Engagierte Neutralität

Engagierte Neutralität

von Heinz Gärtner

Seit Jahren wurde nicht mehr so viel über Neutralität diskutiert, wie seit dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine. Doch was ist Neutralität und was kann sie leisten, gerade in Zeiten stärker eskalierender und konfrontativerer Weltverhältnisse? In einer Situation der Polarisierung von Großmächten haben kleinere Staaten zwei Optionen: Bündnismitgliedschaft oder Neutralität. Der neutrale Staat muss glaubhaft und nützlich sein – dann kann Neutralität an sich eine gute Sicherheitsgarantie darstellen. Sie ist als »engagierte Neutralität« das Gegenteil eines Abseitsstehens.

Durch den Krieg gegen die Ukraine wurde im Jahr 2022 wieder verstärkt über die Möglichkeit der »Neutralität« eines Staates diskutiert. Doch was meint Neutralität eigentlich? Neutralität beinhaltet drei wesentliche Aspekte: Die Nichtbeteiligung des Staates an einem Krieg oder einem bewaffneten Konflikt zwischen Staaten oder anerkannten Parteien in einem Bürgerkrieg, die Nichtmitgliedschaft eines Staates in einem militärischen Bündnis, sowie das Verbot für einen neutralen Staat, sein Territorium fremden Truppen zur Stationierung oder für die Austragung von kriegerischen Handlungen zur Verfügung zu stellen oder Soldat*innen für deren Kriege zur Verfügung zu stellen (vgl. hierzu Gärtner 2008). Insbesondere darf der dauerhaft Neutrale aber auch keine Abkommen über kollektive Verteidigung schließen (Neuhold, Hummer und Schreuer 1991, S. 477). Neutralität ist niemals eine notwendige Bedingung für Frieden gewesen, aber sie vermied in der Vergangenheit eine der möglichen Kriegsursachen: die Teilhabe an kriegsbereiten Militärbündnissen.

Nach Beginn des Kalten Krieges verlegte sich der Schwerpunkt der Neutralitäts-Definition von der Auffassung der Neutralität als der Nichtteilnahme an fremden Kriegen und militärischen Konflikten auf die der Nichtteilnahme an militärischen Bündnissen. Dies ist deshalb bedeutend, da sich die Mitgliedsstaaten eines Bündnisses verpflichten, individuell und gemeinsam, anderen Mitgliedern, falls sie von außerhalb des Bündnisses bedroht oder angegriffen werden, unter Einschluss militärischer Mittel zu Hilfe zu kommen. Somit schließt sich für einen neutralen Staat die Mitgliedschaft in der NATO aus, da deren Gründungsvertrag eine explizite Beistandsverpflichtung (Artikel V) enthält. Für die Schweiz und Österreich ist der Neutralitätsstatus völkerrechtlich verpflichtend, für Schweden und Finnland eine historisch-politische Tradition. Deswegen gab es für diese beiden Länder keine rechtlichen Barrieren für ihre Anträge im Jahr 2022, der NATO beitreten zu wollen.

Neutrale Staaten nehmen daher eine kompromisslose Haltung zwischen rivalisierenden Bündnissen ein, die nicht notwendigerweise in offene Feindseligkeiten verwickelt sein müssen, aber ein konflikt- und spannungsgeladenes Verhältnis zueinander haben. Das traf insbesondere auf die Beziehungen zwischen den Blöcken im Kalten Krieg zu. Neutralität versucht, die Verwicklung in Kriege von Bündnissen (»entrapment«) zu vermeiden, riskiert aber, im Notfall alleine gelassen zu werden (»abandonment«). In den verschiedenen Phasen in der Nachkriegszeit ab 1945 bis heute bildeten sich unterschiedliche Typen von Polarisierung aus: Es gab Phasen der Bipolarität/Blockbildung, der Unipolarität und schließlich der Tripolarität.

Neutralität als Anomalie der Blockbildung

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Siegermächte die eroberten Territorien besetzt. Es entstanden politisch-militärische Einflusszonen in Europa. Sie beruhten im Wesentlich auf den Ergebnissen des Zweiten Weltkrieges, die auf den Konferenzen von Teheran und Jalta bestätigt wurden. Sie waren geprägt durch die Militärbündnisse NATO und die Warschauer-Vertrags-Organisation (WVO). Inoffiziell wurden diese Einflusssphären gegenseitig anerkannt; in der jeweiligen Propaganda warfen sich beide Seiten »kommunistische Expansion« beziehungsweise »Imperialismus« vor. Die Orientierung auf die Neutralität konnte verhindern, dass Finnland in die sowjetisch dominierte Zone einbezogen und Österreich wie Deutschland geteilt wurde. Die neutralen Staaten waren die Ausnahme. Sie waren nicht Teil der Blöcke, sondern die Anomalie. Sie versuchten, außerhalb der Militärbündnisse zu bleiben. Die Neutralen konnten zur Konfliktverminderung beitragen, indem sie gute Dienste, Vermittlungstätigkeiten aber auch Friedenstruppen anboten. Im Rahmen des KSZE-Prozesses bildeten die sogenannten N+N-Staaten einen losen Zusammenschluss von neutralen und nicht-paktgebundenen blockfreien Staaten1 Europas, die keinem der beiden Bündnisse, der NATO oder der WVO angehörten. Sie nahmen auch eine Vermittlungs- und Brückenfunktion zwischen den Blöcken ein.

Unipolarität als Heraus­forderung für neutrale Staaten

Nach dem Ende der Bipolarität entdeckte der Politologe der realistischen Schule Charles Krauthammer das »unipolare Moment«. In der Phase der angenommenen Unipolarität blieb die NATO unter der Führung der USA als alleiniges Militärbündnis übrig.

Für die neutralen Staaten war diese Periode schwierig. Unipolarität strebt nach globaler Dominanz. Für Neutralität gibt es da wenig Platz. Es dominierte die Vorstellung „mit uns oder gegen uns“. In dieser Phase wurden US-Botschaften in neutralen Staaten bei den zuständigen Regierungen und Ministerien vorstellig und beklagten, dass diese etwa zu wenig für die NATO-Operation in Afghanistan beitragen würden. Aktivitäten außerhalb des Bündnisses, wie Friedenstruppen im Rahmen der Vereinten Nationen, wurden von den USA nicht ernst genommen. Das »unipolare Moment« währte aber nicht permanent.

Danach prägte die realistische Schule den Begriff der »Multipolarität«. Vergangene Episoden einer Multipolarität in der Geschichte waren klar mit Polarisierung und Krieg verbunden, wenn man etwa die Perioden vor den beiden Weltkriegen betrachtet. Entgegen der intuitiven Überlegung einer angenommenen Notwendigkeit der Interessenvermittlung bei stärkerer Gleichwertigkeit multipler Pole waren sie nicht per se von größerer Toleranz und Ausgleich geprägt. Sie waren immer von Rüstungswettläufen begleitet. Multipolarität ist mindestens für die heutige Situation auch ein Euphemismus. Es geht im Wesentlichen mittlerweile um eine Tripolarität zwischen den USA, China und Russland. Es gibt auf einer unteren Ebene ökonomische Zentren, wie die EU, Japan, Indien, Brasilien, die aber nicht die militärische Komponente der Großmächte aufweisen. Die US-Sicherheits- und Verteidigungsdoktrinen2 sprechen mittlerweile auch klar von einer Großmachtkonkurrenz: China und Russland würden die USA in vielen Teilen der Welt herausfordern.

Zwei Optionen: Bündnis­mitgliedschaft oder Neutralität

In einer Situation wachsender Polarisierung von Großmächten haben kleinere Staaten zwei Optionen.

Erstens können sie sich an eine Großmacht anlehnen (»bandwagoning«) und einem Bündnis beitreten, um die eigene Sicherheit zu erhöhen und auch wirtschaftliche Vorteile davon zu haben. Diese Bündnismitgliedschaft kann freiwillig erfolgen, wie bei den meisten NATO-Mitgliedern, oder erzwungen sein, wie es im Falle des Warschauer Paktes während des Kalten Krieges der Fall war. Mitglieder bekommen in der Regel Schutzversprechen (wie etwa mit Artikel V im NATO-Vertrag), weil sie glauben, dass sie ohne Mitgliedschaft im Falle eines bewaffneten Konfliktes alleine gelassen werden könnten (»abandonment«).

Zweitens können sie neutral oder blockfrei bleiben. Damit versuchen sie die Gefahr zu vermeiden, in fremde Großmachtkonflikte hineingezogen zu werden (»entrapment«), weil sie als Gegenleistung zu den Schutzversprechen eines Bündnisses auch Verpflichtungen eingehen, selbst anderen Schutz zu gewähren, auch wenn es nicht im eigenen Interesse sein muss. Damit behält sich der Neutrale die Macht, eine Weisung nicht auszuführen (Definition von Luhmann 1997, S. 355ff.).

Zwei Aufgaben: Glaubhaftigkeit und Nützlichkeit

Um »abandonment« zu vermeiden, muss ein neutraler Staat zwei Bedingungen erfüllen. Der Status der Neutralität muss erstens glaubhaft und berechenbar sein. Zweitens, der neutrale Staat muss nützlich sein (u.a. Gärtner 2022, S. 33-37).

Glaubwürdigkeit bedeutet, dass ein neutraler Staat schon in Friedenszeiten seine Neutralität und Blockfreiheit unzweideutig vermitteln muss. Er muss immer wieder klarstellen, dass er nicht anstrebt, einem Militärbündnis beizutreten und nicht an fremden Kriegen teilnehmen oder fremde Truppen auf seinem Territorium stationieren wird. Er darf keine Bedrohung darstellen, also zum Beispiel keinem von einer Seite als feindlich wahrgenommen Bündnis beitreten oder diese Absicht vermitteln. Um dies mit dem aktuellsten Beispiel zu illustrieren: Die Ukraine wurde von Russland vor der Intervention eben schon als potentielles NATO-Mitglied wahrgenommen, weil sie diese Absicht vermittelt hatte – die glaubhafte Neutralität war ihr abhandengekommen. Offenbar glaubwürdig dagegen waren in ihrem Neu­tralitätsbekenntnis bis zuletzt wohl die skandinavischen Staaten, deren Entscheidung eines Bündnisbeitritts für viele Beobachter*innen eher überraschend kam. Eine zusätzliche Garantie wäre eine völker- und verfassungsrechtlich abgesicherte Neutralität. Glaubwürdigkeit wird auch dadurch unterstrichen, dass der neutrale Staat bewaffnet ist. US-Präsident Dwight Eisenhower etwa stimmte der österreichischen Neutralität nur unter der Bedingung zu, dass sie von Österreich „mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, also auch bewaffnet, verteidigt wird (Gärtner 2017, S. 155-161).

Zum anderen muss der neutrale Staat nützlich sein. Nützlichkeit kann mit Kriterien sowohl der realistischen als auch der liberalen Schule gemessen werden. Er kann im Sinne des Realismus die Funktion eines Pufferstaates übernehmen oder im liberalen Sinne gute Dienste anbieten und vermittelnd im weitesten Sinne tätig sein.3 Damit kann sich der neutrale Staat sehr gute Sicherheitsgarantien erwerben.

In der Zeit des Kalten Krieges übernahmen die Neutralen beide Funktionen. Zum einen die der Pufferfunktion: Mit der von Finnland und Schweden 2022 bekundeten Absicht, der NATO beizutreten, wählten sie Bündnismitgliedschaft vor Neutralität. Damit haben sie die sowohl von der Sowjetunion als auch von Russland anerkannte Rolle als Pufferstaat gegenüber der NATO aufgegeben. Sie werden von Russland als Feindstaaten eingestuft werden. Von der NATO wird Finnland nach einem Beitritt als Teil ihrer östlichen Flanke, also als Frontstaat, behandelt werden, was die Vorwärtspräsenz ihrer Waffen einschließen wird.

Zum anderen die Funktion der »guten Dienste«: Neutrale Staaten bieten ihr Territorium und ihre Vermittlung an, um Konflikte zu vermeiden und zu lösen. Sie können Fazilitatoren oder Vermittler sein, um den wirtschaftlichen und diplomatischen Verkehr aufrechtzuerhalten. Die Präsenz von sicherheitsbezogenen internationalen Organisationen, wie die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA), die Organisation für den Vertrag über den umfassenden nuklearen Teststopp (CTBTO), die Organisation über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) oder das Wassenaar Arrangement über Rüstungsexportkontrolle, sowie Wirtschaftsorganisationen, wie die Gemeinschaft erdölexportierender Staaten (OPEC), allesamt in Wien ansässig, sind Beispiele dafür. Wien ist wegen seines neutralen Status auch zum Gastgeber der Verhandlungen über das iranische Nuklearprogramm 2015 und 2021/22 geworden.

Neutralität als Sicherheitsgarantie

Es gibt kaum Fälle, bei denen glaubhaft neutrale Staaten, außer im Zuge von großen Kriegen, Ziel eines Angriffs wurden. Historisch gesehen wurde Neutralität fast immer dann militärisch verletzt, wenn auch Bündnismitglieder angegriffen wurden. Belgien, das vor den beiden Weltkriegen neutral bleiben wollte, wurde genauso angegriffen, wie die Staaten, die Bündnisverpflichtungen abgeschlossen hatten. Die Verletzung der belgischen Neutralität durch Deutschland war aber der Anlass für Großbritannien, in den Ersten Weltkrieg einzutreten. Belgien war zuvor fünfundsiebzig Jahre erfolgreich neutral gewesen.

Hingegen können Bündnisse einen eskalierenden Effekt haben, wenn die Entscheidung für Krieg gefallen ist. Studien belegen: Je stärker und häufiger die Bündnisverpflichtungen eines Staates sind, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Staat in Kriege verwickelt wird (Singer und Small 1966, S. 109-140; Geller und Singer 1998, S. 62ff.). Für kleinere Staaten gilt zudem, dass sie durch ihre Mitgliedschaft in Bündnissen ihre diplomatische Flexibilität verlieren, außenpolitische Krisen ohne Eskalation zum Krieg zu bewältigen (Singer und Krause 2001, S. 15-25).

Die Bündnisbildungen vor dem Ersten Weltkrieg hatten einen stark eskalierenden Effekt. Die österreichischen und deutschen Kaiserreiche unterstützten sich gegenseitig gegen das serbische Königreich und das zaristische Russland. Deutschland mobilisierte gleichzeitig gegen die Mitglieder der französisch-russischen Allianz. Schon 1905 hatte Frankreich größte Schwierigkeiten gehabt, sich als Bündnispartner Russlands aus dem japanisch-russischen Krieg herauszuhalten. Der Weltkrieg wäre möglicherweise verhindert worden, wenn der österreichische Kaiser Franz-Josef dem Rat des britischen Königs Edward VII 1907 gefolgt wäre, die Allianz mit Deutschland aufzugeben, und gemeinsam mit anderen friedlichen Staaten eine Neutralitätspolitik zu verfolgen (Abbenhuis 2014, S. 172). Eine positive Entscheidung des österreichischen Kaisers hätte vielleicht kriegsverhindernd sein können.

Interessanterweise wollen Großmächte durchaus, dass etablierte Neutralität von anderen Großmächten respektiert wird. US-Präsident Eisenhower signalisierte, das neutrale Österreich, obwohl nicht Teil der NATO, zu verteidigen. Österreich, das den Flüchtlingen aus Ungarn während der dortigen Krise 1956 Hilfe leistete, wurde von der Sowjetunion beschuldigt, Ausbildungslager für die Aufständischen zu unterhalten und Waffen über die ungarische Grenze zu schmuggeln. Moskau würde diese Art von Neutralität nicht akzeptieren. Das US-Außenministerium drohte, dass ein Angriff der Sowjetunion auf Österreichs Neutralität den dritten Weltkrieg bedeuten“4 würde. Es war dies ein eindeutiges Bekenntnis zur österreichischen Neutralität. Es war auch keine zufällige Äußerung. Ein Dokument des Nationalen Sicherheitsrates der USA von 1960, das am 18. Jänner 1961 von US-Präsident Eisenhower (zwei Tage vor der Amtseinführung John F. Kennedys) gebilligt wurde, formulierte als Ziel, „jegliche Verletzung der Integrität Österreichs Territorium oder seiner Neutralität als schwerwiegende Bedrohung des Friedens zu behandeln“.

In dieser Tradition argumentierte der österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky als er viele der internationalen Organisationen in Wien anzusiedeln half. Dies geschah zur Zeit des »heißesten« Höhepunktes des Kalten Krieges mit gegenseitigen Nukleardrohungen der USA und der Sowjetunion. Kreisky sah in den internationalen Organisationen eine Nützlichkeit des neutralen Österreich für Großmächte und damit eine gewisse Garantie vor einem nuklearen Angriff. Diese Idee war auch ein Hinweis darauf, dass Nuklearmächte selbst Interesse daran haben müssten, diese indirekten Sicherheitsgarantien zu gewähren.

Konsequenzen für die Ukraine: permanente Neutralität oder permanente Teilung

Die Umsetzung des Vorschlags einer Neutralität der Ukraine nach dem Vorbild Österreichs, der schon 2014 (Gärtner 2014, Kissinger 2014) gemacht wurde, hätte möglicherweise den Krieg verhindern können. Die Ukraine hätte auf den NATO-Beitritt verzichten, Russland aber auch seine Präsenz durch die Unterstützung der Milizen im Osten aufgeben müssen. Die russisch unterstützten Milizen im Donbas sollten unter anderem sicherstellen, dass die Ukraine nicht der NATO beitritt.

Weder die Ukraine, noch die NATO, noch Russland waren jedoch dazu bereit, die Option der Neutralität zu erkunden. Mit ihrer Absichtserklärung, der NATO beizutreten, hat die Ukraine ihre Neutralität nach dem Gipfel der NATO in Bukarest 2008, die 2014 in der Verfassung verankert wurde, endgültig aufgegeben. Ein erkennbares russisches Motiv für die Invasion in der Ukraine war nicht deren bis dato neutraler Status, sondern eben genau ihre Absicht, einem aus russischer Sicht feindlichen Bündnis beizutreten. Russland selbst war nicht bereit, über die Forderung nach Bündnisfreiheit hinauszugehen und die Bedingungen der Neutralität zu akzeptieren, was die Aufgabe der Unterstützung der Milizen im Osten bedeutet hätte. Die Ukraine hätte einen glaubwürdigen Pufferstaat zwischen Russland und der NATO abgeben können, eine Funktion, die Finnland und Schweden jahrzehntelang erfüllt haben.

Die Eskalation des Krieges seit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 macht eine Teilung der Ukraine immer wahrscheinlicher. Für die Ukraine könnte sich aus heutiger Sicht die Alternative stellen: permanente Neutralität oder permanente Teilung. Die mögliche Teilung der Ukraine würde vielmehr der Teilung Deutschlands oder auch Koreas nach dem verlustreichen Krieg 1950 bis 1953 ähneln. Dieses Ergebnis würde einen neuen Eisernen Vorhang oder gar »Cordon Sanitaire« vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer zur Folge haben. Russland stünde dann eine Rumpfukraine im Westen mit NATO-Kandidatenstatus gegenüber.

Ein drittes Szenario könnte aus dem Beispiel des zehnjährigen Abnützungskriegs der Sowjetunion in Afghanistan abgeleitet werden. Den Szenarien der permanenten Neutralität und permanenten Teilung käme ein weiteres hinzu: permanenter Krieg.

Nützlichkeit durch »Engagierte Neutralität«

Neutrale Staaten dürfen nicht Teil dieser globalen und regionalen Auseinandersetzung sein. Im Sinne einer »engagierten Neutralität« können sie aber Diplomatie und Vermittlung anbieten. Sie stellen für Großmächte, anders als die Bündnisse, keine Bedrohung dar. Neutrale Staaten sind nicht wertneutral und dürfen es auch in diesem Krieg nicht sein. Im Gegenteil, »engagierte Neutralität« bedeutet, Stellung zu nehmen zu schweren Menschenrechtsverletzungen, Genozid und Krieg. Neutrale Staaten sind aber nicht gezwungen, die Positionen von Großmächten oder Bündnissen zu übernehmen.

Neutrale Staaten können sich in den Vereinten Nationen und in der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik engagieren oder bei Friedensoperationen teilnehmen, wenn sie von den Vereinten Nationen autorisiert sind.

Engagierte Neutralität ist somit das Gegenteil von Abseitsstehen. Sie bedeutet Einmischen, wann immer möglich, und Heraushalten, wann immer nötig. Damit kann sie ein wertvoller Beitrag der Vermittlung und der Deeskalation in Zeiten immer schärfer werdender Konfrontationen sein.

Anmerkungen

1) Ebenso wie Neutralität bedeutet Bündnis- oder Blockfreiheit den Verzicht auf Bündnismitgliedschaft. Ihr Ziel ist es, zu verhindern, dass die Blockbildung auf die Länder des Südens übergreift. Damit unterschieden sie sich von den neutralen Staaten. Sie verbieten auch nicht notwendigerweise die Truppenstationierung ausländischer Mächte, wie die neutralen Staaten.

2) Es sind dies die »National Security Strategy« (NSS), die »National Defense Strategy« (NDS) und die »Nuclear Posture Review« (NPR).

3) Die Nützlichkeit im Verständnis der liberalen Schule basiert auf denen der Republiken von Immanuel Kant. Sie treiben Handel und gewähren Gastrecht.

4) Zit. nach Bild-Telegraph, 7.11.1956.

Literatur

Abbenhuis M. (2014): An age of Neutrals. Great power politics, 1815–1914. Cambridge: Cambridge University Press.

Gärtner, H. (2014): Kiew sollte sich Neutralität Österreichs ansehen, Bündnisfreiheit zwischen EU und Russland als interessantes Modell für die Ukraine. Kommentar der anderen. Der Standard, 3.3.2014.

Gärtner, H. (2008): Internationale Sicherheit: Definitionen von A – Z. Baden-Baden: Nomos.

Gärtner H. (2017): Der Kalter Krieg. Wiesbaden: Marix-Wissen.

Gärtner, H. (2022): Zwischen den Blöcken. Neutralität und Bündnisfreiheit in den internationalen Beziehungen. Aus Politik und Zeitgeschichte 40-41/2022, 4.10.2022, S. 33-37.

Geller, D. S.; Singer, J. D. (1998): Nations at war. A scientific study of international conflict. Cambridge: Cambridge University Press.

Kissinger, H. (2014): To settle the Ukraine crisis, start at the end. The Washington Post, 5.3.2014.

Luhmann, N. (1997): Die Geschichte der Gesellschaft, 1. Teilband. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Neuhold, H; Hummer, W; Schreuer, Ch. (1991): Österreichisches Handbuch des Völkerrechts, Bd. 1: Textteil. Wien: Manz.

Singer, J. D; Krause, V. (2001): Minor powers, alliances, and armed conflict: Some preliminary patterns. In: Gärtner, H.; Reiter, E. (Hrsg.): Small states and alliances. Heidelberg und New York: Springer.

Singer, J. D.; Small, M. (1966): National alliance commitments and war involvement, 1815-1945. Peace Research Society (International) Papers 5. Cambridge: Cambridge University Press.

Prof. Dr. Heinz Gärtner (1951) lehrt unter anderem am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Derzeit leitet er auch den Beirat des International Institute for Peace (IIP).

Die Verhärtung des neuen Systemkonflikts

Die Verhärtung des neuen Systemkonflikts

von Egbert Jahn

Seit 1991 ist ein neuer politischer Systemkonflikt entstanden, der sich vom vorhergehenden Ost-West-Konflikt in mehreren Hinsichten unterscheidet. Bei dem Konflikt zwischen dem autokratischen Kommunismus und dem demokratischen Kapitalismus von 1917 bis 1991 ging es um gegensätzliche Konzepte der sozialökonomischen, politischen und internationalen Ordnung, wobei mit den dominanten Demokratien auch kapitalistische Autokratien verbündet waren. In der Ära der wechselseitigen nuklearen Abschreckung seit 1949 blieben die Grenzen zwischen den beiden Gesellschaftssystemen in Europa unangefochten und wurden nur in wenigen Regionen der Dritten Welt durch Aufstände und Kriege verschoben. Die Großmächte beschränkten sich dabei auf militärische Interventionen zum Systemerhalt bzw. zum Systemwechsel, erkannten aber die territoriale Integrität der Staaten an.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Parteiherrschaft in Europa und dem Übergang der KP Chinas zur kapitalistischen Marktwirtschaft ist ein neuer internationalisierter Systemkonflikt innerhalb der nunmehr den ganzen Globus umspannenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entstanden, der sich zunehmend verhärtet. Er bezieht sich auf die politischen Systeme der Demokratie und der Autokratie in mehreren Varianten und Übergangsformen.

Zunächst schien eine Ära der mehr oder weniger raschen Demokratisierung der postkommunistischen Regime angebrochen, die eine partielle konventionelle und auch nukleare Abrüstung einleitete. Etwa zwei Jahrzehnte war kaum noch vom nuklearen Abschreckungssystem die Rede, obwohl 1998 mit Indien und Pakistan ein neues nukleares Abschreckungsverhältnis entstand und Russland drohend im Jugoslawienkonflikt 1999 an sein nukleares Potential erinnerte. De facto hat jedoch die nukleare Abschreckung stillschweigend immer gewirkt, etwa im Taiwan-Konflikt, in dem die USA eine ausschlaggebende Rolle spielen.

Im Ost-West-Konflikt traten Kommunismus und Demokratie mit einem universalen Alleinvertretungsanspruch auf. Heute sind die Demokratien durch eine universale Grundanschauung und durch internationale Bündnisse geeint sind, während die Autokratien nicht durch eine gemeinsame, universale Geltung beanspruchende Ideologie miteinander verbunden sind. Einige von ihnen sind in der 2001 gegründeten »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« locker verbündet. Sie eint vor allem der Widerstand gegen demokratische Bestrebungen im eigenen Land und deren Unterstützung durch die demokratischen Staaten, außerdem die Ablehnung der weltpolitischen Hegemonie der USA.

Russland versuchte nach 1991 zumindest im postsowjetischen Bereich ohne das Baltikum ein neues Bündnissystem im Rahmen der »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« (GUS) zu errichten, erwies sich aber sowohl ökonomisch als auch politisch als wenig integrationsfähig, zumal es sich schrittweise vom demokratischen Entwicklungsweg entfernte und eine neue national-imperiale Autokratie entwickelte. Einige GUS-Länder, wie die Ukraine und Georgien, ansatzweise auch Moldau und Armenien, begaben sich hingegen auf einen demokratischen Entwicklungsweg. Schließlich begann Russland 2014 einen Eroberungskrieg in der Ukraine, in dem es erst die Krim und dann vier Regionen in der Südostukraine annektierte. Das ist ein welthistorisch bedeutsamer, fundamentaler Bruch mit dem seit 1945 allseits anerkannten völkerrechtlichen Prinzip der territorialen Integrität aller Staaten und der Sicherheitsordnung der Vereinten Nationen.

De facto hat der Westen aber den GUS-Raum als Interessensphäre Russlands insofern anerkannt, als er im Interesse einer Vermeidung eines Nuklearkrieges der Ukraine keinen militärischen Beistand leistet wie er es 1991 im Falle des irakischen Eroberungskrieges gegen Kuwait getan hatte. Gleichzeitig gewährt er der Ukraine intensive finanzielle, ökonomische Hilfe und unterstützt sie mit Waffenlieferungen, mit militärischer Beratung und Informationsdiensten und verfolgt das Ziel der weiteren Osterweiterung seiner Bündnisse. Die Demokratien Ostasiens und Ozeaniens unterstützen die Ukraine-Politik der EU und der NATO offenbar auch, weil sie deren Unterstützung für den Fall eines Versuches Chinas suchen, militärisch in Ostasien zu expandieren.

Nach der Erfahrung der fatalen Energieabhängigkeit großer Teile Europas von Russland während des Ukraine-Konflikts ist das westliche Bewusstsein von den politischen Risiken der starken Außenhandelsabhängigkeit von China im Falle einer Zuspitzung der Konflikte in Ostasien gewachsen, so dass der politische Systemkonflikt erhebliche Auswirkungen auf die Struktur der Weltwirtschaft haben wird.

Egbert Jahn war Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim und ist Lehrbeauftragter an der U3L der ­Goethe-Universität Frankfurt.

Zukunftsorientierte Wissenschaft statt Geopolitik

Zukunftsorientierte Wissenschaft statt Geopolitik

Friedenslogische Perspektiven zum Ukrainekrieg

von Jürgen Scheffran

Dass Russland einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt, ist unbestreitbar. Fraglich ist, wie dem zu begegnen ist. Geopolitik scheint das Mittel der Stunde zu sein, eine friedenslogische Antwort dagegen wird weitgehend ausgeblendet. Doch geopolitische Strategien fördern Rivalitäten und gefährden die Zukunft des Planeten. Es bedarf daher einer zukunftsorientierten Friedenswissenschaft – mehr denn je.

Am 16. Oktober 1914, nach der deutschen Kriegserklärung an Russland und Frankreich, unterstützte fast die gesamte Dozentenschaft deutscher Universitäten und Technischer Hochschulen den Krieg. Sie folgten dem sogenannten Manifest der 93 »An die Kulturwelt!«, das den Verteidigungskampf rechtfertigte: „Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. […] Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden“.

Die damalige Stimmung reichte vom Erschauern gegenüber der übermächtigen Bedrohung bis zur Begeisterung über die endlich erreichte nationale Einheit. Gab es zunächst massive Proteste und Antikriegsdemonstrationen, vollzog die SPD-Führung mit Kriegsbeginn eine Kehrtwende und stimmte in einem »Burgfrieden« mit den Kaisertreuen im Reichstag Kriegskrediten zu.

Einsam gegen den Krieg

Doch nicht alle beugten sich den Kriegsbestrebungen. Albert Einstein war von der patriotischen Stimmung fast aller Wissenschaftlerkollegen erschreckt, fühlte sich als Intellektueller und Pazifist einsam. Zusammen mit zwei weiteren Kollegen unterschrieb er im Sommer 1914 den von Georg Friedrich Nicolai verfassten »Aufruf an die Europäer«, der mangels weiterer Unterstützung nicht veröffentlicht wurde. Weitsichtig heißt es da: „Der Kampf, der heute tobt, wird wahrscheinlich keinen Sieger hervorbringen; es wird wohl nur die Besiegten lassen.“ Sie erwarteten, dass „alle europäischen Beziehungsbedingungen in einen instabilen […] Zustand gerieten“. Dass die Verfasser richtig lagen, zeigte sich bald. Der Kriegsalltag machte vielen zu schaffen, Massenarbeitslosigkeit, Lebensmittelpreise stiegen und Armut nahm zu. Wissenschaftler starben an der Front oder brachten ihr Fachwissen in den Krieg ein.

So wie das katastrophale Ende des Ersten Weltkriegs absehbar war, so war es auch der Weg dahin. Einige Wissenschaftler*innen und Intellektuelle, die die sozio-ökonomischen, industriellen und militärlogischen Zeitläufte beobachteten, ahnten die großen Systemkonfrontationen vorher. So beschrieb beispielsweise der mit Bertha von Suttner befreundete polnisch-russische Industrielle Ivan (Jan) von Bloch in seinem sechsbändigen Werk von 1898 den kommenden großen Krieg (Scheffran 2014). Dafür wurde er für den ersten Friedensnobelpreis 1901 nominiert, kurz bevor er starb. Auch das Beispiel des britischen Meteorologen Lewis Frye Richardson zeigt die Relevanz nüchterner Wissenschaft. Richardson untersuchte nach dem Ersten Weltkrieg mit einem Modell, wie die Rüstungsdynamik sich aufgeschaukelt hatte, was ihn später zu Warnungen vor dem Zweiten Weltkrieg veranlasste (Scheffran 2020).

Die Gegenwart der Vergangenheit

Knapp hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg sieht sich eine deutsche Regierung wieder in einen Krieg verwickelt, in dem mit Waffengewalt Grenzen verschoben werden sollen. Ein deutscher Kanzler der SPD fordert eine Zeitenwende und mobilisiert Kriegskredite für Aufrüstung und Waffenlieferungen in einen heißen Krieg, der nicht verloren werden dürfe. Die öffentliche Stimmung schwankt zwischen Erschauern über die Bedrohung und Begeisterung über eine bis dahin nicht erreichte Einheit Europas. Geopolitische Erwägungen beherrschen die öffentliche Debatte, für abweichende Meinungen bleibt wenig Raum. Die Wirtschaft droht in eine tiefe Krise zu kippen, die Bevölkerungen aller Kriegsparteien müssen für den Krieg zahlen, leiden unter Sanktionen und hohen Lebensmittelpreisen. Der Kampf hinterlässt nur Besiegte.

Angesichts solcher Assoziationen lässt sich einwenden, dass die historische Situation heute völlig anders sei als vor hundert Jahren und Ähnlichkeiten durch allgemeine Kriegslogiken erklärbar sind. Deutschland habe aus den verlorenen Weltkriegen und dem gewonnenen Kalten Krieg gelernt, sei ziviler geworden, führe nicht selbst Krieg, sondern stehe der angegriffenen Seite bei, legitimiert durch ein demokratisch gewähltes Parlament. Heute gehe es nicht mehr um »Vaterländer«, sondern um eine feministische Außenpolitik.

Allerdings darf die Frage gestellt werden, ob nicht die Wahl der Mittel all dies aufs Spiel setzt. Indem Russland und die Ukraine militärische Mittel einsetzen, der Westen härteste Sanktionen und schwere Waffen bereitstellt, eskalieren alle Parteien den Konflikt und verlängern ihn mit wachsenden Schäden. Sie untergraben Lehren der Geschichte, beleben geopolitische Machtkämpfe mit kalten und heißen Kriegen, legen den Grundstein für neue Gewaltkonflikte, verbrauchen enorme Ressourcen, verbauen Verhandlungslösungen, marginalisieren Zivilgesellschaft, Friedenskräfte und Andersdenkende. Verdrängt wird die Frage, wie es dazu kam, wie gegenseitige Missachtungen und Bedrohungen dazu beigetragen haben.

Zurück in die Zukunft

Neben der Vergangenheit wird auch die Zukunft ausgeblendet, über die angeblich nichts gesagt werden kann. Wie schon bei den Weltkriegen, wurden die Gefahren der heutigen Weltlage zuvor beschrieben – auch vom Verfasser dieses Beitrags, zusammenfassend in einem Artikel vier Monate vor Kriegsbeginn (Scheffran 2021). Darin wird unter anderem aufgezeigt, dass nach Putins Amtsbeginn vor einem neuen Kalten Krieg gewarnt wurde (2000), der Irakkrieg und andere Kriege des Westens den Weg dafür bereiteten (2003), komplexe Krisen und Konflikte die internationale Sicherheit gefährdeten (2008), eine instabile Weltlage wie beim Ersten Weltkrieg möglich sei (2009), Verbindungen zwischen Klimawandel, Flucht und Konflikten entstehen (2012) oder sich multiple Krisen in der globalisierten Welt entwickelten (2016). Die Schlussfolgerung: „Die Lage erinnert an die Umbrüche vor hundert Jahren, mit Erstem Weltkrieg, Spanischer Grippe, Weltwirtschaftskrise und Faschismus, der zum Zweiten Weltkrieg führte“ (Scheffran 2021, S. 218).

Aussagen über die Zukunft werden in der Politik oft als Besserwisserei abgetan, gegenüber der »unsicheren« Präventionswissenschaft wird der Vorzug der »sicheren« Katastrophenwissenschaft gegeben, die erst an die Front gerufen wird, wenn es schon brennt. Um auch wissenschaftlich zulässig in die Zukunft zu schauen, braucht es aber keine Weissagungen, es reicht, Entwicklungsrichtungen, Pfadabhängigkeiten oder rote Linien zu erkennen, deren Zusammenwirken kritische Grenzen überschreitet. Diese Betrachtungen sind auch insofern nicht deterministisch, als die betrachteten Systeme von Menschen gemacht und gelenkt werden und mit politischen Entscheidungen verändert werden können. Dies setzt voraus, dass die Wahrheit öffentlich ausgesprochen werden kann. Im »freien Westen« sollte dies selbstverständlich sein, ohne persönlich diskreditiert zu werden, selbst wenn es um Kategorien von »Gut« und »Böse« geht. Mit dem Wiederaufleben von Geopolitik in Politik und Medien allerdings gerät die unabhängige Friedenswissenschaft unter Druck.

Wiederkehr der Geopolitik

Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Theorie der »Geopolitik« im Gefolge der von Europa ausgehenden kolonialistischen Tradition der Geographie, die sich für Machtpolitik instrumentalisieren ließ.1 War die Geopolitik in Deutschland durch ihre personelle und ideelle Verflechtung mit dem Nationalsozialismus lange diskreditiert, erlangte sie nach der deutschen Wiedervereinigung wieder an Bedeutung. Mit dem Ukrainekrieg nimmt der Einfluss geopolitischer Think Tanks zu. Erkennbar sind geopolitische Argumentationen aufseiten der neuen alten Systemkonkurrenten. Putins neo-imperiale Bestrebungen knüpfen an die koloniale Expansion Russlands (Beispiel Krimkrieg 1853-1856) und die darauf basierende Gründung der Sowjetunion an. Umgekehrt weckte die eurasische Landmasse Begehrlichkeiten im Westen, von Napoleons Eroberung Moskaus bis zur Geopolitik der USA im Kalten Krieg und danach. Immer noch und wieder wird heute als zentrale Argumentation das Buch des früheren Nationalen Sicherheitsberaters der USA Zbigniew Brzezinski »Grand Chessboard« (1997) herangezogen. Darin formulierte er das Ziel der US-Geostrategie, dass es keinen Herausforderer geben dürfe, der die eurasische Landmasse kontrolliert und die US-Dominanz herausfordert.

Diese Ziele lassen sich wiederum von Putin nutzen, um Bedrohungen russischer Sicherheitsinteressen durch den Westen anzuprangern. Nachdem er zunächst um Anerkennung Russlands im Westen warb, und sich auf Partnerschaft und Handel einließ, zerstörte die fortwährende Verschlechterung der Beziehungen alle Hoffnungen. Die rund 16fache militärische Überlegenheit der NATO, die NATO- und EU-Osterweiterungen, westliche Militärinterventionen in Kosovo, Irak und Afghanistan, der Aufbau einer europäischen Raketenabwehr und die Aufkündigung von Rüstungskontrollverträgen motivierten russische Droh- und Gewaltaktionen im postsowjetischen Raum.

Dies betrifft auch den Krieg gegen die Ukraine und seine Vorgeschichte. Als Russlands militärische Drohkulisse an der Grenze zur Ukraine Anfang 2022 nicht zu Verhandlungen führte, begann Putin den Angriff auf die Ukraine. Unterstützung für die Separatisten, Territorialgewinne in der Ukraine und »Bestrafung« für ihre Westorientierung sind mögliche Motive für die Invasion, die zugleich als Hebel dient, die westliche Ohnmacht vor der Welt aufzeigen. Dafür ist er bereit, einen hohen Preis zu zahlen, der ihn von seinem waghalsigen Vorhaben ebenso wenig abgehalten hat wie die westliche Übermacht. Mit Kriegsbeginn wurden solch rationalisierende Erklärungen russischen Verhaltens in die Ecke der »Putinversteher« gedrängt, während sich Putinologen übertrumpften mit Spekulationen, wer Putin am besten versteht. Sie schwankten zwischen dem strategischen Genie, dem irrationalen Dämon und dem skrupellosen Diktator – Erklärungen, deren wissenschaftliche Grundlagen fragwürdig sind.

Wenn Europa und Russland sich gegenseitig schwächen und die europäische Friedensordnung darnieder liegt, muss dies nicht den Interessen der USA widersprechen, im Gegenteil. Kurzfristig stärkt es die bedingungslose Einheit des Westens und der NATO unter amerikanischer Führung, zementiert die Trennung Russlands von Deutschland und Europa, erlaubt Gewinne durch Frackinggas, die Mobilisierung der Rüstungsmaschinerie, provoziert den ideologischen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie wie im Kalten Krieg und eröffnet innenpolitische Vorteile bei kommenden Wahlen. Auch wenn manche den Schlüssel zur Bewältigung des Ukrainekriegs in Washington sehen, bleibt unerfindlich, ob und wann dieser Schlüssel genutzt wird.

Schließlich können dieser Krieg und seine Folgen auch als Vorbereitung und Testfall für die Auseinandersetzung mit China gesehen werden, dem derzeit eigentlichen Herausforderer und Gegenpol der US-Hegemonie. So könnte der Konflikt mit Russland die Bedingungen für den kommenden Krieg mit China fördern (Mobilisierungsbereitschaft der NATO-Mitglieder, Führungsanspruch der USA, militarisierte Rhetorik und Antwort auf Entwicklungen in China).

Blockkonfrontation und Globaler Süden

Mit dem Ukrainekrieg spielt der Globale Süden zunehmend eine Rolle als geopolitischer Akteur. Die UNO-Generalversammlung verabschiedete zwar am 2. März 2022 eine Resolution gegen den russischen Angriffskrieg mit einer Mehrheit von 141 Staaten, doch die 35 Enthaltungen (darunter China und Indien) und fünf Gegenstimmen (Russland, Belarus, Nordkorea, Syrien, Eritrea) zeigten signifikante Differenzen. Einige Staaten äußerten Verständnis für die russische Position, unterstützten nicht die westliche Koalition und sind bereit, sich einer Gegenkoalition der BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) anzuschließen. Sie sehen Chancen, in einer Blockkonfrontation ihre Interessen einzubringen – wie schon im Kalten Krieg.

Aufgrund kolonialer Erfahrungen wird ein »Globaler Westen« kritisch gesehen, ihm wird Eurozentrismus, Doppelmoral und Ungerechtigkeit bei der Durchsetzung seiner Interessen vorgeworfen, bei Bedarf auch mit Gewalt und gegen die Regeln. So erscheint der Westen als »Bösewicht« (von Weizsäcker 2022), der anderen sein wertebasiertes Modell der liberalen Demokratie aufdrängen will, für das er selbst Jahrhunderte gebraucht hat, teils auf Kosten der Kolonien. Die von Brzezinski (1997) und anderen anvisierten geostrategischen Schachspiele berühren nicht nur die Interessen Russlands und Chinas, sondern auch Zentralasiens, Indiens, Irans, Pakistans und Afghanistans, die sich nicht den westlichen Demokratien zurechnen.

Gelingt Putin eine neue Spaltung der Welt (»The West and the rest«), wäre das für ihn ein Erfolg, der über den Ukrainekrieg und sein Regime hinaus reicht. War der Westen zunächst berauscht von der neuen Einigkeit, scheint die Erkenntnis über die Zerrissenheit der Welt seit dem G7-Gipfel im Juni 2022 auch bei den Führungsnationen einer westlich orientierten Weltordnung angekommen zu sein, zumal der parallel laufende BRICS-Gegengipfel nicht zufällig kam. Nun muss die westliche Weltordnung zeigen, was sie gegenüber Mitkonkurrenten bieten kann. Wenn Waffen und Sanktionen den Westen und die Welt destabilisieren und Gesellschaften polarisieren, können sie kontraproduktiv werden. Die entsprechenden populistischen Bewegungen warten nicht nur in westlichen Demokratien auf ihre Chance, diese Schwäche zu ihren Gunsten zu nutzen.

Aufrüstung ist keine Zeitenwende

Seit Jahren steigen die Rüstungsausgaben weltweit. Die von Kanzler Olaf Scholz ausgerufene »Zeitenwende« forciert diese Aufrüstung, um die bestehende Weltordnung gewaltsam aufrechtzuerhalten. Dies ist jedoch keine Zeitenwende – es ist ein Weg zurück, zumal dieser schon vor 2022 vorbereitet wurde (vgl. etwa Bunde et al. 2020).

Eher zu einer wahren Zeitenwende geeignet sind drei Megatrends: die sozial-ökologische Transformation, der Einfluss des Globalen Südens und die Rolle von sozialen Medien und der Zivilgesellschaft (Scheffran 2021, S. 222): „Die genannten Trends haben das Potential zur Zeitenwende, wie nach der Französischen Revolution zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder mit dem Ersten Weltkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts.“

Für eine solche Zeitenwende brauchen wir eine resiliente Energieversorgung und nachhaltigen Klimaschutz innerhalb planetarer Grenzen, die auch der Friedenssicherung dienen und Wege in eine lebensfähige und lebenswerte Welt (»viable world«) im gemeinsamen Haus der Erde aufzeigen. Die Koexistenz und Kohabi­tation verschiedener Weltordnungen zur Bewältigung dieser Probleme ist erfolgversprechender als weitere geopolitische Machtkämpfe, die nicht nur den Westen aufs Spiel setzen, sondern auch den Planeten. Friedenswissenschaft muss sich daher für eine friedenslogische Transformation einsetzen – auch und gerade in Zeiten dominanter Geopolitik.

Anmerkung

1) Zur Historie und Tradition geopolitischer Welt(erklärungs)bilder und Kriegslogiken siehe W&F 1/2013 »Geopolitik«.

Literatur

Brzezinski, Z. (1997): The grand chessboard. American primacy and its geostrategic imperatives. New York: Basic Books.

Bunde, T. et al. (2020): Zeitenwende / Turning Times. Special Report, Munich Security Conference.

Scheffran, J. (2014): Der unmögliche Krieg: Jan Bloch und die Mechanik des Ersten Weltkriegs. W&F 2/2014, S. 38-42.

Scheffran, J. (2020): Weather, war and chaos. In: Gleditsch, N. P. (Hrsg.): Lewis Fry Richardson: His Intellectual Legacy and Influence in the Social Sciences. Cham: Springer, S. 87-99.

Scheffran, J. (2021): Mythen der etablierten Sicherheitspolitik: „Der Westen kann die Weltprobleme lösen“. Die Friedens-Warte 3-4, S. 205-236.

Von Weizsäcker, E. (2022): Der Westen als Bösewicht. Gastbeitrag, Blog der Republik, 14.4.2022.

Jürgen Scheffran ist Professor für Integrative Geographie, Leiter der Forschungsgruppe Klimawandel und Sicherheit (CLISEC) an der Universität Hamburg und Mitglied der W&F-Redaktion.