»Agent Orange«-Opfer

»Agent Orange«-Opfer

Ethnopsychoanalytische Betrachtung der Nachkriegsfolgen in Vietnam

von Natalie Wagner

Vietnam erzählt bei der Betrachtung von Kriegsfolgen eine ganz eigene Geschichte. Was den Vietnamkrieg (1964-1975) von anderen Kriegen unterscheidet, ist der gezielt massive Einsatz von Chemiewaffen. »Agent Orange« – eine neue Kriegswaffe, eingesetzt zur Zerstörung des Dschungels und der Ernte sowie zur Schwächung des Feindes – ist bis heute ein politisches, medizinisches und öffentliches Thema; noch immer führt sein Einsatz bei der Bevölkerung zu Behinderungen in erheblichem Ausmaß.

Vietnam gilt mit einer Gesamtbevölkerung von ca. 87 Millionen Menschen, einem BIP von 104,6 Milliarden US-Dollar (Stand 2010) und einem Wirtschaftswachstum von 6,78% heute als stabiles »Middle Income Country«. Das Land ist jedoch noch immer auf die internationale Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit angewiesen. Der Krieg verursachte nicht nur wirtschaftliche Rückständigkeit und Armut, besonders dauerhaft sind die individuellen, gesundheitlichen und ökologischen Folgen aufgrund des Einsatzes von Agent Orange.

»Agent Orange«, ein künstlich hergestelltes Herbizid, beschreibt die Zusammensetzung aus 2,4–Dichlorphenoxyessigsäure und 2,4,5-Trichlorphenoxyessigsäure. Bei der Synthese dieses Chemikals entsteht das giftige Nebenprodukt Dioxin in Form von 2,3,7,8-Tetrachlord[i]benzoparadioxin, kurz TCDD. TCDD gilt als ein Ultragift, das sowohl zu sichtbaren als auch zu weniger sichtbaren Folgen führen kann. Durch die fettlösliche Eigenschaft und eine Halbwertszeit von durchschnittlich zehn Jahren wird Dioxin langfristig in Zellen angelagert. TCDD hat speziell in Bezug auf den menschlichen Organismus die Wirkung eines Krebspromoters und eine eigenständige humankanzerogene Wirkung. Weiterhin kann es durch seine neurotoxische Wirkung Schäden im zentralen Nervensystem und durch eine mutagene Wirkung jegliche Art von Chromosomenveränderung – von körperlicher Fehlbildung bis hin zu geistiger Behinderung – hervorrufen. Die mutagene Wirkung kann x-chromosomal vererbt werden, sodass die Folgegenerationen ebenfalls von einer Dioxinvergiftung betroffen sein können. Zusätzlich stellt die Anlagerung von TCDD in der Muttermilch eine weitere Kontaminationsgefahr für Folgegenerationen dar.

Der Einfluss der Chemikalie auf Organismen ist von der Höhe, Dauer und Häufigkeit der Exposition, vom Alter und Zustand der körpereigenen Enzyme und der individuellen Krankheitsgeschichte abhängig. Laut WHO liegt ein tolerierbarer Dioxinwert bei 0,1-0,4 mg Aufnahme pro Tag (Berendt 2009, S.28). Eine erhöhte Aufnahme kann zu erheblichen gesundheitlichen Folgen führen:

  • Krebserkrankungen: (Non-) Hodgins-Lymphome, Melanome, Leukämie, Lymphdrüsen-, Lungen-, Prostata-, Darm- und Knochenmarkkrebs;
  • neurotoxische Auswirkungen: Schwächung des Immunsystems, Lähmungen, spastische Erscheinungen, Hirnschäden;
  • Auswirkungen auf das endokrine System und den Insulinhaushalt: Wachstumsstörungen, Enzymfehlfunktionen, Hauterkrankungen, Diabetes, Unfruchtbarkeit, Frühgeburten;
  • Chromosomenveränderungen: u.a. Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, Strukturasymmetrie des Gesichts, fehlende Organe oder Glieder, Fehlstellungen der Glieder, Polydaktylie, Kleinwüchsigkeit, Deformationen des Hirns und Rückenmarks, Anencephalie, Spina Bifida, Grebbes-Syndrom, Hydrocephalie;
  • Auswirkungen während einer Schwangerschaft: Fehlgeburten, Frühgeburten, intrauterine Wachstumsrückbildungen;
  • mittelfristige psychische Erscheinungen: Schockzustände, psychonervale Beeinträchtigungen, Schwindelanfälle, Reizbarkeit, Vergesslichkeit, Niedergeschlagenheit, posttraumatische Belastungsstörung in Verbindung mit toxischer Enzephalopathie, Schlaflosigkeit, vermehrte Erregbarkeit, sexuelle Störungen, Befindlichkeitsstörungen, Ängste und Selbstmordgedanken;
  • langfristige psychische Erscheinungen: Neurasthenie;
  • Letalität (Fabig 2007, S.52; Fabig/Otte 2007, S.194 f.; Gallo 2007, S.235 f.; Kühner 2009, S.2 f.).

Es existieren über 300 veröffentlichte Studien, die einen Zusammenhang von Dioxin und Erkrankung bestätigen. Auch wenn sich die Studien uneinig darüber sind, von welchem Dioxinwert eine bestimmte Krankheitsgefahr ausgeht, ist dennoch festzuhalten, dass jeder erhöhte Dioxinwert auch ein erhöhtes Risiko darstellt (Nguyen Van Tuan 2006, S.80 f./114).

Operation »Ranch Hand«

»Agent Orange« wurde während des Zweiten Weltkrieges erstmals an der University of Chicago hergestellt und diente als Unkrautvernichtungsmittel. Der erste Einsatz von Pflanzenvernichtungsmitteln als Kriegswaffe (1948 in Malaysia) galt als Grundlage für die Verwendung von »Agent Orange« und anderen Herbiziden im Vietnamkrieg. Der »Agent Orange«-Einsatz begann 1961. Vietnam war zu dieser Zeit am 17. Breitengrad in einen kommunistisch geführten Norden und einen antikommunistisch geführten Süden aufgeteilt. In amerikanischer und südvietnamesischer Kooperation wurde ein militärisches Entwicklungs- und Testzentrum zur Verhinderung eines kommunistischen Aufstandes durch die Guerillagruppen der »Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams« (Viet Cong) errichtet. Für die ersten Testreihen von Herbizideinsätzen trafen bereits Ende 1961 die ersten Fässer mit Chemikalien per Schiff in Südvietnam ein. Kurz darauf kam es in südvietnamesischer und amerikanischer Übereinstimmung Anfang 1962 zur Genehmigung der so genannten Operation »Ranch Hand«. Mithilfe von Transportflugzeugen wurden verschiedene Herbizide auf jenen Landesflächen gleichmäßig verteilt, in denen man die kommunistischen Gruppen vermutete. Im Laufe der Operation stieg die Zahl der Sprühungen an (Griffiths 2003, S.64 f.).1 Einige Landflächen wurden mehrmals pro Tag besprüht, sodass es zu gravierender Kontamination einzelner Landflächen, den »Hot Spots«, kam.

Trotz erster Studien im Jahre 1966, die genetische Fehlbildungen aufgrund einer Dioxinkontamination feststellten, fand die Operation »Ranch Hand« Ende der 1960er Jahre ihren Höhepunkt. Erst im Mai 1970 wurde das Versprühen von »Agent Orange« eingestellt, und 1971 erfolgte der Abbruch der Operation »Ranch Hand«. Insgesamt wurden 14 verschiedene Herbizide verwendet, »Agent Orange« machte allerdings aufgrund seines schnellen und hohen Wirkungsgrades 65% der gesamten Operationseinsätze aus. Daher wird der Begriff »Agent Orange« oftmals stellvertretend für die Gesamtheit der eingesetzten Herbizide verwendet (Stellman u.a. 2003, S.682).

Nach Auswertung und Korrektur US-amerikanischer Aufzeichnungen zur Operation »Ranch Hand« ergibt sich folgendes Bild:

  • 4,8 Millionen Menschen kamen während der Operation »Ranch Hand« direkt mit »Agent Orange« in Kontakt.
  • 17 Millionen SüdvietnamesInnen und eine Millionen NordvietnamesInnen waren insgesamt den Herbiziden ausgesetzt.
  • Die Durchschnittskonzentration des Dioxins der einzelnen Substanzen lag bei 13 mg.
  • Im Rahmen von über 19.900 Flugeinsätzen wurden 44 Mio. Liter »Agent Orange«, 20 Mio. Liter »Agent White«, 8 Mio. Liter »Agent Blue«, 1,9 Mio. Liter »Agent Purple«, 464.164 Liter »Agent Pink« und 31.026 Liter »Agent Green« versprüht.
  • 2.631.297 Hektar wurden mit Herbiziden besprüht (bis zu 27 Kilogramm Dioxin/Hektar).
  • Von 60% bewaldetem Land wurden 44% zerstört: 3,3 Millionen Hektar Land, 50% Oberfläche der nordöstlichen Mekongregion, zwei Millionen Hektar tropischer Wald, 40% der Mangrovenwälder und 43% der Ackerfläche.
  • Es kam zur Störung des Nährstoffgleichgewichts und der Bewässerungssysteme, zur Verminderung von Biodisponibilität, zu Veränderungen von Mikro- und Makroklimata und zur Begünstigung unerwünschter Arteninvasionen.
  • Im Jahr 2003 lag der Dioxingehalt in tierischen Nahrungsmitteln (Hot-Spot-Gebiet Bien Hoa) bei 0,03-331 mg (Fabig 2007, S.47; Stellman u.a. 2003, S.682 f.; Vo Quy 2007, S.218 f./212 f.).

»Agent Orange«-Opfer heute – der vietnamesische Blick auf Mensch und Gesellschaft

Die Dramatik des »Agent Orange«-Einsatzes liegt nicht nur in den direkt verursachten Folgen, sondern in den lang anhaltenden, weder kontrollierbaren noch unmittelbar nachweisbaren Folgen für die Nachkommen der zweiten und dritten Generation. Diese bezeichnen sich selbst als »Agent Orange«-Opfer.

Man geht von 800.000 bis drei Millionen »Agent Orange«-Opfern in ganz Vietnam aus. Diese hohe Differenz liegt in der fehlenden einheitlichen Definition von »Agent Orange«-Opfern, der hohen Dunkelziffer und fehlender Zahlen zu den Menschen, die bereits (unwissend) aufgrund von »Agent Orange« verstorben sind. Durchschnittlich ist jede achte Familie von »Agent Orange« betroffen. 70% der »Agent Orange«-Opfer leben unterhalb der Armutsgrenze und 40% in extremer Armut. 90% der Betroffenen sind arbeitslos und 85% der Familien haben mehr als ein beeinträchtigtes Kind (Beckmann/Giesler 2000, S.102; Kühner 2009, S.1 f.; Le Thi Nham Tuyet/Johansson 2001, S.156; Ninh Do Thi Hai 2002, S.199).

In Anlehnung an Friedmanns Aufteilung in Primär-, Sekundär- und Tertiäropfer (2004, S.13) gehören die ehemaligen Soldaten, die Zivilbevölkerung und die Nachfolgegenerationen zu den Betroffenen des »Agent Orange«-Einsatzes. Für diese drei Gruppen sind die sozialen Folgen sehr unterschiedlich und hängen von dem Zusammenspiel der Mikro-, Meso- und Makroebene ab. »Agent Orange«-Opfer werden in der vietnamesischen Kultur in erster Linie einer von zwei Gruppen zugeordnet: Kriegsveteranen oder Menschen mit Behinderung. Die Bewertungsstrukturen beruhen auf diachronisch-kulturellen und gesellschaftlichen Glaubens- und Verhaltenslehren und führen zu unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten mit einer soziokulturellen Logik. Die Logik, geprägt von Konfuzianismus, Buddhismus, Ahnenkult, Daoismus, Kommunismus und Synkretismus, bedingt also die individuelle Bewertung und den tatsächlichen Umgang mit den Themen Krieg, Krankheit und Behinderung.

Im konfuzianischen Sinne sind (Fehl-) Entwicklungen der Persönlichkeit Probleme der Ethik und Moral. Dabei wird die Moral als Selbstkultivierung und Sittenorientierung verstanden. So verurteilt der Konfuzianismus verhaltensauffällige Kinder als »fehlorientiert« oder »noch nicht entfaltet« (Hee-Tae Chae 2004, S.218). Trotz der hohen Stellung innerer Werte werden körperliche Behinderungen mit Ambivalenz betrachtet, was mit dem Wunsch nach Konformität, dem Schamprinzip und dem Wahren des äußeren Gesichtes erklärt werden kann. Weiterhin existiert die Vorstellung, dass Moral, Begabung und Leistungsbereitschaft eine Behinderung ausgleichen können. Diese Idee der ausgleichenden Balance steigert den sozialen Druck auf Menschen mit Behinderung (Linck 1995, S.98 f./181). Daneben sind es oft die Mütter, die eine große psychische und physische Belastung empfinden. Nach einer Studie von Le Thi Nham Tuyet/Johansson (2001) fühlen sie sich oft minderwertig, da sie der Familie keine gesunden Nachkommen schenken können.

Die buddhistische Vorstellung von Karma und Wiedergeburt sieht eine Behinderung entweder als selbstverschuldete Strafe oder Rache für eine vorherige Existenz oder als Herausforderung für die jetzige Existenz. Karma impliziert stets eine Ursache-Wirkung-Relation und soll den Menschen zu guten Taten bewegen. Im Buddhismus ist der Mensch einerseits autonom, zeitgleich aber auch, aufgrund des Glaubens an ein Kollektiv-Karma, von der Gemeinschaft abhängig. Verknüpft mit dem Glauben an Geisterwesen und dem Ahnenkult ist der Mensch gewillt, seine eigene aktuelle Situation und die der eigenen Familie unmittelbar und positiv zu beeinflussen.

Im Sinne des Daoismus wird eine geistige oder körperliche Auffälligkeit als Unausgeglichenheit der dynamischen Wechselbeziehung von Yin und Yang beurteilt. Behinderungen, Krankheiten oder Auffälligkeiten gelten als mangelnde Harmonie mit sich und der Umwelt. Um einen harmonischen Ausgleich zu erzeugen, sollte die Umwelt nicht abwarten, bis sich die Abweichung anpasst, sondern muss sich im Sinne des Dao, d.h. der Wandelbarkeit des Universums, gemeinsam mit der Abweichung zu einem fließenden, gleichgesinnten Ganzen entwickeln. Leid und Krankheit sind im Daoismus frei von Bewertung und stehen in einem komplementär-harmonischen Verhältnis mit Gesundheit.

Die politischen Strukturen des Kommunismus können ebenfalls die Sicht auf Menschen mit Behinderung beeinflussen. Im kommunistischen Menschenbild, geprägt von der Idee der Gemeinschaft und der Arbeit als Beitrag für das Zusammenleben, wird die psychische Dimension des Menschen vernachlässigt. Von jedem Mitglied der Gesellschaft wird dieselbe Leistung erwartet. Zusätzlich passt das Bild von Menschen mit Behinderung oder der »Agent Orange«-Opfer nicht in die von der damaligen Wirtschaftsreform (Doi Moi) ausgehende positive Darstellung Vietnams.

Vereinfacht lassen sich vor diesem Hintergrund zwei Wege erkennen, eine Behinderung zu sehen. Einer gründet auf Mitleid bzw. Ehrerbietung, der andere beruht auf Emotionen wie Angst oder Scham. Mitleid und das Streben nach Barmherzigkeit stellen für die »Agent Orange«-Opfer eine wichtige Attitüde dar und ermöglichen soziale Reaktionen der Akzeptanz und Integration. Angst hingegen, gepaart mit Scham, Schicksalsglaube, Armut und Unkenntnis, führen zu Rückzug und Isolation. Der unbewusste gesellschaftlicheDruck zu Konformität und die fehlende Trennung zwischen Person und Behinderung können dazu führen, dass »Agent Orange«-Opfer entweder weggegeben oder versteckt werden.

Kriegsveteranen leben heutzutage oft in Isolation, Armut und einer Zweiklassengesellschaft. Gesellschaftliches Ansehen bekommt nur der Veteran, bei dem die Spuren des Krieges deutlich zu sehen sind und der für die kommunistische Regierung im Norden gekämpft hat. Südvietnamesische Veteranen werden verächtlich »Marionetten-Soldaten« genannt und haben gesellschaftlich eine schwere Stellung. Viele der »Agent Orange«-Opfer sind auf Almosen angewiesen. Je sichtbarer die Behinderung, desto mehr Almosen bekommt man, was oftmals gezielt zur weiteren körperlichen Verstümmlung führt.

1998 entstanden erstmals auf politischer Ebene gesetzliche Richtlinien, die langfristige Hilfen für »Agent Orange«-Opfer (u.a. medizinische Behandlung, berufliche Ausbildungsmöglichkeiten) gewährleisten sollen. Im Grundrechtskatalog von 1992 und im »National Plan of Action for the Vietnamese Children« werden Sozialhilfe und berufliche Eingliederung für Kriegsveteranen, Dioxin-betroffene Kinder und Menschen mit Behinderung gesichert (Ninh Do Thi Hai 2002, S.196). So gibt es beispielsweise seit dem Jahr 2000 eine monatliche Rente für Kriegsveteranen (ca. 10-20 US-Dollar) und eine Verminderung oder Befreiung der Schulgebühren für Kinder mit Behinderung. Weiter wurden – entsprechend des von der Weltgesundheitsorganisation entwickelten Konzeptes der »Community-Based Rehabilitation« – nach und nach in jeder Provinz Rehabilitationszentren für »Agent Orange«-Opfer aufgebaut sowie Nichtregierungs- und zwischenstaatliche Organistionen etabliert. Zu den wichtigsten dort tätigen Organisationen gehören MOLISA, VAVA, die GIZ, OGCDC und die ILO.2 Sie befassen sich u.a. mit juristischem Vorgehen gegen involvierte Chemieunternehmen und aktivieren die (Weiter-) Bildungs- und Gesundheitsebene.

Fazit

Die Auswirkungen und Folgen des Vietnamkrieges auf Umwelt und Mensch wurden 1970 mit dem Begriff des »Ecocide« beschrieben. »Ecocide« beschreibt in bewusster Anlehnung an den Begriff des Genozids die gezielte und permanente Zerstörung der menschlichen Umwelt. Explosive Munitionen, der Einsatz von Napalm und Minen, die mechanische Zerstörung der Felder und der gezielte Einsatz von Herbiziden gelten entsprechend als Akte gegen die Menschlichkeit.3 Das geschädigte Ökosystem ist nicht mehr in der Lage, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Auch wenn im Juli 2010 US-Außenministerin Hillary Clinton Hilfe bei der Beseitigung der giftigen Hinterlassenschaften des US-Militärs im Vietnamkrieg zusicherte, stehen die ökologischen Aufbauprogramme aufgrund der hohen Kosten in ständiger Gefahr, gestoppt zu werden.

Es ist zu betonen, dass die Vernichtung des Ökosystems zwar in vielen Kriegen eine eingesetzte Strategie war, dennoch hat der Einsatz von Herbiziden im Vietnamkrieg eine unvergleichliche Zerstörung hervorgerufen. Der Krieg, der Einsatz von Herbiziden und besonders der Einsatz von „»Agent Orange« haben im enormen Ausmaß der Umwelt, aber in noch gravierenderer Weise der Zivilbevölkerung geschadet. Sensibilität, die Schaffung eines Bewusstseins und Aufklärung sind sowohl nationale als auch internationale Ziele für eine angemessene Betrachtung und einen angemessenen Umgang mit den Folgen des »Agent Orange«-Einsatzes.

Literatur

Beckmann, Tho/Giesler, Renate (2000): Das Beispiel Vietnam: Agent-Orange und die Folgen. Zeitschrift »Behinderung und Dritte Welt« 11 (3), S.102-104.

Berendt, Isabell Franziska (2009): Der Einsatz von Agent Orange während des Vietnamkriegs in den 1960er Jahren. Die Auswirkungen auf Mensch und Umwelt. Hamburg.

Fabig, Karl-Rainer (2007): Agent Orange vor Gericht. In: Fabig, Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.): Umwelt, Macht und Medizin. Zur Würdigung des Lebenswerks von Karl-Rainer Fabig. Kassel, S.46-57.

Fabig, Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.) (2007): Umwelt, Macht und Medizin. Zur Würdigung des Lebenswerks von Karl-Rainer Fabig. Kassel.

Gallo, Werner (2007): Die unmittelbaren Wirkungen des Giftgaskrieges in Vietnam auf Menschen (und Umwelt) und ihre Folgen als Altlast. In: Fabig , Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.), op.cit., S.232-241.

Griffiths, Philip Jones (2003): Agent Orange. »Collateral Damage« in Vietnam. London.

Hee-Tae Chae (2004): ER-ZIEHEN DURCH BE-ZIEHEN. Entwurf eines ganzheitlichen Erziehungsmodells auf der Grundlage der Individualpsychologie und der ostasiatischen Philosophie. Dissertation am Fachbereich Erziehungswissenschaft der Philipps-Universität Marburg/Lahn.

Kühner, Stefan (2009): Lange nach dem Krieg … – Agent Orange und die späten Leiden der Opfer. In: Zeitschrift »Behinderung und Dritte Welt« 20 (2), S.16-23.

Le Thi Nham Tuyet/Johansson, Annika (2001): Impact of Chemical Warfare with Agent Orange on Women’s Reproductive Lives in Vietnam. A Pilot Study. In: Reproductive Health Matters 18, S.156-164.

Linck, Gudula (1995): Befähigung anderer Art? Zur Lebenswelt körperlich Behinderter in China. Pfaffenweiler.

Nguyen Van Tuan (2006): Agent Orange, Dioxine et leurs consequences. Ho-Chi-Minh-City.

Ninh Do Thi Hai (2002): Vietnam. Die Sozialpolitik für Behinderte in Vietnam. In: Pitschas, Rainer/Baron von Maydell, Bernd/ Schulte, Bernd (Hrsg.): Teilhabe behinderter Menschen an der Bürgergesellschaft in Asien und Europa. Speyer, S.195-204.

Stellman, Jeane Mager/Stellman, Steven D./Christians, Richard/Weber, Tracy/Tomasallo, Carry (2003): The extent and patterns of usage of Agent Orange and other herbicides in Vietnam. In: Nature 442, S.681-687.

Vo Quy (2007): Ökozid in Vietnam – Erforschung und Wiederherstellung der Umwelt. In: Fabig, Anita/Otte, Kathrin (Hrsg.), op.cit., S.218-231.

Anmerkungen

1) 15.000 Gallonen (1962), 59.000 Gallonen (1963), 175.000 Gallonen (1964), 621.000 Gallonen (1965) und 2,28 Millionen Gallonen (1966). 1 US-Gallone = 3,7 Liter.

2) MOLISA = Ministry of Labour, Invalids and Social Affairs; VAVA = Vietnamese Association of Victims of Agent Orange; GIZ = Deutsche Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit; OGCDC = Office of Genetic Counseling and Disabled Children; ILO = International Labor Organization.

3) Die Operation »Ranch Hand« verstieß zum damaligen Zeitpunkt gegen die Haager Landkriegsordnung von 1907 und das Genfer Giftgasprotokoll von 1925; aufgrund fehlender Ratifizierung sind weder die USA noch die ehemalige südvietnamesische Regierung völkerrechtlich anklagbar (Berendt 2009, S.16 f.).

Natalie Wagner ist Diplom-Pädagogin mit den Schwerpunkten Sonderpädagogik, Psychologie und Soziologie, und sie beendete ihr Studium im September 2012 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Momentan leistet sie einen Freiwilligendienst im Auftrag der Deutschen UNESCO-Kommission in China.

Der Sieg

Der Sieg

von Günter Giesenfeld

Die Redaktion von W& F bittet mich, einen Gastkommentar zu schreiben zum 30. Jahrestag „der Beendigung des Vietnamkrieges.“ Erst nach einem Moment stutze ich: wir nannten das damals „den Sieg“, und zwar „des vietnamesischen Volkes gegen die Aggression der USA“. Heutzutage mag das nostalgisch klingen, oder überholt – obwohl ich doch das Adjektiv »imperialistisch« schon gleich weggelassen habe. Trotzdem: Von welcher Perspektive es man auch immer betrachtet, und nach allen Kriterien der historischen Wissenschaften ist die Formulierung vom »Sieg« absolut korrekt!

Dazu ein kleines Notfall-Set an Erinnerungs-Essentials zur Geschichte dieses Krieges (besser: dieser Kriege): Es war zunächst ein Kolonialkrieg (nein: ein antikolonialistischer Befreiungskampf), der um 1860 begann, als Frankreich nach und nach ganz Indochina besetzte und zu einer Kolonie machte, das heißt: die absolute Macht übernahm, die Menschen und Ressourcen des Landes ausbeutete und jeglichen Widerstand gnadenlos niedermassakrierte (auch wieder so ein Wort, aber eben auch zutreffend). Der erste Sieg über diese Fremdherrschaft wurde 1945 errungen (Gründung des unabhängigen Staates DRV), aber die Kolonialmacht kehrte zurück und wurde trotz amerikanischer Unterstützung ein zweites Mal geschlagen (Dien Bien Phu 1954). Dann nahmen die USA die Sache selber in die Hand, besetzten unter Missachtung des internationalen Abkommens von Genf den Süden und versuchten, den Norden »in die Steinzeit zurück« zu bombardieren. 1975 mussten auch sie das Land verlassen, in dem sie nie etwas zu suchen gehabt hatten. In dieser Zeit war »Vietnam« längst zu einem Symbol geworden, an dem der kalte Krieg in einen lokalen heißen übergeführt wurde, probehalber sozusagen, um, wie es Eisenhower sah, „ein Exempel, zu statuieren.“ Der letzte Kolonialkrieg war schon längst übergegangen in einen jener »modernen« Kriege, die die USA zur Erringung und Wahrung ihrer Welt-Vormachtstellung bis heute führen.

Wie lange dauert es, bis ein Krieg im Gedächtnis der Nachwelt so eingeebnet wird, dass sich die üblichen Reflexionen erübrigen: wer ihn angefangen, wer ihn gewonnen und wer warum ihn verloren hat? Und nach einem Anstandsabstand verbietet es uns die politische Korrektheit auch, darüber nachzudenken, ob dieser oder jener Krieg »gerechtfertigt«, vielleicht, als aufgezwungener Verteidigungskampf, ein »guter« war, wo doch die Kriege allesamt so grausam sind! Die Artikel und Sendungen zu diesem Jahrestag werden wieder einmal die stereotypen Formulierungen verwenden, die von der historischen Forschung längst widerlegt sind: „Bürgerkrieg“, „Kommunismus“, „Vietnamtrauma“, und immer wieder die zynische Rede von einem Vietnam, das „den Krieg gewann und den Frieden verlor“. Sie stammen aus der damaligen Kriegspropaganda des Westens, die vor allem in den Spielfilmen zum Thema fortlebt, haben aber eine neue Funktion: Sie setzen jenen Prozess in Gang, mit dem Kriege, je mehr sie in der Vergangenheit versinken, zu kaum mehr genau erklärungsbedürftigen »Katastrophen« stilisiert werden, welche die Menschheit überfallen und die folglich »beendet« werden müssen.

Wo das Kriegserinnern, wie auch jetzt anlässlich des 60. Jahrestags des »Endes« des 2. Weltkriegs, immer offener »beider Seiten« zu gedenken versucht (alliierte Soldaten und Waffen-SS, Flüchtlinge in dieser und jener Richtung), wo in der Lokalpresse meiner Stadt vor allem hervorgehoben wird, sie habe sich den Amerikanern „ohne Widerstand“ ergeben und dies als ein Widerstandsakt gegen die Naziherrschaft erscheinen soll, da hat dieser Prozess bereits unser Gedächtnis kolonisiert in bezug auf Ereignisse, die hierzulande stattfanden. Was Wunder, dass dies noch viel besser funktioniert, wenn es sich um ein fernes kleines Land handelt, das zwar irgendwann eine gewisse Rolle auch in der Innenpolitik »Deutschlands« gespielt hat, heute jedoch eher zu den geistigen Kinderkrankheiten einer Generation (der 68er) gezählt wird, die jetzt schon in Rente ist.

Wie aber verhält es sich in Vietnam selbst? Dort betrifft das Erinnern nicht eine Niederlage, sondern einen Sieg, der die »Geburt einer Nation« vollendete. In Vietnam werden also große Feiern stattfinden, Paraden, Feste, Staatsakte, und es wird, trotz des Willens zur Eingliederung in die »neue globalisierte Welt«, vom »Sieg« die Rede sein, und in Veteranentreffen auch vom »Heldentum«, mit dem dieser ungleiche Kampf geführt und gewonnen wurde. Aber Fakt ist auch, dass ca. 80 % der Bevölkerung Vietnams keine persönlichen Erinnerungen mehr an diesen Krieg haben. Außerdem kann die Nachkriegszeit in Vietnam charakterisiert werden als eine Periode voller Enttäuschungen, in der den Menschen in diesem Land der Frieden und das Genießen der Früchte ihres Siegs vorenthalten wurde. Dies begann gleich nach 1975, als es den USA und dem Westen gelang, das Land komplett zu isolieren und in die Abhängigkeit von den sozialistischen Staaten zu treiben. Und das setzte sich fort in den Aggressionen der Roten Khmer und der Vertreibung der Völkermörder und die internationale Bestrafung dafür durch die Invasion chinesischer Truppen im Norden und die Unterstützung Chinas und des Westens für die Pol-Pot Banden. Eine Zeitlang konnte man den Enthusiasmus und die Opferbereitschaft des Volkes aus dem Befreiungskampf noch für den Aufbau einsetzen, aber der Boykott – und eigene Fehler – verhinderten, dass es in Vietnam ein Aufbau-Wunder gab, wie etwa in der BRD nach 1950.

Aus der Heldenrolle mit weltgeschichtlicher Bedeutung fiel Vietnam zurück in die Situation eines rückständigen Entwicklungslandes, das extrem schlimme Kriegsfolgen zu beseitigen hatte und in dieser Kriegszeit an derjenigen geschichtlichen Entwicklung gehindert wurde, die seine Nachbarstaaten nahmen. Dann brach das sozialistische System zusammen und die von dort fließende solidarische Hilfe blieb aus. Errungenschaften der »Revolution«, die auf dieser Hilfe beruhten (z.B. das kostenlose Gesundheits- und Erziehungssystem), mussten aufgegeben werden. Der Anschluss an den Westen und die Integration in ein globales kapitalistisches Wirtschaftssystem waren jetzt ohne Alternative. Die »Öffnungs-Politik«, 1986 initiiert, spülte zugleich westliches Konsum- und Konkurrenzdenken ins Land. Alte Traditionen und kulturelle Werte, die mit zum Sieg beigetragen hatten, wurden verdrängt, und neu entstehende, vor allem materielle Bedürfnisse konnten wegen des ausbleibenden Aufschwungs nicht befriedigt werden.

In den jüngeren Generationen entstand ein Lebensgefühl, in dem sich Anspruchsdenken und Rückzug in die individuelle Sphäre mischten. Bei manchen, vor allem jungen Schriftstellern, äußerte sich das in einer zuweilen zynischen Ablehnung der revolutionären Tradition, in der Weigerung, die heroische Vergangenheit als ihre eigene zu betrachten. Damit provozierten sie nicht nur den erbitterten Widerstand der Älteren, die plötzlich ihre Verdienste, ihre Opfer, die das Leben der meisten von ihnen so geprägt und erfüllt haben, dass es für sie danach keine Perspektive mehr gab, in Frage gestellt sahen. Diese »jungen Wilden« brachten darüber hinaus sogar die existentielle Frage in die öffentliche Diskussion ein, ob diese Krieg überhaupt sinnvoll war, die Opfer »etwas gebracht« haben, womit ein Tabu gebrochen wurde, das für das nationale Selbstverständnis der Vietnamesen von existentieller Bedeutung ist.

Diese Auseinandersetzungen, die wie ein Generationenkonflikt erscheinen, aber eher ein grundsätzlicher Disput über nationale Identität sind, zeigen sich einem fremden Besucher in Vietnam nicht unmittelbar im Alltagsleben. Und sie werden auch in den Reden zum Jubiläum nicht auftauchen. Die Oberfläche, die sich derzeit einem Besucher (in den Städten) bietet, ist geprägt von einem Umbruch, der sich vor allem ökonomisch zeigt: Kosum- und Warenwerbung, Freizeitindustrie, unpolitisches Karrieredenken. Regierung und Partei tun sich schwer, angesichts noch immer verbreiteter Armut, angesichts von Analphabetismus, von Mängeln in der Bildungs- und Gesundheitsversorgung oder im Kampf gegen AIDS an die Solidarität der Menschen zu appellieren. Aber das Schisma ist noch nicht so stark, dass es die soziale Einheit und Ordnung ernsthaft gefährden würde. Und vor allem ist es nicht so strukturiert, wie es eine westliche Presse naiv behauptet bzw. gerne sähe: Hier kann nicht die Rede sein von einer Opposition der Bevölkerung gegen das Regime, sondern die Bruchstellen sind in Partei und Regierungsapparat ebenso evident wie in bestimmten Gruppen, Klassen und Institutionen. Dazu kommt, dass die offizielle Rhetorik, der öffentliche Disput noch immer geprägt sind vom hohen Ideal der nationalen Einheit, das auf der einen Seite eine manchmal zweifelhafte Behandlung bestimmter Konflikte in den Minderheiten-Regionen oder im kulturellen Bereich legitimieren muss. Auf der anderen Seite ist dieses Ideal aber immer noch für die Mehrheit der Bevölkerung die Basis ihres Selbstverständnisses als Volk und als Nation, hat infolgedessen immer noch das Potenzial, den Sinn für soziale Harmonie, der in einer langen kulturellen Tradition wurzelt, zu erhalten.

Denn zu lange haben die Kriege in Vietnam gedauert, zu sehr waren sie durch den Kampf ums Überleben sowohl des Einzelnen als auch des Landes als identifikatorischer Bezugspunkt geprägt, als dass diese Erfahrungen, auch als überlieferte, so schnell ihre Wirkungskraft verlieren könnten. Die Anstrengungen des Staates, das oft beschämende Schicksal der Veteranen zu mildern, für die Opfer des Einsatzes von Giftstoffen (Dioxin) zu sorgen, auch die Privilegien, die aktive Kriegsteilnehmer (Kämpfer für die Befreiung!) genießen, all dies wird nicht in Frage gestellt, auch von denen nicht, die die heroisierende und alle Widersprüche und das elende Verkommen im Dreck vieler Soldaten und Zivilisten verdrängende Behandlung des Krieges in historischen und künstlerischen Darstellungen ablehnen.

Das Gedenken an diesen Krieg kann für uns nur darin bestehen, dass wir dafür sorgen, die nivellierende Verharmlosung zu verhindern, und das ist nur durch genaues Erinnern möglich, und nicht durch das Feiern eines abstrakten, übermenschlichen »Heldentums« (wie es in Vietnam lange Zeit geschah), nicht als Rehabilitation »soldatischer Tugenden«, wie es bei uns geschah und geschieht. Das Gedenken an diesen Krieg, an Kriege überhaupt, muss stets ein entmystifizierendes sein, verbunden mit der Neugier auf die geschichtlichen Fakten, von denen mit dem zeitlichen Abstand immer mehr sich der Erkenntnis und dem Lernen aus der Geschichte darbieten, einem Lernen, das Stellung bezieht und einen Sieg der »richtigen Sache« auch nach 30 Jahren noch als einen solchen anerkennt.

Günter Giesenfeld, Vorsitzender der Freundschaftsgesellschaft Vietnam, Autor von Büchern und Artikeln zu Indochina. Professor für Neuere deutsche Literatur und Medien an der Philipps-Universität Marburg, Lehre und Forschungsprojekte zu den Massenmedien, Filmhistoriker und Filmemacher. Seit einem Jahr Pensionär.