W&F 2022/4

Die Verhärtung des neuen Systemkonflikts

von Egbert Jahn

Seit 1991 ist ein neuer politischer Systemkonflikt entstanden, der sich vom vorhergehenden Ost-West-Konflikt in mehreren Hinsichten unterscheidet. Bei dem Konflikt zwischen dem autokratischen Kommunismus und dem demokratischen Kapitalismus von 1917 bis 1991 ging es um gegensätzliche Konzepte der sozialökonomischen, politischen und internationalen Ordnung, wobei mit den dominanten Demokratien auch kapitalistische Autokratien verbündet waren. In der Ära der wechselseitigen nuklearen Abschreckung seit 1949 blieben die Grenzen zwischen den beiden Gesellschaftssystemen in Europa unangefochten und wurden nur in wenigen Regionen der Dritten Welt durch Aufstände und Kriege verschoben. Die Großmächte beschränkten sich dabei auf militärische Interventionen zum Systemerhalt bzw. zum Systemwechsel, erkannten aber die territoriale Integrität der Staaten an.

Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Parteiherrschaft in Europa und dem Übergang der KP Chinas zur kapitalistischen Marktwirtschaft ist ein neuer internationalisierter Systemkonflikt innerhalb der nunmehr den ganzen Globus umspannenden kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung entstanden, der sich zunehmend verhärtet. Er bezieht sich auf die politischen Systeme der Demokratie und der Autokratie in mehreren Varianten und Übergangsformen.

Zunächst schien eine Ära der mehr oder weniger raschen Demokratisierung der postkommunistischen Regime angebrochen, die eine partielle konventionelle und auch nukleare Abrüstung einleitete. Etwa zwei Jahrzehnte war kaum noch vom nuklearen Abschreckungssystem die Rede, obwohl 1998 mit Indien und Pakistan ein neues nukleares Abschreckungsverhältnis entstand und Russland drohend im Jugoslawienkonflikt 1999 an sein nukleares Potential erinnerte. De facto hat jedoch die nukleare Abschreckung stillschweigend immer gewirkt, etwa im Taiwan-Konflikt, in dem die USA eine ausschlaggebende Rolle spielen.

Im Ost-West-Konflikt traten Kommunismus und Demokratie mit einem universalen Alleinvertretungsanspruch auf. Heute sind die Demokratien durch eine universale Grundanschauung und durch internationale Bündnisse geeint sind, während die Autokratien nicht durch eine gemeinsame, universale Geltung beanspruchende Ideologie miteinander verbunden sind. Einige von ihnen sind in der 2001 gegründeten »Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit« locker verbündet. Sie eint vor allem der Widerstand gegen demokratische Bestrebungen im eigenen Land und deren Unterstützung durch die demokratischen Staaten, außerdem die Ablehnung der weltpolitischen Hegemonie der USA.

Russland versuchte nach 1991 zumindest im postsowjetischen Bereich ohne das Baltikum ein neues Bündnissystem im Rahmen der »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« (GUS) zu errichten, erwies sich aber sowohl ökonomisch als auch politisch als wenig integrationsfähig, zumal es sich schrittweise vom demokratischen Entwicklungsweg entfernte und eine neue national-imperiale Autokratie entwickelte. Einige GUS-Länder, wie die Ukraine und Georgien, ansatzweise auch Moldau und Armenien, begaben sich hingegen auf einen demokratischen Entwicklungsweg. Schließlich begann Russland 2014 einen Eroberungskrieg in der Ukraine, in dem es erst die Krim und dann vier Regionen in der Südostukraine annektierte. Das ist ein welthistorisch bedeutsamer, fundamentaler Bruch mit dem seit 1945 allseits anerkannten völkerrechtlichen Prinzip der territorialen Integrität aller Staaten und der Sicherheitsordnung der Vereinten Nationen.

De facto hat der Westen aber den GUS-Raum als Interessensphäre Russlands insofern anerkannt, als er im Interesse einer Vermeidung eines Nuklearkrieges der Ukraine keinen militärischen Beistand leistet wie er es 1991 im Falle des irakischen Eroberungskrieges gegen Kuwait getan hatte. Gleichzeitig gewährt er der Ukraine intensive finanzielle, ökonomische Hilfe und unterstützt sie mit Waffenlieferungen, mit militärischer Beratung und Informationsdiensten und verfolgt das Ziel der weiteren Osterweiterung seiner Bündnisse. Die Demokratien Ostasiens und Ozeaniens unterstützen die Ukraine-Politik der EU und der NATO offenbar auch, weil sie deren Unterstützung für den Fall eines Versuches Chinas suchen, militärisch in Ostasien zu expandieren.

Nach der Erfahrung der fatalen Energieabhängigkeit großer Teile Europas von Russland während des Ukraine-Konflikts ist das westliche Bewusstsein von den politischen Risiken der starken Außenhandelsabhängigkeit von China im Falle einer Zuspitzung der Konflikte in Ostasien gewachsen, so dass der politische Systemkonflikt erhebliche Auswirkungen auf die Struktur der Weltwirtschaft haben wird.

Egbert Jahn war Inhaber des Lehrstuhls für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim und ist Lehrbeauftragter an der U3L der ­Goethe-Universität Frankfurt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/4 Gewalt/Ökonomie, Seite 5