Schritte Richtung Frieden

Schritte Richtung Frieden

Fünf Vorschläge zum Krieg gegen die Ukraine

von Werner Wintersteiner

In der Ukraine kämpfen die Menschen verzweifelt gegen die übermächtige russische Armee, die die Zivilbevölkerung nicht schont, Städte dem Erdboden gleichmacht und schreckliche Kriegsverbrechen begeht. Die USA, die NATO und viele europäische Staaten haben ihrerseits Russland den „totalen wirtschaftlichen und Finanzkrieg“1 erklärt, liefern ständig neues Kriegsmaterial und spielen vor unseren Augen das verlogene Stück des humanitären Militarismus. Die Gefahr eines Atomkriegs ist enorm gestiegen. Welchen Ausweg gibt es aus dieser Katastrophe?

Der Ukraine-Krieg müsste für alle, die ernsthaft etwas zu seiner Überwindung beitragen möchten, zunächst ein Anlass zur Selbstkritik sein. Das gilt auch für Friedensforschung und Friedensbewegung: Haben wir die Situation nicht falsch eingeschätzt? Sind wir nicht von der Brutalität der russischen Kriegsführung überrascht? Haben wir angesichts unserer berechtigten und nach wie vor notwendigen Kritik an der Expansionspolitik der NATO als Konfliktfaktor nicht eine ebenso differenzierte Kritik der russischen Politik oft vernachlässigt? Haben wir uns ausreichend bemüht, ein geopolitisches Gesamtbild zu zeichnen? Hat sich die Friedensforschung nicht zu sehr in Detailfragen verstrickt und damit die große Gesamtfrage des Weltfriedens aus den Augen verloren? Haben wir geopolitische Rivalitäten der Großmächte, die Weltkriegsgefahr, die Emanzipationskämpfe des Globalen Südens, die Klimakatastrophe, die Covid-19-Pandemie usw. ausreichend als Phänomene einer Polykrise dargestellt, aus der es friedenspolitische Auswege braucht?

Nun hat der Krieg selbst neue Realitäten geschaffen, die Fronten und die Gefühle verhärtet und unermesslichen Schaden für alle angerichtet. Und wir beobachten auch bei uns eine verstörende Aufrüstung der Kriegsarsenale und der Seelen. Vollkommene Simplifizierungen des komplexen Konflikts werden als fundierte Analysen verkauft. Die breite Solidarität mit den Geflüchteten ist vielleicht die einzige positive Entwicklung. Sie zu stärken und längerfristig zu erhalten ist eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft. Doch darüber hinaus muss an Schritten hin zum Frieden gearbeitet werden. Dazu fünf Vorschläge.

1. Gewaltfreie Strategien im Konflikt unterstützen und propagieren

Es gilt, die bestehenden gewaltfreien Widerstandsaktivitäten in der Ukraine wie auch in Russland und Belarus nach Kräften zu unterstützen und bei uns bekannt zu machen (vgl. McCarthy 2022). In ihrer berechtigten Gegenwehr gegen die russische Aggression setzt die ukrainische Regierung ganz auf den militärischen Widerstand und offensichtlich kann sie sich dabei auf eine breite Mehrheit der Bevölkerung stützen. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch gewaltfreie Aktionen gibt, über die bei uns allerdings nur sporadisch und ohne ihren Zusammenhang darzustellen berichtet wird (siehe dazu den Beitrag von Stadtmann in diesem Heft, S. 15). Bei allem Respekt vor dem Recht der ukrainischen Bevölkerung, selbst zu entscheiden, wie sie ihre Verteidigung gestaltet, ist es doch die Aufgabe der Friedensforschung, mit ihrem Wissen und ihren Einschätzungen an diesen Konflikt heranzugehen. Dazu gehört nicht zuletzt die Erkenntnis vom strategischen Wert gewaltfreier Aktionen, wie er etwa in dem inzwischen klassischen Buch »Why Civil Resistance Works« von Maria Stephan und Erica Chenoweth (2011) nachgewiesen wird. In dieser Studie über 100 Jahre »regime change« wird nachgewiesen, dass Gewaltfreiheit deutlich erfolgreicher und nachhaltiger als ein bewaffneter Aufstand ist, wenn es um die Überwindung diktatorischer Regimes geht. Dabei kommen Methoden wie öffentlicher Protest, Mahnwachen, Sit-ins, Blockaden, Streiks oder Ziviler Ungehorsam zum Einsatz. Das entspricht zwar nicht direkt der heutigen Situation der Ukraine, wo derzeit der Widerstand gegen eine ausländische Invasion im Vordergrund steht, dennoch behalten viele Erkenntnisse der Forschung über Gewaltfreiheit ihre Gültigkeit.

Beide Autorinnen arbeiten auch seit einigen Jahren mit Friedenskräften in der Ukraine zusammen (Kroc Institute 2022). Und Organisationen wie die 2019 gegründete »Ukrainische Pazifistische Bewegung« haben den Mut, sich gegen die herrschende Stimmung zu wenden, die Kriegslogik prinzipiell abzulehnen und sich für die derzeit unpopuläre friedliche Lösung einzusetzen. Yurii Sheliazhenko, Sekretär der Bewegung und Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung, stellt sich mit allen Kräften gegen die russische Invasion, aber er sieht auch den größeren Kontext, in dem die Ukraine als Schlachtfeld in der Konkurrenz zwischen den USA und Russland dient (Democracy Now 2022).

Wenn heute Ukrainer*innen auf Gewaltfreiheit setzen, verfolgen sie damit mehrere Ziele: Zunächst geht es darum, die militärische Invasion zu verlangsamen und zu stören. Ferner sollen Zivilist*innen geschützt, Gewalt gegen sie soll hintangehalten und Zeit gewonnen werden, die ihnen eine Flucht ermöglicht. Den russischen Streitkräften und der Bevölkerung in Russland soll die Illegitimität ihres Krieges bewusst gemacht werden, und das Desertieren russischer Soldaten ist ein erklärtes Ziel. Letztlich kann wohl nur Widerstand in Russland selbst auf die Dauer eine Verhaltensänderung des Putin-Regimes bewirken. Aber noch immer ist die Mehrheit der russischen Bevölkerung von Putins Argument, er müsse sich gegen die Aggression des von Faschisten geführten Nachbarstaates wehren, mehr oder minder überzeugt.2 Deswegen ist es auch sehr wichtig, die sehr mutigen und beharrlichen Proteste in Belarus und Russland zu unterstützen.

2. Kritik der »Aufrüstung der Seelen«

Auch wenn der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion berechtigt ist, müssen wir uns vor Augen halten, dass das Land systematisch Kriegspropaganda betreibt und wir fast ausschließlich seine Sichtweise vermittelt bekommen. Doch je härter der Krieg geführt wird, je mehr der jeweilige Gegner dämonisiert wird, desto schwieriger wird es, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das gilt auch für das Klima bei uns. Alle Konfliktparteien, auch die jeweiligen Feinde, dürfen nicht dämonisiert, sondern müssen wieder re-humanisiert werden. Das betrifft die Sprache, das Etikettieren des Anderen und die gewählten Narrative. Und das führt zu kritischen Fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, auch alle kulturellen und kommunikativen Kontakte zu Russland abzubrechen.

3. Zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen den »Feinden«

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung darf nicht unterschätzt werden. So schlägt Sheliazhenko eine „unabhängige öffentliche Kommission von Expert*innen“ (Sheliazhenko 2022) zur Mediation in diesem Krieg vor. Doch der Frieden in der Ukraine ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Politische Vereinbarungen werden für einen dauerhaften Frieden nicht ausreichen. Es bedarf auch eines gesellschaftlichen Dialogs innerhalb der Ukraine wie zwischen der Ukraine und Russland. Die Zivilgesellschaft kann dazu wichtige Kommunikationskanäle schaffen bzw. tut dies bereits. Auch die von Herbert C. Kelman entwickelten »Interactive Problem Solving Workshops« (Kelman 2017) auf Track 2 oder auch auf Track 3 Ebene könnten dazu als Modell genommen werden. Sie sind ein Weg, in einer geschützten Atmosphäre intellektuelle Energien für kreative Lösungen freizusetzen.

4. Kritik der Militarisierung unserer Gesellschaften

Massives Aufrüsten, Stärkung der NATO und ein offener Militarismus sowie ökonomische Abkoppelung von Russland – das ist die »Lehre«, die die politische Klasse unisono aus dem Krieg zieht. Aber die Welt wird durch ein neues Wettrüsten sicher nicht friedlicher. Die hektischen Rufe nach mehr Waffen lenken auch davon ab, genauer zu untersuchen, warum Putin keinen großen Widerstand von EU und NATO erwartet hat. Grund war nicht eine unzulängliche Bewaffnung, sondern Putin hat gesehen, wie leicht es war, die politische Klasse und führende Wirtschaftskapitän*innen in Europa in sein System einzubinden und damit zu korrumpieren. Schließlich wurde ja auch die heute bedauerte Abhängigkeit Westeuropas von fossiler Energie aus Russland nach der Besetzung der Krim und der Ausrüstung der Rebell*innen im Donbas noch verstärkt. Statt einer Rüstungsspirale und Militarisierung brauchen wir vielmehr die politische Entschlossenheit, die Demokratie mit demokratischen Mitteln zu verteidigen.

5. Langfristige Friedensperspektiven für ganz Europa

Ausrüstung der Ukraine mit immer mehr und effizienteren Waffen, flankiert von einem »totalen Wirtschaftskrieg«, der Russland isolieren und seine Wirtschaft nahezu lahmlegen soll; die Reduzierung Russlands auf einen Paria-Staat, wie Joe Biden forderte (Dreisbach 2022) – das ist die rein militärische Logik, die die USA und die westlichen Staaten verfolgen. Aber wie soll das je in einen Friedensschluss münden? Ein zerrüttetes, atombewaffnetes Riesenreich Russland wäre sicher kein Beitrag zu einem stabilen Frieden. Die Grundidee jeder Friedenslösung, eine Lösung für alle beteiligten Seiten, rückt ganz aus dem Blickwinkel.

Die gewaltfreie Option denkt hingegen über den unmittelbaren Konflikt hinaus und bezieht den komplexen Gesamtkontext ein. Dazu gehört auch ein Nachdenken darüber, wie wir dazu beitragen können, die afrikanische Lebensmittelkrise abzufedern, die durch diesen europäischen Krieg ausgelöst wird. Und die Kritik an der Konflikteskalation durch die NATO, ohne deswegen Putins Russland aus seiner Verantwortung für diesen Krieg zu entlassen. Eine langfristige Friedensoption sollte nicht nur eine neutrale Position der Ukraine enthalten, sondern sie braucht eine größere europäische Lösung. Alle Anstrengungen sollten darauf gerichtet werden, heute das zu schaffen, was nach 1989 versäumt wurde, nämlich eine europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Es wäre die Verwirklichung dessen, was Michail Gorbatschow mit dem schönen Bild vom „gemeinsamen europäischen Haus“ intendiert hat.

So bleibt festzuhalten: „Um den Krieg zu stoppen ist es wichtig, den Diskurs der Angst zu überwinden zugunsten eines Diskurses der Hoffnung für eine bessere Zukunft. Denn die Angst führt zu Gewalt, die Hoffnung aber zu Frieden“ (Sheliazhenko 2022).

Anmerkungen

1) So der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am 1.3.2022 (zitiert nach: Le Monde Diplomatique (franz. Ausgabe), April 2022, S. 28).

2) Eine Umfrage in Russland im März 2022, die nach Alter und Informationskanälen für die Urteilsfindung der Interviewten fragt, kommt zu folgendem Ergebnis: Die Unterstützung für Putins Krieg steigt rasant mit dem Alter und der damit assoziierten ausschließlichen Nutzung staatlicher Informationsquellen: von nur 29 % unter den 18- bis 24-Jährigen zu 72 % unter den Russen über 51 Jahren (Aleksashenko 2022).

Literatur

Aleksashenko, S. (2022): What do polls say? Behind the Iron Curtain Blog, 13.3.2022.

McCarthy, E. (2022): 5 ways to support courageous nonviolent resistance in Ukraine. Waging Nonviolence, 5.3.2022.

Chenoweth, E.; Stephan, M. J. (2011): Why civil resistance works. The strategic logic of nonviolent conflict. New York: Columbia University Press.

Democracy Now (2022): Ukrainian pacifist in Kyiv: Reckless militarization led to this war. All sides must recommit to peace. Interview mit Yurii Sheliazhenko. 1.3.2022.

Kroc Institute (2022): Civil resistance in Ukraine and the region. Webinar vom 22.3.2022.

Sheliazhenko, Y. (2022): Putin, Biden and Zelenskyy, take peace talks seriously! Videobeitrag auf YouTube, 7.3.2022.

Kelman, H. C. (2017): Resolving deep-rooted conflicts. Essays on the theory and practice of interactive problem-solving. Hrsg. von Werner Wintersteiner und Wilfried Graf. London: Routledge.

Dreisbach, S. (2022): „Putin wird ein Paria sein auf internationaler Bühne“. FAZ, 24.02.2022.

Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i.R. Dr., ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Eine längere Fassung dieses Beitrages ist Anfang April auf dem Blog von W&F erschienen: Wintersteiner, W. (2022): Der unterschätzte Widerstand. 6.4.2022.

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Soziale Verteidigung in militärisch eroberten Städten

von Ulrich Stadtmann

Soziale Verteidigung ist ein nicht-militärisches Verteidigungskonzept. Es beruht auf zivilem Widerstand, dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration und internationaler nicht-militärischer Unterstützung, wie z.B. Sanktionen. Letzteres findet im Ukrainekrieg neben militärischen Maßnahmen statt. Spontaner ziviler Widerstand zeigt sich dort oftmals in militärisch besetzen Städten. Angesichts einer nicht auszuschließenden Ausweitung des Krieges auch auf NATO-Staaten stellt sich für demokratische Gesellschaften die Frage, inwieweit z.B. Städte mit ihrer Zivilbevölkerung in militärische Kampfhandlungen einbezogen oder besser durch Soziale Verteidigung geschützt werden sollen.

In diesem Winter eskalierte die Lage in Europa durch den Truppenaufmarsch Russlands an den ukrainischen Grenzen und mündete am 24. Februar 2022 im Angriffskrieg gegen die ganze Ukraine. Dagegen verteidigt sie sich militärisch und hat damit eine schnelle Besetzung der Hauptstadt Kiew verhindert. Auch weitere Städte werden durch das nationale Militär verteidigt. Einige wurden eingekesselt, andere auch militärisch eingenommen. Für die Menschen in den belagerten Städten ist die Versorgungslage katastrophal. Zum Leben und Überleben braucht es Nahrung, Wasser, Wohnungen, Strom, Heizung und Krankenhäuser. Wenn eine Stadt im Kriegsverlauf zur Ruine wird, in der die Menschen umkommen, ist dort das zerstört, was verteidigt werden soll.

In den Städten der Ukraine, die von Russland besetzt sind, geht der Widerstand jedoch weiter. Es gibt die Bilder von zivilem Widerstand mit Demonstrationen auf Straßen und Plätzen.1 Dort erleben die russischen Truppen täglich, dass sie nicht erwünscht sind. Ihre propagandistisch geprägte Selbstwahrnehmung, sie seien zur Befreiung gekommen, zerbricht an der Wirklichkeit. Ebenso wie die militärische Verteidigung zielt auch der zivile Widerstand auf die Schwächung der Kampfmoral der russischen Truppen und soll auf Russland insgesamt einwirken.

Städte als Zellen des zivilen Widerstands

Das primäre Ziel Russlands scheint trotz der massiven Raketenangriffe nicht zu sein, Städte in Ruinenlandschaften zu verwandeln; vermutlich sollte eigentlich die Beherrschung der Ukraine angestrebt werden. Deshalb müsste die russische Regierung ein Interesse daran haben, möglichst funktionierende Städte zu kontrollieren. Die Zerstörung der Städte ist dann eher ein Kollateralschaden, der sich aus dem militärischen Kampf ergibt, aber sie wird auch gezielt zur Einschüchterung der Bevölkerung betrieben. Mit der militärischen Besetzung einer Stadt ist jedoch noch nicht die Kontrolle über sie erreicht (vgl. Verschwele 2022). Dazu ist die Besatzung auf die Stadtverwaltung, den Handel und die Wirtschaftsunternehmen sowie die Unterstützung durch deren Personal angewiesen. Auf diesen Voraussetzungen beruht Soziale Verteidigung: Eine Zusammenarbeit fände nur soweit statt, wie sie für die Lebensgrundlagen einer Stadt und die Interessen der Bevölkerung erforderlich ist.

In der Sozialen Verteidigung wird diese von Theodor Ebert entwickelte Idee als „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration“ (Ebert 1981) bezeichnet und geht über die öffentlichen Proteste des zivilen Widerstands auf Straßen und Plätzen hinaus. Die Lebensmittelversorgung und die Müllabfuhr, aber auch Polizei und Justiz, Kindergärten und Schulen werden gebraucht und sollten aufrecht erhalten werden. Nach dem Vorbild früherer historischer Fälle von Widerstand gegen Besatzung (z.B. Norwegen im 2. Weltkrieg und Finnland als Teil Russlands vor dem 1. Weltkrieg) strebt Soziale Verteidigung aber danach, alles weiter so auszuführen, wie es schon vor dem Krieg selbstbestimmt gemacht wurde.

Schon vor über 100 Jahren gab es von 1899 bis 1905 in Finnland, das seit 1809 eine autonome Region Russlands war, verschiedene Formen des zivilen Widerstands. „Der Widerstand war gewaltfrei und seine Grundsätze waren: ‚nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten‘. Aus Protest gegen die Russifizierungspolitik des Zaren Nikolaus II. führten viele Beamte die Befehle des russischen Generalgouverneurs nicht aus“ (Hänninen, zitiert nach Arajärvi 2022, S. 3). Reetta Hänninen hat sich in ihrer Masterarbeit über diese Ereignisse auf Akten der Ordnungspolizei der russischen Verwaltung gestützt. Für die Vorsitzende des Bund für Soziale Verteidigung (BSV) Outi Arajärvi, die die Arbeit auf deutsch zusammenfasste, ähnelte dieser Widerstand sehr der Sozialen Verteidigung: „Von überall im Lande gab es Berichte über ungehorsame, widerspenstige und aufsässige Beamte der Post, Zoll, Verwaltung, Banken und Eisenbahn. Befehle wurden missdeutet, missachtet oder das Gegenteil wurde ausgeführt“ (ebd., S. 5).

Jede moderne Stadt- oder auch Staatsverwaltung kann jeden Tag bestens ohne neue Beschlüsse eines Stadtrates oder auch lange Zeit ohne eine neue Regierung arbeiten, wie in Zeiten einer lang andauernden Regierungsneubildung immer wieder zu sehen ist. Also versucht sie, unter einer Besatzung weiter gemäß den alten Grundlagen zu arbeiten und widersetzt sich allen neuen Anordnungen. Die Absetzung oder der Austausch einer Stadtregierung wird keine Herrschaft im Sinne der Besatzer*innen schaffen, wenn sie auf breiten Widerstand stoßen. Denn dann müssen sie auch auf untergeordneten Ebenen dafür sorgen, ihre Befehle durchzusetzen. Das erfordert personalintensive direkte Auseinandersetzungen von Mensch zu Mensch, bei denen das Besatzungsregime mit einer weiteren Demoralisierung seiner Truppen rechnen muss, denn sie werden immer wieder damit konfrontiert, dass sie als Besatzer*innen nicht erwünscht sind.

Wie schwierig es ist, eine Stadt zu beherrschen, die sich im zivilen Widerstand befindet, drückt sich aktuell wohl auch im folgenden Beispiel aus: In der besetzten ukrainischen Stadt Melitopol sollte der festgenommene Bürgermeister zur Kollaboration gezwungen werden, musste aber letztlich wieder freigelassen werden und wurde gegen neun gefangene russische Soldaten der Jahrgänge 2002 und 2003 ausgetauscht (vgl. Gnauck 2022). Die militärische Kapitulation einer Stadt bedeutet deshalb in keiner Weise das Ende des Widerstands. Es ist vielmehr der Wechsel von einer militärischen Kampfform, die in erster Linie ein Territorium verteidigt, zu einer Verteidigung des sozialen Gefüges einer städtischen Zivilgesellschaft.

Nach dem Völkerrecht wäre es auch möglich, eine Stadt zur »Offenen Stadt« zu erklären, die nicht militärisch verteidigt wird und deshalb nicht bombardiert werden darf. Diese Schutzfunktion sollte völkerrechtlich auch auf Städte ausgeweitet werden, die sich nur mit zivilem Widerstand ohne Kollaboration verteidigen.

Soziale Verteidigung klar von militärischen Kampfhandlungen trennen

Die Soziale Verteidigung zielt darauf ab, vorrangig das Leben der Zivilbevölkerung und die Infrastruktur einer Stadt zu schützen und darauf aufbauend durch zivilen Widerstand die Kosten für das angreifende Regime in die Höhe zu treiben. Einerseits soll es möglichst keinen Nutzen aus der Besetzung ziehen können und andererseits einen hohen Personaleinsatz zu finanzieren haben. Damit soll das Regime Gefahr laufen, durch eine Demoralisierung seiner eigenen Truppen vor Ort und an der »Heimatfront« den bisherigen Machtbereich aufs Spiel zu setzen. Es muss damit rechnen, dass seine Machtbasis gespalten wird und ein Umsturz droht, so dass es letztlich nichts hinzugewonnen, sondern alles verloren hat.

Ein solches Kosten-Nutzen-Kalkül kann durch internationale Sanktionsmaßnahmen im Rahmen eines nicht-militärischen Eingreifens unterstützt werden, wie es derzeit vor allem durch die Länder der EU und der NATO praktiziert wird. Die Sanktionen treffen jedoch nicht nur die Verantwortlichen des Aggressors – und diese vielleicht noch am wenigsten. Sie beeinträchtigen vor allem die Zivilbevölkerung und zudem noch die Bevölkerung nicht beteiligter Länder, z.B. durch Nahrungsmittelknappheit. Deshalb sollten sie zum einen zielgerichtet sein, um die Kriegsmaschinerie ins Stocken zu bringen. Zum anderen muss klar gegenüber den einflussreichen Kreisen und der Bevölkerung in Russland signalisiert werden, dass die Beeinträchtigungen aufgehoben werden, sobald die russischen Truppen aus der Ukraine abgezogen werden. Sanktionen sollen keine Bestrafungsaktionen sein. Sie sollten vielmehr darauf angelegt sein, einen positiven Anreiz zu geben und dazu beitragen, den Krieg zu beenden.

Die nicht-militärischen Maßnahmen sowohl in der Ukraine als auch international finden derzeit parallel zur militärischen Verteidigung statt, die vom Ausland mit Waffenlieferungen unterstützt wird. Zudem scheinen zur ukrainische Verteidigung auch militärische Kampfhandlungen in den besetzten Gebieten zu gehören (vgl. FAZ 2022). Hierbei kann dann eine durchaus problematische Überschneidung mit dem zivilen Widerstand entstehen. Zwar dürfte die Besatzung es schwer haben, Kollaborierende zu finden und sie als Marionetten einzusetzen, weil sie damit zur Zielscheibe für bewaffnete Widerstandskämpfer*innen werden. Andererseits werden auch die zivilen Kämpfer*innen leichter zu militärischen Zielscheiben, wenn Soldat*innen sich nicht sicher sein können, ob die Zivilbevölkerung nur als Deckung für eine Guerilla genutzt wird, die gegen sie agiert. Eine klare Trennung der Bereiche, in denen militärisch operiert wird, von denen des zivilen Widerstands ist deshalb eine wichtige Grundlage für Soziale Verteidigung.

Im Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts wurde die Ergänzung einer militärischen Landesverteidigung um eine Soziale Verteidigung der Städte im Rahmen von Konzepten defensiver Verteidigung diskutiert. Die dänische Regierung hatte zu Beginn der 70er Jahren eine Studie in Auftrag gegeben über die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung (Boserup und Mack 1974). Litauen hat schon 1991 zivilen Widerstand in seine Militärstrategie aufgenommen und im Jahr 2016 als NATO-Mitglied erneuert. Dabei wurden auch zwei Handbücher über die »Formen und Grundsätze des zivilen Widerstands« im Rahmen der Landesverteidigung herausgegeben (vgl. Bartkowski 2021).

Nach der Erfahrung des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine lässt sich auch ein Krieg auf NATO-Gebiet nicht ausschließen, der zumindest zu Beginn konventionell geführt und hoffentlich nicht auf die atomare Ebene eskalieren würde. Ein Atomkrieg in Mitteleuropa würde alles zerstören, was verteidigt werden soll. Das gilt aber für einen konventionellen Krieg in den Städten und dicht besiedelten Gebieten mit ihrer Industrie ebenso. Mindestens in diesen Bereichen sollte deshalb besser eine Soziale Verteidigung vorbereitet werden.

Nichtkooperieren will gelernt sein

Im Jahr 1988 trafen sich über 1.000 Menschen zu einem Kongress über Soziale Verteidigung. Der aus dem Kongress hervorgegangene Bund für Soziale Verteidigung (BSV) veranstaltete 30 Jahre später erneut eine Tagung über Soziale Verteidigung. Die Geschäftsführerin Christine Schweitzer stellte dazu fest, dass „seit dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine 2014 […] zunehmend wieder von der Gefahr eines Krieges in Europa gesprochen“ wird (BSV 2018, S. 6). Angesichts dieser Situation hielt sie es für notwendig, wieder zu überlegen „was ohne Gewalt getan werden kann, falls Prävention und Konfliktbearbeitung versagen und es zum Schlimmsten kommt“ (BSV 2018, S. 28).

Das Gründungsmitglied des BSV und der Grünen Roland Vogt erinnerte auf derselben Tagung an seine Forderung aus der Gründungsphase des BSV zu Beginn der 90er Jahre nach einem »Ministerium für Abrüstung, Konversion und Soziale Verteidigung« (BSV 2018, S. 9). Ein solches Ministerium hätte sicherlich das Wissen um die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung institutionell verankert, bis hinunter auf die lokale Ebene einer jeden Stadt. Auch wenn Soziale Verteidigung spontan angewendet werden kann, wäre eine gedankliche und praktische Vorbereitung sicherlich sinnvoll.

Neben Protestformen, die die Größe des Widerstands zeigen und den Zusammenhalt stärken sollen, müsste die im Konzept der Sozialen Verteidigung angelegte „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration (Ebert 1981) treten, die das alltägliche Handeln der Menschen an den Arbeitsstellen leiten soll. Es wäre das Gegenteil von Streik, den es nur in den Bereichen gäbe, die dem Aggressor dienen. Ein entsprechendes »Manöver« könnte in Stadtverwaltungen von Städten durchgeführt sowie wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden, um daraus Handlungsempfehlungen für den »Ernstfall« zu erhalten. Bisher wurde darüber nicht nachgedacht, weil kaum jemand mit der Möglichkeit der Wiederkehr eines Krieges nach Mitteleuropa gerechnet hat. Angesichts der zerstörten Städte in der Ukraine auf der einen Seite und der besetzten Städte auf der anderen, stellt sich jedoch auch in Deutschland die Frage, mit welchen Verteidigungsformen die eigene Stadt geschützt werden soll. Die Städte, die sich für eine Soziale Verteidigung aussprechen, wären besonders geeignet für die Durchführung solch exemplarischer Übungen in Sozialer Verteidigung.

Potential ziviler Widerstandsbereitschaft nutzen

Ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in den Separatistengebieten hatte das Internationale Soziologische Institut in Kiew eine repräsentative Umfrage in der Ukraine durchgeführt zur Frage, wie die Menschen handeln wollen, wenn es zu einem Angriff auf ihre Stadt und zu deren Besetzung käme. Ein Drittel wusste keine Antwort, 15 % wollten fliehen, 25 % wollten sich militärisch wehren und mehr als 25 % sprachen sich für zivilen Widerstand aus (Bartkowski 2021). Eine derart hohe zivile Kampfbereitschaft bietet ein Potential, das bisher bei allen Verteidigungsplanungen ungenutzt bleibt.

In der Ukraine entscheidet derzeit eher der Zufall des Kriegsverlaufs darüber, ob eine Stadt militärisch besetzt wird und es zu spontanem zivilen Widerstand kommt, wie in Cherson, oder ob eine Stadt belagert und zerstört wird, wie Mariupol. Ein Einwohner Chersons wurde am 24. März mit den Worten zitiert: „Niemand hier wolle so leben wie in Mariupol (Verschwele 2022).

Die Frage, wie die eigene Stadt verteidigt wird, sollte die Zivilbevölkerung demokratischer Staaten vor einem Krieg diskutieren, um die Entscheidung darüber nicht später allein den Militärs zu überlassen. Die Debatte darüber, die eigene Stadt durch Soziale Verteidigung zu schützen, muss jetzt geführt werden und nicht erst, wenn man von einem Krieg im eigenen Land überrascht wird.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Sammlung an Beispielen auf der Homepage des Bund für Soziale Verteidigung: soziale-verteidigung.de/artikel/ziviler-widerstand-gegen-krieg-ukraine.

Literatur

Arajärvi, O. (2022): Nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten. „Passiver Widerstand“ in Finnland Anfang des 20. Jh. Hintergrund- und Diskussionspapier No. 78. Minden: Bund für Soziale Verteidigung.

Bartkowski, M. (2021): Ukrainians vs. Putin. Potential for nonviolent civilian-based defense. Minds of the Movement Blog, International Center on Nonviolent Conflict, 27.12.2021.

Boserup, A.; Mack, A. (1974): Krieg ohne Waffen? Studie über Möglichkeiten und Erfolge sozialer Verteidigung. Reinbek: Rowohlt Verlag.

Bund für Soziale Verteidigung (BSV) (Hrsg.) (2018): Schnee von gestern oder Vision für Morgen – Neue Wege Sozialer Verteidigung? Dokumentation der BSV-Jahrestagung, April 2018. Erschienen als Hintergrund- und Diskussionspapier No. 58. Minden: BSV.

Ebert, Th. (1981): Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration. Graswurzel Revolution 56/1981, S. 28-30.

FAZ (2022): Ukrainer melden Teilrückzug russischer Verbände. FAZ online, 25.03.2022 (aktualisiert: 05:51 Uhr).

Gnauck, G. (2022): „Ich bitte die ganze Ukraine um Entschuldigung“. FAZ, 19.03.2022.

Verschwele, L. (2022): Leben in Cherson unter russischer Herrschaft – Ihre Stadt ist besetzt – aber sie sind nicht besiegt. Der Spiegel, 24.03.2022.

Ulrich Stadtmann ist Dipl. Politologe und Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung (BSV).

Friedensarbeit braucht Begleitung

Friedensarbeit braucht Begleitung

oder „How to face the mess we’re in without going crazy?!“1

von Daniela Pastoors

Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensfachkräfte – und letztlich wir alle. Was hilft uns dabei, uns den Krisen der Menschheit zu stellen? Wie können wir mit den Gefühlen umgehen, die dabei entstehen? Daniela Pastoors forscht dazu, wie Fachkräfte im ­Zivilen Friedensdienst psychosozial begleitet werden, und überträgt ihre Erkenntnisse in diesem Essay auf weitere gesellschaftliche Bereiche.

Wenn wir uns die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaften und als Menschheit stehen, tatsächlich vor Augen führen – statt die Augen vor ihnen zu verschließen –, dann können wir davon überwältigt werden. Wir erkennen, wie riesig, wie umfassend und wie existentiell die Krisen sind, in denen wir uns befinden und mit welcher Geradlinigkeit wir auf den Abgrund zusteuern. Das Zulassen dieser Erkenntnisse macht uns fassungslos. Und das kann uns alle betreffen:

  • die Klimaaktivistin, die mitansehen muss, wie der lebendige Wald um sie herum abgeholzt wird;
  • den Sozialarbeiter, der täglich feststellt, wie massiv Armut auch in Deutschland die Lebenschancen von Menschen beeinträchtigt;
  • die Forscherin, die sich über Jahrzehnte damit auseinandersetzt, wie viele Arten auf dem Planeten für immer aussterben;
  • den Bürgerrechtler, der nach Jahrhunderten von Sklaverei weiter miterleben muss, dass Schwarze Leben nicht zählen und einfach ausgelöscht werden;
  • die Pflegerin, die unter der Last der Arbeit und dem Nie-genug-tun-Können zusammenbricht;
  • den Großvater, der insgeheim daran zweifelt, ob seine Enkel überhaupt noch eine lebenswerte Zukunft haben werden;
  • die ZFD-Fachkraft, die angesichts von gewaltsamen Konflikten die Hoffnung verliert…

… diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Wenn wir der Bedrohung und Zerstörung ins Auge blicken, rollen Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung über uns hinweg. Wir haben Angst davor, selbst in den Abgrund zu stürzen. Genau deshalb verschließen wir uns sehr häufig vor diesen Gefühlen, verdrängen sie – und damit auch die Erkenntnisse über die Tragweite der Herausforderungen. Wir stecken den Kopf in den Sand, weil wir es nicht ertragen können. Weil die Probleme riesig und unüberwindbar erscheinen. Weil wir glauben, nicht mit dieser enormen Last umgehen zu können. Weil wir Angst haben, daran zu zerbrechen.

Was braucht es also dafür, dass wir uns trauen, den Kopf aus dem Sand zu ziehen, der Realität ins Gesicht zu schauen und uns einzugestehen, was passiert? Was brauchen wir, um trotz, wegen und aus der Existentialität der Situation heraus zu handeln – uns der Bedrohung und Zerstörung entgegenzustellen und uns trotz aller Widrigkeiten weiter für das Leben einzusetzen? Vermutlich beantworten wir diese Fragen alle unterschiedlich. So verschieden unsere Strategien sein mögen, so ist doch eines klar: Langfristig geht es nicht allein. Deshalb ist meine These, dass wir Begleitung brauchen. Jede und jeder einzelne von uns.

Psychosoziale Begleitung in der Friedensarbeit

Das Handlungsfeld, mit dem ich mich in meiner Forschung beschäftigt habe, ist der Zivile Friedensdienst (ZFD). Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst haben die Aufgabe, Friedensprozesse zu begleiten (vgl. Pastoors 2021). Nicht sie selbst sind die »Macher*innen des Friedens«, sondern ihr Fokus liegt darauf, lokale Friedensakteur*innen in verschiedenen Ländern der Welt dabei zu unterstützen, Konflikte nachhaltig und gewaltfrei zu transformieren.2 So einfach sich diese beschreibenden Sätze lesen, so wenig trivial ist doch das Grundverständnis, das darin zum Ausdruck kommt. Wenn Frieden nicht als ferner Zustand sondern als alltäglicher Prozess begriffen wird, zu dem Konflikte dazugehören und diese wiederum sowohl Risiken als auch Chancen in sich tragen, hat das Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Konflikttransformation unterstützt werden kann. Das Vertrauen in den Prozess selbst und besonders in die Akteur*innen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten, die Konflikttransformation selbst zu gestalten, bildet die Basis für einen externen Beitrag, der keine Techniken anwendet, »Rezepte« verordnet und Lösungen liefert, sondern in Beziehung geht, einen Rahmen gestaltet und vorhandenes Wissen hervorlockt. In diesem Sinne sind ZFD-Fachkräfte in erster Linie Begleiter*innen.

Dieses transformative Paradigma der Konfliktbearbeitung, das mit einer elizitiven3 Haltung einhergeht, stellt gleichzeitig spezifische Anforderungen an Fachkräfte, die Wandlungsprozesse auf diese Weise unterstützen wollen. Der Blick auf Friedensarbeit als Beziehungsarbeit verdeutlicht, dass Friedensfachkräfte nicht nur viele Kompetenzen brauchen, um diese Beziehungen zu gestalten, sondern, dass Reflexionsräume notwendigerweise zur professionellen Friedenspraxis dazugehören müssen. Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensarbeiter*innen. Aufgrund der komplexen Herausforderungen ihrer Tätigkeiten und ihrer vielschichtigen Rollen brauchen sie neben speziellen Fähigkeiten, fundiertem Wissen und einer ausgeprägten Haltung auch Möglichkeiten, um diese zu erwerben, anzuwenden und zu reflektieren. Zugleich gilt es, die anspruchsvolle Kunst der Friedensarbeit zu meistern, ohne sich selbst dabei aus dem Blick zu verlieren. Unterschiedliche Elemente der psychosozialen4 Personalbegleitung bieten ihnen dafür Gelegenheit.

Die Forschung hat sich diesem Themenbereich bisher wenig gewidmet. Entweder beschränkte sie sich auf Fragen der Personalgewinnung, Qualifizierung und Vorbereitung (vgl. Schüssler und Thiele 2012, Schweitzer 2009, Sell 2006), oder es standen Aspekte des Sicherheits- und Krisenmanagements und die gesundheitlichen Risiken und psychischen Folgen von Auslandseinsätzen im Fokus.5 Zudem bewegte sich der Diskurs oftmals im Kontext der »Duty of Care«, der Fürsorgepflicht der Organisationen für ihre Mitarbeitenden in Auslandsprojekten, sodass primär Haftungsfragen diskutiert wurden (z. B. Merkelbach 2017). Auch wenn immer wieder auf die Bedeutung von Unterstützungsmaßnahmen für das Auslandspersonal verwiesen wurde, legen nur sehr wenige Studien den Fokus darauf. Die Praxis der »Staff Care« (organisationale Fürsorge für Mitarbeitende) ist bisher nur in wenigen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit untersucht.6

In meiner Dissertation habe ich daher den Fokus auf die Frage gelegt, wie Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst unterstützt und psychosozial begleitet werden. Dafür habe ich eine Bestandsaufnahme der Personalbegleitung im ZFD durchgeführt und untersucht, durch welche Begleitelemente Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst vor, während und nach der Dienstzeit unterstützt werden. In meiner Erhebung habe ich die Gesamtheit aller ZFD-Organisationen in den Blick genommen und sowohl die Perspektiven von (ehemaligen) ZFD-Fachkräften selbst, als auch die von Mitarbeitenden der Geschäftsstellen und von begleitenden Coaches bzw. Supervisor*innen mit einbezogen.

Neben den Elementen und Angeboten der Personalbegleitung, die im Zentrum meiner Forschung standen, habe ich auch die Anliegen und Herausforderungen beleuchtet, die diese notwendig machen. Zudem habe ich Empfehlungen und Wünsche der Akteur*innen für die Weiterentwicklung der Personalbegleitung zusammengetragen und analysiert, welche Bedürfnisse dahinter stehen und welche Spannungsfelder sich in diesem Kontext zeigen. Um den Transfer in die Praxis zu ermöglichen, habe ich die Erkenntnisse der Forschung als »Lessons Learned« zusammengefasst und aufbereitet.

Insgesamt habe ich eine Vielzahl an Begleitpraktiken zu Tage gefördert: angefangen bei der Erstellung von Begleitkonzepten im Vorfeld, über Supervision und kollegiale Beratung während der gesamten Zeit bis hin zu Rückkehrseminaren für alle. Die Organisationen begleiten die Fachkräfte dabei einerseits selbst und mit Hilfe von Dritten (z. B. Trainer*innen), andererseits sind die Fachkräfte sich gegenseitig eine Stütze und organisieren manche Unterstützung selbst. Die vorhandene Fülle und Vielfalt der Begleitelemente offenzulegen und die Sichtweisen verschiedener Beteiligter darauf zu berücksichtigen, ist ein wesentlicher Beitrag meiner Forschung.7 Gleichzeitig ist nicht nur von Bedeutung, was angeboten und genutzt wird, sondern das Hauptaugenmerk liegt darauf, wie die Begleitung konzipiert, ausgestaltet und gelebt wird: im besten Falle bedürfnisorientiert, barrierearm, emanzipatorisch, ganzheitlich und elizitiv – so wie wir uns auch Friedensarbeit wünschen.

Darin zeigt sich auch, dass es nicht nur um die Implementierung einzelner Maßnahmen, sondern um einen Kulturwandel geht – von einer »Duty of Care«, die Fürsorge als Pflicht zur rechtlichen Absicherung begreift, hin zu einer »Culture of Care«, die eine umfassende Kultur und eine Haltung der individuellen und gemeinschaftlichen Fürsorge wachsen lässt. Mit dem Blick der »Culture of Care« wird deutlich, dass persönliches, kollektives und globales Wohlergehen Hand in Hand gehen. Denn eine »Culture of Care« ist zugleich Teil einer »Culture of Peace«8 und (Personal-)Begleitung trägt zu einer Kultur des Friedens bei.

Kultur der Fürsorge für alle?

Doch wie lassen sich diese Erkenntnisse auf uns alle übertragen? Meine Forschung im ZFD zeigt, dass die vielfältigen Begleit­elemente und Unterstützungsangebote nicht nur in schweren Krisen, sondern auch bei der alltäglichen Reflexion der Arbeit hilfreich sind und die Friedensarbeiter*innen davor bewahren können, den Kopf in den Sand zu stecken. Sie können durch die Begleitung den Mut behalten, sich weiterhin den Bedrohungen und Zerstörungen entgegenzustellen – und statt auszubrennen, können sie sich selbst, die Menschen in ihrem Umfeld und schließlich auch ihre Arbeit stärken. Hierin liegen wichtige Anreize für viele weitere Bereiche der Gesellschaft und die Erkenntnisse lassen sich auf unterschiedlichste Handlungsfelder übertragen.9

Kommen wir also zurück zu uns und zu den eingangs genannten Personenkreisen. Wie könnte Begleitung in diesen Kontexten aussehen? Stellen wir es uns konkret vor.

  • (Klima-)Aktivist*innen ermutigen sich durch individuelle und kollektive Resilienzstrategien gegenseitig und sorgen dafür, dass ihre Bewegungen wirksamer und nachhaltiger werden, weil sie aus den Gefühlen Kraft schöpfen können.
  • Sozialarbeiter*innen vernetzten sich, erkämpfen mit Hilfe von Interessenvertretung und Gewerkschaft bessere Arbeitsbedingungen und schaffen sich auf politischer Ebene Gehör, um auch die Wurzeln sozialer Problemlagen angehen zu können.
  • Wissenschaftler*innen führen Forschungssupervision ein, so dass sie endlich Räume für den Umgang mit den Nebenwirkungen haben, die ihre oftmals erschreckenden Forschungsergebnisse auf sie selbst haben.
  • Bürgerrechtler*innen weltweit gestalten öffentliche Trauerrituale, damit nicht nur die Wut ihren Ausdruck findet, sondern auch die Verzweiflung – und ermöglichen sich und anderen auf diese Weise, den Schmerz gemeinsam zu bewältigen und Raum für Würdigung zu schaffen.
  • Pflegepersonal regt Studien zum psychosozialen Wohlergehen von Mitarbeitenden und Patient*innen an und konzipiert auf dieser Basis ein Gesundheitssystem, das die Lebensqualität aller verbessert.
  • Großeltern gründen Gesprächskreise, in denen sie über ihre Zukunftsängste sprechen und schließlich den Mut finden, gemeinsam mit ihren Enkeln auf die Straße zu gehen…

Auch diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Zum Glück. Denn so groß, wie die Herausforderungen sind, denen wir uns als Menschheit zu stellen haben, können wir jede Unterstützung gebrauchen. Wir alle können Rückhalt gebrauchen und zugleich kann jede*r von uns auch andere Menschen begleiten, unterstützen und stärken. Dabei ist die Fürsorge für sich und andere immer miteinander verbunden – innere und äußere Friedensarbeit gehen Hand in Hand. So ist eine Kultur der Fürsorge existentieller Teil einer Kultur des Friedens.

Anmerkungen

1) Dieser Essay ist inspiriert durch Joana Macy, die Begründerin der »Work, that reconnects«. Das Zitat ist der Untertitel ihres Buches »Active Hope« (Macy und Johnstone 2012).

2) Umfassende Informationen und weiterführende Literatur zum ZFD sind hier zu finden: ziviler-friedensdienst.org.

3) Der Begriff geht auf John Paul Lederach zurück, der elizitive und präskriptive Zugänge zu Training und Konflikttransformation unterscheidet (siehe u.a. Lederach 1995).

4) Als psychosozial zeichnet sich die Personalbegleitung aus, wenn dabei zugleich innere und äußere Aspekte und deren Wechselwirkungen berücksichtigt werden (Pastoors 2021).

5) Der Großteil der Studien bezieht sich auf den Bereich der humanitären Hilfe, siehe bspw. Antares Foundation (2012), Blanchetière (2006).

6) Siehe bspw. Becker et. al. (2018), Behboud (2009), Porter und Emmens (2009). Ein praktisches Handbuch macht die Erkenntnisse der Forschung für Fachkräfte in der internationalen Zusammenarbeit nutzbar (Pigni 2016).

7) Eine knappe und praxisorientierte Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse meiner Forschung ist im »Lessons Learned« Kapitel meiner Dissertation und in diesem Artikel nachzulesen: (Pastoors 2019).

8) In Elise Bouldings (2000) Definition der »Culture of Peace wird diese Verbindung zur »Culture of Care« besonders deutlich.

9) Exemplarisch möchte ich hier auf den Nachhaltigen Aktivismus verweisen, der sich mit Resilienzstrukturen für politische Aktivist*innen befasst (siehe hierzu Luthmann 2021).

Literatur

Antares Foundation (2012): Managing stress in humanitarian workers. Guidelines for good practice. Amsterdam: Antares Foundation.

Behboud, S. (2009): Die Begleitung von pbi-Freiwilligen in der internationalen Friedensarbeit – Vorbereitung, Betreuung und Nachbereitung von Freiwilligeneinsätzen. Hamburg: peace brigades international (pbi) – Deutscher Zweig e.V.

Becker, D. et al. (2018): What helps the helpers? Research Report 2016-2018. Berlin.

Blanchetière, P. (2006): Resilience of humanitarian workers. o.O.

Boulding, E. (2000): Cultures of peace. The hidden side of history. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Lederach, J. P. (1995): Preparing for peace. Conflict transformation across cultures. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Luthmann, T. (2021): Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. Münster: Unrast Verlag.

Macy, J.; Johnstone, Ch. (2012): Active hope: How to face the mess we’re in without going crazy. Novato: New World Library.

Merkelbach, M. (2017): Voluntary guidelines on the duty of care to seconded civilian personnel. Swiss Federal Department of Foreign Affairs (FDFA); Stabilisation Unit (SU); Bern u.a.: Center for International Peace Operations (ZIF).

Pastoors, D. (2021): Von der Duty of Care zur Culture of Care – Psychosoziale Personalbegleitung für Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes. Hamburg: tredition.

Pastoors, D. (2019): Risiken vermeiden und Potenziale entfalten. Zur Doppelwirkung psychosozialer Begleitung. Transfer 01/2019. Bonn: Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste.

Pigni, A. (2016): The idealist’s survival kit. 75 simple ways to avoid burnout. Berkeley: Parallax Press.

Porter, B.; Emmens, B. (2009): Approaches to staff care in international NGOs. People in Aid: InterHealth.

Sell, S. (2006): Qualifizierung zu Zivilem Friedensdienst / Ziviler Konfliktbearbeitung – Bedarfserhebung unter den ZFD-Trägerorganisationen und Akteuren benachbarter Arbeitsfelder. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Schüßler, M.; Thiele, U. (2012): Evaluationsbericht. Grundqualifizierung für den Zivilen Friedensdienst/ Zivile Konfliktbearbeitung. Akademie für Konflikttransformation im forumZFD. Universität Oldenburg.

Schweitzer, Ch. (2009): Rekrutierung und Qualifizierung von Personal im Zivilen Friedensdienst. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Dr. Daniela Pastoors hat zum Thema psychosoziale Personalbegleitung im Zivilen Friedensdienst promoviert, während sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg tätig war und im Beratungsbereich gelehrt hat.