Engagierte Neutralität
Engagierte Neutralität
von Heinz Gärtner
Seit Jahren wurde nicht mehr so viel über Neutralität diskutiert, wie seit dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Doch was ist Neutralität und was kann sie leisten, gerade in Zeiten stärker eskalierender und konfrontativerer Weltverhältnisse? In einer Situation der Polarisierung von Großmächten haben kleinere Staaten zwei Optionen: Bündnismitgliedschaft oder Neutralität. Der neutrale Staat muss glaubhaft und nützlich sein – dann kann Neutralität an sich eine gute Sicherheitsgarantie darstellen. Sie ist als »engagierte Neutralität« das Gegenteil eines Abseitsstehens.
Durch den Krieg gegen die Ukraine wurde im Jahr 2022 wieder verstärkt über die Möglichkeit der »Neutralität« eines Staates diskutiert. Doch was meint Neutralität eigentlich? Neutralität beinhaltet drei wesentliche Aspekte: Die Nichtbeteiligung des Staates an einem Krieg oder einem bewaffneten Konflikt zwischen Staaten oder anerkannten Parteien in einem Bürgerkrieg, die Nichtmitgliedschaft eines Staates in einem militärischen Bündnis, sowie das Verbot für einen neutralen Staat, sein Territorium fremden Truppen zur Stationierung oder für die Austragung von kriegerischen Handlungen zur Verfügung zu stellen oder Soldat*innen für deren Kriege zur Verfügung zu stellen (vgl. hierzu Gärtner 2008). Insbesondere darf der dauerhaft Neutrale aber auch keine Abkommen über kollektive Verteidigung schließen (Neuhold, Hummer und Schreuer 1991, S. 477). Neutralität ist niemals eine notwendige Bedingung für Frieden gewesen, aber sie vermied in der Vergangenheit eine der möglichen Kriegsursachen: die Teilhabe an kriegsbereiten Militärbündnissen.
Nach Beginn des Kalten Krieges verlegte sich der Schwerpunkt der Neutralitäts-Definition von der Auffassung der Neutralität als der Nichtteilnahme an fremden Kriegen und militärischen Konflikten auf die der Nichtteilnahme an militärischen Bündnissen. Dies ist deshalb bedeutend, da sich die Mitgliedsstaaten eines Bündnisses verpflichten, individuell und gemeinsam, anderen Mitgliedern, falls sie von außerhalb des Bündnisses bedroht oder angegriffen werden, unter Einschluss militärischer Mittel zu Hilfe zu kommen. Somit schließt sich für einen neutralen Staat die Mitgliedschaft in der NATO aus, da deren Gründungsvertrag eine explizite Beistandsverpflichtung (Artikel V) enthält. Für die Schweiz und Österreich ist der Neutralitätsstatus völkerrechtlich verpflichtend, für Schweden und Finnland eine historisch-politische Tradition. Deswegen gab es für diese beiden Länder keine rechtlichen Barrieren für ihre Anträge im Jahr 2022, der NATO beitreten zu wollen.
Neutrale Staaten nehmen daher eine kompromisslose Haltung zwischen rivalisierenden Bündnissen ein, die nicht notwendigerweise in offene Feindseligkeiten verwickelt sein müssen, aber ein konflikt- und spannungsgeladenes Verhältnis zueinander haben. Das traf insbesondere auf die Beziehungen zwischen den Blöcken im Kalten Krieg zu. Neutralität versucht, die Verwicklung in Kriege von Bündnissen (»entrapment«) zu vermeiden, riskiert aber, im Notfall alleine gelassen zu werden (»abandonment«). In den verschiedenen Phasen in der Nachkriegszeit ab 1945 bis heute bildeten sich unterschiedliche Typen von Polarisierung aus: Es gab Phasen der Bipolarität/Blockbildung, der Unipolarität und schließlich der Tripolarität.
Neutralität als Anomalie der Blockbildung
Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Siegermächte die eroberten Territorien besetzt. Es entstanden politisch-militärische Einflusszonen in Europa. Sie beruhten im Wesentlich auf den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges, die auf den Konferenzen von Teheran und Jalta bestätigt wurden. Sie waren geprägt durch die Militärbündnisse NATO und die Warschauer-Vertrags-Organisation (WVO). Inoffiziell wurden diese Einflusssphären gegenseitig anerkannt; in der jeweiligen Propaganda warfen sich beide Seiten »kommunistische Expansion« beziehungsweise »Imperialismus« vor. Die Orientierung auf die Neutralität konnte verhindern, dass Finnland in die sowjetisch dominierte Zone einbezogen und Österreich wie Deutschland geteilt wurde. Die neutralen Staaten waren die Ausnahme. Sie waren nicht Teil der Blöcke, sondern die Anomalie. Sie versuchten, außerhalb der Militärbündnisse zu bleiben. Die Neutralen konnten zur Konfliktverminderung beitragen, indem sie gute Dienste, Vermittlungstätigkeiten aber auch Friedenstruppen anboten. Im Rahmen des KSZE-Prozesses bildeten die sogenannten N+N-Staaten einen losen Zusammenschluss von neutralen und nicht-paktgebundenen blockfreien Staaten1 Europas, die keinem der beiden Bündnisse, der NATO oder der WVO angehörten. Sie nahmen auch eine Vermittlungs- und Brückenfunktion zwischen den Blöcken ein.
Unipolarität als Herausforderung für neutrale Staaten
Nach dem Ende der Bipolarität entdeckte der Politologe der realistischen Schule Charles Krauthammer das »unipolare Moment«. In der Phase der angenommenen Unipolarität blieb die NATO unter der Führung der USA als alleiniges Militärbündnis übrig.
Für die neutralen Staaten war diese Periode schwierig. Unipolarität strebt nach globaler Dominanz. Für Neutralität gibt es da wenig Platz. Es dominierte die Vorstellung „mit uns oder gegen uns“. In dieser Phase wurden US-Botschaften in neutralen Staaten bei den zuständigen Regierungen und Ministerien vorstellig und beklagten, dass diese etwa zu wenig für die NATO-Operation in Afghanistan beitragen würden. Aktivitäten außerhalb des Bündnisses, wie Friedenstruppen im Rahmen der Vereinten Nationen, wurden von den USA nicht ernst genommen. Das »unipolare Moment« währte aber nicht permanent.
Danach prägte die realistische Schule den Begriff der »Multipolarität«. Vergangene Episoden einer Multipolarität in der Geschichte waren klar mit Polarisierung und Krieg verbunden, wenn man etwa die Perioden vor den beiden Weltkriegen betrachtet. Entgegen der intuitiven Überlegung einer angenommenen Notwendigkeit der Interessenvermittlung bei stärkerer Gleichwertigkeit multipler Pole waren sie nicht per se von größerer Toleranz und Ausgleich geprägt. Sie waren immer von Rüstungswettläufen begleitet. Multipolarität ist mindestens für die heutige Situation auch ein Euphemismus. Es geht im Wesentlichen mittlerweile um eine Tripolarität zwischen den USA, China und Russland. Es gibt auf einer unteren Ebene ökonomische Zentren, wie die EU, Japan, Indien, Brasilien, die aber nicht die militärische Komponente der Großmächte aufweisen. Die US-Sicherheits- und Verteidigungsdoktrinen2 sprechen mittlerweile auch klar von einer Großmachtkonkurrenz: China und Russland würden die USA in vielen Teilen der Welt herausfordern.
Zwei Optionen: Bündnismitgliedschaft oder Neutralität
In einer Situation wachsender Polarisierung von Großmächten haben kleinere Staaten zwei Optionen.
Erstens können sie sich an eine Großmacht anlehnen (»bandwagoning«) und einem Bündnis beitreten, um die eigene Sicherheit zu erhöhen und auch wirtschaftliche Vorteile davon zu haben. Diese Bündnismitgliedschaft kann freiwillig erfolgen, wie bei den meisten NATO-Mitgliedern, oder erzwungen sein, wie es im Falle des Warschauer Paktes während des Kalten Krieges der Fall war. Mitglieder bekommen in der Regel Schutzversprechen (wie etwa mit Artikel V im NATO-Vertrag), weil sie glauben, dass sie ohne Mitgliedschaft im Falle eines bewaffneten Konfliktes alleine gelassen werden könnten (»abandonment«).
Zweitens können sie neutral oder blockfrei bleiben. Damit versuchen sie die Gefahr zu vermeiden, in fremde Großmachtkonflikte hineingezogen zu werden (»entrapment«), weil sie als Gegenleistung zu den Schutzversprechen eines Bündnisses auch Verpflichtungen eingehen, selbst anderen Schutz zu gewähren, auch wenn es nicht im eigenen Interesse sein muss. Damit behält sich der Neutrale die Macht, eine Weisung nicht auszuführen (Definition von Luhmann 1997, S. 355ff.).
Zwei Aufgaben: Glaubhaftigkeit und Nützlichkeit
Um »abandonment« zu vermeiden, muss ein neutraler Staat zwei Bedingungen erfüllen. Der Status der Neutralität muss erstens glaubhaft und berechenbar sein. Zweitens, der neutrale Staat muss nützlich sein (u.a. Gärtner 2022, S. 33-37).
Glaubwürdigkeit bedeutet, dass ein neutraler Staat schon in Friedenszeiten seine Neutralität und Blockfreiheit unzweideutig vermitteln muss. Er muss immer wieder klarstellen, dass er nicht anstrebt, einem Militärbündnis beizutreten und nicht an fremden Kriegen teilnehmen oder fremde Truppen auf seinem Territorium stationieren wird. Er darf keine Bedrohung darstellen, also zum Beispiel keinem von einer Seite als feindlich wahrgenommen Bündnis beitreten oder diese Absicht vermitteln. Um dies mit dem aktuellsten Beispiel zu illustrieren: Die Ukraine wurde von Russland vor der Intervention eben schon als potentielles NATO-Mitglied wahrgenommen, weil sie diese Absicht vermittelt hatte – die glaubhafte Neutralität war ihr abhandengekommen. Offenbar glaubwürdig dagegen waren in ihrem Neutralitätsbekenntnis bis zuletzt wohl die skandinavischen Staaten, deren Entscheidung eines Bündnisbeitritts für viele Beobachter*innen eher überraschend kam. Eine zusätzliche Garantie wäre eine völker- und verfassungsrechtlich abgesicherte Neutralität. Glaubwürdigkeit wird auch dadurch unterstrichen, dass der neutrale Staat bewaffnet ist. US-Präsident Dwight Eisenhower etwa stimmte der österreichischen Neutralität nur unter der Bedingung zu, dass sie von Österreich „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln“, also auch bewaffnet, verteidigt wird (Gärtner 2017, S. 155-161).
Zum anderen muss der neutrale Staat nützlich sein. Nützlichkeit kann mit Kriterien sowohl der realistischen als auch der liberalen Schule gemessen werden. Er kann im Sinne des Realismus die Funktion eines Pufferstaates übernehmen oder im liberalen Sinne gute Dienste anbieten und vermittelnd im weitesten Sinne tätig sein.3 Damit kann sich der neutrale Staat sehr gute Sicherheitsgarantien erwerben.
In der Zeit des Kalten Krieges übernahmen die Neutralen beide Funktionen. Zum einen die der Pufferfunktion: Mit der von Finnland und Schweden 2022 bekundeten Absicht, der NATO beizutreten, wählten sie Bündnismitgliedschaft vor Neutralität. Damit haben sie die sowohl von der Sowjetunion als auch von Russland anerkannte Rolle als Pufferstaat gegenüber der NATO aufgegeben. Sie werden von Russland als Feindstaaten eingestuft werden. Von der NATO wird Finnland nach einem Beitritt als Teil ihrer östlichen Flanke, also als Frontstaat, behandelt werden, was die Vorwärtspräsenz ihrer Waffen einschließen wird.
Zum anderen die Funktion der »guten Dienste«: Neutrale Staaten bieten ihr Territorium und ihre Vermittlung an, um Konflikte zu vermeiden und zu lösen. Sie können Fazilitatoren oder Vermittler sein, um den wirtschaftlichen und diplomatischen Verkehr aufrechtzuerhalten. Die Präsenz von sicherheitsbezogenen internationalen Organisationen, wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), die Organisation für den Vertrag über den umfassenden nuklearen Teststopp (CTBTO), die Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder das Wassenaar Arrangement über Rüstungsexportkontrolle, sowie Wirtschaftsorganisationen, wie die Gemeinschaft erdölexportierender Staaten (OPEC), allesamt in Wien ansässig, sind Beispiele dafür. Wien ist wegen seines neutralen Status auch zum Gastgeber der Verhandlungen über das iranische Nuklearprogramm 2015 und 2021/22 geworden.
Neutralität als Sicherheitsgarantie
Es gibt kaum Fälle, bei denen glaubhaft neutrale Staaten, außer im Zuge von großen Kriegen, Ziel eines Angriffs wurden. Historisch gesehen wurde Neutralität fast immer dann militärisch verletzt, wenn auch Bündnismitglieder angegriffen wurden. Belgien, das vor den beiden Weltkriegen neutral bleiben wollte, wurde genauso angegriffen, wie die Staaten, die Bündnisverpflichtungen abgeschlossen hatten. Die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland war aber der Anlass für Großbritannien, in den Ersten Weltkrieg einzutreten. Belgien war zuvor fünfundsiebzig Jahre erfolgreich neutral gewesen.
Hingegen können Bündnisse einen eskalierenden Effekt haben, wenn die Entscheidung für Krieg gefallen ist. Studien belegen: Je stärker und häufiger die Bündnisverpflichtungen eines Staates sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Staat in Kriege verwickelt wird (Singer und Small 1966, S. 109-140; Geller und Singer 1998, S. 62ff.). Für kleinere Staaten gilt zudem, dass sie durch ihre Mitgliedschaft in Bündnissen ihre diplomatische Flexibilität verlieren, außenpolitische Krisen ohne Eskalation zum Krieg zu bewältigen (Singer und Krause 2001, S. 15-25).
Die Bündnisbildungen vor dem Ersten Weltkrieg hatten einen stark eskalierenden Effekt. Die österreichischen und deutschen Kaiserreiche unterstützten sich gegenseitig gegen das serbische Königreich und das zaristische Russland. Deutschland mobilisierte gleichzeitig gegen die Mitglieder der französisch-russischen Allianz. Schon 1905 hatte Frankreich größte Schwierigkeiten gehabt, sich als Bündnispartner Russlands aus dem japanisch-russischen Krieg herauszuhalten. Der Weltkrieg wäre möglicherweise verhindert worden, wenn der österreichische Kaiser Franz-Josef dem Rat des britischen Königs Edward VII 1907 gefolgt wäre, die Allianz mit Deutschland aufzugeben, und gemeinsam mit anderen friedlichen Staaten eine Neutralitätspolitik zu verfolgen (Abbenhuis 2014, S. 172). Eine positive Entscheidung des österreichischen Kaisers hätte vielleicht kriegsverhindernd sein können.
Interessanterweise wollen Großmächte durchaus, dass etablierte Neutralität von anderen Großmächten respektiert wird. US-Präsident Eisenhower signalisierte, das neutrale Österreich, obwohl nicht Teil der NATO, zu verteidigen. Österreich, das den Flüchtlingen aus Ungarn während der dortigen Krise 1956 Hilfe leistete, wurde von der Sowjetunion beschuldigt, Ausbildungslager für die Aufständischen zu unterhalten und Waffen über die ungarische Grenze zu schmuggeln. Moskau würde diese Art von Neutralität nicht akzeptieren. Das US-Außenministerium drohte, dass „ein Angriff der Sowjetunion auf Österreichs Neutralität den dritten Weltkrieg bedeuten“4 würde. Es war dies ein eindeutiges Bekenntnis zur österreichischen Neutralität. Es war auch keine zufällige Äußerung. Ein Dokument des Nationalen Sicherheitsrates der USA von 1960, das am 18. Jänner 1961 von US-Präsident Eisenhower (zwei Tage vor der Amtseinführung John F. Kennedys) gebilligt wurde, formulierte als Ziel, „jegliche Verletzung der Integrität Österreichs Territorium oder seiner Neutralität als schwerwiegende Bedrohung des Friedens zu behandeln“.
In dieser Tradition argumentierte der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky als er viele der internationalen Organisationen in Wien anzusiedeln half. Dies geschah zur Zeit des »heißesten« Höhepunktes des Kalten Krieges mit gegenseitigen Nukleardrohungen der USA und der Sowjetunion. Kreisky sah in den internationalen Organisationen eine Nützlichkeit des neutralen Österreich für Großmächte und damit eine gewisse Garantie vor einem nuklearen Angriff. Diese Idee war auch ein Hinweis darauf, dass Nuklearmächte selbst Interesse daran haben müssten, diese indirekten Sicherheitsgarantien zu gewähren.
Konsequenzen für die Ukraine: permanente Neutralität oder permanente Teilung
Die Umsetzung des Vorschlags einer Neutralität der Ukraine nach dem Vorbild Österreichs, der schon 2014 (Gärtner 2014, Kissinger 2014) gemacht wurde, hätte möglicherweise den Krieg verhindern können. Die Ukraine hätte auf den NATO-Beitritt verzichten, Russland aber auch seine Präsenz durch die Unterstützung der Milizen im Osten aufgeben müssen. Die russisch unterstützten Milizen im Donbas sollten unter anderem sicherstellen, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt.
Weder die Ukraine, noch die NATO, noch Russland waren jedoch dazu bereit, die Option der Neutralität zu erkunden. Mit ihrer Absichtserklärung, der NATO beizutreten, hat die Ukraine ihre Neutralität nach dem Gipfel der NATO in Bukarest 2008, die 2014 in der Verfassung verankert wurde, endgültig aufgegeben. Ein erkennbares russisches Motiv für die Invasion in der Ukraine war nicht deren bis dato neutraler Status, sondern eben genau ihre Absicht, einem aus russischer Sicht feindlichen Bündnis beizutreten. Russland selbst war nicht bereit, über die Forderung nach Bündnisfreiheit hinauszugehen und die Bedingungen der Neutralität zu akzeptieren, was die Aufgabe der Unterstützung der Milizen im Osten bedeutet hätte. Die Ukraine hätte einen glaubwürdigen Pufferstaat zwischen Russland und der NATO abgeben können, eine Funktion, die Finnland und Schweden jahrzehntelang erfüllt haben.
Die Eskalation des Krieges seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 macht eine Teilung der Ukraine immer wahrscheinlicher. Für die Ukraine könnte sich aus heutiger Sicht die Alternative stellen: permanente Neutralität oder permanente Teilung. Die mögliche Teilung der Ukraine würde vielmehr der Teilung Deutschlands oder auch Koreas nach dem verlustreichen Krieg 1950 bis 1953 ähneln. Dieses Ergebnis würde einen neuen Eisernen Vorhang oder gar »Cordon Sanitaire« vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer zur Folge haben. Russland stünde dann eine Rumpfukraine im Westen mit NATO-Kandidatenstatus gegenüber.
Ein drittes Szenario könnte aus dem Beispiel des zehnjährigen Abnützungskriegs der Sowjetunion in Afghanistan abgeleitet werden. Den Szenarien der permanenten Neutralität und permanenten Teilung käme ein weiteres hinzu: permanenter Krieg.
Nützlichkeit durch »Engagierte Neutralität«
Neutrale Staaten dürfen nicht Teil dieser globalen und regionalen Auseinandersetzung sein. Im Sinne einer »engagierten Neutralität« können sie aber Diplomatie und Vermittlung anbieten. Sie stellen für Großmächte, anders als die Bündnisse, keine Bedrohung dar. Neutrale Staaten sind nicht wertneutral und dürfen es auch in diesem Krieg nicht sein. Im Gegenteil, »engagierte Neutralität« bedeutet, Stellung zu nehmen zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Genozid und Krieg. Neutrale Staaten sind aber nicht gezwungen, die Positionen von Großmächten oder Bündnissen zu übernehmen.
Neutrale Staaten können sich in den Vereinten Nationen und in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik engagieren oder bei Friedensoperationen teilnehmen, wenn sie von den Vereinten Nationen autorisiert sind.
Engagierte Neutralität ist somit das Gegenteil von Abseitsstehen. Sie bedeutet Einmischen, wann immer möglich, und Heraushalten, wann immer nötig. Damit kann sie ein wertvoller Beitrag der Vermittlung und der Deeskalation in Zeiten immer schärfer werdender Konfrontationen sein.
Anmerkungen
1) Ebenso wie Neutralität bedeutet Bündnis- oder Blockfreiheit den Verzicht auf Bündnismitgliedschaft. Ihr Ziel ist es, zu verhindern, dass die Blockbildung auf die Länder des Südens übergreift. Damit unterschieden sie sich von den neutralen Staaten. Sie verbieten auch nicht notwendigerweise die Truppenstationierung ausländischer Mächte, wie die neutralen Staaten.
2) Es sind dies die »National Security Strategy« (NSS), die »National Defense Strategy« (NDS) und die »Nuclear Posture Review« (NPR).
3) Die Nützlichkeit im Verständnis der liberalen Schule basiert auf denen der Republiken von Immanuel Kant. Sie treiben Handel und gewähren Gastrecht.
4) Zit. nach Bild-Telegraph, 7.11.1956.
Literatur
Abbenhuis M. (2014): An age of Neutrals. Great power politics, 1815–1914. Cambridge: Cambridge University Press.
Gärtner, H. (2014): Kiew sollte sich Neutralität Österreichs ansehen, Bündnisfreiheit zwischen EU und Russland als interessantes Modell für die Ukraine. Kommentar der anderen. Der Standard, 3.3.2014.
Gärtner, H. (2008): Internationale Sicherheit: Definitionen von A – Z. Baden-Baden: Nomos.
Gärtner H. (2017): Der Kalter Krieg. Wiesbaden: Marix-Wissen.
Gärtner, H. (2022): Zwischen den Blöcken. Neutralität und Bündnisfreiheit in den internationalen Beziehungen. Aus Politik und Zeitgeschichte 40-41/2022, 4.10.2022, S. 33-37.
Geller, D. S.; Singer, J. D. (1998): Nations at war. A scientific study of international conflict. Cambridge: Cambridge University Press.
Kissinger, H. (2014): To settle the Ukraine crisis, start at the end. The Washington Post, 5.3.2014.
Luhmann, N. (1997): Die Geschichte der Gesellschaft, 1. Teilband. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Neuhold, H; Hummer, W; Schreuer, Ch. (1991): Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1: Textteil. Wien: Manz.
Singer, J. D; Krause, V. (2001): Minor powers, alliances, and armed conflict: Some preliminary patterns. In: Gärtner, H.; Reiter, E. (Hrsg.): Small states and alliances. Heidelberg und New York: Springer.
Singer, J. D.; Small, M. (1966): National alliance commitments and war involvement, 1815-1945. Peace Research Society (International) Papers 5. Cambridge: Cambridge University Press.
Prof. Dr. Heinz Gärtner (1951) lehrt unter anderem am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Derzeit leitet er auch den Beirat des International Institute for Peace (IIP).