Komplexe Transformationen voraus
Komplexe Transformationen voraus
Gedanken zur Zivilen Konfliktbearbeitung nach 25 Jahren Plattform Zivile Konfliktbearbeitung
von Jörn Grävingholt
Herzlichen Dank für die freundliche und erwartungsschürende Einführung. Als erstes darf ich der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung im Namen von Brot für die Welt ganz herzliche Gratulationen aussprechen. Auch wenn ich hierbei auf den Schultern anderer stehe, da insbesondere Martina Fischer als Kollegin von Brot für die Welt für die Plattform weitaus mehr getan hat und weiter tun wird, als ich das je in meinem Leben werde schaffen können. Doch damit möchte ich jetzt auch den institutionellen Hut ablegen. Denn was mich mit dem Thema der Zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung verbindet, hat mit den wenigen Monaten, die ich erst bei Brot für die Welt bin, naturgemäß viel weniger zu tun, als mit den knapp zwei Jahrzehnten, die ich vorher aus wissenschaftlicher Perspektive das Feld beobachten, begleiten und an der einen oder anderen Stelle auch ein bisschen mitbearbeiten durfte. Daher ist was ich jetzt sage, sicherlich mehr Jörn Grävingholt als Brot für die Welt.
25 Jahre Plattform Zivile Konfliktbearbeitung: Zum Glück, sagte ich mir, als ich angefragt wurde, wollen sie nicht, dass ich nur weitere Blumensträuße überbringe, sondern haben sich sehr mutig, wie ich finde, als Frage über diese Veranstaltung geschrieben: „Was muss sich verändern?“ Das finde ich erst mal großartig, auch wenn wir vielleicht alle in diesem Raum – auch nach den Diskussionen, die wir gerade gehört haben, und den Diskussionen, die es früher am Tag gab – das Gefühl haben, dass es ein »Weiter so« ohnehin nicht wird sein können.
Daher habe ich mich zunächst gefragt: Welche Entwicklungen ereignen sich gerade vor unseren Augen, die Veränderungen erfordern? Ich habe mich dabei zunehmend gefragt, ob ich mich jetzt gerade in eine ganz furchtbare Welt hineindenke – und war nun sehr erleichtert, der Paneldiskussion vorhin zu folgen und festzustellen: „Ja, diese Fragen, die ich mir stelle, die stellen sich andere auch“.
Die Rahmenbedingungen, wenn wir in die Welt schauen, sind – glaube ich – allen klar: Gewalt, kriegerische Gewalt hat in den letzten rund zehn Jahren dramatisch zugenommen. Die Zahlen, die uns zur Verfügung stehen, sagen uns, dass wir im letzten Jahrzehnt mehr als doppelt so viele Kriegstote zu beklagen hatten wie in den rund zehn Jahren vorher. Also eine völlig dramatische Entwicklung.
Diese Zahlen sind nicht nur ein statistischer Trend. Ganz abgesehen von dem immensen menschlichen Leid, das hinter diesen Zahlen nur erahnt werden kann – und von dem die meisten in diesem Raum durchaus eine Vorstellung haben dürften –, ganz abgesehen von diesem Leid geht die internationale Gewalteskalation spätestens seit dem 7. Oktober 2023 und der militärischen Reaktion Israels im Gazastreifen auch mit einer Polarisierung öffentlicher Diskurse einher, die wir in dieser Form seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Vielleicht am ehesten noch vergleichbar mit dem Bruch, den der 11. September 2001 bedeutet hat.
Befördert durch diese Polarisierung beobachten wir auch eine neue Legitimierung von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung. Eine höchst beunruhigende Entwicklung, in der Gewalt nicht nur als Mittel der Verteidigung, sondern tatsächlich in vielerlei Hinsicht als ein Mittel der Wahl eingesetzt wird, um angestrebte Ziele zu erreichen. Die Fähigkeit von Gewaltakteuren, Gefolgschaft zu finden für ihr Modell des Kampfes um jeden Preis, hat offensichtlich zugenommen.
Die Polarisierung des politischen Spektrums, die wir seit Jahren mit wachsender Sorge beobachten, wirkt sich auch an dieser Stelle aus: Am extremistischen Ende dieses Spektrums steht ein im Kern zutiefst chauvinistisches Weltbild, wie Sabine Fischer es in brillanter Weise an der Fundierung des Putin’schen Gewaltregimes in Russland analysiert hat, das aber keineswegs auf die Geisteswelt des russischen Präsidenten begrenzt ist.1 Wir beobachten diesen Chauvinismus – in seiner Kombination aus aggressivem Nationalismus, autokratischem Herrschaftsverständnis und tief verwurzelter Misogynie und in seiner mit allen drei Strömungen eng verbundenen maßlosen Gewaltbereitschaft – in vielen populistischen Herrscherfiguren und Herrschaftskasten über den Globus verteilt: in seiner terroristischen Version von den Taliban über den Islamischen Staat bis zur Hamas, in seiner finster diktatorischen Variante von Nordkorea bis Teheran, in seiner »transformativ autoritären« Version bei Erdogan, Modi, Bolsonaro und Xi, in einer noch vom Rechtsstaat eingehegten Variante bei Trump über Kaczynski und Orban bis Netanjahu.
In allen Varianten spielen Mischungen von Gewaltbereitschaft, von aggressivem Nationalismus und oft von einer überraschenden Frauenfeindlichkeit eine große Rolle. Und einzig bei der letztgenannten Variante spielen die rechtsstaatlichen Korrektive noch eine maßgebliche Rolle, wie zuletzt in Warschau beobachtet werden konnte. Aber auch dort sehen wir eben schwere Verheerungen in der politischen Kultur, die diese Entwicklung nach sich zieht. Wir wären blind, würden wir diese Tendenzen in Deutschland nicht auch beobachten. Putschpläne von sogenannten Reichsbürger*innen sind nur ein Beispiel. Gewalt ist in diesem Weltbild nicht der Verrat an den zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit und einzig zur Verhinderung noch größerer Übel, also noch schlimmerer Gewalt legitimiert. Gewalt ist hier vielmehr ein normales Mittel der Zielerreichung und wer sich ihrer nicht bedient, solange er der Stärkere ist, gilt praktisch als »Dummkopf«. Wer sich ihrer nicht bedient, tut dies nur aus taktischen Gründen, weil er sich noch nicht stark genug fühlt und wartet, bis er stark genug geworden ist, um seine Ziele am Ende doch mit Gewalt durchsetzen zu können. (Wenn ich an dieser Stelle oft die maskuline Form verwendet habe, dann ist das kein Zufall.)
Trotzdem ist das sozusagen die einfache Variante. Eine Variante, mit der wir uns politisch-ideologisch relativ einfach auseinandersetzen können.
Doch das Ideal der friedlichen, auf Kooperation statt Gewalt gegründeten Welt, das wir hier in diesem Raum vermutlich alle in der einen oder anderen Form unterstützen – geprägt durch Humanismus, durch das »Nie wieder!« der europäischen Nachkriegszeit, geprägt durch die Aporien des Kalten Krieges und die irgendwie buchstäblich wundersame Erfahrung seiner Überwindung, vielleicht auch geprägt durch eine moderne christliche oder andere religiös kolorierte Ethik –, dieses Ideal wird zunehmend auch aus einer anderen Richtung infrage gestellt. Aus einer Richtung, die wir lange oder eigentlich bis heute in gewissem Sinne als unsere natürlichen Verbündeten wahrgenommen haben und als deren Verbündete wir uns vermutlich alle bis heute betrachten: emanzipatorische soziale Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und andere Netzwerke von Aktivist*innen im sogenannten Globalen Süden, die, ohne das unbedingt mit diesen Worten zu sagen, uns den Spiegel vorhalten, uns in gewisser Weise der kollektiven Heuchelei bezichtigen. In gewissem Sinne fragen sie uns letztlich, ob der Boden, auf dem wir stehen, wenn wir dieses Ideal der Kooperation vor uns hertragen, nicht eigentlich durch unseren Wohlstand und durch eine gewisse globale Dominanz charakterisiert ist, die im Grunde nur durch Jahrhunderte des Kolonialismus und des Imperialismus ermöglicht – und bis heute nicht wirklich überwunden – worden sind.
Der Frieden im Kleinen hängt sehr an den Strukturen im Großen. Ein Zusammenhang der zunehmend gesehen wird. Diese Diskussionen werden als Diskussionen über Gerechtigkeit geführt. In gewissem Sinne sind die Debatten, die wir vielleicht noch aus den späten 1960er bzw. 1970er Jahren kennen, über strukturellen Imperialismus, strukturelle Gewalt, »Dependencia«, wieder zurück auf der Tagesordnung und stehen wieder groß und laut im Raum. Dass bitte kein Missverständnis aufkommt: das ist eine vollkommen andere Fragestellung, als sie der aggressive Chauvinismus, von dem ich gerade gesprochen habe, darstellt. Auch wenn wir uns vielleicht nicht jeden dieser antikolonialen oder postkolonialen Anwürfe zu eigen machen müssen, so müssen wir doch die Fragen, die gestellt werden, unbedingt ernst nehmen.
Es reicht nur ein Blick auf die verheerende Halbzeitbilanz der Agenda 2030 und das Drama der jährlichen Klimaverhandlungen, um zu sehen, dass Vorwürfe, der Westen schaue kollektiv noch immer aus einer Komfortzone auf die Dinge dieser Welt, nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Das Fatale daran ist: Die Chauvinisten von heute zögern keinen Moment, sich auch des antikolonialen Aktivismus zu bedienen, wenn es ihnen opportun erscheint und ihrer Argumentation nützlich ist. So und nur so ist zu erklären, dass Putin manchen als Freiheitskämpfer gegen den Westen gilt oder emanzipatorische Bewegungen zur Befreiung von Frauen aus patriarchalen Unterdrückungsstrukturen Verständnis für den Terror einer radikal antifeministischen Bewegung wie der Hamas äußern.
Trotzdem ist diese antikoloniale Infragestellung eine, der wir uns aussetzen und mit der wir uns unbedingt auseinandersetzen müssen. Weil Frieden eben nicht nur die Abwesenheit von Gewalt ist – das wissen wir alle – sondern weil es am Ende um Frieden und Gerechtigkeit geht. Dieser Aspekt scheint mir der zentrale zu sein, den wir wieder viel mehr in den Blick nehmen müssen. Auch da will ich nicht missverstanden werden: Ich glaube nicht, dass wir sagen können, alle Ungerechtigkeiten in irgendwelchen Konflikten dieser Welt lassen sich auf Kolonialismus zurückführen und dass wir diese hier von unserer Seite beseitigen könnten. Aber die Wahrnehmung, dass der »Westen« in einer Welt massiver globaler Ungerechtigkeit auch in Fragen von Krieg und Frieden eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist, ist weit verbreitet. Aus ihr spricht die Klage über globale Ungerechtigkeit und ein weit verbreiteter Hunger nach Gerechtigkeit.
Die Frage ist daher für mich schon noch mal neu: Wie hängt das Kleine – wie hängt die Friedensförderung vor Ort, die Friedensförderung dort, wo es konkret um Menschen geht, um das Zusammenleben von Gemeinschaften – mit dem Großen zusammen? Wir kennen alle Adornos Frage nach dem „richtigen Leben im Falschen“. Ein Stück weit ist das auch hier die Frage, um die es gehen wird: Hat zivile Krisenprävention wirklich die Kraft, transformierend nicht nur im Hinblick auf die Wahl der Mittel, sondern auch im Hinblick auf strukturell ungerechte Zustände zu wirken? Oder drohen am Ende zivile Mittel doch nur bestehende, vielerorts zunehmend als ungerecht empfundene Zustände zu stabilisieren? Das wäre fatal. Indem ich diese Frage stelle, behaupte ich nicht, dass wir darauf überhaupt keine Antwort geben könnten. Ich bin überzeugt, dass wir das können, aber vor allen Dingen, dass wir das viel umfassender als bisher auch wirklich tun müssen, dass wir diese Diskussion viel offener, viel stärker führen müssen, allerorten und auch gerade öffentlich. Ich meine, wir müssen viel mehr über das »Wozu« des Friedens, der Gewaltlosigkeit, der zivilen Friedensarbeit reden, auch streiten und mit unseren Gesprächspartner*innen in aller Welt dabei das Thema Gerechtigkeit viel stärker in den Vordergrund stellen.
Vielerorts wird ein »legitimacy deficit« von Nachkriegsordnungen empfunden, weil nichts ankommt bei den Menschen oder oftmals nichts ankommt, wenn irgendwo ein scheinbarer Friede erreicht worden ist. Die Gerechtigkeitsfrage, die dahintersteht, muss noch zentraler werden. Und wir müssen uns dann fragen: „Welche Angebote können wir machen?“ Auch in den politischen Raum müssen wir wieder stärker hineinwirken. Dort müssen wir deutlich machen, dass wir als Gesellschaft, als Staat, als Europa viel glaubwürdigere Angebote machen müssen, dass wir diese Gerechtigkeitsfragen viel ernster nehmen müssen, als das im Moment den Eindruck erweckt.
Für die zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung ist das nicht die Aufforderung, alles neu zu erfinden. Aber es geht darum, die Gründe, den Boden, auf dem wir mit diesen Ansätzen stehen stehen, stärker zur Diskussion zu stellen und auch global mit unseren Partnerinnen und Partnern in die Diskussion zu gehen – ein Stück weit auch mit offenem Ausgang. Es ist dann eine Fahrt hinaus aufs offene Meer und ohne Sicherheiten, aber – um jetzt doch mit einer positiven Note zu enden – auch mit der Chance, an neuen Ufern anzukommen.
Anmerkung
1) Fischer, S. (2023): Die chauvinistische Bedrohung: Russlands Kriege und Europas Antworten. Berlin: Econ/Ullstein.
Jörn Grävingholt ist Politikwissenschaftler und leitet seit Sommer 2023 die Abteilung Politik bei Brot für die Welt. Zuvor forschte er am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) in Bonn und war in dieser Zeit viele Jahre im Beirat der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung tätig, von 2011 bis 2018 als dessen Co-Vorsitzender.
»Friedensarbeit verändern«
Ein Projekt der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung
Ganz im Sinne des Mottos »Give Peace a Change!« geht die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung mit ihrem Projekt »Friedensarbeit verändern« notwendigen Fragen nach strukturellem Rassismus und diesen reproduzierenden kolonialen Kontinuitäten in der Zivilen Konfliktbearbeitung und der Friedensarbeit im Größeren nach.
Bis heute sind Rassismen und Diskriminierungen globale Konfliktgegenstände, -ursachen und -treiber, die ein System von Machtungleichgewichten aufrechterhalten und reproduzieren, das die sozialen Hierarchien lokal und global bestimmt (vgl. Roig 2021, Pötter-Jantzen 2021). Dies zeigt sich sowohl in der Zivilen Konfliktbearbeitung im Ausland – beispielsweise in machtgeprägten Nord-Süd-Partnerschaften – als auch in der Konfliktbearbeitung im Inland, wo systematische postkoloniale, rassismus- und machtkritische sowie intersektionale Perspektiven in institutionellen Selbstverständnissen noch als Querschnittsthema verankert werden müssen. Die Dekolonisierung ist von großer Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Friedensarbeit sowie für vertrauensvolle Partnerschaften und die Anerkennung multiperspektivischer Expertisen und Erfahrungen. Voraussetzung dafür ist die Anerkennung der Existenz von Rassismus sowie der aus ihm resultierenden andauernden Machtasymmetrien als eines gesellschaftlichen Konfliktverhältnisses.
Mit ihrem gerade erschienen »Glossar für rassismus- und machtkritisches Denken in der Zivilen Konfliktbearbeitung« bündelt die Plattform ZKB daher zentrale Begriffe und Ansätze im Bereich der Rassismus- und Machtkritik, um so die Debatten in der Zivilen Konfliktbearbeitung darüber zu begleiten, wie rassismus- und machtkritisches Denken in Konzepten, Methoden, Selbstverständnissen und Haltungen der Konfliktbearbeitung gestärkt werden kann.
Das Glossar sowie eine Reflexionshilfe für rassismus- und diskriminierungssensible Veranstaltungen finden sich auf der Webseite des Projekts: pzkb.de/friedensarbeit-veraendern.
Ansprechperson ist Cora Bieß, erreichbar unter cora.biess@pzkb.de
Literatur:
Pötter-Jantzen, M. (2021): Das Ende der weißen Retter. Wege zu einer antirassistischen Friedensarbeit. Forum Weltkirche, 7.11.2021. Online verfügbar unter: forumzfd.de/de/das-ende-der-weissen-retter.
Roig, E. (2021): Why we matter. Das Ende der Unterdrückung. Berlin: Aufbau Verlag.