»Nulltoleranz gegen Clan-Kriminalität«

»Nulltoleranz gegen Clan-Kriminalität«

Rassistische Polizeirazzien in Shisha-Bars

von Maraike Henschel und Joschka Dreher

Das Thema ist ein dominanter Dauerbrenner: organisierte »Clan-Kriminalität«. Beinahe täglich kommt es zu schwerbewaffneten Polizeirazzien an migrantisch markierten Orten in Berlin, Frankfurt, Essen und anderen Städten. Obwohl kritische Stimmen laut werden, die die Rechtmäßigkeit der Razzien und das harte Vorgehen in Frage stellen, bleibt das polizeiliche Eindringen in den Ort der Shisha-Bar alltägliche Routine. Dieses Vorgehen hat Konsequenzen – für die Menschen, die davon betroffen sind, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Der Beitrag entfaltet diese Konsequenzen und wirft einen Blick auf Veränderungspotential.

Seit einigen Jahren avanciert das Thema sogenannter »Clan-Kriminalität« zum politischen, medialen und popkulturellen Dauerbrenner, zum öffentlichen Spektakel (Bartosz und Fröhlich 2021; NDR 2021; Serien »4 Blocks« oder »Dogs of Berlin«; siehe etwa Al-Zein 2020). Dabei scheint es als würde Deutschland von organisierter »Clan-Kriminalität« beherrscht. Die Polizei sieht sich zum Handeln veranlasst und stilisiert den „Kampf gegen Clan-Kriminalität“ (BDK 2020) zu einem Schwerpunktthema. Der »administrative Ansatz«, das jüngste Instrument der Behörden, erweitert durch die interbehördliche Zusammenarbeit von Jugendämtern, Finanz- und Ordnungsbehörden die Zugriffsmöglichkeiten für die Polizei und weicht rechtsstaatliche Grenzen auf (Rauls und Feltes 2020a).

Nicht nur kommt es zu einer Kriminalisierung migrantischen Lebens in Deutschland, sondern auch zu einer Markierung migrantischer Räume als Ziele rechter Gewaltakte und einer Prekarisierung migrantischen Lebens. Im Kontext des rechtsterroristischen Anschlags in Hanau ist dies bedrohliche Realität geworden: So verweisen neueste Untersuchungen des Forschungsclusters »Forensic Architecture«, das sich auf digitale Rekonstruktion von Abläufen in Gewaltsituationen spezialisiert hat, darauf, dass die in der Shisha-Bar »Arena Bar« Ermordeten hätten fliehen können, wenn der Notausgang nicht im Zuge einer polizeilichen Razzia verschlossen worden wäre (Forensic Architecture 2021).

Zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie die »Initiative 19. Februar Hanau« oder »Kein Generalverdacht« prangern diese rassistischen Stigmatisierungen ganzer Menschengruppen zunehmend öffentlich an. Das Thema »Clan-Kriminalität« wird damit zum Brennglas gesellschaftlicher Deutungskämpfe um die Legitimität polizeilicher Praktiken und rassistischer Polizeigewalt.

Methode und Forschungsperspektiven

Die nachfolgenden Ergebnisse basieren auf einer qualitativen Forschung, die analysierte, inwieweit die Razzien im Zuge einer »Politik der tausend Nadelstiche« den migrantisch markierten kriminellen Raum und Körper produzieren und welche Konsequenzen hieraus für rassifizierte Körper und Orte folgen. Unsere Positionierung als weiße Forschende ohne rassistische Gewalterfahrung stellte uns zunächst vor die Frage nach dem Umgang mit diesen Privilegien. Erstens galt es den dominanten Sicherheitsdiskurs herauszufordern, strukturelle Lücken im Forschungsumfeld kritisch zu reflektieren und marginalisiertes Wissen aus einer Verbündeten-Position heraus sichtbar zu machen. Zweitens nahmen wir eine kritische Position als Verbündete ein und stellten die polizeilichen und gesellschaftlichen Rassifizierungsmechanismen im Rahmen der »Clan-Kriminalität« ins Zentrum unserer Arbeit. So führten wir Interviews mit aktivistischen Expert*innen, die wir aufgrund eigener Betroffenheit und/oder ihrer Rolle als Advokat*innen Betroffener auswählten.

Historisch gewachsene Ausgrenzungspolitik

Um die heutige Debatte um »Clan-Kriminalität« zu verstehen und historisch einordnen zu können, bedarf es der Kontextualisierung in eine historisch gewachsene Ausgrenzungspolitik des Staates. Dazu zählt auch ein Verständnis von der Flucht- und Migrationsgeschichte vieler Betroffener. Der Bürger*innenkrieg im Libanon (1975-1990) zwang tausende Menschen in die Flucht. Zu der Gruppe der Geflüchteten gehörten unter anderem Palästinenser*innen und Kurd*innen, die meist schon in zweiter Generation ohne Staatsbürger*innenschaft im Libanon lebten. Als solche hatten sie weder einen Zugang zu sozialrechtlichen Absicherungen noch zu gesellschaftlicher Teilhabe. In Deutschland angekommen erwartete die Menschen eine erneute Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft, die sich bis heute im rechtlichen Status der Duldung materialisiert. Zwar setzt die Duldung die Abschiebung für Personen mit ungeklärter Identität für einen bestimmten Zeitraum aus. Doch die Menschen befinden sich quasi illegal (§95 Abs. 1 und 2 AufenthG) in Deutschland und sind verpflichtet, einen Identitätsnachweis (§48 Abs. 1 und 3 AufenthG) zu erbringen. Trotz jahrelangem Aufenthalt in Deutschland kann die Abschiebung erfolgen, wenn die geduldete Person sich nicht „rechtstreu verhalten hat“ (§53 Abs. 2 AufenthG). Die Bedingungen unter denen Menschen mit einem Duldungsstatus leben sind zudem von vielen Einschränkungen und Sanktionen geprägt: alle drei bis sechs Monate muss der Aufenthaltstitel erneuert werden, es besteht Residenzpflicht (Wohnortnahme am zugewiesenen Ort, §56 AsylG, §61 AufenthG), in den meisten Fällen wird von der Ausländerbehörde ein Arbeits- und Ausbildungsverbot ausgesprochen und die Behörde kann Kürzungen der ohnehin geringen Sozialleistungen aufgrund (vermeintlich) fehlender Bemühungen bei der Passbeschaffung durchsetzen (vgl. Boettner und Schweitzer 2020, S. 350). Im Falle der aus dem Libanon Geflüchteten erhielt nicht nur die erste Generation den Status der Duldung, sondern auch die Kinder und Enkelkinder »erbten« die Duldung ihrer Eltern (Schweitzer 2020, S. 365).

Hinzu kam die in den 2000ern aktiv geführte Hetzkampagne“ (Flüchtlingsrat 2001, S. 2) gegen libanesische Bürger*innenkriegsflüchtlinge. So wurde der Gruppe der arabisch-sprechenden Kurd*innen unterstellt, dass sie falsche Angaben gemacht hätten und eigentlich türkischer Herkunft seien. Diese Vorwürfe mündeten in einem Generalverdacht, im Zuge dessen konservative Politiker*innen forderten, die Menschen mit ungeklärter libanesischer Identität zu verfolgen und sofort abzuschieben: „und wenn wir sie mit dem Flugzeug abwerfen“ (Ludger Hinsen, CDU, zit. n. Flüchtlingsrat 2001, S. 88). Zur Aufdeckung der vermeintlich echten Staatsbürger*innenschaft wurde die rassistische Methode der geographischen DNA-Kategorisierung gewählt, um anhand der DNA-Ergebnisse die vermeintliche Abstammung der Familien aus der Türkei sowie damit ihre fehlende Asylberechtigung »beweisen« zu wollen (Schweitzer 2020, S. 366).

Gesellschaftliche Segregation

Die Expert*innen betonten in den Interviews, dass die politische, mediale und polizeiliche Darstellung der aktiv betriebenen »ethnischen Abschottung« der vom »Clan-Diskurs« betroffenen Familien eine falsche Bewertung der Umstände sei. Vielmehr müsse man von einer gewollten staatlichen „Abschottungs- und Ausgrenzungspolitik“ (I, Zeile 162f.) sprechen.

Der Ausschluss vom Arbeitsmarkt führt in den meisten Fällen zu einer Abhängigkeit von staatlichen Transferleistungen. Auch wenn Einzelne eine Arbeitserlaubnis erhalten, so sehen sie sich dennoch mit verschiedenen Schließungsmechanismen und Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt konfrontiert. Oft werden Menschen mit einem »Clan-markierten« Nachnamen pauschal in „Sippenhaft“ (IV, Zeile 140; V, Zeile 230) genommen. Ihnen wird unterstellt sie seien Teil bzw. zumindest Sympathisanten einer kriminellen Struktur ‚arabischer Familien-Clans‘“ (Schweitzer 2020, S. 369). Dadurch werden die Betroffenen als »fremd« und »anders« markiert. Die verschiedenen Ebenen der Segregation sind eng mit einem rassistischen „Zugehörigkeitsregime“ (Rommelspacher 2011, S. 31), das gesellschaftliche In- und Exklusion regelt, verbunden. Die Folgen dieser Exklusionsmechanismen treten dann zutage: Zum einen stärkten die diversen Exklusionsmomente für einige den Bezug zum eigenen Familiensystem, da nur dieses aufgrund historischer und struktureller Unsicherheit ein beständiges soziales Netzwerk und Zugehörigkeit bot. Zum anderen schuf die Platzierung außerhalb des gesellschaftlichen Gefüges für einige – wenige – die Grundlage für illegale Erwerbstätigkeiten und Kriminalität (Boettner und Schweitzer 2020, S. 349f.).

Welches Wissen, welche Macht?

Um zu verstehen wie es zur Manifestierung des »Clan-Diskurses« kommt, muss die Wissensformation kritisch beleuchtet werden. Da die Kriminologin Dorothee Dienstbühl von den Interviewpartner*innen als treibende wissenschaftliche Figur identifiziert wurde, lohnt sich ein Blick in die umstrittene polizeiliche Handreichung »Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung« (Dienstbühl und Richter 2020). Hierin wird das »Clan-kriminell« markierte Andere in den „islamischen Kulturkreis“ (2020, S. 4) verwiesen. In diesem abgegrenzten Raum würden die Familien nach Prinzipien [leben], die hunderte Jahre alt [seien]“ (ebd.). Anstatt zu differenzieren, legitimiert das Handbuch einen pauschalen Generalverdacht und die damit einhergehende Stigmatisierung ganzer Familien. So seien die „[kriminellen] Denkmuster häufig auch bei [unschuldigen] Familienmitgliedern verankert“ (ebd.). Dies macht deutlich, dass Kriminalität hier als Wesensart der Menschen und damit als naturgegeben angesehen wird (vgl. kritisch dazu: Terkessidis 2004, S. 98). Dadurch wird eine rassifizierende Kategorisierung vollzogen, die das Andere als essenzielle Einheit skizziert und gegenüber dem vermeintlich Eigenen abwertet (vgl. Attia 2012, S. 8). Anstatt strukturelle Kontexte einzelner Straftaten zu berücksichtigen, wird in einem späteren Abschnitt daran appelliert herauszufinden was die Ehre des Anderen verletzt, [denn dies] ist eine vom Stammeswesen übernommene Kriegsstrategie“ (Dienstbühl und Richter 2020, S. 12). Die Gegenüberstellung des vermeintlich entwickelten, modernen Staates und des kriegerischen, weniger entwickelten Stammes hat dezidiert kolonial-rassistische Anklänge und reiht sich in orientalisierende Diskurse ein.

Die Broschüre gibt zwei Vorschläge zur sogenannten Ehrverletzung: Reizfaktoren für Clan-Mitglieder seien Hunde und weibliche Polizeibeamtinnen (vgl. ebd., S. 14). Das angebliche Rollenverständnis vermeintlicher »Clan-Mitglieder« würde die Frau dem Mann unterordnen und eine Frau in Uniform würde „dem gelebten Weltbild der Clans diametral gegenüberstehen“ (ebd.). Damit wird patriarchale Gewalt bei dem zuvor konstruierten muslimisch markierten Anderen im außen verortet und kulturalisiert (Shooman 2016, S. 10).

Als Wissenschaftlerin wird Dorothee Dienstbühl eine Definitionsmacht zu eigen, die über die Generierung einer vermeintlichen Gefahr von »Clan-Familien« (vgl. IV, Zeile 34ff.; II, Zeile 36ff.) die Mobilisierung der Polizei in den Raum der Shisha-Bar und weitere Orte zu legitimieren versucht. Die „gemachte Angst“ (I, Zeile 264ff.) verfolge laut den Expert*innen damit auch den Zweck, Ressourcen und weitere Zugriffsmöglichkeiten für die Polizei zu erlangen und auch die eigene Karriere weiter voranzutreiben (vgl. I, Zeile 92ff.; vgl. IV, Zeile 447ff.). Diese enge Zusammenarbeit zwischen Sozialwissenschaftler*innen und Sicherheitsbehörden wird in Deutschland unhinterfragt hingenommen, während es etwa in den USA seit dem Vietnamkrieg innergesellschaftliche und politische Debatten über ethische Grenzen bezüglich der Verwobenheit von Forschung, Geheimdiensten und Militär gibt (vgl. Hirschfeld 2015).

Expansion der Exekutive

Entgegen polizeilicher und medialer Narrative von organisierter »Clan-Kriminalität« werden im Rahmen der Razzien vor allem unverzollter Shisha-Tabak oder Verstöße gegen Brand- und Jugendschutz geahndet (Feltes und Rauls 2020b, S. 374). Tatsächlich handelt es sich damit primär um Ordnungswidrigkeiten, Verstöße gegen Gewerbeauflagen oder in seltenen Fällen kleinere Straftaten. Die mediale Inszenierung der Einsätze, die vielen beteiligten (teils schwerbewaffneten) Ordnungsbehörden, verdachtsunabhängige Kontrollen von rassifizierten Gästen sowie das Absperren ganzer Lebensbereiche wie Stadtteile, Straßenzüge oder Shisha-Bars stehen damit in keinem Verhältnis zu den konkret vorgefundenen Delikten. Auf diesem Weg kommt es zu einer „gezielte[n] Produktion eben dieser Bilder“ (I, Zeile 406ff.) von kriminellen und gefährlichen Räumen, entlang derer sich polizeiliches Handeln formiert und gegen rassifizierte und markierte Menschen und Orte richtet (z.B. Ausweisung von Gefahrengebieten) (Belina und Wehrheim 2020, S. 98; Hunold et al. 2021, S. 23f.). Die Polizei definiert damit zunehmend wer und „was überhaupt strafbar ist“ (II, Zeile 401f.) und wie die Straftaten zu bekämpfen sind (Belina 2018, S. 121; Golian 2019, S. 180).

Sie ist im Rahmen der Gewerbekontrollen, um die es vordergründig geht, eigentlich nicht als Hauptakteurin, sondern lediglich im Rahmen der Amtshilfe – neben Ordnungsamt, Zoll oder Steuerfahndung – beteiligt (Rauls und Feltes 2021, S. 102f.). Das Gewerberecht ist dabei sozusagen der Türöffner“ (IV, Zeile 235) in Bereiche, die der Rechtsstaat eigentlich schützt, verbunden mit der Hoffnung vor Ort bei irgendwem einen Straftatbestand festzustellen (Rauls und Feltes 2021, S. 102). Die rechtsstaatliche Unterscheidung der Polizeiaufgaben in Straf- und Gefahrenabwehrrecht wird durch dieses Vorgehen zugunsten der Exekutive aufgeweicht. Im Gegensatz zum Strafrecht, das frühestens nach dem Versuch einer Straftat zur Anwendung kommt, lässt sich das Gefahrenabwehrrecht nämlich bereits im Falle einer durch die Ordnungsbehörden vor Ort definierten Bedrohungslage anwenden (ebd., S. 102).

Diese Gewerbekontrollen sind nicht per se verfassungswidrig, jedoch erfüllen sie nicht das notwendige Kriterium der Verhältnismäßigkeit. Gemessen an den Ordnungswidrigkeiten, um die es vordergründig geht, kommt es standardmäßig zu überzogener physischer und psychischer Polizeigewalt, racial profiling und der Nutzung von verwaltungsrechtlichen Hintertüren (ebd., S. 8; vgl. bejahend: Dienstbühl 2020). Die polizeiliche Inszenierung vom „Kampf gegen die Clans“ (Bund Deutscher Kriminalbeamter 2020) institutionalisiert letztlich illiberale und rassifizierte Polizeiarbeit als tägliche Verwaltungsroutine. Grundlegende Bürger*innenrechte von migrantisch und muslimisch markierten Personen, wie die Unschuldsvermutung oder die körperliche Unversehrtheit, werden durch diese verdachtsunabhängigen Kontrollen strukturell ausgehebelt.

Polizei prägt Gesellschaft

Die Produktion krimineller Räume ist kein exklusiv lokaler Prozess wie die örtlich begrenzten Polizeieinsätze vielleicht zunächst suggerieren. Tatsächlich ist »die Shisha-Bar« durch die medial inszenierten Polizeieinsätze längst zu einem durch Angst und Unsicherheit markierten Ort geworden. Dabei wird eine breitere weiße Öffentlichkeit adressiert und die vermeintliche Bedrohung entfaltet auch auf nationaler Ebene (weitab vom tatsächlichen Einsatzort) eine Wirkung. Dies kann durchaus als Strategie der Polizei verstanden werden, um ein allgemeines Sicherheitsproblem zu konstruieren. Hierdurch verändert sich der Blick der Dominanzgesellschaft nicht nur auf als migrantisch markierte Orte wie die Shisha-Bar, sondern auf ganze Stadtteile und Bevölkerungsgruppen. Letztlich verräumlicht die Polizei auf diesem Wege eine rassifizierende Sicherheitspolitik, um gezielt Kontrollbefugnisse über migrantische Körper auszuweiten.

Tatsächlich geht es also längst nicht mehr nur um Repression und Ausgrenzung. Stattdessen versteht die Polizei ihre Aufgabe zunehmend als „Umerziehungsprozess“ (Dienstbühl und Richter 2020, S. 18). Die Shisha-Bar ist einer der wenigen quasi alkoholfreien Konsum- und damit Rückzugsräume für muslimisch und migrantisch markierte Menschen. Daher fungieren die Polizeieinsätze, die im Rahmen des administrativen Ansatzes insbesondere das Nichtraucherschutzgesetz als Zugriff nutzen, maßgeblich als Instrument, um marginalisierte Gruppen der Gesellschaft entlang dominanter Gesellschaftsvorstellungen zu disziplinieren (Pattillo 2007, S. 295-298). Die Polizei definiert damit zunehmend die Gesellschaft insgesamt. Der viel verbreitete Slogan »Nulltoleranz gegen die Clan-Kriminalität« wird in dieser Lesart also zu »Nulltoleranz für nicht-weißes Leben«.

Reform! Defund! Abolish!

Zwar gibt es vereinzelt Versuche die Polizei zu reformieren und rassistischer Polizeigewalt zu begegnen (etwa die Ausgabe von Quittungen in Berlin, die den Grund einer Personenkontrolle benennen oder sogenannte unabhängige Polizeibeauftragte), dennoch blieb selbst der erste Schritt in eine solche Richtung bislang aus: eine unabhängige Untersuchung zu rassistischen Einstellungen und Praktiken innerhalb der Polizei in Deutschland. Ein Blick nach England zeigt, dass eine Kombination aus Druck von der Straße, Anerkennung des Problems, Wille zur Problemlösung und Einbindung betroffener Gemeinschaften tatsächlich einen positiven Effekt haben kann. So gibt es seit 2018 das unabhängige Büro zur »Untersuchung von polizeilichem Handeln (IOPC)«. Echte Unabhängigkeit sieht hier – anders als in den Debatten um Polizeibeauftragte in Deutschland – unter anderem vor, dass der*die Vorsitzende des IOPC unter keinen Umständen Polizist*in gewesen sein darf. Außerdem gibt es ein selbstständiges (forensisches) Ermittlungsteam.

Und dennoch häufen sich Berichte über den weiterhin tief verwurzelten Rassismus in der britischen Polizei (Süddeutsche Zeitung 2023; ZDF.de 2023; Zeit Online 2023). Aus diesem Grund fordern Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen gemeinsam unter dem Slogan »Defund the Police«, vor allem die breite finanzielle Umverteilung von sicherheits- zu sozialpolitischen Ressourcen.1 Neben dieser wichtigen Forderung muss auch der Handlungs- und Ermessensspielraum der Polizei stark eingeschränkt werden, um die exekutive Deutungshoheit über kriminelle Räume und Gruppen aufzubrechen. So sollte die Polizei nicht selbst Gefahrenorte benennen dürfen, um diese anschließend zu polizieren. Und auch das Gefahrenabwehrrecht mit dem die Polizei in geschützte Rechtsräume eindringt bedarf einer gründlichen Revision.

Das letztendliche Ziel all dieser Reformen sollte jedoch die Überwindung der Institution Polizei sein, im Sinne des Abolitionismus. Eine Institution, deren gesamte Historie und Gegenwart durchzogen von Rassismen2 ist und deren ureigene Aufgabe die Aufrechterhaltung von Herrschaft über marginalisierte Gruppen ist, lässt sich nicht reformieren. Es benötigt daher einen tiefgreifenden systemischen und gesellschaftlichen Wandel, um die Transformation von Konflikten und Gewaltmomenten kommunal, restaurativ und nachhaltig zu organisieren.

Anmerkungen

1) Ein Beispiel für einen möglichen Trägerverein alternativer und nicht-strafender Konflikttransformationen wäre das Kompetenzzentrum für Kommunale Konfliktbearbeitung in Salzwedel, die uns den Anstoß für die Forschungsarbeit gaben.

2) Auch andere intersektional zu denkende Diskriminierungen wie Sexismus, Queerfeindlichkeit oder Klassismus sollten für eine breite Analyse polizeilicher Praktiken in den Fokus gerückt werden.

Literatur

Al-Zein, M. (2020): Der Pate von Berlin: Mein Weg, meine Familie, meine Regeln. München: Droemer Knaur.

Attia, I. (2012): Privilegien sichern, nationale Identität revitalisieren. Journal für Psychologie 21(1), o.S. (1-31).

Bartosz, P.; Fröhlich, A. (2021): Kampf gegen Clankriminalität in Berlin Justiz zieht Immobilie einer Remmo-Strohfrau ein. Tagesspiegel, 20.08.2021.

Belina, B. (2018): Wie Polizei Raum und Gesellschaft gestaltet. In: Loick, D. (Hrsg.): Kritik der Polizei. Frankfurt: Campus Verlag, S. 119-133.

Belina, B.; Wehrheim, J. (2020): ‘Danger zones’. How policing space legitimizes policing pace. In: do Mar Castro Varela, M.; Ülker, B. (Hrsg.): Doing tolerance. Urban interventions and forms of participation. Opladen/Berlin/Toronto: Barbara Budrich, S. 95-114.

Boettner, J.; Schweitzer, H. (2020): Der Name als Stigma. Sozial Extra 44(6), S. 349-353.

Bund Deutscher Kriminalbeamter (2020): Organisierte Kriminalität: Der Kampf gegen die Clans. Homepagebeitrag, 24.9.2020.

Dienstbühl, D.; Richter, F. (2020): Arabische Familienclans – Historie. Analyse. Ansätze zur Bekämpfung. In: Polizei Essen – BAO Aktionsplan CLAN.

Flüchtlingsrat (2001): Staatenlose KurdInnen aus dem Libanon. Zeitschrift für Flüchtlingspolitik in Niedersachsen 78/79(4+5/01), S. 2; 88-90.

Forensic Architecture (2021): Racist terror attack in Hanau: The Arena Bar. Visuelle Rekonstruktion und Video, Homepage.

Golian, S. (2019): Spatial Racial Profiling. Rassistische Kontrollpraxen der Polizei und ihre Legitimationen. In: Wa Baile, M.; Dankwa, S. O.; Naguib, T.; Purtschert, P.; Schilliger, S. (Hrsg.): Racial Profiling. Bielefeld: transcript, S. 177-195.

Hirschfeld, B. (2015): Ethnologie im Kriegseinsatz. Die Geschichte einer Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Geheimdiensten und Militär. IMI-Studie 10/2015. Tübingen: Informationsstelle Militarisierung e.V.

Hunold, D.; Dangelmaier, T.; Brauer, E. (2021): Soziale Ordnung und Raum – Aspekte polizeilicher Raumkonstruktion. Soziale Probleme 32(1), S. 19-44.

NDR (2021): Niedersachsen: Knapp 2.000 Fälle von Clankriminalität, 19.07.2021.

Pattillo, M. E. (2007): Black on the block. The politics of race and class in the city. Chicago: University of Chicago Press.

Rauls, F.; Feltes, T. (2020a): Der administrative Ansatz zur Prävention und Bekämpfung von Kriminalität am Beispiel des Vorgehens gegen »Rockerkriminalität«. Wird das Strafrecht durch das Verwaltungsrecht ausgehebelt? Die Polizei 2020/3, S. 85-92.

Rauls, F.; Feltes, T. (2020b): „Clankriminalität“ und die „German Angst“. Sozial Extra 44(6), S. 372-377.

Rauls, F.; Feltes, T. (2021): Clankriminalität. Aktuelle rechtspolitische, kriminologische und rechtliche Probleme. Neue Kriminalpolitik 33(1), S. 96-110.

Rommelspacher, B. (2011): Was ist eigentlich Rassismus? In: Melter, C.; Mecheril, P. (Hrsg.): Rassismuskritik. Band 1: Rassismustheorie und forschung. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.

Schweitzer, H. (2020): Kriminalität und Kriminalisierung arabischer Familien in Essen. Sozial Extra 44(6), S. 364-371.

Shooman, Y. (2016): Antimuslimischer Rassismus – Ursachen und Erscheinungsformen. Düsseldorf: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit e.V. (IDA).

Süddeutsche Zeitung (2023): Londoner Polizei ist laut Untersuchung sexistisch und rassistisch, 21.03.2023.

Terkessidis, M. (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. Bielefeld: transcript.

ZDF.de (2023): Londoner Polizei „rassistisch und homophob“, 21.03.2023.

Zeit Online (2023): Britische Polizei zwang Schwarze Kinder häufiger zu Leibesvisitationen, 27.03.2023.

Maraike Henschel studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Politische Gewalt, Gender, Migration und Antirassismus.
Joschka Dreher studiert im Master Friedens- und Konfliktforschung an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Grenzregime, Politische Gewalt und die WANA-Region. Er arbeitete u.a. an der Friedensakademie Landau.

Beide sind derzeit am Zentrum für Konfliktforschung im Projekt »Transformations of Political Violence« angestellt.

Ausblick auf den Ausnahmezustand


Ausblick auf den Ausnahmezustand

von Peter Ullrich

Dass der G20-Gipfel im Juli dieses Jahres eine komplexe Herausforderung für die Polizei darstellen würde, war klar. Erstens sollten der Gipfel und seine Teilnehmenden abgesichert werden. Zweitens mobilisierte ein breites Spektrum Protestierender zu einer Vielzahl von Demonstrationen, darunter große Bündnisdemonstrationen, und auch zu Blockaden. Entsprechend waren auch die Grundrechte der Protestierenden, insbesondere die Versammlungsfreiheit, zu sichern. Und drittens galt es, etwas normales Leben in Hamburg aufrecht zu erhalten.

Bereits im Vorfeld des Gipfels zeigte sich, dass die widersprüchlichen Anforderungen einseitig zugunsten eines möglichst reibungslosen Gipfelablaufs aufgelöst werden sollten. Während des Gipfels wurde die Stadt weitgehend lahm gelegt, der Nahverkehr ruhte teilweise, und v.a. die Demonstrierenden bekamen die Prioritätensetzung in ganzer Härte zu spüren.

Als Einsatzleiter war Hartmut Dudde bestimmt worden, dessen Einsätze schon mehrfach gerichtlich gerügt worden waren. Von Beginn an war das polizeiliche Konzept auf Verhinderung der Proteste ausgerichtet und von tiefen Eingriffen in das Versammlungsrecht geprägt. Dies materialisierte sich neben einer Vielzahl von Auflagen in einer 38 Quadratkilometer großen Verbotszone für Versammlungen. Trotz eines anders lautenden Gerichtsurteils wurden Protestcamps konsequent verhindert – ein juristischer Tabubruch. Für diese Linie erhielt Dudde deutliche Rückendeckung vom Hamburger Innensenator Andy Grote. Dies alles geschah auf Basis einer Protestdiagnose, die in der Behauptung gipfelte, über Hamburg würden 8.000 gewaltbereite »Störer« hereinbrechen.

Gegen dieses Bedrohungsszenario wurde ein bislang ungekanntes Maß an Personal und Technik aufgeboten. Bis zu 20.000 Beamt*innen waren im Einsatz, darunter diverse Sonderformationen, einschließlich auf den Antiterrorkampf spezialisierter, mit Schnellfeuergewehren ausgestatteter Sondereinsatzkommandos. Den Polizeikräften standen Wasserwerfer aus dem gesamten Bundesgebiet, Hundestaffeln, Reiterstaffeln, Hubschrauber und Panzer zur Verfügung. Hamburg wurde eine polizeiliche Technikshow der Superlative geboten, die verdeutlichte, das zukünftig Polizeientwicklung wohl vor allem Aufrüstung sein wird.

Abgesehen von einigen Versammlungen, die sie eher pragmatisch begleitete, machte die Polizei vom martialischen Aufgebot Gebrauch und ließ das Geschehen vielfach eskalieren, u.a. durch massiven Pfeffersprayeinsatz, gewalttätige Angriffe und Beschimpfungen auch gegen Unbeteiligte, Journalist*innen und Demosanitäter*innen, Provokationen gegen friedliche Versammlungen, Stigmatisierung nicht genehmer Anwält*innen und Verbreitung dubioser Informationen zur Stimmungsmache. Wiederholt erzeugte die Polizei Massenpaniken. Dass es dabei »nur« zu Verletzten kam, ist fast ein Wunder. Zu den späteren gewalttätigen Ausschreitungen, die das Anliegen der überwiegend entschlossen-friedlichen Proteste schnell aus den Medien verdrängten, trug dieses Auftreten sicherlich mit bei.

Die staatlichen Behörden sind gehalten, […] versammlungsfreundlich zu verfahren“, schrieb das Bundesverfassungsgericht 1985 mit dem Brokdorf-Beschluss der Polizei ins Stammbuch. Die Ereignisse von Hamburg zeigen erneut, dass die Gewährleistung dieser Vorgabe fragil ist. Ähnlich wie 2015 bei den Blockupy-Protesten gegen die Europäische Zentralbank in Frankfurt nahmen auch in Hamburg die zahlreichen Präventivmaßnahmen einen tendenziell repressiven Charakter an, und mit demonstrativem Machtgehabe wurde weiter eskaliert. Hamburg befand sich in einer Art Ausnahmezustand, der sowohl diskursiv-medial als auch einsatzstrategisch orchestriert war.

Der Ausnahmezustand ist definiert durch die Suspendierung der Rechtsbindung. Dies manifestierte sich in Hamburg in der von Beginn an grundrechtsfeindlichen Linie, im Ignorieren von Gerichtsentscheidungen, im exzessiven Durchgreifen im Verlauf des Gipfels sowie in der anschließenden Exkulpation allen Polizeihandelns durch Bundes- und Landespolitik, insbesondere durch den Hamburger Bürgermeister Scholz.

Daraus ergibt sich eine klare Forderung: Die Ereignisse vom Hamburg müssen umfassend und unabhängig aufgearbeitet werden. Und selbst wenn dieser Einsatz personelle und strafrechtliche Konsequenzen haben sollte – er bleibt ein äußerst düsteres Omen für die Zukunft der Versammlungsfreiheit.

Peter Ullrich, Dr. phil., Dr. rer. med., Soziologe und Kulturwissenschaftler, Ko-Leiter des Bereichs »Soziale Bewegungen, Technik, Konflikte« der TU Berlin sowie des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung. Er war mit dem Komitee für Grundrechte und Demokratie als Demonstrationsbeobachter in Hamburg.

Privatjustiz oder faschistisches Phänomen?

Privatjustiz oder faschistisches Phänomen?

»Soziale Säuberungen« in Kolumbien

von Jan Wehrheim

Neben Brasilien ist wohl Kolumbien das Land, in dem die »sozialen Säuberungen« die erschreckensten Dimensionen angenommen haben. Opfer sind vermeintliche Kriminelle, Arme, Drogenabhängige, Straßenkinder und -jugendliche, PapiersammlerInnen, BettlerInnen, Behinderte, Prostituierte, Homosexuelle, StraßenverkäuferInnen und sonstige sogenannte Randgruppen. Eben alle, die vom Staat, den Medien und vor allem von den Protagonisten dieser Verbrechen als »anormal«, »sozialschädlich« oder »gefährlich« stigmatisiert werden. Nicht selten sind in die Aktionen der Todesschwadronen Mitglieder der Sicherheitsbehörden, Geheimdienste und der Polizei verwickelt, entweder aus Eigeninitiative oder im Auftrag von Unternehmern, die Polizeibeamte oder professionelle Killer für diese Morde bezahlen.

Am 5. Dezember des Jahres 1979 tauchte erstmals auch in Kolumbien das Phänomen der sogenannten »sozialen Säuberungen« auf. Eine bis dahin unbekannte Gruppe überfiel in der Stadt Pereira mutmaßliche Diebe und markierte ihre Gesichter und Hände mit nichtabwaschbarer roter Farbe. Es sollte das Ziel sein, potentiell »unsoziale« Personen zu brandmarken, um so der Kriminalität vorzubeugen. Die Reaktionen auf diese Vorfälle waren sehr konträr, von blankem Entsetzen bis hin zu der grotesken Äußerung, daß dies ja für die Diebe positiv sei, da sie nicht ins Gefängnis müßten und es zudem noch kostengünstiger sei. In der Folgezeit starben in Pereira innerhalb weniger Wochen 62 Personen, alles vermeintliche Diebe. Verantwortlich zeigte sich hierfür eine paramilitärische Gruppe namens Mano Negra (Schwarze Hand). Seit diesem Tag wurden in über 200 Städten Kolumbiens Tausende Menschen von über 60 verschiedenen Gruppen, die sich der sogenannten »sozialen Säuberung« verschrieben haben, ermordet.

Laut den Statistiken der Datenbank von Justicia y Paz (Gerechtigkeit und Frieden – katholische Organisation) starben zwischen Ende 1993 und September 1996 in Kolumbien 558 Personen durch »soziale Säuberungenskampagnen«. Diese Angaben basieren ausschließlich auf Informationen aus der Tagespresse. Die Auswertung solcher Berichte gestaltet sich beim Thema der »sozialen Säuberungen« noch schwieriger als bei anderen Fällen von Menschenrechtsverletzungen in Kolumbien. Die Mehrzahl der Fälle wird vermutlich überhaupt nicht bekannt oder taucht unter der Rubrik »normale Kriminalität« auf. Vergleichende Zahlen von 1994 verdeutlichen diese Vermutung. In der ersten Jahreshälfte wurde in den Tageszeitungen über 22 jugendliche Tote unter 18 Jahren in Bogotá berichtet. Das pathologische Institut Medicina Legal registrierte jedoch im selben Zeitraum 806 gewaltsame Todesfälle unter Jugendlichen. Allgemein wird davon ausgegangen, daß ca. 10 – 20 Prozent aller gewaltsamen Todesfälle bei Jugendlichen auf das Konto der »sozialen Säuberungs«-Organisationen gehen (vgl. Pérez/Mejía: S. 142). Das bedeutet, daß in den ersten sechs Monaten 1994 allein in Bogotá 80-160 Jugendliche unter 18 Jahren der »sozialen Säuberung« zum Opfer gefallen sind. Weitere Zahlen, z.B. der Defensoria Regional del Pueblo (in Spanien und Lateinamerika bestehende Instanz, die die Rechte des Bürgers gegenüber Behörden wahrnimmt – die Red.) aus Barranquilla, unterstützen diese Tendenz: Laut dieser Quelle starben in der Hafenstadt zwischen Januar und November 1995 hundert Jugendliche im Zuge der »sozialen Säuberung«. Auch SozialarbeiterInnen aus den betroffenen Vierteln der Städte bestätigen, daß die in den Medien erscheinenden Zahlen nur die Spitze des Eisberges sein können.

Da es schwierig ist, die Informationen zu beurteilen, kann auch keine definitive Aussage darüber gemacht werden, ob die Anzahl der Fälle steigt oder sinkt.

Das Vorgehen der Mörder

Die Methoden der Todesschwadrone sind verschieden. Oftmals erscheinen nachts in den Stadtvierteln schwerbewaffnete, vermummte Männer in Autos ohne Nummernschilder und schießen im Vorbeifahren auf Jugendliche, die sich auf Basketballplätzen treffen, oder auf Bedürftige, die Müll sortieren. Eine andere Variante ist die Entführung mutmaßlicher Krimineller (der einzige Hinweis hierauf ist oft die Erklärung der Täter). Ihre Körper tauchen später häufig nackt, mit Folterspuren und gefesselten Händen an Straßenrändern, auf Müllkippen oder in Flüssen wieder auf. Meist mit einem Schild „Ermordet wegen Diebstahls“ oder „Ermordet wegen Verkaufs von Bazuco (Kokapaste, die geraucht wird) – Grupo de limpieza social“ oder Ähnlichem. Kinder und Erwachsene, die auf der Straße leben, werden nachts im Schlaf exekutiert oder den Opfern wird bei lebendigem Leib ein »collar« – eine Halskrause aus einem brennenden Autoreifen – um den Hals gelegt. Über 95 Prozent der Opfer sterben allerdings durch Schußwaffengebrauch.

Im Vorfeld solcher Aktionen kursieren oft Listen mit Namen von Jugendlichen, die ermordet werden sollen, oder es »patrouillieren« schon Tage vorher unbekannte, bewaffnete Personen in den Stadtvierteln und machen Fotos von potentiellen Opfern. Im August 1993 tauchten sogar im Zentrum von Bogotá Plakate auf, die im Namen von Industriellen, Unternehmern und zivilen Organisationen zur Beerdigung von Verbrechern aufriefen.

Wer sind nun die Opfer?

In den 80er und Anfang der 90er Jahre konnte man davon ausgehen, daß die Mehrzahl der Opfer männlich und zwischen 16 und 25 Jahren alt war. Die Statistiken der bekannten Fälle ergaben ebenfalls, daß die Mehrheit der Personen als Kriminelle oder vermeintliche Drogenabhängige gebrandmarkt waren. In den letzten Jahren scheint sich dieses Opferschema jedoch zunehmend aufzulösen. So zeigen die Daten von Justicia y Paz, daß zunehmend auch Personen zwischen 26 und 45 Jahren diesen Verbrechen zum Opfer fallen. Diese Tendenz korreliert ebenfalls mit der Entwicklung der sozialen Identitäten der Opfer. So verdeutlichen die Veränderungen in den letzen drei Jahren, daß prozentual weniger als kriminell Bezeichnete, ehemalige Straftäter oder Drogenabhängige die Opfer sind, sondern zunehmend Bedürftige, AbfallsammlerInnen oder Beschäftigte des sogenannten informellen Sektors. Aber auch Homosexuelle, Mitglieder von Jugendbanden, Behinderte oder Prostituierte sind nach wie vor die Opfer.

…und wer die Täter?

Besonders schwierig ist das Problem der Täteridentifizierung. Es tauchen nur höchst selten Hinweise auf mögliche Verantwortliche auf. Oft gibt es zwar Hinweise, aber keine ausreichenden Beweise, so daß, obwohl konkrete Verantwortliche vermutet werden, diese nicht in den Statistiken genannt werden können. Dennoch läßt sich aufgrund von Einzelfällen, Zeugenaussagen und staatlichen Ermittlungen ein grobes Schema aufzeigen.

Ungefähr zwei Drittel der Morde gehen auf das Konto paramilitärischer und »sozialer Säuberungs«-Gruppen. In knapp 15 Prozent der Fälle waren Polizisten oder staatliche Sicherheitsbeamte für die Taten verantwortlich und in Einzelfällen Militärs, Unternehmer oder Einzelpersonen. So betont Sandra Mateus Guerrero in ihrem Buch über die Limpieza Social (»Soziale Säuberung«), daß zwischen 1990 und 1994 alleine 322 Verfahren gegen Polizisten, Mitglieder der Geheimdienste Sijin und DAS und der Armee eingeleitet worden sind, in denen ihnen schwerste Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden. Ein Drittel dieser Verfahren betrifft »soziale Säuberungsaktionen«.

Die Verbindungen zwischen staatlichen Akteuren und »sozialen Säuberungs« -Gruppen können sich sehr unterschiedlich gestalten. Im Extremfall sind Polizisten direkt für die Morde verantwortlich oder sie sind Mitglieder solcher Gruppen. In anderen Fällen wird von Zeugen berichtet, daß die Täter Fahrzeuge des DAS benutzt haben, daß die Opfer unmittelbar vor ihrem Verschwinden verhaftet worden sind, daß direkt vor und nach der Tat Kontrollen durch die Polizei stattgefunden haben oder bei Hausdurchsuchungen Fotos beschlagnahmt wurden, die später auf schwarzen Listen auftauchten.

Die wohl häufigste Form der Kooperation zwischen paramilitärischen Gruppen und der Polizei ist vermutlich die Deckung der Täter durch die Exekutivorgane. So ließ die Polizei in Popayán zwei Personen, die wegen »sozialer Säuberungs«-Aktionen festgenommen worden waren, wieder frei, weil sie Mitglieder der Armee waren. In anderen Fällen wird nicht weiter ermittelt oder an die Presse lediglich die Meldung herausgegeben, daß rivalisierende Verbrecherbanden für die Morde verantwortlich seien.

Eine weitere wichtige Rolle bei der »sozialen Säuberung« spielen lokale Unternehmer. Ihre Beteiligung ist genauso schwer zu beweisen, konkrete Verdachtsmomente gibt es jedoch hinreichend. Es wird immer wieder von Betroffenen oder SozialarbeiterInnen betont, daß Unternehmer Polizisten bezahlen, um potentiell kriminelle oder geschäftsschädigende Personen zu ermorden. Aus Ciudad Bolívar in Bogotá wird berichtet, daß sich UnternehmerInnen mit der Polizei treffen oder ihnen einen entsprechenden Brief schicken und diese zu Morden an Jugendlichen und Bedürftigen auffordern. In Einzelfällen sollen sie sogar direkt für die Morde verantwortlich sein. 1996 sollen Unternehmer in Bogotá 30000 Pesos (ca. 45 DM) an Sicarios (bezahlte, meist jugendliche Killer) oder Polizisten pro Mord gezahlt haben sollen. Plakate in der Innenstadt Bogotás belegen diese Beteiligung.

Kriminalität und Justiz

Wenn von Aktionen der »Sozialen Säuberung« die Rede ist, dreht sich die Diskussion meist um die Schlagwörter Kriminalität, Drogen, und vor allem Privatjustiz, ein Begriff, der fast schon zu einem Synonym für »paramilitarismo« in Kolumbien geworden ist. Fraglich ist aber, ob auch nur eines dieser Schlagwörter es annähernd ermöglicht, diese menschenverachtenden Aktionen zu erklären. Auslöser für die schnelle Assoziation zwischen »sozialer Säuberung«, Kriminalität und Privatjustiz sind vor allem zwei Faktoren: zum einen die Art und Weise, wie die Morde ausgeführt und inszeniert werden und zum anderen die Art der Berichterstattung durch die Medien.

Die Intention der Morde drückt sich häufig schon im Namen der Gruppen aus: Muerte a Bazuceros (Tod den Bazuco- d.h. Rauschgifthändlern), Muerte a ladrones de carros (Tod den Autodieben), Grupo de Limpieza de la Cuidad Bonita (Gruppe der Säuberung der Schönen Stadt). Das Hinterlassen des Namens soll die Tat rechtfertigen, es soll um die Bekämpfung der Kriminalität und des Drogenhandels und -konsums gehen, um eine »saubere« Stadt zu schaffen. Die gleiche Absicht sollte auch schon 1979 in Pereira vermittelt werden. Die Tagespresse übernimmt, wenn sie darüber schreibt, die Argumentationsmuster und spricht von Gruppen der »Privatjustiz« und betont, daß die Opfer tatsächlich Kriminelle oder ehemalige Strafgefangene waren, oder sie entnimmt diese Versionen den Polizeiberichten. In scheinbar direktem Zusammenhang wird von Problemen mit Jugendgangs und deren Rivalitäten oder kriminellen Aktionen berichtet. Der Effekt liegt auf der Hand. So wird eine Akzeptanz oder zumindest eine Adaption der »sozialen Säuberung« erreicht, vor allem seit dem Anwachsen der Kriminalität in den 80er Jahren. Der Gedankengang ist folgender: Kriminalität, Straffreiheit, fehlende Rehabilitation in den Gefängnissen, persönliche Angst und schließlich »Privatjustiz«, also Eliminierung potentieller Verbrecher als einziger Ausweg.

Getragen und genährt wird diese Argumentationslinie aber nicht nur durch die Täter, die Polizei – wenn sie denn nicht identisch sind – und die Massenmedien, sondern auch durch die politischen Debatten und die Diskussionen um Strafverschärfung, Beschneidung von Rechten der Angeklagten (soweit sie das überhaupt vor ihrer Inhaftierung werden) und im Extremfall um die Todesstrafe. Letztere taucht in Verbindung mit Entführungen auf, und so schließt sich der Kreis wieder zu den paramilitärischen Gruppen der sogenannten Limpieza Social. Gemeint ist damit besonders eine der ersten und aktivsten Gruppierungen, die Ende 1981 auftrat: die MAS (Muerte A Secuestradores – Tod den Entführern).

Eine faschistoide Ideologie

Wenn Todesschwadrone auch nur einen Menschen wegen seiner Arbeit (z.B. als StraßenhändlerInnen, AbfallsammlerInnen, Prostituierte) oder sexuellen Neigung (Homosexualität) ermorden, ist der Hintergrund pure Menschenverachtung und eine faschistoide Ideologie und hat mit dem, was als Justiz bezeichnet wird, nichts gemein.

Am deutlichsten wird die Ideologie der Täter und in der Tendenz auch der Medien durch ihre eigenen Taten, Namen und Erklärungen sowie ihre Art der Nachrichtendarstellung. Die »Säuberung« der Städte und der Gesellschaft von »gefährlichen« oder »schädlichen« Individuen, ist das Anliegen der Gruppen der limpieza social. Hinter der Bezeichnung »schädlich« und der Unterteilung in »nützlich« und »nutzlos«, steht eine Höherbewertung einzelner Menschen und in Verbindung mit »sozialer Säuberung« sogar eine Höherbewertung des Privateigentums über das menschliche Leben. Die von den Medien oder auch innerhalb der allgemeinen Diskussion übernommene Bezeichnung für Menschen als »desechables«, als Wegwerfprodukt, unterstreicht den faschistoiden Hintergrund.

Durch die Brandmarkung der Opfer als Kriminelle und Drogenabhängige ist genau diese Abwertung und die weitere Marginalisierung ganzer gesellschaftlicher Gruppen das Ziel der »sozialen Säuberung«. Der Müll gehört auf die Müllkippen oder an den Straßenrand, und genau dort werden oftmals die gefolterten Körper der Ermordeten aufgefunden. All dies hat nichts mit der Kriminalitätsbekämpfung gemeinsam. Aus einem Phänomen sozialen und ökonomischen Charakters wird ein politisches. Diese Einschätzung verstärkt sich noch einmal, wenn bedacht wird, daß zumindest einige Organisationen der »sozialen Säuberung« auch als paramilitärische Gruppen auf dem unmittelbaren politischen Schlachtfeld tätig sind. So ermorden oder ermordeten Gruppen wie die MAS nicht »nur« Bedürftige und vermeintliche Kriminelle, sondern auch AktivistenInnen linker Parteien, BürgermeisterInnen und Familienangehörige der Guerrilla.

Soziale Intoleranz

Die hier beschriebenen Formen und Auswirkungen der »sozialen Säuberung« sind leider nur ein Teil des gesamten Komplexes der sozialen Intoleranz. Limpieza Social spricht im Extremfall von direktem Mord. In anderen Fällen ist es jedoch nicht die unmittelbare Vernichtung des menschlichen Lebens, sondern die indirekte Diskriminierung einzelner Bevölkerungsgruppen oder ihre Vertreibung aus einzelnen Stadtteilen. Das kann sich in Drohungen und Einschüchterungen paramilitärischer Gruppen äußern, die BettlerInnen oder PapiersammlerInnen aus dem Zentrum der Städte vertreiben wollen oder diese zwingen, in »ihren« Viertel zu bleiben. Es kann sich aber auch direkt durch Aktionen der staatlichen Repressionsorgane äußern. Ein Beispiel dafür ist die Vertreibung von ca. 200 Jugendlichen und Kindern vor zwei Jahren, die am Rande des Zentrums von Bogotá auf der Straße lebten. Polizeieinheiten brannten die Hütten dieser Kinder und Jugendlichen nieder, die sich auf einer freien Fläche in der Stadt gemeinsam niedergelassen hatten. Sie wurden in alle Richtungen vertrieben. Das ist eindeutig eine Verletzung der wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte, denen die Regierung sowohl durch die Ratifizierung der entsprechenden UN-Deklaration von 1966 verpflichtet ist, als auch durch die kolumbianische Verfassung von 1991 (Art. 42-77).

Der kolumbianische Staat ist folglich mitschuldig an der »sozialen Säuberung«, sei es durch aktive Beteiligung im Falle der indirekten Involvierung von staatlichen Sicherheitsbeamten, sei es durch Schutzunterlassungen gegenüber der Bevölkerung oder durch den Nicht-Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Sicherung der sozialen und wirtschaftlichen Menschenrechte. Gestützt wird diese faschistoide Gewalt durch die allgegenwärtige Straffreiheit von Menschenrechtsverletzungen durch staatliche Akteure oder ihnen nahestehende Organisationen.

Erschreckend ist nicht nur das enorme Ausmaß, sondern auch die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz dieser Aktionen. Soziale Randgruppen werden zunehmend als »sozialgefährlich« eingestuft und Morde infolgedessen toleriert oder sogar unterstützt. Zum Beispiel gibt es bei Banküberfällen immer häufiger kaum noch Überlebende unter den Tätern. Die Polizei scheint kein Interesse mehr an der Verhaftung oder strafrechtlichen Verfolgung zu haben, sondern nur noch an der »Beseitigung«.

Eine gesellschaftliche und staatliche Politik gegen die »sozialen Säuberungen« muß deren wirkliche Ursachen offenlegen und ihre menschenfeindliche Mentalität ächten. Morde an Bedürftigen, Prostituierten, Transvestiten, vermeintlichen VerbrecherInnen und Straßenkindern haben nichts mit Gerechtigkeit oder allgemeiner Sicherheit zu tun, sondern sind Ausdruck einer politischen Strategie. Kein Mensch ist höherwertiger als ein anderer und privates Eigentum schon gar nicht!

Literatur

Alape, Arturo (1995): Ciudad Bolívar – la hoguera de las illusiones; Bogotá.

Alape, Arturo (1991): A quíen importa la muerte ajena, in: El Espectador; Bogotá 25.11.91.

amnistía internacional (1994): Violencia política en Colombia. Mito y realidad; Madrid.

Camancho, Alvaro/Guzmán, Alvaro (1990): Colombia, Ciudad y Violencia; Bogotá.

Colectivo de Abogados »José Alvear Restrepo“/ Justicia y Paz/ CINEP/ D.N.I. (1996): a lo bien, parce – violencia juvenil y patrones de agresion contra jóvenes de sectores populares en Cali; Bogotá.

Comisión Intercongracacional de Justicia y Paz: Boletín Informativo, Bogotá 1988 – 1996.

Comisión Intercongracacional de Justicia y Paz (1995): Por la vida, documentación No.34, Bogotá.

Matues Guerrero, Sandra (1995): »Limpieza Social« – la guerra contra la indigencia; Bogotá.

Pérez Guzmán, Diego/Mejia, Raúl (1996): De calles, parches, galladas y escuelas: Transformaciones en los procesos de sozialización de los jóvenes de hoy; Bogotá.

Rojas R., Carlos Eduardo (1996): La violencia llamada limpieza social, Bogotá.

El Espectador, Bogotá 10.11.1995, S. A7

El Tiempo, Bogotá 21.04.1995, S. A8

Vanguardia Liberal (1986): Aparece grupo de acabará delincuencia; Bucaramanga 5.6.86.

Der Artikel wurde für die »ila«, Zeitschrift der Informationsstelle Lateinamerika, Nr. 203 (Terror gegen Arme) geschrieben. Wir danken der Infostelle für die Nachdruckerlaubnis.

Jan Wehrheim hat in kolumbianischen Menschenrechtsorganisationen mitgearbeitet und seine Diplomarbeit über die »sozialen Säuberungen« in kolumbianischen Städten geschrieben.

PolizistInnen und Gewalt – ein Fazit

PolizistInnen und Gewalt – ein Fazit

von Gerda Maibach

Unrechtmäßige Gewaltausübung von Polizeibeamten besonders gegenüber Menschen mit geringer Beschwerdemacht ist ein Thema, das in wiederkehrenden Abständen die Gazetten beherrscht. Die Qualität der Debatten steht dabei nicht selten auf Stammtischniveau, gesicherte Erkenntnisse sind kaum vorhanden. Bereits in den siebziger und achtziger Jahren standen polizeiliche Übergriffe in den Schlagzeilen und es entstanden Bürgerbewegungen, die sich die Beobachtung und Kontrolle der Ordnungshüter zum Ziel gesetzt hatten. amnesty international erhob massive Vorwürfe in den letzten Jahren. Alarmiert zeigten sich schließlich auch die Innenminister der Länder. Sie gaben im Herbst 1994 eine Studie zum Thema »Polizei und Fremde« in Auftrag, die im März 1996 der Öffentlichkeit vorgelegt wurde.

Als Lehrbeauftragte für Psychologie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung war ich seit 1993 auch mit der Durchführung von Training und Seminaren für Polizeibeamte und -beamtinnen befaßt. Schilderungen über den polizeilichen Alltag aus der »Innenansicht« beschäftigten mich in den ersten Monaten mehr, als ich dieser Lehrtätigkeit an Zeit eigentlich einräumen wollte. Wut, Zorn, Ohnmachts- und Abhängigkeitsgefühle in Zusammenhang mit dem Berufsalltag waren eher die Regel als die Ausnahme. Nach Ablauf des ersten Jahres war bei mir der Eindruck entstanden, es könne sich auch in »ganz normalen« Wachen um Gemeinschaften mit verbindlichen, informellen Regeln handeln, die sich von den offiziellen Dienstvorschriften manches Mal gravierend unterscheiden mögen.

Nicht bei allen PolizistInnen, mit denen ich sprach, lagen die häufig angeführten äußeren Umstände (Großstadtwache, sozialer Brennpunkt) vor, die nachvollziehbar zu einer »Verrohung« führen können. Fast alle aber berichteten von ähnlich frustrierenden Erlebnissen in ihren Dienststellen. Vergangene und aktuelle Ausbildungs- wie Arbeitsbedingungen schienen aus meiner Sicht ungesteuerte gruppendynamische Prozesse zu begünstigen, deren Ausmaß öffentlich sorgsam verschwiegen oder aus inneren Notwendigkeiten heraus ignoriert werden mußte.

Nachdem sich erste Anzeichen einer fest etablierten Kultur nicht legitimierter Gewalt zu einer subjektiven Gewißheit verdichteten, begann ich im März 1995 mit der Planung einer Untersuchung. Die Innensicht von PolizistInnen, ihr Selbstverständnis, die Arbeitsauffassung, Gedanken und Vorstellungen vom »Bürger«, vom »polizeilichen Gegenüber«, die Erlebnisse im täglichen Einsatz, der Entscheidungsdruck, die Anforderungen von »innen und außen« waren mein Focus bei der Suche nach begünstigenden Faktoren für das Auftreten illegaler polizeilicher Gewalt.

Methodik

Gewalttätige Handlungen sind nicht isoliert zu betrachten. Sie stellen einen Ausschnitt dar im breiten Spektrum menschlicher Verhaltensweisen; die Frage nach ihren Grundlagen und Ursachen verweist auf die Beweggründe menschlichen Handelns allgemein. Neuere Forschungsrichtungen in der Psychologie sehen den Menschen weniger durch unbewußte Impulse beherrscht als vielmehr eigenen, subjektiven Theorien über die Welt und den in ihr vermuteten Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen folgend (Groeben et al., 1988). In großer Übereinstimmung nennen Sozialwissenschaftler heute diese subjektiven Theorien als handlungsleitende und handlungsbegleitende Steuerungsmechanismen im alltäglichen Leben.

Die Funktion dieser subjektiven Theorien kann wie folgt beschrieben werden:

Sie befähigen den Menschen zu

  • Situationsdefinitionen,
  • Erklärungen im Vor- und Nachhinein,
  • Handlungsempfehlungen,
  • Vorhersagen und nicht zuletzt dazu,
  • Eingriffsmöglichkeiten für eigenes und fremdes Handeln, sowie
  • für Ereignisse und Zustände zu finden.

Der polizeiliche Übergriff als illegale aggressive Handlung gegenüber einem Nichtpolizisten und die zugrunde liegende Interaktion entzieht sich in der Regel spontanen oder auch verabredeten Zusammenkünften mit eine(r/m) Untersucher(in). Ein Übergriff geschieht und entwickelt sich aus der Interaktion der Beteiligten in den verschiedensten Situationen. Das Phänomen wird bei Beobachtung und Kontrolle – zwei wichtigen psychologischen Untersuchungsverfahren – möglicherweise zeitweilig unterdrückt, nicht aber erfaßt und bearbeitet werden können.

Verständnis für Handlungsweisen erschließt sich folgerichtig nur dann, wenn ich den Einzelnen nach Vorstellungen und Überzeugungen befrage. Verschiedene Forschungsansätze betonen die Notwendigkeit qualitativ-ätiologischer Untersuchungsmethoden, die eine angemessene Durchführung der subjektiven Problemsicht des Individuums ermöglichen (Koolwijk, 1974). Mit der Technik des Problemzentrierten Interviews (Witzel, 1989) habe ich versucht, Erlebnisse, Vorstellungen und Emotionen der Polizeibeamten aus dem Erfahrungsbereich des Einzeldienstes zu eruieren. Dabei interessierten besonders ihre individuellen Erklärungsmodelle über Ursachen und Wirkungen von Belastungen auf den Arbeitsalltag. Die Erhebung erfolgte mit Hilfe eines halbstrukturierten Leitfadens.

Folgende Themenfelder waren Bestandteil des Leitfadens:

  • Ausbildung, Dienststellen
  • Motivation zur Berufsausbildung
  • erste Erfahrungen während der Berufsausbildung
  • Berufsausübung (Einzeldienst)
  • subjektive Erklärungsmodelle für Bürger/Kollegenverhalten
  • Übergriffe von Polizeibeamten
  • Verbesserungsvorschläge
  • gesellschaftlicher Auftrag der Polizei.

Folgende Prämissen standen am Beginn der Untersuchung: Es gab bis dato keine Erhebung über Ausmaß oder potentielle Einflußfaktoren auf gewalttätige Verhaltensweisen von PolizistInnen. Die hohe emotionale Besetzung und politische Brisanz provozieren aber regelmäßig Meinungsäußerungen, die von Stammtischparolen bis hin zu empirisch nicht überprüften Erklärungsversuchen reichen oder nur Teilaspekte berücksichtigen. Eine solche Palette reicht zum Beispiel von: „Die Beamten schlagen immer nur aus Notwehr“ über: „Gewalt durch Polizeibeamte ist ein Symptom der massiven Überlastung“ bis: „Der Polizist steht nur auf der anderen Seite des Verbrechens und hat eigentlich die gleiche Persönlichkeitsstruktur wie der Kriminelle“.

Zu Beginn der Interviews wird mit der Frage nach dem beruflichen Werdegang ein möglichst allgemeiner Zugang zum Arbeitsfeld gewählt. Diese offene Frage (Anbieten einer leeren Seite) sollte einen Kommunikationsprozeß einleiten, der den Gesprächseinstieg teilweise strukturiert, aber auch einen ersten Eindruck über die themenspezifische Schwerpunktsetzung des Interviewpartners ermöglicht.

Jedes Interview endet mit Fragen nach Verbesserungsvorschlägen und einer Einschätzung des gesellschaftlichen Auftrags der Polizei. Damit sollte allen Gesprächspartnern die Möglichkeit gegeben werden, die eigenen Vorschläge und Gedanken zum Berufsauftrag zu schildern, die auch durchaus im Widerspruch zu den Vorstellungen der offiziellen Politik oder der Realität stehen konnten. (Weitere Informationen über Leitfaden und Interviewtechnik sind bei Witzel nachzulesen bzw. bei der Autorin zu erfragen).

Stichprobenbeschreibung

Bis zum Jahre 1995 kamen alle Studierenden der Fachhochschule im Fachbereich Polizei aus dem mittleren Dienst der Schutzpolizei. Aus diesem Kreis habe ich zwei Polizistinnen und zwölf Polizisten um ein Interview unter Wahrung ihrer Anonymität gebeten. 3 Polizisten lehnten eine Mitwirkung ab, da sie Auswirkungen auf ihre Arbeit bzw. laufbahnrechtliche Konsequenzen befürchteten.

Alle befragten Polizisten verfügten über eine Einzeldiensterfahrung (mittlerer Dienst) von mindestens 3 Jahren. Die beiden Polizistinnen waren 2 Jahre im Einzeldienst. Die befragten Polizisten Mokros und Simon arbeiten im höheren Dienst der Schutzpolizei und verzichteten auf eine Anonymisierung ihrer Aussagen. Alle Gespräche wurden auf Tonband aufgenommen und transskribiert.

Auswertung

Die Interviews geben individuelle Erlebnisweisen eines spezifischen beruflichen Alltags wieder mit den zugrundeliegenden/resultierenden subjektiven »Weltsichten« meiner Gesprächspartner. Insofern handelt es sich zunächst um eine (qualitative) Sammlung themenbezogener Informationen.

Über eine »reine« Beschreibung von Informationen hinaus bietet ein solches »Zusammentragen« von Informationen jedoch die Möglichkeit, im Rahmen vergleichender Betrachtung Übereinstimmungen festzustellen und in der Folge Hypothesen über das Zustandekommen dieser Gemeinsamkeiten aufzustellen. Hypothesen wiederum sind empirischer Überprüfung zugänglich, insofern stellt sich die Beschreibung von Sachverhalten als notwendiger erster Schritt einer wissenschaftlichen Untersuchung dar. Zweifelsohne läßt sich auf der Grundlage übereinstimmender Schilderungen von Ausbildung und Berufsalltag meiner Interviewpartner die Hypothese aufstellen, daß strukturelle Defizite im Polizeiapparat einen wesentlichen Anteil an der diskutierten Gewaltproblematik haben. Ich wollte das vorliegende Projekt als Anregung verstanden wissen, breiter angelegte wissenschaftliche Untersuchungen zu betreiben, die sich mit den Konflikten, den Nöten, aber auch den Potentialen der Beamten vor Ort befassen. Nimmt man ihre Aussagen ernst, und eine andere Wahl werden wir nicht haben, wissen sie selbst oft sehr genau, woran es Ihnen, den Kollegen und ihrer Organisation mangelt.

Doch nun zu einigen ausgewählten Aspekten meiner deskriptiven Auswertung, entlang der Stichworte des Leitfadens, die sich auf die auch bei rororo aktuell veröffentlichten Interviews beziehen. Um Wiederholungen zu vermeiden, werden die Antworten zusammengefaßt, wobei Mehrfachnennungen häufig erfolgten.

Dienststellen

Vier Polizeibeamte hatten ihren Wach- und Wechseldienst in einer Großstadt absolviert. Drei verfügten über Erfahrungen im ländlichen bzw. kleinstädtischen Bereich. Ein Polizist war in allen drei Bezirken tätig gewesen.

Motivation zur Berufswahl

Die bewußt geäußerte Motivation zur Berufswahl ergab lediglich bei einem Beamten den Verweis auf einen Kindheitstraum. Dreimal wurde angegeben, daß die Bundeswehr vermieden werden sollte, viermal der finanzielle Anreiz einer guten Ausbildungsvergütung, zwei Personen wollten sich sozial engagieren, dreimal wurde auch eine gedankliche Vorstellung vom Berufsbild eingeräumt, die mit Respekt, Macht und Autorität verbunden gewesen sei.

Stärken der Ausbildung

Nahezu übereinstimmend berichteten die Befragten von einer juristisch gut fundierten Ausbildung. Die Praxisrelevanz wurde allerdings überwiegend gering eingeschätzt. Ebenfalls positive Anerkennung erhielt die Grundausbildung im Sport und Schießen.

Schwächen der Ausbildung

Die PolizistInnen sprachen von einer autoritären, hierarchischen Struktur bzw. rigider Umgehensweise mit den Auszubildenden. Einengen der Persönlichkeit und Erziehung durch Druck waren verwandte Äußerungen. Fehlende Praxisnähe, besonders im Bereich Kommunikation, sowie keine angemessene Unterweisung für den Umgang mit dem Bürger waren wiederkehrende Äußerungen der Interviewten.

Erste Erfahrungen mit dem Bürger

  • Es wurde häufig über die starke Abhängigkeit von den älteren Kollegen bzw. deren Vorbildfunktion berichtet (Stichwort: Lernen am Modell); über starre, schematische Einführung ohne Erläuterung der jeweils zugrundeliegenden Problematik. Auch die Verstärkung eigener negativer Handlungsweisen (»Abwimmeln von Einsätzen, Zuschlagen«) durch Zustimmung von Kollegen bzw. der Dienstgruppe wurde im Rückblick von einigen Polizisten benannt. Respekt und Angst vor höheren Diensträngen begleiteten die ersten Einsätze.
  • Unangenehme Gefühle in der Begegnung mit dem Bürger wurden dort beschrieben, wo man als Repräsentant der Ordnungsmacht auf Kontrollen und Belehrungen bestehen, Forderungen durchsetzen mußte, aber auch generelle Ängste vor unbekannten Situationen, die mit Gefühlen der Überforderung einhergingen.
  • Immer wieder berichtet wurden mangelnde Fertigkeiten im Umgang mit dem Bürger. Diese drücken sich auch in der erlebten Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen Verhalten der Bürger und dem phantasierten Gefühl der Macht bzw. der Autorität des jungen Polizisten aus. Vom Praxisschock wurde gesprochen, den Erlebnissen mit respektlosen, mißachtenden Menschen und der mangelnden Lebenserfahrung in schwierigen Konfliktfällen wie z.B. Familienstreit.

Berufsentscheidung in Frage gestellt

Von den acht Befragten hatten sieben Polizisten ihre Berufsentscheidung mehrmals oder häufig in Frage gestellt.

Ein Beamter stellte einige Wochen nach dem Interview fest, daß er in der Zeit des Wach- und Wechseldienstes sehr wohl häufig an ein Ausscheiden aus dem Dienst gedacht hätte und dieses wohl vollständig verdrängt habe. Seine familiäre Situation habe ernsthafte Gedanken an Kündigung allerdings nicht zugelassen.

Als Auslöser wurden überwiegend innerdienstliche Probleme angegeben (schlechte Dienstgruppe, schlagende Kollegen, Führungsfehler, mangelnder Rückhalt bei Vorgesetzten, Beförderungssituation), Tätigkeit im Objektschutz, in der Einsatzhundertschaft. Weitere Gründe waren Ohnmachtsgefühle angesichts wiederkehrender Einsätze im kriminellen Bereich mit den ständig gleichen Delinquenten. Vereinzelt genannt wurden Konflikte zwischen Berufsrolle und privater Haltung bei politischen Einsätzen und die Verschärfung gesellschaftlicher Probleme.

Übergriffe – Erklärungsansätze

Alle Interviewpartner wußten von Übergriffen im Dienst zu berichten. Als generelle Ursachen einer Gewaltproblematik im Dienst wurden vermutet:

  • private Stressituationen,
  • mangelnde Klärung vorhergehender Einsätze
  • ungesteuerte gruppendynamische Prozesse (Verstärkung)
  • inkompetente Führung
  • Persönlichkeitsstruktur von Beamten
  • mangelndes Unrechtsbewußtsein
  • Angst vor und Wut gegenüber dem »polizeilichen Gegenüber«
  • Frustration, mangelnde Arbeitsmotivation
  • mangelnde Kommunikationsfähigkeit
  • »geschlossene Gesellschaft Polizei«
  • mangelnde Empathie gegenüber dem Bürger.

Die meisten Befragten bekannten, daß sie ein schlechtes Gewissen gehabt hätten, wenn sie den/die Übergriff/e hingenommen hätten. Angst vor Gruppendruck und Ausgrenzung verhinderten jedoch ein aktives Einschreiten bzw. ein Befolgen der gesetzlichen Vorschriften.

Keine Akzeptanz fand die häufig zitierte Hypothese: Übergriffe gegen ausländische Mitbürger stellten rassistisch motivierte Handlungen von Polizisten dar. Vielmehr wurden diese Vorfälle eher als Aktionen mit Ventilfunktion gesehen, in denen vorhandene Aggressionspotentiale eben generell gegen Bürger gerichtet werden, die den sozial schwachen Randgruppen der Gesellschaft zugeordnet werden (eben Personen mit geringer Beschwerdemacht).

Klärung im Dienst

Die Angaben der PolizistInnen machen deutlich, daß es aus ihrem Erleben heraus in der Zeit ihrer Tätigkeit keine Möglichkeit der Verarbeitung oder Klärung gewalttätiger Übergriffe im Dienst gegeben hat. Es gibt allerdings Hinweise auf eine polizeiinterne Form der »Verarbeitung«, bei der Straftaten zu Heldentaten verklärt werden.

Verbesserungsvorschläge

Folgende Verbesserungsvorschläge wurden genannt:

  • Reduktion von Objektschutz und Einsatzhundertschaft
  • Verstärkung von Fußstreife
  • praxisorientiertere Ausbildung
  • Steigerung der innerdienstlichen Transparenz, höherer Informationsgrad vor den Einsatz
  • psychologische Betreuung,
  • höhere Trainingszeiten für Sport, Eingriffstechniken und Schießen im Einzeldienst
  • Optimierung der Ausbildung für Leitstellenbeamte
  • Erziehung zur Eigenverantwortlichkeit, Abbau der Hierarchie, Umsetzung kooperativer Führung, stärkere Akzeptanz des Einzelnen, Vermittlung eines polizeilichen Wertbildes
  • Abschaffung des Berufsbeamtentums
  • Stärkung der sozialen Kompetenz
  • Veränderung der Ausbildungsinhalte in den juristischen Fächern sowie im Bereich Kommunikation
  • mehr Freiräume während der Berufsausübung, die zur Entlastung genutzt werden können (Verhaltenstraining)
  • Supervision in belasteten Dienststellen
  • Entlastung von Aufgaben, die durch andere Institutionen wahrgenommen werden können
  • Tutorensystem
  • Vor- bzw. Nachbesprechung schwieriger oder problematischer verlaufener Einsätze
  • kein Einsatz (Verheizen) junger Beamter bei Demonstrationen.

Gesellschaftlicher Auftrag der Polizei

Bei dieser Frage zeigt sich, daß die befragten PolizistInnen ihre Arbeit in der Hauptsache als Dienst am Bürger verstehen. Im Gegensatz dazu wird die aktuelle Durchführung der polizeilichen Arbeit von der Mehrzahl der Polizeibeamten nicht als sinnvolle, gemeinwesenorientierte Arbeit erfahren. Ich will allerdings nicht verschweigen, daß meinem subjektiven Eindruck nach eine große Anzahl von Polizeibeamten glaubt, was Ihnen Politiker immer wieder versichern, sie könnten und müßten Kriminalität bekämpfen.

Fazit

Ich habe die vorliegenden Explorationen in der ersten Hälfte des Jahres 1995 durchgeführt. Die Ergebnisse der Studie »Polizei und Fremde«, von der Innenministerkonferenz der Länder in Auftrag gegeben, lagen noch nicht vor. Fragestellung, Umfang der Stichprobe und methodisches Vorgehen weichen erheblich voneinander ab.

Dennoch möchte mich in meinen Schlußfolgerungen auf einige Befunde dieser Studie beziehen, die von der Führungsakademie Hiltrup in einer Presseerklärung im Februar 1996 veröffentlicht wurden.

So wird berichtet, „… daß es sich bei den …Übergriffen nicht um ein »systematisches Verhaltensmuster der Polizei« handelt, daß sich allerdings Strukturen erkennen lassen, die die Gefahr von Vorurteilen und auch Übergriffen vergrößern.“

Die Angaben meiner Gesprächspartner veranlassen mich allerdings zu der Einschätzung, daß das strukturelle Defizit der Polizei größer ist, als von offiziellen Stellen bis heute eingeräumt worden ist. Wahrscheinlich ist, daß die existierende Struktur dauerhafte Vorurteile über das »polizeiliche Gegenüber« schafft oder festigt und gewalttätige Handlungen von PolizistInnen begünstigt, wenn nicht produziert.

Alle Polizisten wußten von Übergriffen zu berichten. In jedem einzelnen Interview wird deutlich, daß die informelle Struktur in einer Dienstwache erhebliches Gewicht hat und ihre unübersehbaren Auswirkungen auf den jungen Polizeibeamten. Der gern angeführte Vergleich mit anderen Berufen, in denen ebenfalls ungünstige gruppendynamische Prozesse zu finden seien, darf insbesondere im Berufsfeld Polizei keine Beruhigung vermitteln. Die weitreichenden polizeilichen Kompetenzen in Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols bergen beträchtliche Risiken für den einzelnen Beamten und verpflichten deshalb zu sorgsamer Auswahl und Ausbildung von Beamten.

Die Interviews mit den beiden Beamten aus dem höheren Dienst mit entsprechend langjähriger Erfahrung belegen deutlich, daß Gewalt in der Polizei kein neues Phänomen darstellt, sondern allenfalls immer wieder erneut bekämpft werden muß.

In der Presseerklärung der Führungsakademie heißt es weiter: „Die Ursachen für entsprechende Gefährdungsmomente sind nach Auffassung der Wissenschaftler dabei weniger in individuellen Einstellungen bzw. bei den einzelnen Beamtinnen und Beamten (und somit in deren persönlicher und beruflicher Sozialisation) als vielmehr in strukturellen Faktoren der Organisation und des Aufgabenfeldes der Polizei zu sehen.“

Mit Verlaub geschrieben, was stellt die berufliche Sozialisation eines Einzelnen dar, wenn nicht die Bildung internalisierter Normen des Einzelnen aus den erfahrenen bewußten und unbewußten Einstellungen seiner Berufsgruppe.

Überhaupt scheint mir in dieser vielzitierten und häufig diskutierten Studie der Fehler bereits im Focus »Polizei und Fremde« zu liegen. Belege mangelnder Distanz der Forscher lassen sich meines Erachtens an vielen Stellen des Abschlußberichtes finden. Ich habe Zweifel, ob das Erkenntnisinteresse der Forscher überwog gegenüber den »berechtigten« Interessen der auftraggebenden Institution. So überschreibt Manfred Bornewasser seinen Teil der Studie mit dem Titel: „Wer schafft uns endlich die Last vom Hals“ und fährt weiter fort: „Belastungen und Gefährdungen im Umgang der Polizei mit Fremden“. Thema ist folglich nicht das Gewaltmonopol und die damit einhergehenden permanenten Gefährdungen durch Machtmißbrauch unabhängig von der Anzahl der ausländischen Mitbewohner. Die Erhebung »kumulierender Belastungsmomente« soll wohl suggerieren, daß PolizeibeamtInnen ihren Berufsauftrag wegen ständiger Überforderung durch Politik und Führung nicht ordnungsgemäß durchführen können. Die Gefahr solcher Schlußfolgerungen liegt offen zu Tage. Veränderte Gesetze z.B. durch Einschränkung des Asylrechts, Aufrüstung der Polizei, »Lauschangriff« und Europol weisen den Weg.

Zwei weitere Zitate aus dem Forschungsprojekt mögen meine Bedenken abschließend belegen. Wenn in der Zusammenfassung der empirischen Befunde von Herrn Bornewasser konstatiert wird: „Das Selbstwertgefühl der Polizeibeamten im Wach- und Wechseldienst (WuW) ist erheblich angeschlagen. Dies resultiert einerseits aus der Erfolglosigkeit der eigenen Tätigkeit, andererseits aber auch aus der polizeiinternen Behandlung der ausführenden Beamten im WuW, die sich als Proletarier der Straße ständigen Attacken durch Ausländer, (…)und schließlich auch durch Politiker ausgesetzt sehen.“

Wer dies schreibt, übernimmt unkritisch zumindest durch seinen Sprachduktus die zugegeben ständigen Klagen der Beamten, die er doch mit wissenschaftlicher Neugier untersuchen sollte. Er weiß von der Polizeiwirklichkeit nicht allzu viel. Ich sehe vielmehr einen ständigen Schulterschluß der Innenpolitiker, die ihre Polizei gegen alle Angriffe teilweise bis hin zur Selbstverleugnung verteidigen. Ebensowenig wissen Polizeibeamte – ernsthaft befragt – von ständigen Attacken durch Ausländer.

Und nicht zuletzt dürfen Mitteilungen eines Polizeibeamten über das »abweichende« Verhalten eines Kollegen nicht von einem Wissenschaftler als „Denunziationen“ bezeichnet werden (Forschungsbericht Seite 13). Hier wird die Grundregel der Deskription, der Objektivität massiv verletzt. Bornewasser folgert zum Schluß, die fehlende Hoffnung der PolizistInnen im Hinblick auf Fähigkeiten der Politiker könnten dazu führen, daß die BeamtInnen „die Sache (welche auch immer) selbst in die Hand nehmen“.

Ich meine, daß eine Akzeptanz von feindlichen Handlungen gegenüber Einzelnen oder Menschengruppen auf keinen Fall geduldet werden darf. Es dürfen keine wie auch immer gearteten Belastungen zu einer generellen Exkulpierung verdichtet werden. Es geht um die innere Haltung von Politikern, Vorgesetzten und Mitarbeitern der Institution Polizei.

Die vorliegenden Einzelansichten zum Thema Polizisten und Gewalt stimmen in vielen Punkten überein. Deutlich geworden scheint mir vor allem eins: Abhilfe schaffen wird man nicht allein durch ein Mehr an Personal, Material, Kontrolle oder Eingriffsmöglichkeiten. Weniger Gewalt im Hinblick auf das »polizeiliche Gegenüber« wird sich nicht erreichen lassen ohne weniger Gewalt innerhalb des Polizeiapparates.

Die Mentalität von Polizeiplanern korrespondiert allerdings bis zum heutigen Tage mit dem Phänomen des Korpsgeistes, das die Beamten in den Interviews beschrieben haben. Nirgendwo sonst, außer innerhalb der Bundeswehr, findet Aus- und Fortbildung derart stark ohne externes Angebot statt wie bei der Polizei. Und da, wo sie im Ansatz vorhanden ist, ist die Tendenz stark, diese Ansätze zurückzunehmen. Alles soll möglichst innerhalb der Berufsfamilie bleiben. Dafür genießt der Einzelne dann auch ihren Schutz, der ihm im Regelfall bis ans Lebensende gewiß bleibt. Geschlossenheit nach außen, Verfügbarkeit ohne Transparenz im Inneren sind auf allen Ebenen von einiger Bedeutung für die Bildung einer Gruppenmentalität, wie sie von den Polizistinnen und Polizisten in den Interviews immer wieder angesprochen wurden.

Dies gilt insbesondere auch für die Forschung in der und über Polizei. Seit einigen Jahren werden Untersuchungsergebnisse zu den verschiedensten Problembereichen im Kontext der Debatte zur inneren Sicherheit veröffentlicht und von Journalisten begierig aufgegriffen. Wer hätte noch nicht in seinem Umfeld von einer Studie gehört, die sich mit dem subjektiven Sicherheitsgefühl des Bürgers beschäftigt. Wir wissen es inzwischen alle, dieses ist extrem schlecht und in der politischen Diskussion wird suggeriert, man müsse diesem Rechnung tragen, durch polizeiliche Aufrüstung und »zero tolerance«.

Die Durchführung einer Vielzahl dieser Untersuchungen (und es gäbe noch andere Themen zu nennen) oblag in den mir bekannten Fällen der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Polizei. Dort entwickelten also PolizistInnen Fragebögen häufig unter Anleitung eines Polizisten aus dem höheren Dienst, eines Juristen oder auch eines Verwaltungsbeamten. Die methodischen Mängel der Instrumente selbst, aber auch die Problematik der Durchführung einer solchen Untersuchung durch Polizeibeamte generell wird in den Veröffentlichungen der Medien, aber auch in der Forschung, an keiner Stelle diskutiert. Ebenso fragwürdig ist die Personalauswahl der Polizei. In keinem Bundesland wird eine Persönlichkeitsdiagnostik durchgeführt. Überall fällt die Entscheidung über Einstellungen ausschließlich durch Polizeibeamte.

Pars pro toto können diese Beispiele nur den kleinen Ausschnitt einer unglücklichen Entwicklung beleuchten, die nicht für eine demokratische Entwicklung innerhalb des Polizeiapparates sorgen wird und vielleicht auch nicht sorgen soll. Eine demokratische Entwicklung kann aus meiner Sicht nur durch eine Öffnung zu anderen Berufsgruppen hin erfolgen, in anderen Berufsfeldern längst selbstverständlich. Wieviel Entlastung könnte eine solche Zusammenarbeit bewirken? Praktika von PolizistInnen in der Psychiatrie bewirkten mehr persönliche Erfahrung als jeder Unterricht durch die wirkliche, geschützte Begegnung mit dem Fremden, dem Psychotiker, dem Drogenabhängigen und dem Suizidgefährdeten. Dieses aber sind die Menschen, denen die Beamten während Ihrer Arbeit zunächst häufig ohne Kenntnis und mit entsprechender Unsicherheit oder Unbehagen begegnen. Wieviel Unterstützung könnte der Jurist bewirken, der gelegentlich die Ingewahrsamnahme eines zivilen Bürgers auf der Wache auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüft und aufklärt, nicht belehrt? Was spricht dagegen in belasteten Dienstwachen eine/n kompetente/n Krankenpfleger/in zu beschäftigen, welche/r »Delinquenten« zur Entlastung der PolizistInnen in Empfang nimmt und begleitet. Von der Fürsorgepflicht des Dienstherrn wird häufig gesprochen. Dort könnte diese tätig sein, aber das allein wird nicht ausreichen. Ich hatte innerhalb der letzten fünf Jahre (zunächst kaum bemerkt) Gelegenheit, »über einen engmaschigen Zaun zu schauen« und kann nur schlußfolgern: Die Menschen dieser Institution benötigen nicht nur Hilfe, sondern auch Kontrolle; das aber liegt heute wohl nicht »im Trend«.

Literatur

Bornewasser, M. / Eckert, R. (1995): Abschlußbericht zum Projekt »Polizei und Fremde«, Forschungsbericht, Projektskizze.

Dann, D. (1983): Subjektive Theorien: Ein Irrweg oder Forschungsprogramm? Zwischenbilanz eines kognitiven Konstrukts. In: Montada, L. / Reusser, K. / Steiner, G. (Hrsg.): Kognition und Handeln. Klett Cotta, Stuttgart 1983.

Groeben, N / Scheele, B. (1982): Einige Sprachregelungsvorschläge für die Erforschung subjektiver Theorien. In: Dann, H.D. et al. (Hrsg): Analyse und Modifikation subjektiver Theorien von Lehrern, Konstanz.

van Koolwijk, J. / Wieken-Mayser, M. (1976/1977): Techniken der empirischen Sozialforschung: Erhebungsmethoden Bd. 5. Oldenbourg, München.

Maibach, G. (1996): Polizisten und Gewalt – Innenansichten aus dem Polizeialltag, rororo aktuell.

Witzel, A. (1989): Das problemzentrierte Interview. In: Jütemann, G. (Hrsg.): Qualitative Forschung in der Psychologie, S. 227 – 256

Gerda Maibach ist Diplom-Psychologin und Autorin, Lehrbeauftragte für Psychologie an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung.

Polizeisoldaten

Polizeisoldaten

Die Paramilitarisierung deutscher Außenpolitik

von Martina Harder

Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble forderte die Entsendung der Bundespolizei, des ehemaligen Bundesgrenzschutzes, an die Grenze zwischen dem Libanon und Syrien. Unmittelbar nach der Aufhebung der Seeblockade durch Israel reiste Außenminister Walter Steinmeier nach Beirut und brachte deutsche Bundespolizisten und Zollbeamte mit, die den Verkehr des dortigen Flughafens überwachen sollen.1 Dieses Engagement, für das weder eine formale Einladung des Ziellandes, noch ein Bundestagsentscheid notwendig war, wirft ein Schlaglicht auf die „Hybridisierung der sicherheitspolitischen Einsatzformen“ und die damit einhergehende zunehmende Vermischung ziviler (polizeilicher) und militärischer Aufgaben.2 Für die Autorin ist die wachsende Verwendung polizeilicher Kräfte in Auslandsmissionen eine direkte Konsequenz des veränderten Sicherheitsverständnisses, das dem beobachtbaren Anstieg militärischer Auslandseinsätze zugrunde liegt. Sie untersucht die verschiedenen Formen internationaler Polizeieinsätze und geht ein auf die Gefahren der fortschreitenden Vermischung polizeilicher und militärischer Aufgaben.

Konrad Freiberg, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), lehnt einen Polizeieinsatz im Libanon zur Grenzsicherung inmitten eines Konfliktherdes scharf ab: „Das ist eine militärische Aufgabe, keine polizeiliche. Ich kann verstehen, dass man zurückscheut, deutsche Soldaten dort einzusetzen. Aber wir wollen nicht die Lückenbüßer für die Bundeswehr sein.“ Freiberg weist in diesem Zusammenhang auf eine nur auf den ersten Blick seltsam anmutende Paradoxie deutscher Sicherheitspolitik hin: Zuerst habe Schäuble „immer vom Einsatz der Bundeswehr im Inneren gesprochen, obwohl das doch Polizeiaufgaben sind, jetzt soll die Polizei auf einmal militärische Aufgaben im Ausland erledigen.“3 Während manche innenpolitischen polizeilichen Aufgaben Soldaten übergeben werden sollen, verläuft die Entfesselung sicherheitspolitischer Organe auch in die umgekehrte Richtung, indem die Polizei mehr und mehr auf die Durchführung quasi-militärischer Auslandseinsätze ausgerichtet wird. Auf der GdP-Internetseite fasst Freiberg die Entwicklung pointiert zusammen: „Jetzt sollen Polizisten Soldaten unterstützen. Sind wir etwa auf dem Weg zu einer Miliz, über alle von der Verfassung gebotenen Grenzen hinweg?“4

Aus Sicht der Regierenden ist dies nur konsequent, wie Christian Schmidt, parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, verdeutlicht: „Eine betonierte Trennung von äußerer und innerer Sicherheit ist nicht mehr aufrecht zu erhalten.“ Wenn über einen Einsatz der Bundeswehr im Inneren nachgedacht werde, müsse die Polizei im Gegenzug dazu bereit sein, „typische Polizeiaufgaben in Auslandseinsätzen, z.B. auf dem Balkan, wahrzunehmen.“5

Polizeieinsätze: Bestandteil des neuen Militärinterventionismus

Da in ihnen potenzielle Rekrutierungs- und Rückzugsgebiete für Terroristen gesehen werden, wird inzwischen die militärische Stabilisierung so genannter fehlgeschlagener Staaten als ein elementarer Bestandteil deutscher Sicherheitspolitik propagiert. Hierfür müssten – so der herrschende Konsens – sämtliche zur Verfügung stehenden Instrumente, also nicht nur das Militär, sondern insbesondere auch die Polizei, eingesetzt werden.

Michael Schaefer, Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, betont etwa, das neue Sicherheitsverständnis erfordere den „kohärenten Einsatz von zivilen und militärischen Mitteln“, wie er bspw. von der Europäischen Sicherheitsstrategie anvisiert werde. Gleichzeitig hebt er dabei die zentrale Funktion polizeilicher Missionen hervor, die damit zu einem integralen Bestandteil des neuen Militärinterventionismus werden: „Gerade unsere Operationen auf dem Balkan sowie in Afghanistan zeigen: Zivile Instrumente, v.a. Polizei, sind unverzichtbarer und komplementärer Bestandteil militärischer (Post-)Krisenmanagement-Operationen.“6 Dieter Wehe, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Internationale Polizeimissionen (AG IPM) von Bund und Ländern, teilt diese Sichtweise: „Wenn wir nicht dahin gehen, wo die Probleme sind, werden die Probleme zu uns kommen.“7

Die Mitschuld westlicher Staaten an der Entstehung von Konflikten ist in diesen Argumentationsmustern ebenso wenig zu finden, wie die Tatsache, dass das propagierte Allheilmittel, eine Mischung aus militärischer Befriedung und parallelem Aufbau der staatlichen Sicherheitsstrukturen nach westlichem Modell, häufig Teil des Problems ist. Nur vor dem Hintergrund dieses fragwürdigen Sicherheitsverständnisses, bei dem Deutschland wortwörtlich am Hindukusch verteidigt wird, wird die massive Ausweitung polizeilicher Missionen verständlich. Seit dem ersten Einsatz im August 1989 in Namibia haben mittlerweile fast 5.000 Beamte – davon 1.600 vom damaligen Bundesgrenzschutz – an internationalen Polizeimissionen teilgenommen. Wenn auch derzeit noch beratende Funktionen dominieren, so lässt sich doch ein Übergang zu immer militärischeren Einsätzen feststellen. Die Unterschiede zwischen hochintensiven Polizeieinsätzen und Kriegen niedriger Intensität und damit auch die grundsätzliche Trennung zwischen Militär und Polizei verwischt zunehmend.

Polizeieinsätze im Ausland

Im Fall der Krisenprävention und des Krisenmanagements reisen die Ordnungshüter überwiegend als Träger hoheitlicher Exekutivbefugnisse, was u. a. das Recht auf den »angemessenen Gebrauch von Waffen« einschließt. Demgegenüber verfügen Dokumentenberater und Verbindungsbeamte, die im Rahmen polizeilicher Aus- und Fortbildungshilfe insbesondere zur Migrationskontrolle agieren, zumeist nicht über exekutive Handlungsmöglichkeiten, auch wenn sich ein aktives Eingreifen im Rahmen der europäischen Nachbarschaftspolitik kaum kontrollieren oder unterbinden lässt.

Dokumentenberater und Verbindungsbeamte

Die Bundespolizei übernimmt immer häufiger Auslandsaufgaben. Über Verbindungsbeamte unterhält sie ein weit reichendes Beziehungsnetz. Ihre Aufgaben sind der Informationsaustausch mit den entsprechenden Organisationen des Gastlandes, das Erstellen einer grenzpolizeilichen Lageanalyse, die Anfertigung von Personenprofilen illegaler Migranten und die Unterstützung operativer Maßnahmen vor Ort. Über das Netzwerk der EUROPOL werden Informationen verknüpft und anderen EU-Staaten zur Verfügung gestellt. Derzeit sind 18 deutsche Bundespolizisten als Verbindungsbeamte in 17 Staaten stationiert.8

Im Jahr 2002 führte die Bundespolizei mit Dokumentenberatern insgesamt 42 Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen auf 24 migrationsrelevanten Drittlandflughäfen durch, deren Aufgabe es ist, Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen die Einreise in die EU zu erschweren. Einsätze längerer Dauer fanden dabei in Ghana, Nigeria, Jugoslawien und Albanien statt. Dabei wurden 1.590 Passagiere wegen unzureichender Ausweispapiere von einer Beförderung ausgeschlossen.9

Stabilitätspakt-Südosteuropa

Die EU finanziert Programme für polizeiliche Aus- und Fortbildungen in Südosteuropa. Die vom Bundesinnenministerium (BMI) bereitgestellte Ausbildungshilfe umfasst die Vermittlung von Rechtsgrundlagen, Einsatzgrundsätzen sowie spezielle polizeiliche Einsatzpraktiken. Dazu werden Seminare und Hospitationen durchgeführt sowie Stipendiatenprogramme für Führungskräfte und Experten angeboten. Die Ausstattungshilfe soll es diesen Staaten erleichtern, den Anforderungen an moderne kriminal- und grenzpolizeiliche Standards gerecht zu werden. Sie umfasst vor allem die Lieferung von Einsatzfahrzeugen, Funk- und EDV-Ausstattung, Wärmebildgeräten sowie anderem kriminaltechnischem Gerät.10 Aus den Mitteln des SOE-Stabilitätspaktes werden seit 2002 umfassende Hilfsleistungen für die jugoslawische Polizei finanziert. Auch fand im Rahmen des Stabilitätspaktes eine Partnerschaft mit Kroatien statt. Ziel war die Entwicklung und nachhaltige Stabilisierung der Bereiche Asyl, Migration und Grenzschutz.

Weitere EU-Förderprogramme werden z. Z. in Polen, Ungarn, der Ukraine, Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Albanien unter Leitung oder Beteiligung der Bundespolizei durchgeführt.

Polizeimissionen zur Aufstandsbekämpfung

Der Großteil deutscher Polizeieinsätze findet im Rahmen der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP) statt. Der erste Einsatz, der überhaupt im Rahmen der ESVP erfolgte, war die Polizeimission in Bosnien und Herzegowina (EUPM), die aktuell aus 464 Polizisten und 62 nicht näher bezeichneten »Zivilisten« aus 34 Staaten besteht. Ziel der Polizeimission ist der Kampf gegen organisierte Kriminalität und Korruption sowie der Aufbau von Institutionen der inneren Sicherheit. Derzeit sind 90 deutsche Polizisten an der Mission beteiligt.

Auf den NATO-Einsatz in Mazedonien folgte mit CONCORDIA die zweite ESVP-Mission, die im Dezember 2003 von der Polizeimission PROXIMA abgelöst wurde. Diese bestand bis zu ihrem Ende im Dezember 2005 aus 170 Polizisten aus 23 EU-Staaten und 30 Einsatzkräften in Zivil, die ebenfalls mittlere und leitende Polizeikräfte ausbildeten, exekutive Aufgaben übernahmen und bei der Reform des Innenministeriums mitwirkten.

Die dritte ESVP-Polizei-Mission ist EUPOL KINSHASA, die den Aufbau von Sicherheitskräften der kongolesischen Regierung zum Ziel hat. Die Polizeieinheiten, die mit EU-Entwicklungshilfegeldern ausgerüstet werden, setzen sich aus Anhängern verschiedenster Bürgerkriegsmilizen zusammen. Wie problematisch Polizeimissionen zur so genannten Sicherheitssektorreform sind, zeigt gerade EUPOL KINSHASA. Als von der Übergangsregierung unter Joseph Kabila im Sommer 2005 die Wahlen verschoben wurden, kam es zu friedlichen Protesten, die, höchstwahrscheinlich unter Beteiligung der durch die EU unterstützten Sicherheitskräfte, gewaltsam niedergeschlagen wurden.11

Die ESVP-Polizei-Mission EUJUST LEX im Irak steht unter der Leitung von Stephen White, einem Polizeioffizier, der einen Großteil seiner Laufbahn in Nordirland absolvierte. In Nordirland wird die Polizei straff geführt und arbeitet systematisch mit dem Militär zusammen. EUJUST LEX hat zum Ziel, bis zu 700 irakische Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Gefängniswächter auszubilden. Die Mission wurde am 12. Juni 2006 um weitere 18 Monate verlängert.12 Die Bundesregierung führte ressortübergreifend zwei der genannten Ausbildungskurse in Deutschland durch, auf Basis von in Brüssel entwickelter Ausbildungsmodule. Damit übernimmt Deutschland Aufgaben, zu denen sich die Besatzungsmächte verpflichtet hatten.

Im Rahmen VN-mandatierter Missionen stellt Deutschland neben etwa 6.500 Soldaten auch knapp 300 Polizisten unter anderem für folgende Einsätze: UNMIK/Kosovo (260 Polizisten), ISAF/Afghanistan (16), UNOCI/Elfenbeinküste (5), UNOMIG/Georgien (4) und UNMIL/Liberia (5).13 Eine Schlüsselrolle kommt Deutschland beim Engagement innerhalb der UN-Mission für den Wiederaufbau der afghanischen Polizei zu, das Ende 2005 von der Bundesregierung für ein weiteres Jahr verlängert wurde. Seit 2002 hat Deutschland dort die internationale Führungsrolle übernommen. Bisher wurden 58 Mio. Euro von Deutschland und 350 Mio. Euro von der internationalen Gebergemeinschaft für den Polizeiaufbau in Afghanistan bereit gestellt. Insgesamt wurden über 59.000 afghanische Polizeibeamte an der von Deutschland neu errichteten Polizeiakademie in Kabul ausgebildet.14

In ganz Afghanistan kommt es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Polizei. Gelegentlich wird dabei auch das Feuer auf Demonstrationen eröffnet, werden Zivilisten getötet. Nach Ansicht des UN-Sonderbeauftragten Tom Koenigs handelt es sich bei den Unruhen in Afghanistan um einen regelrechten „Aufstand“, bei dessen gewaltsamer Niederschlagung afghanische Polizeibeamte regelmäßig eingesetzt werden.15

Polizeimissionen zur Stabilisierung repressiver Regierungskräfte (Kongo) oder noch direkter als elementarer Bestandteil einer de facto-Besatzung durch westliche Truppen (Afghanistan und Irak) gehören damit zu den Instrumenten, „mit denen schwächere Staaten unterhalb der Schwelle des offenen Krieges beeinflusst und gelenkt werden können.“16 Da dies von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird, sind schwere Auseinandersetzungen praktisch vorprogrammiert.

Deutsche Planungszellen Internationaler Polizeimissionen

Das Institut für Aus- und Fortbildung in NRW gilt – neben der Ausbildungsstätte der Bundespolizeiakademie in Lübeck sowie der Polizeiakademie in Wertheim (Baden-Württemberg) – als bedeutendste Trainingsstätte für internationale Einsätze im Rahmen des »Zivilen Krisenmanagements« der Europäischen Union.

Die Polizeiakademie in Wertheim trainiert für folgende Missionen: EU Police Mission (EUPM) in Bosnien und Herzegowina, EU African Union Support Mission (EU AMIS II) im Sudan, EU-Border-Assistance-Mission (EUBAM) in Rafah/Palästina und das EU Coordinating Office for Palestinian Police Support (EUPOL COPPS) in Palästina.

Die Schule der Bundespolizei in Lübeck ist für die Projektgruppe Polizeilicher Aufbau Afghanistan (PGPAA) verantwortlich. Auch für die UN Observer Mission (UNOMIG) in Georgien und das Police Advisory Team (EUPAT) in Mazedonien, die UN Mission in Liberia (UNMIL), die UN Mission in Sudan (UNMIS) und die EU Border Assistance Mission (EUBAM) in Moldawien und der Ukraine übernimmt sie die Schulung der Beamten.17

In Bonn, in unmittelbarer Nähe des IAF NRW, das u.a. im Kosovo eingesetzte Polizisten ausbildet, liegt das Gelände der Vereinten Nationen. Aufgrund dieser Nähe zieht deren Department für friedenssichernde Operationen (DPKO) dort offenbar einen Trainingsstandort für internationale Polizistinnen und Polizisten in Erwägung.18

Die jüngsten Organisationseinheiten der Schule der Bundespolizei sind die Einsatzhundertschaften im niedersächsischen Gifhorn. Auf die erste Hundertschaft, die bereits ein Jahr in Gifhorn kaserniert ist, folgte im Januar die zweite, womit das Personalsoll von über 200 Beamten erfüllt wurde. Die Einheit soll sowohl für bereitschaftspolizeiliche Aufgaben im Inland als auch in polizeilichen Einsätzen im Ausland eingesetzt werden.

Die Paramilitarisierung deutscher Außenpolitik

Am 14. April 1949 legte der Polizeibrief der alliierten Militärgouverneure an den Parlamentarischen Rat den Rahmen deutscher polizeilicher Arbeit fest. Er beinhaltete das Verbot, dass „deutsche Polizeikräfte in einer Weise neu organisiert, bewaffnet oder ausgebildet werden, die ihnen militärischen oder militärähnlichen Charakter gibt oder sie in die Lage versetzt, im Gegensatz zu Polizeiaufgaben militärische Aufgaben“ durchzuführen.19 Betrachtet man die heutige Realität, so muss man feststellen, dass internationale Polizeieinsätze einen immer militärischeren Charakter annehmen.

Polizeimissionen gelten fälschlicher Weise als Zivilisierung einer maßgeblich durch das Militär geprägten Außenpolitik. Als Schäuble die libanesisch-syrische Grenze »seinen« Bundespolizisten überantworten wollte, wurde der Ruf nach einer robusteren Polizeieinheit laut. Die GdP fordert zur Bewältigung gewalttätiger Auseinandersetzungen entsprechend ausgebildete und ausgerüstete Einheiten.20 Vieles deutet darauf hin, dass mit der Errichtung der Sondereinheit in Gifhorn dieser Plan bereits realisiert wird. Ziel sei es, so ein BGS-Spezialist, „Demonstrationen bewältigen zu können.“ 21 Ein GdP-Pressesprecher räumte ein, solche Einsätze fänden in einer rechtlichen Grauzone statt, die Bundespolizei könne dabei in Situationen geraten, „die mehr militärischen Charakter haben.“ Aus diesem Grund forderte Konrad Freiberg „gepanzerte Fahrzeuge“ für polizeiliche Auslandsmissionen. Auch sei zu überlegen, ob „für diese Einsätze Maschinengewehre“ bereitzuhalten seien.22 Vor allem die Gifhorner Einheit scheint damit die Speerspitze für eine direkte polizeiliche Unruhe- und Aufstandsbekämpfung im Ausland (riot control) zu werden, die sich kaum mehr von Militäreinsätzen trennen lässt.23 Deutschland folgt somit dem europäischen Trend zur Ausbildung paramilitärischer Einheiten. Fünf EU-Staaten sind bereits dabei, eine Gendarmerietruppe von 800 Mann aufzustellen, die konzeptionell eher militärischen als polizeilichen Charakter hat.24

Im Zug der Auslandseinsätze wird die Trennung von polizeilichen und militärischen Aufgaben aufgeweicht. Bei der Logistik und vor allem bei einem schnellen Rückzug aus Drittländern sind Polizeimissionen oft auf die Zusammenarbeit mit dem Militär angewiesen. Wehe betont diesbezüglich die Kraft des Faktischen: „Die Trennung zwischen Militär und Polizei ist zwar wünschenswert, aber oftmals nicht zu realisieren.“25

Wer den zunehmenden Militärinterventionen zur »Stabilisierung« fehlgeschlagener Staaten kritisch gegenüber steht, muss ebenso skeptisch die Funktion internationaler Polizeieinsätze betrachten, die ihrerseits integraler Bestandteil des neuen Interventionismus sind. Hinzu kommt, dass mit solchen Polizeimissionen die Außenpolitik immer weiter der parlamentarischen Kontrolle entzogen wird. Die Bundespolizei untersteht allein dem Innenminister. Seine Beschlüsse bezüglich der Verwendung der Polizei im Ausland bedürfen keiner Zustimmung des Parlaments. Einsätze sollen zuverlässig, schnell und leise vonstatten gehen. In dieses Bild passt auch Schäubles Forderung, künftig Polizisten – analog zu Soldaten – ohne deren Einwilligung für Auslandseinsätze verpflichten zu können.26 So „drängt sich der Eindruck auf, dass deutsche Polizeikontingente insbesondere dann zum Einsatz kommen, wenn ein militärischer Einsatz wegen der vorgeschalteten Parlamentsentscheidung untunlich ist“, schreibt Andreas Fischer-Lescano. Die Konsequenz wäre eine zunehmende „Entparlamentarisierung der deutschen Außenpolitik“.27

Diese Entparlamentarisierung reduziert die Transparenz der deutschen Außenpolitik. Informationen gelangen nicht in die Zeitungen, und somit verliert die Presse ihre kontrollierende Wirkung. Polizisten genießen darüber hinaus in der deutschen Bevölkerung eine weit größere Akzeptanz als Soldaten. Die Erfahrungen mit verkehrsregulierenden oder kriminalpolizeilichen Aufgaben der Polizei verleiten zu dem Fehlschluss, die Wahrung von Ordnung und Friede in Afghanistan, im Irak, im Kongo oder im Kosovo sei ähnlicher Gestalt.

Anmerkungen

1) Die Libanon-Krise, Informationen des Auswärtigen Amtes, 31.08.2006.

2) Fischer-Lescano, Andreas: Soldaten sind Polizisten sind Soldaten – Paradoxien deutscher Sicherheitspolitik, in: Zeitschrift Kritische Justiz, Heft 1/2004, S. 67-80.

3) Klug, Sönke: Bundespolizei – Wir wollen nicht Lückenbüßer sein, Spiegel Online, 17.08.2006.

4) GdP: Bundespolizisten nicht in militärische Konflikte verwickeln, Pressemitteilung, Berlin, 16.08.2006.

5) Merten, Ulrike: Bundespolizei soll zu Auslandseinsatz gezwungen werden können, in: Netzzeitung, 29.07.2005.

6) NATO & ESVP: Gestaltung des europäischen Pfeilers einer transformierten Allianz, Rede von Dr. Michael Schaefer, Auswärtiges Amt, 15.03.2004.

7) Wehe, Dieter: Internationale Polizeimissionen – Einsatz im Ausland, in: Deutsche Polizei – Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei, Nr.3, März 2006, S. 8-12, S. 8.

8) German-Foreign-Policy.com: Pate der Polizei, 27.02.2006.

9) Bundesministerium des Innern, Berlin: Bundesgrenzschutz – Jahresbericht 2002.

10) BMI Daten und Fakten: Internationales und multilaterales Engagement des Bundesministeriums des Innern, URL: http://www.bmi.bund.de.

11) Marischka, Christoph/Obenland, Wolfgang: Friedliche Kriege? Auf dem Weg zum Weltpolizeistaat, ISW-Spezial Nr.19 (2005).

12) Rat der EU: EU Integrated Rule of Law mission for Iraq, 10383/06 (Presse 181).

13) ZIF (Zentrun für internationale Friedenseinsätze): German Personnel in Peace Operations, May 2005.

14) Schäuble, Wolfgang: Innere Sicherheit unter deutscher Führung in Afghanistan weiter stabilisieren, Pressemitteilung des BMI vom 07. Dezember 2005.

15) Mehr Soldaten nach Afghanistan, Frankfurter Rundschau, 05.09.2006.

16) Marischka/Obenland 2005, S. 21.

17) Wischerath, R./Litges, T.: Das Vorbereitungsseminar, Polizei NRW Auslandseinsätze (Dezernat 13), 21.11.2005.

18) Sazer, U.: Hoher Besuch in Brühl, Polizei NRW, 15.03.2006.

19) Dokumentation des Polizeibriefes bei: Martin Willich: Bundesgrenzschutz – Historische und aktuelle Probleme der Rechtsstellung des Bundesgrenzschutzes, seiner Aufgaben und Befugnisse, Hamburg 1980. Vgl. zur Entwicklung des BGS Harder, Martina: Die Erweiterung des BGS-Einsatzspektruns, in: AUSDRUCK – Das IMI-Magazin, Dezember 2005.

20) GdP-Positionen und Forderungen zu Auslandseinsätzen der deutschen Polizei, in: Deutsche Polizei – Zeitschrift der Gewerkschaft der Polizei Nr.3 März 2006, S. 13.

21) Gutzeit, Achim: Entlastung für die Bundeswehr? Die geplante BGS-Truppe für den Auslandseinsatz, in: Streitkräfte und Strategien, Sendereihe des NDR, 02.07.2005.

22) Militarisierung, German-Foreign-Policy.com, 07.07.2005.

23) Gutzeit, Achim: Entlastung für die Bundeswehr? Die geplante BGS-Truppe für den Auslandseinsatz, in: Streitkräfte und Strategien, Sendereihe des NDR, 02.07.2005.

24) Daniel, Tobias: Startschuss für europäische Polizeitruppe, europa-digital.de, 28.9.2004.

25) Wehe 2006, S. 9.

26) Merten 2005.

27) Fischer-Lescano 2004.

Martina Harder ist Mitarbeiterin der Tübinger Informationsstelle Militarisierung.