem späteren Abschnitt daran appelliert herauszufinden „was die Ehre des Anderen verletzt, [denn dies] ist eine vom Stammeswesen übernommene Kriegsstrategie“ (Dienstbühl und Richter 2020, S. 12). Die Gegenüberstellung des vermeintlich entwickelten, modernen Staates und des kriegerischen, weniger entwickelten Stammes hat dezidiert kolonial-rassistische Anklänge und reiht sich in orientalisierende Diskurse ein.
Die Broschüre gibt zwei Vorschläge zur sogenannten Ehrverletzung: Reizfaktoren für Clan-Mitglieder seien Hunde und weibliche Polizeibeamtinnen (vgl. ebd., S. 14). Das angebliche Rollenverständnis vermeintlicher »Clan-Mitglieder« würde die Frau dem Mann unterordnen und eine Frau in Uniform würde „dem gelebten Weltbild der Clans diametral gegenüberstehen“ (ebd.). Damit wird patriarchale Gewalt bei dem zuvor konstruierten muslimisch markierten Anderen im außen verortet und kulturalisiert (Shooman 2016, S. 10).
Als Wissenschaftlerin wird Dorothee Dienstbühl eine Definitionsmacht zu eigen, die über die Generierung einer vermeintlichen Gefahr von »Clan-Familien« (vgl. IV, Zeile 34ff.; II, Zeile 36ff.) die Mobilisierung der Polizei in den Raum der Shisha-Bar und weitere Orte zu legitimieren versucht. Die „gemachte Angst“ (I, Zeile 264ff.) verfolge laut den Expert*innen damit auch den Zweck, Ressourcen und weitere Zugriffsmöglichkeiten für die Polizei zu erlangen und auch die eigene Karriere weiter voranzutreiben (vgl. I, Zeile 92ff.; vgl. IV, Zeile 447ff.). Diese enge Zusammenarbeit zwischen Sozialwissenschaftler*innen und Sicherheitsbehörden wird in Deutschland unhinterfragt hingenommen, während es etwa in den USA seit dem Vietnamkrieg innergesellschaftliche und politische Debatten über ethische Grenzen bezüglich der Verwobenheit von Forschung, Geheimdiensten und Militär gibt (vgl. Hirschfeld 2015).
Expansion der Exekutive
Entgegen polizeilicher und medialer Narrative von organisierter »Clan-Kriminalität« werden im Rahmen der Razzien vor allem unverzollter Shisha-Tabak oder Verstöße gegen Brand- und Jugendschutz geahndet (Feltes und Rauls 2020b, S. 374). Tatsächlich handelt es sich damit primär um Ordnungswidrigkeiten, Verstöße gegen Gewerbeauflagen oder in seltenen Fällen kleinere Straftaten. Die mediale Inszenierung der Einsätze, die vielen beteiligten (teils schwerbewaffneten) Ordnungsbehörden, verdachtsunabhängige Kontrollen von rassifizierten Gästen sowie das Absperren ganzer Lebensbereiche wie Stadtteile, Straßenzüge oder Shisha-Bars stehen damit in keinem Verhältnis zu den konkret vorgefundenen Delikten. Auf diesem Weg kommt es zu einer „gezielte[n] Produktion eben dieser Bilder“ (I, Zeile 406ff.) von kriminellen und gefährlichen Räumen, entlang derer sich polizeiliches Handeln formiert und gegen rassifizierte und markierte Menschen und Orte richtet (z.B. Ausweisung von Gefahrengebieten) (Belina und Wehrheim 2020, S. 98; Hunold et al. 2021, S. 23f.). Die Polizei definiert damit zunehmend wer und „was überhaupt strafbar ist“ (II, Zeile 401f.) und wie die Straftaten zu bekämpfen sind (Belina 2018, S. 121; Golian 2019, S. 180).
Sie ist im Rahmen der Gewerbekontrollen, um die es vordergründig geht, eigentlich nicht als Hauptakteurin, sondern lediglich im Rahmen der Amtshilfe – neben Ordnungsamt, Zoll oder Steuerfahndung – beteiligt (Rauls und Feltes 2021, S. 102f.). Das Gewerberecht ist dabei sozusagen der „Türöffner“ (IV, Zeile 235) in Bereiche, die der Rechtsstaat eigentlich schützt, verbunden mit der Hoffnung vor Ort bei irgendwem einen Straftatbestand festzustellen (Rauls und Feltes 2021, S. 102). Die rechtsstaatliche Unterscheidung der Polizeiaufgaben in Straf- und Gefahrenabwehrrecht wird durch dieses Vorgehen zugunsten der Exekutive aufgeweicht. Im Gegensatz zum Strafrecht, das frühestens nach dem Versuch einer Straftat zur Anwendung kommt, lässt sich das Gefahrenabwehrrecht nämlich bereits im Falle einer durch die Ordnungsbehörden vor Ort definierten Bedrohungslage anwenden (ebd., S. 102).
Diese Gewerbekontrollen sind nicht per se verfassungswidrig, jedoch erfüllen sie nicht das notwendige Kriterium der Verhältnismäßigkeit. Gemessen an den Ordnungswidrigkeiten, um die es vordergründig geht, kommt es standardmäßig zu überzogener physischer und psychischer Polizeigewalt, racial profiling und der Nutzung von verwaltungsrechtlichen Hintertüren (ebd., S. 8; vgl. bejahend: Dienstbühl 2020). Die polizeiliche Inszenierung vom „Kampf gegen die Clans“ (Bund Deutscher Kriminalbeamter 2020) institutionalisiert letztlich illiberale und rassifizierte Polizeiarbeit als tägliche Verwaltungsroutine. Grundlegende Bürger*innenrechte von migrantisch und muslimisch markierten Personen, wie die Unschuldsvermutung oder die körperliche Unversehrtheit, werden durch diese verdachtsunabhängigen Kontrollen strukturell ausgehebelt.
Polizei prägt Gesellschaft
Die Produktion krimineller Räume ist kein exklusiv lokaler Prozess wie die örtlich begrenzten Polizeieinsätze vielleicht zunächst suggerieren. Tatsächlich ist »die Shisha-Bar« durch die medial inszenierten Polizeieinsätze längst zu einem durch Angst und Unsicherheit markierten Ort geworden. Dabei wird eine breitere weiße Öffentlichkeit adressiert und die vermeintliche Bedrohung entfaltet auch auf nationaler Ebene (weitab vom tatsächlichen Einsatzort) eine Wirkung. Dies kann durchaus als Strategie der Polizei verstanden werden, um ein allgemeines Sicherheitsproblem zu konstruieren. Hierdurch verändert sich der Blick der Dominanzgesellschaft nicht nur auf als migrantisch markierte Orte wie die Shisha-Bar, sondern auf ganze Stadtteile und Bevölkerungsgruppen. Letztlich verräumlicht die Polizei auf diesem Wege eine rassifizierende Sicherheitspolitik, um gezielt Kontrollbefugnisse über migrantische Körper auszuweiten.
Tatsächlich geht es also längst nicht mehr nur um Repression und Ausgrenzung. Stattdessen versteht die Polizei ihre Aufgabe zunehmend als „Umerziehungsprozess“ (Dienstbühl und Richter 2020, S. 18). Die Shisha-Bar ist einer der wenigen quasi alkoholfreien Konsum- und damit Rückzugsräume für muslimisch und migrantisch markierte Menschen. Daher fungieren die Polizeieinsätze, die im Rahmen des administrativen Ansatzes insbesondere das Nichtraucherschutzgesetz als Zugriff nutzen, maßgeblich als Instrument, um marginalisierte Gruppen der Gesellschaft entlang dominanter Gesellschaftsvorstellungen zu disziplinieren (Pattillo 2007, S. 295-298). Die Polizei definiert damit zunehmend die Gesellschaft insgesamt. Der viel verbreitete Slogan »Nulltoleranz gegen die Clan-Kriminalität« wird in dieser Lesart also zu »Nulltoleranz für nicht-weißes Leben«.
Reform! Defund! Abolish!
Zwar gibt es vereinzelt Versuche die Polizei zu reformieren und rassistischer Polizeigewalt zu begegnen (etwa die Ausgabe von Quittungen in Berlin, die den Grund einer Personenkontrolle benennen oder sogenannte unabhängige Polizeibeauftragte), dennoch blieb selbst der erste Schritt in eine solche Richtung bislang aus: eine unabhängige Untersuchung zu rassistischen Einstellungen und Praktiken innerhalb der Polizei in Deutschland. Ein Blick nach England zeigt, dass eine Kombination aus Druck von der Straße, Anerkennung des Problems, Wille zur Problemlösung und Einbindung betroffener Gemeinschaften tatsächlich einen positiven Effekt haben kann. So gibt es seit 2018 das unabhängige Büro zur »Untersuchung von polizeilichem Handeln (IOPC)«. Echte Unabhängigkeit sieht hier – anders als in den Debatten um Polizeibeauftragte in Deutschland – unter anderem vor, dass der*die Vorsitzende des IOPC unter keinen Umständen Polizist*in gewesen sein darf. Außerdem gibt es ein selbstständiges (forensisches) Ermittlungsteam.
Und dennoch häufen sich Berichte über den weiterhin tief verwurzelten Rassismus in der britischen Polizei (Süddeutsche Zeitung 2023; ZDF.de 2023; Zeit Online 2023). Aus diesem Grund fordern Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen gemeinsam unter dem Slogan »Defund the Police«, vor allem die breite finanzielle Umverteilung von sicherheits- zu sozialpolitischen Ressourcen.1 Neben dieser wichtigen Forderung muss auch der Handlungs- und Ermessensspielraum der Polizei stark eingeschränkt werden, um die exekutive Deutungshoheit über kriminelle Räume und Gruppen aufzubrechen. So sollte die Polizei nicht selbst Gefahrenorte benennen dürfen, um diese anschließend zu polizieren. Und auch das Gefahrenabwehrrecht mit dem die Polizei in geschützte Rechtsräume eindringt bedarf einer gründlichen Revision.
Das letztendliche Ziel all dieser Reformen sollte jedoch die Überwindung der Institution Polizei sein, im Sinne des Abolitionismus. Eine Institution, deren gesamte Historie und Gegenwart durchzogen von Rassismen2 ist und deren ureigene Aufgabe die Aufrechterhaltung von Herrschaft über marginalisierte Gruppen ist, lässt sich nicht reformieren. Es benötigt daher einen tiefgreifenden systemischen und gesellschaftlichen Wandel, um die Transformation von Konflikten und Gewaltmomenten kommunal, restaurativ und nachhaltig zu organisieren.
Anmerkungen
1) Ein Beispiel für einen möglichen Trägerverein alternativer und nicht-strafender Konflikttransformationen wäre das Kompetenzzentrum für Kommunale Konfliktbearbeitung in Salzwedel, die uns den Anstoß für die Forschungsarbeit gaben.
2) Auch andere intersektional zu denkende Diskriminierungen wie Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Klassismus sollten für eine breite Analyse polizeilicher Praktiken in den Fokus gerückt werden.
Literatur
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Maraike Henschel studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Gewalt, Gender, Migration und Antirassismus.
Joschka Dreher studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Grenzregime, Politische Gewalt und die WANA-Region. Er arbeitete u.a. an der Friedensakademie Landau.
Beide sind derzeit am Zentrum für Konfliktforschung im Projekt »Transformations of Political Violence« angestellt.