Komplexe Transformationen voraus

Komplexe Transformationen voraus

Gedanken zur Zivilen Konfliktbearbeitung nach 25 Jahren Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

von Jörn Grävingholt

Herzlichen Dank für die freundliche und erwartungsschürende Einführung. Als erstes darf ich der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung im Namen von Brot für die Welt ganz herzliche Gratulationen aussprechen. Auch wenn ich hierbei auf den Schultern anderer stehe, da insbesondere Martina Fischer als Kollegin von Brot für die Welt für die Plattform weitaus mehr getan hat und weiter tun wird, als ich das je in meinem Leben werde schaffen können. Doch damit möchte ich jetzt auch den institutionellen Hut ablegen. Denn was mich mit dem Thema der Zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung verbindet, hat mit den wenigen Monaten, die ich erst bei Brot für die Welt bin, naturgemäß viel weniger zu tun, als mit den knapp zwei Jahrzehnten, die ich vorher aus wissenschaftlicher Perspektive das Feld beobachten, begleiten und an der einen oder anderen Stelle auch ein bisschen mitbearbeiten durfte. Daher ist was ich jetzt sage, sicherlich mehr Jörn Grävingholt als Brot für die Welt.

25 Jahre Plattform Zivile Konfliktbearbeitung: Zum Glück, sagte ich mir, als ich angefragt wurde, wollen sie nicht, dass ich nur weitere Blumensträuße überbringe, sondern haben sich sehr mutig, wie ich finde, als Frage über diese Veranstaltung geschrieben: „Was muss sich verändern?“ Das finde ich erst mal großartig, auch wenn wir vielleicht alle in diesem Raum – auch nach den Diskussionen, die wir gerade gehört haben, und den Diskussionen, die es früher am Tag gab – das Gefühl haben, dass es ein »Weiter so« ohnehin nicht wird sein können.

Daher habe ich mich zunächst gefragt: Welche Entwicklungen ereignen sich gerade vor unseren Augen, die Veränderungen erfordern? Ich habe mich dabei zunehmend gefragt, ob ich mich jetzt gerade in eine ganz furchtbare Welt hineindenke – und war nun sehr erleichtert, der Paneldiskussion vorhin zu folgen und festzustellen: „Ja, diese Fragen, die ich mir stelle, die stellen sich andere auch“.

Die Rahmenbedingungen, wenn wir in die Welt schauen, sind – glaube ich – allen klar: Gewalt, kriegerische Gewalt hat in den letzten rund zehn Jahren dramatisch zugenommen. Die Zahlen, die uns zur Verfügung stehen, sagen uns, dass wir im letzten Jahrzehnt mehr als doppelt so viele Kriegstote zu beklagen hatten wie in den rund zehn Jahren vorher. Also eine völlig dramatische Entwicklung.

Diese Zahlen sind nicht nur ein statistischer Trend. Ganz abgesehen von dem immensen menschlichen Leid, das hinter diesen Zahlen nur erahnt werden kann – und von dem die meisten in diesem Raum durchaus eine Vorstellung haben dürften –, ganz abgesehen von diesem Leid geht die internationale Gewalteskalation spätestens seit dem 7. Oktober 2023 und der militärischen Reaktion Israels im Gazastreifen auch mit einer Polarisierung öffentlicher Diskurse einher, die wir in dieser Form seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt haben. Vielleicht am ehesten noch vergleichbar mit dem Bruch, den der 11. September 2001 bedeutet hat.

Befördert durch diese Polarisierung beobachten wir auch eine neue Legitimierung von Gewalt als Mittel der Konfliktlösung. Eine höchst beunruhigende Entwicklung, in der Gewalt nicht nur als Mittel der Verteidigung, sondern tatsächlich in vielerlei Hinsicht als ein Mittel der Wahl eingesetzt wird, um angestrebte Ziele zu erreichen. Die Fähigkeit von Gewaltakteuren, Gefolgschaft zu finden für ihr Modell des Kampfes um jeden Preis, hat offensichtlich zugenommen.

Die Polarisierung des politischen Spektrums, die wir seit Jahren mit wachsender Sorge beobachten, wirkt sich auch an dieser Stelle aus: Am extremistischen Ende dieses Spektrums steht ein im Kern zutiefst chauvinistisches Weltbild, wie Sabine Fischer es in brillanter Weise an der Fundierung des Putin’schen Gewaltregimes in Russland analysiert hat, das aber keineswegs auf die Geisteswelt des russischen Präsidenten begrenzt ist.1 Wir beobachten diesen Chauvinismus – in seiner Kombination aus aggressivem Nationalismus, autokratischem Herrschaftsverständnis und tief verwurzelter Misogynie und in seiner mit allen drei Strömungen eng verbundenen maßlosen Gewaltbereitschaft – in vielen populistischen Herrscherfiguren und Herrschaftskasten über den Globus verteilt: in seiner terroristischen Version von den Taliban über den Islamischen Staat bis zur Hamas, in seiner finster diktatorischen Variante von Nordkorea bis Teheran, in seiner »transformativ autoritären« Version bei Erdogan, Modi, Bolsonaro und Xi, in einer noch vom Rechtsstaat eingehegten Variante bei Trump über Kaczynski und Orban bis Netanjahu.

In allen Varianten spielen Mischungen von Gewaltbereitschaft, von aggressivem Nationalismus und oft von einer überraschenden Frauenfeindlichkeit eine große Rolle. Und einzig bei der letztgenannten Variante spielen die rechtsstaatlichen Korrektive noch eine maßgebliche Rolle, wie zuletzt in Warschau beobachtet werden konnte. Aber auch dort sehen wir eben schwere Verheerungen in der politischen Kultur, die diese Entwicklung nach sich zieht. Wir wären blind, würden wir diese Tendenzen in Deutschland nicht auch beobachten. Putschpläne von sogenannten Reichsbürger*innen sind nur ein Beispiel. Gewalt ist in diesem Weltbild nicht der Verrat an den zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit und einzig zur Verhinderung noch größerer Übel, also noch schlimmerer Gewalt legitimiert. Gewalt ist hier vielmehr ein normales Mittel der Zielerreichung und wer sich ihrer nicht bedient, solange er der Stärkere ist, gilt praktisch als »Dummkopf«. Wer sich ihrer nicht bedient, tut dies nur aus taktischen Gründen, weil er sich noch nicht stark genug fühlt und wartet, bis er stark genug geworden ist, um seine Ziele am Ende doch mit Gewalt durchsetzen zu können. (Wenn ich an dieser Stelle oft die maskuline Form verwendet habe, dann ist das kein Zufall.)

Trotzdem ist das sozusagen die einfache Variante. Eine Variante, mit der wir uns politisch-ideologisch relativ einfach auseinandersetzen können.

Doch das Ideal der friedlichen, auf Kooperation statt Gewalt gegründeten Welt, das wir hier in diesem Raum vermutlich alle in der einen oder anderen Form unterstützen – geprägt durch Humanismus, durch das »Nie wieder!« der europäischen Nachkriegszeit, geprägt durch die Aporien des Kalten Krieges und die irgendwie buchstäblich wundersame Erfahrung seiner Überwindung, vielleicht auch geprägt durch eine moderne christliche oder andere religiös kolorierte Ethik –, dieses Ideal wird zunehmend auch aus einer anderen Richtung infrage gestellt. Aus einer Richtung, die wir lange oder eigentlich bis heute in gewissem Sinne als unsere natürlichen Verbündeten wahrgenommen haben und als deren Verbündete wir uns vermutlich alle bis heute betrachten: emanzipatorische soziale Bewegungen, Menschenrechtsorganisationen und andere Netzwerke von Aktivist*innen im sogenannten Globalen Süden, die, ohne das unbedingt mit diesen Worten zu sagen, uns den Spiegel vorhalten, uns in gewisser Weise der kollektiven Heuchelei bezichtigen. In gewissem Sinne fragen sie uns letztlich, ob der Boden, auf dem wir stehen, wenn wir dieses Ideal der Kooperation vor uns hertragen, nicht eigentlich durch unseren Wohlstand und durch eine gewisse globale Dominanz charakterisiert ist, die im Grunde nur durch Jahrhunderte des Kolonialismus und des Imperialismus ermöglicht – und bis heute nicht wirklich überwunden – worden sind.

Der Frieden im Kleinen hängt sehr an den Strukturen im Großen. Ein Zusammenhang der zunehmend gesehen wird. Diese Diskussionen werden als Diskussionen über Gerechtigkeit geführt. In gewissem Sinne sind die Debatten, die wir vielleicht noch aus den späten 1960er bzw. 1970er Jahren kennen, über strukturellen Imperialismus, strukturelle Gewalt, »Dependencia«, wieder zurück auf der Tagesordnung und stehen wieder groß und laut im Raum. Dass bitte kein Missverständnis aufkommt: das ist eine vollkommen andere Fragestellung, als sie der aggressive Chauvinismus, von dem ich gerade gesprochen habe, darstellt. Auch wenn wir uns vielleicht nicht jeden dieser antikolonialen oder postkolonialen Anwürfe zu eigen machen müssen, so müssen wir doch die Fragen, die gestellt werden, unbedingt ernst nehmen.

Es reicht nur ein Blick auf die verheerende Halbzeitbilanz der Agenda 2030 und das Drama der jährlichen Klimaverhandlungen, um zu sehen, dass Vorwürfe, der Westen schaue kollektiv noch immer aus einer Komfortzone auf die Dinge dieser Welt, nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Das Fatale daran ist: Die Chauvinisten von heute zögern keinen Moment, sich auch des antikolonialen Aktivismus zu bedienen, wenn es ihnen opportun erscheint und ihrer Argumentation nützlich ist. So und nur so ist zu erklären, dass Putin manchen als Freiheitskämpfer gegen den Westen gilt oder emanzipatorische Bewegungen zur Befreiung von Frauen aus patriarchalen Unterdrückungsstrukturen Verständnis für den Terror einer radikal antifeministischen Bewegung wie der Hamas äußern.

Trotzdem ist diese antikoloniale Infragestellung eine, der wir uns aussetzen und mit der wir uns unbedingt auseinandersetzen müssen. Weil Frieden eben nicht nur die Abwesenheit von Gewalt ist – das wissen wir alle – sondern weil es am Ende um Frieden und Gerechtigkeit geht. Dieser Aspekt scheint mir der zentrale zu sein, den wir wieder viel mehr in den Blick nehmen müssen. Auch da will ich nicht missverstanden werden: Ich glaube nicht, dass wir sagen können, alle Ungerechtigkeiten in irgendwelchen Konflikten dieser Welt lassen sich auf Kolonialismus zurückführen und dass wir diese hier von unserer Seite beseitigen könnten. Aber die Wahrnehmung, dass der »Westen« in einer Welt massiver globaler Ungerechtigkeit auch in Fragen von Krieg und Frieden eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist, ist weit verbreitet. Aus ihr spricht die Klage über globale Ungerechtigkeit und ein weit verbreiteter Hunger nach Gerechtigkeit.

Die Frage ist daher für mich schon noch mal neu: Wie hängt das Kleine – wie hängt die Friedensförderung vor Ort, die Friedensförderung dort, wo es konkret um Menschen geht, um das Zusammenleben von Gemeinschaften – mit dem Großen zusammen? Wir kennen alle Adornos Frage nach dem „richtigen Leben im Falschen“. Ein Stück weit ist das auch hier die Frage, um die es gehen wird: Hat zivile Krisenprävention wirklich die Kraft, transformierend nicht nur im Hinblick auf die Wahl der Mittel, sondern auch im Hinblick auf strukturell ungerechte Zustände zu wirken? Oder drohen am Ende zivile Mittel doch nur bestehende, vielerorts zunehmend als ungerecht empfundene Zustände zu stabilisieren? Das wäre fatal. Indem ich diese Frage stelle, behaupte ich nicht, dass wir darauf überhaupt keine Antwort geben könnten. Ich bin überzeugt, dass wir das können, aber vor allen Dingen, dass wir das viel umfassender als bisher auch wirklich tun müssen, dass wir diese Diskussion viel offener, viel stärker führen müssen, allerorten und auch gerade öffentlich. Ich meine, wir müssen viel mehr über das »Wozu« des Friedens, der Gewaltlosigkeit, der zivilen Friedensarbeit reden, auch streiten und mit unseren Gesprächspartner*innen in aller Welt dabei das Thema Gerechtigkeit viel stärker in den Vordergrund stellen.

Vielerorts wird ein »legitimacy deficit« von Nachkriegsordnungen empfunden, weil nichts ankommt bei den Menschen oder oftmals nichts ankommt, wenn irgendwo ein scheinbarer Friede erreicht worden ist. Die Gerechtigkeitsfrage, die dahintersteht, muss noch zentraler werden. Und wir müssen uns dann fragen: „Welche Angebote können wir machen?“ Auch in den politischen Raum müssen wir wieder stärker hineinwirken. Dort müssen wir deutlich machen, dass wir als Gesellschaft, als Staat, als Europa viel glaubwürdigere Angebote machen müssen, dass wir diese Gerechtigkeitsfragen viel ernster nehmen müssen, als das im Moment den Eindruck erweckt.

Für die zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und Friedensförderung ist das nicht die Aufforderung, alles neu zu erfinden. Aber es geht darum, die Gründe, den Boden, auf dem wir mit diesen Ansätzen stehen stehen, stärker zur Diskussion zu stellen und auch global mit unseren Partnerinnen und Partnern in die Diskussion zu gehen – ein Stück weit auch mit offenem Ausgang. Es ist dann eine Fahrt hinaus aufs offene Meer und ohne Sicherheiten, aber – um jetzt doch mit einer positiven Note zu enden – auch mit der Chance, an neuen Ufern anzukommen.

Anmerkung

1) Fischer, S. (2023): Die chauvinistische Bedrohung: Russlands Kriege und Europas Antworten. Berlin: Econ/Ullstein.

Jörn Grävingholt ist Politikwissenschaftler und leitet seit Sommer 2023 die Abteilung Politik bei Brot für die Welt. Zuvor forschte er am German Institute of Development and Sustainability (IDOS) in Bonn und war in dieser Zeit viele Jahre im Beirat der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung tätig, von 2011 bis 2018 als dessen Co-Vorsitzender.

»Friedensarbeit verändern«

Ein Projekt der Plattform Zivile Konfliktbearbeitung

Logo Projekt Friedensarbeit

Ganz im Sinne des Mottos »Give Peace a Change!« geht die Plattform Zivile Konfliktbearbeitung mit ihrem Projekt »Friedensarbeit verändern« notwendigen Fragen nach strukturellem Rassismus und diesen reproduzierenden kolonialen Kontinuitäten in der Zivilen Konfliktbearbeitung und der Friedensarbeit im Größeren nach.

Bis heute sind Rassismen und Diskriminierungen globale Konfliktgegenstände, -ursachen und -treiber, die ein System von Machtungleichgewichten aufrechterhalten und reproduzieren, das die sozialen Hierarchien lokal und global bestimmt (vgl. Roig 2021, Pötter-Jantzen 2021). Dies zeigt sich sowohl in der Zivilen Konfliktbearbeitung im Ausland – beispielsweise in machtgeprägten Nord-Süd-Partnerschaften – als auch in der Konfliktbearbeitung im Inland, wo systematische postkoloniale, rassismus- und machtkritische sowie intersektionale Perspektiven in institutionellen Selbstverständnissen noch als Querschnittsthema verankert werden müssen. Die Dekolonisierung ist von großer Bedeutung für die Glaubwürdigkeit der Friedensarbeit sowie für vertrauensvolle Partnerschaften und die Anerkennung multiperspektivischer Expertisen und Erfahrungen. Voraussetzung dafür ist die Anerkennung der Existenz von Rassismus sowie der aus ihm resultierenden andauernden Machtasymmetrien als eines gesellschaftlichen Konfliktverhältnisses.

Mit ihrem gerade erschienen »Glossar für rassismus- und machtkritisches Denken in der Zivilen Konfliktbearbeitung« bündelt die Plattform ZKB daher zentrale Begriffe und Ansätze im Bereich der Rassismus- und Machtkritik, um so die Debatten in der Zivilen Konfliktbearbeitung darüber zu begleiten, wie rassismus- und machtkritisches Denken in Konzepten, Methoden, Selbstverständnissen und Haltungen der Konfliktbearbeitung gestärkt werden kann.

Das Glossar sowie eine Reflexionshilfe für rassismus- und diskriminierungssensible Veranstaltungen finden sich auf der Webseite des Projekts: pzkb.de/friedensarbeit-veraendern.

Ansprechperson ist Cora Bieß, erreichbar unter cora.biess@pzkb.de

Literatur:

Pötter-Jantzen, M. (2021): Das Ende der weißen Retter. Wege zu einer antirassistischen Friedensarbeit. Forum Weltkirche, 7.11.2021. Online verfügbar unter: forumzfd.de/de/das-ende-der-weissen-retter.

Roig, E. (2021): Why we matter. Das Ende der Unterdrückung. Berlin: Aufbau Verlag.

Queering Peacebuilding

Queering Peacebuilding

von E. Irem Akı

In den wichtigsten Dokumenten, die internationales Peacebuilding leiten, wird das Geschlecht auf die cis- und heterosexistische Norm von Mann und Frau beschränkt. Auch wenn die Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit« die spezifischen diskriminierenden Auswirkungen von Gewalt auf Frauen benennt und die Notwendigkeit anerkennt, patriarchale Normen zu bekämpfen, scheinen sich Theorie und Praxis des Peacebuilding immer noch mit einer größeren Vielfalt geschlechtsspezifischer Erfahrungen schwer zu tun. Dieser Text will das Potenzial queerer Theoriebildung für Peacebuilding knapp darstellen und die positiven Erfahrungen erörtern, die mit der Einbeziehung von vielfältigen SOGIESC im kolumbianischen Friedensprozess gemacht wurden.

In den letzten zwei Jahrzehnten wurde und wird viel Arbeit zum Thema »Gender« im Bereich und in der Praxis des Peacebuilding geleistet. Allerdings haben geschlechtsspezifische Erfahrungen jenseits der Fokussierung auf Frauen und die Gewalt, der Personen mit unterschiedlichen »sexuellen Orientierungen« und »Genderidentitäten«, »Gender Expressions« und »Geschlechtsmerkmalen« (­SOGIESC)1 ausgesetzt sind, und ihr Beitrag zum Frieden noch nicht genügend Raum im Bereich des Peacebuilding gefunden (Hagen 2020). Dasselbe gilt für den Bereich der Transitional Justice (siehe Akı in Vorbereitung).

Obwohl sich die Forschung und die Praxis von Peacebuilding auf ein sehr begrenztes Verständnis von Geschlecht konzentrieren, das im Allgemeinen durch eine cis- und heterosexuelle Frau verkörpert wird, dokumentiert eine wachsende Zahl von Berichten, dass Menschenrechtsverletzungen gegen Personen mit verschiedenen SOGIESC überall auf der Welt begangen werden. Aufgrund dieser Dokumentationsbemühungen ist es nun offensichtlich, dass es auch in Zeiten von bewaffneten Konflikten, Bürgerkriegen und erzwungener Migration zu solchen Übergriffen kommt (Zea et al. 2013; Moore und Barner 2017; Daigle und Myrttinen 2018; Serrano-Amaya 2018; Maier 2019). Darüber hinaus sind Personen mit verschiedenen SOGIESC nicht nur mit Gewalt von Konfliktparteien und Soldat*innen konfrontiert, sondern auch mit der ihrer eigenen Familien und Verwandten im täglichen Leben, vor, während und nach dem Konflikt (Daigle und Myrttinen 2018).

Daher muss auch die auf SOGIESC bezogene Gewalt in die Praxis der Friedenskonsolidierung mit einbezogen werden, um sie angemessen zu verstehen, darauf zu reagieren und zu verhindern. Wie feministische Wissenschaftler*innen im Bereich der Friedenskonsolidierung und der Transitional Justice gezeigt haben, sind Frauen jedoch sowohl Kriegsopfer als auch Kämpferinnen. Ebenso können Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC nicht nur Opfer von Krieg und Konflikt sein, sondern auch Kämpfer*innen (Daigle und Myrttinen 2018). Die Einbeziehung einer queeren Perspektive in Studien zur Friedensförderung vermeidet den Ausschluss dieser Positionen und unterschiedlichen Erfahrungen und trägt zu einem umfassenderen Verständnis der Gewaltdynamiken und der Möglichkeiten des Peacebuilding bei.

In den letzten Jahren haben Wissenschaftler*innen das Feld und die Praxis des Peacebuilding daher auch zunehmend durch eine queere Betrachtung dafür kritisiert, dass sie keine vielfältigere Perspektive einschließt (Hagen 2020, 2016; Ritholtz et al. 2023; Daigle und Myrttinen 2018). Parallel dazu und teilweise als Reaktion auf diese Kritik ist mittlerweile ein wachsendes Interesse an der Literatur zu Transitional Justice zu verzeichnen, die versucht, eine queere Perspektive in das Feld einzubeziehen (Fobear 2014; Fobear und Baines 2020; Bueno-Hansen 2018; Schulz 2019; Schulz und Touquet 2020; Schulz et al., in Vorbereitung). Etwa zeitgleich mit diesen Entwicklungen im Bereich der Friedensförderung haben sich »Transgender Studies« allmählich zu einem bedeutenden eigenständigen akademischen Bereich entwickelt. Darüber hinaus deuten Forschungsarbeiten der »Transgender Studies« und ein gesellschaftlich zunehmendes Bewusstsein für die Pluralisierung der Geschlechter (Monro 2020) darauf hin, dass eine queere Perspektive im Bereich des Peacebuilding nötig wird.

Was bedeutet Queering?

Auch wenn es nicht einfach ist, den Begriff queer zu definieren, beschreibt Jagose queer als „jene Gesten oder analytischen Modelle, die Inkohärenzen in den vermeintlich stabilen Beziehungen zwischen chromosomalem Geschlecht, Gender und sexuellem Begehren dramatisieren. Queer widersetzt sich diesem Stabilitätsmodell – das die Heterosexualität als ihren Ursprung behauptet, obwohl sie eher ihr Effekt ist – und konzentriert sich auf die Diskrepanzen zwischen Sex, Gender und Begehren“ (Jagose 1996, S. 3). Das primäre Ziel einer auf queerer Theorie basierenden Friedensförderung ist es, das Bewusstsein für Begehren jenseits von Heterosexualität, für Geschlechter jenseits der Binarität und für die Pluralität und Intersektionalität der verschiedenen SOGIESC zu schärfen.

Bei einem Peacebuilding, das durch eine solche queere Theoriebildung angereichert ist, geht es dann eben nicht nur darum, Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC als Opfer zu sehen, sondern sie auch als aktive Teilnehmer*innen am Peacebuilding ernst zu nehmen. Ausgehend von diesem Grundsatz versucht queeres Peacebuilding, queere und trans Perspektiven im Bereich der Friedensförderung zu berücksichtigen. Darüber hinaus stützt es sich auf queere Epistemologien, die infrage stellen, wie Frieden für wen konstituiert wird, und um das Konzept des Friedens in der Theorie und Praxis des Peacebuildings entsprechend neu zu artikulieren. Kurz gesagt, queeres Peacebuilding bezieht sich nicht nur darauf, Personen mit unterschiedlichen SOGIESC in die Theorie und Praxis der Friedensförderung einzubeziehen. Es geht darum, cis-heterosexistische Normen im Bereich der Friedensförderung zu hinterfragen (Ritholtz et al. 2023). Wie Ritholtz, Serrano-Amaya, Hagen und Judge (2023) argumentieren, hat queeres Peacebuilding vier Dimensionen. Es (1) dokumentiert den Beitrag von Queer-Aktivismus zur Friedensförderung; (2) stellt die Frage, was Frieden für Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC bedeutet; (3) trägt die transformative Kraft einer Inklusion von queeren Personen in die Friedensprozesse hinein; und (4) »queert« die »Women, Peace, Security«-Agenda. In Bezug auf die letzte Dimension hat das Konzept der queeren Friedensförderung großes Potenzial. Es kann queere Geschichten mit feministischen Geschichten verbinden und zu Versuchen beitragen, die Agenda »Frauen, Frieden und Sicherheit« (WPS) – ein wichtiger Raum, der Geschlechterperspektiven in das Ringen um Frieden und Sicherheit einbringt – queersensibler zu machen.

Queering der Agenda »Frauen, Frieden, Sicherheit«

Am 31. Oktober 2000 verabschiedete der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen einstimmig die Resolution 1325 (siehe Otto 2014, Meinzolt 2018). Die Resolution ist wichtig, da es sich um das erste Dokument zum Verhältnis Frauen, Frieden und Sicherheit handelt.

„Die Resolution besteht aus vier Säulen: 1) Die Rolle der Frauen bei der Konfliktprävention, 2) die Beteiligung von Frauen an der Friedenskonsolidierung, 3) der Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen während und nach Konflikten und 4) die spezifischen Bedürfnisse von Frauen während der Repatriierung, der Wiederansiedlung und bei der Rehabilitation, der Reintegration und dem Wiederaufbau nach Konflikten.“ (UNDPPA o.J.)

Es folgten mehrere weitere UN-Resolutionen. Insgesamt gibt es zehn Resolutionen, die in zwei Gruppen unterteilt werden können:

„Die erste Gruppe, die mit der Resolution 1325 eingeleitet wurde und auf die die Resolutionen SCR 1889 (2009), SCR 2122 (2013), SCR 2242 (2015) und SCR 24932019) folgten, befasst sich kurz gesagt mit der Notwendigkeit einer aktiven und wirksamen Beteiligung von Frauen an der Friedensschaffung und Friedenskonsolidierung. Die zweite Gruppe konzentriert sich auf die Verhütung und Bekämpfung von konfliktbezogener sexueller Gewalt (CRSV). Die erste Resolution zu CRSV, SCR (1820), wurde 2008 verabschiedet. Darin wird anerkannt, dass sexuelle Gewalt, wenn sie als Kriegstaktik eingesetzt wird, den Konflikt erheblich verschärfen und eine Bedrohung für den internationalen Frieden und die Sicherheit darstellen kann. Seit 2008 wurden vier weitere Resolutionen zu CRSV verabschiedet: SCR 1888 (2009), SCR 1960 (2010), SCR 2106 (2013) und SCR 2467 (2019).“ (ebd.)

Angesichts der fehlenden oder begrenzten Beteiligung von Frauen an Friedensprozessen und -verhandlungen ist dies eine sehr wichtige Entwicklung. Die WPS-Agenda erkennt jedoch nur die Erfahrungen von cis- und heteronormativen Frauen und ihre Beiträge zur Friedensförderung an. Die Behandlung der von Konflikten Betroffenen als Mitglieder einer homogenen Gruppe führt zum Ausschluss derjenigen Erfahrungen, die nicht in diese Gruppe passen (Stavrevska und Smith 2020). Ein solch enges Verständnis von Geschlecht ignoriert offensichtlich diejenigen, die von Gewalt aufgrund von SOGIESC betroffen waren. So verhindert die cis-privilegierende und heteronormative Architektur des WPS-Ansatzes, dass die Erfahrungen von Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC gesehen und anerkannt werden – die Gewalt, die sie erfahren haben, und insbesondere die Gewalt, die sie aus sich überschneidenden Gründen (»Intersektionalität«) erfahren haben (Hagen 2016). Eine intersektionale2 Analyse legt die Erfahrungen und Stimmen von Identitäten offen, die normalerweise von anderen, allgemeineren Identitäten überdeckt werden. Das heißt, Gewalt gegen nicht-binäre, trans, schwule oder lesbische Personen wird üblicherweise als Gewalt gegen Frauen oder Männer verstanden. Die Beschäftigung mit einer bestimmten Form von Gewalt, während andere Formen ignoriert werden, verschleiert die Tatsache, dass Gewalt in verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen, politischen, religiösen und nationalen Umfeldern entsteht (Fobear 2014; Daigle und Myrttinen 2018). Wie feministische Wissenschaftler*innen der Transitional Justice gezeigt haben, ist Gewalt zudem nicht auf Kriegs- und Konfliktzeiten beschränkt, sondern existiert sowohl davor als auch danach. Daher ist es wichtig, das Kontinuum der Gewalt zu berücksichtigen und alle Formen von Gewalt und Herrschaft während und nach dem Konflikt ganzheitlich anzuerkennen (Sigsworth und Valji 2012). Darüber hinaus führt die Nichtanerkennung der Erfahrungen diverser SOGIESC-Personen als Opfer dazu, dass Gewalt, Trauma und Ausgrenzung fortbestehen. In diesem Sinne ist der Schutz und die Anerkennung verschiedener SOGIESC „ein Schritt zum Abbau hegemonialer Normen des Patriarchats, der rassistischen Hierarchisierug, der Ungleichheit, des Sexismus und des Heterosexismus, unabhängig davon, ob sie durch Kolonialisierung, staatliche Unsicherheit oder Bürgerkrieg entstanden sind“ (Fobear 2014, S. 53).

Queerness und der kolum­bianische Friedensprozess

LGBTIQ+-Organisationen zu Friedensgesprächen und -prozessen gezielt mit einzuladen kann ein angereichertes Friedensverständnis hervorlocken, das von den Bedürfnissen, Forderungen und Erfahrungen der diversen SOGIESC geprägt ist. Darüber hinaus kann die Post-Konflikt-Phase eine Gelegenheit bieten, eingefahrene heteronormative Normen aktiv zu verändern, die zu Ausgrenzung, Diskriminierung und Gewalt gegen Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC führen (Hagen 2020).

Der kolumbianische Friedensprozess stellt eine wichtige und einzigartige Erfahrung dar, da es sich bislang um das einzige Unterfangen handelt, bei dem Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC in den Friedensprozess aktiv mit einbezogen wurden. LGBTIQ+-Organisationen nahmen gemeinsam mit Frauenorganisationen an den Verhandlungen teil. Darüber hinaus wurde nicht nur sexuelle Gewalt gegen cis- und heterosexuelle Frauen, sondern auch gegen Menschen mit verschiedenen SOGIESC anerkannt. Das Friedensabkommen nahm auch eine intersektionale Perspektive ein und erkannte die Besonderheiten der Beschwerden und Erfahrungen von Afrokolumbianer*innen, indigenen Gemeinschaften, Menschen mit verschiedenen SOGIESC, Frauen, politischen und religiösen Minderheiten und Menschen mit Behinderungen an (Daşlı, Alıcı und Poch Figueras 2018).

Dieses praktische Beispiel verdeutlicht die transformativen Folgen einer queeren Friedensförderung. Um einen nachhaltigen Frieden zu erreichen, der den Abbau von Gewalt, Ungleichheit und Ungerechtigkeit bedeutet, sollte das Peacebuilding daher seinen Horizont erweitern, indem Verletzungen aufgrund von SOGIESC berücksichtigt werden und der Beitrag von Menschen mit unterschiedlichen SOGIESC sowie der Beitrag des LGBTIQ+-Aktivismus zur Friedensförderung mit einbezogen wird.

Anmerkungen

1) Eine kurze Anmerkung zur Terminologie: Anstelle von LGBTIQ+ ziehe ich es vor, die Begriffe »sexuelle Orientierung, Genderidentität, Gender Expression und Geschlechtsmerkmal« zu verwenden. In diesem Punkt folge ich den Argumenten von Daigle und Myrittinen (2018). Erstens umfasst das Akronym LGBTIQ+ nicht alle Kategorien jenseits des heteronormativen Systems. Zweitens wird das Akronym LGBTIQ+ nicht universell verwendet, sondern hauptsächlich im Westen. Drittens haben zwar alle Menschen eine sexuelle Orientierung und Genderidentität, aber der Begriff LGBTIQ+ bezieht sich auf bestimmte Gruppen. Die Definition für SOGIESC stammt aus den Yogyakarta-Prinzipien: „Unter sexueller Orientierung versteht man die Fähigkeit eines jeden Menschen, sich zu Personen eines anderen oder desselben oder mehrerer Geschlechter emotional, emotional und sexuell hingezogen zu fühlen und mit ihnen intime und sexuelle Beziehungen zu unterhalten. Die Genderidentität bezieht sich auf das tief empfundene innere und individuelle Erleben des Genders jeder Person, das mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmen kann oder auch nicht, einschließlich des persönlichen Körpergefühls (das, wenn frei gewählt, eine Veränderung des Aussehens oder der Funktion des Körpers durch medizinische, chirurgische oder andere Mittel beinhalten kann) und anderer Ausdrucksformen des Geschlechts, einschließlich Kleidung, Sprache und Manierismen“ (Yogyakarta-Prinzipien 2006, S. 6, Fußnote 1 und 2). Der Ausdruck des Genders bezieht sich auf „die Darstellung des Genders jeder Person durch ihre körperliche Erscheinung, einschließlich Kleidung, Frisuren, Accessoires, Kosmetika – und Manierismen, Sprache, Verhaltensmuster, Namen und persönliche Bezüge“ und „kann mit der Genderidentität einer Person übereinstimmen oder nicht“ (Yogyakarta-Prinzipien plus 10 2017, S. 6). Geschlechtsmerkmale sind „die körperlichen Merkmale einer Person in Bezug auf das Geschlecht, einschließlich der Genitalien und anderer sexueller und reproduktiver Anatomie, Chromosomen, Hormone und sekundärer körperlicher Merkmale, die sich in der Pubertät entwickeln“ (ebd.).

2) Der Begriff wurde von der amerikanischen Rechtswissenschaftlerin Kimberlé Crenshaw geprägt. Crenshaw vertrat die Auffassung, dass die Erfahrungen Schwarzer Frauen unsichtbar werden, wenn »race« und Geschlecht getrennt betrachtet werden bzw. Herrschaftsformen nur einseitig betrachtet werden. Dadurch werde die spezifische Diskriminierung, der Schwarze Frauen aufgrund der Überschneidung zweier verschiedener Formen von Herrschaft ausgesetzt sind, verborgen gehalten. Um dies zu erklären, verwendet sie die Metapher der Kreuzung im Straßenverkehr, die veranschaulicht, wie sich verschiedene Linien der Herrschaft kreuzen, überschneiden oder ineinander verschlingen (Crenshaw 1989).

Literatur

Akı, E. I. (im Erscheinen): Linking a Queer Legal Theoretical Perspective and Transitional Justice: Challenges and Possibilities. In: Schulz, P.; Hamber, B.; Touquet, H. (Hrsg.): Masculinities and Queer Perspectives in Transitional Justice. Cambridge: Intersentia.

Bueno-Hansen, P. (2018): The Emerging LGBTI Rights Challenge to Transitional Justice in Latin America. International Journal of Transitional Justice 12(1), S. 126-145.

Crenshaw, K. (1989). Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics. The University Of Chicago Legal Forum 1, S. 139-167.

Daigle, M.; Myrttinen, H. (2018): Bringing Diverse Sexual Orientation and Gender Identity (SOGI) into Peacebuilding Policy and Practice. Gender and Development 26(2), S. 103-120.

Daşlı, G.; Alıcı, N.; Poch Figueras, J. (2018): Peace and Gender: The Colombian Peace Process. Ankara: Demos.

Fobear, K. (2014): Queering Truth Commissions. Journal of Human Rights Practice 6(1), S. 51-68.

Fobear, K.; Baines, E. (2020): Pushing the Conversation Forward: The Intersections of Sexuality and Gender Identity in Transitional Justice. The International Journal of Human Rights 24(4), S. 307-312.

Hagen, J. J. (2016): Queering Women, Peace and Security. International Affairs 92(2), S. 313-332.

Hagen, J. J. (2020): LGBTQ Perspectives in Peacebuilding. In: Richmond, O.; Visoka, G. (Hrsg.): The Palgrave Encyclopedia of Peace and Conflict Studies. Cham: Palgrave MacMillan.

Jagose, A. (1996): Queer Theory. An Introduction. New York: New York University Press.

Maier, N. (2019): Queering Colombia’s Peace Process: A Case Study of LGBTI Inclusion. International Journal of Human Rights 24(4), S. 1-16.

Meinzolt, H. (2018): UN-Resolution 1325 in Deutschland. W&F 3/2018, S. 25-27.

Monro, S. (2020): Sexual and Gender Diversities: Implications for LGBTQ Studies. Journal of Homosexuality 67(3), S. 315-324.

Moore, M. W.; Barner, J.R. (2017): Sexual Minorities in Conflict Zones: A Review of the Literature. Aggression and Violent Behavior 35, S. 33–37.

Otto, M. (2010): UN-Resolution 1325 – Frauen, Frieden, Sicherheit Bilanz und Perspektiven. Wissenschaft und Frieden 4/2010, S. 24-28.

Ritholtz, S.; Serrano-Amaya, J.F.; Hagen, J.J.; Judge, M. (2023): Under Construction: Toward a Theory and Praxis of Queer Peacebuilding. Revista de Estudios Sociales 83(3), S. 3-22.

Schulz, P. (2019): Towards Inclusive Gender in Transitional Justice: Gaps, Blind-Spots and Opportunities. Journal of Intervention and Statebuilding 14(5), S. 691-710.

Schulz, P.; Hamber, B.; Touquet, H.; Messmer, G. (im Erscheinen): Introduction: Masculinities and Queer Perspectives in Transitional Justice.” In: Schulz, P.; Hamber, B.; Touquet, H. (Hrsg.): Masculinities and Queer Perspectives in Transitional Justice. Cambridge: Intersentia.

Schulz, P.; Touquet, H. (2020): Queering Explanatory Frameworks for Wartime Sexual Violence against Men. International Affairs 5(1), S. 1169-1187.

Serrano-Amaya, J.F. (2018): Homophobic Violence in Armed Conflict and Political Transition. Basingstoke: Palgrave MacMillan.

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Stavrevska, E. B.; Smith, S. (2020): Intersectionality and Peace. In: Richmond, O.; Visoka, G. (Hrsg.): The Palgrave Encyclopedia of Peace and Conflict Studies. Cham: Palgrave MacMillan.

The Yogyakarta Principles (2006): The Yogyakarta Principles on the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation and Gender Identity. Online unter: yogyakartaprinciples.org.

The Yogyakarta Principles plus 10 (2017): The Yogyakarta Principles plus 10 Additional Principles and State Obligations on the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation, Gender Identity, Gender Expression and Sex Characteristics to Complement the Yogyakarta P. Online unter: yogyakartaprinciples.org/principles-en/yp10.

UN Department of Political and Peacebuilding Affairs (UNDPPA) (o.J.): Women, Peace and Security. Homepage, dppa.un.org.

Zea, M.C. et al. (2013): Armed Conflict, Homonegativity and Forced Internal Displacement: Implications for HIV among Colombian Gay, Bisexual and Transgender Individuals. Cultural, Health&Sexuality 15(7), S. 788-803.

E. Irem Akı arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Juristischen Fakultät der Universität Ankara, Abteilung für Rechtsphilosophie und -soziologie. Ihre Forschungsinteressen und Veröffentlichungen umfassen Übergangsjustiz, transformative Gerechtigkeit, Friedensförderung, feministische und Queer-Theorie sowie die Rechtsprechung von Lon L. Fuller.

Aus dem Englischen übersetzt von David Scheuing.

Schritte Richtung Frieden

Schritte Richtung Frieden

Fünf Vorschläge zum Krieg gegen die Ukraine

von Werner Wintersteiner

In der Ukraine kämpfen die Menschen verzweifelt gegen die übermächtige russische Armee, die die Zivilbevölkerung nicht schont, Städte dem Erdboden gleichmacht und schreckliche Kriegsverbrechen begeht. Die USA, die NATO und viele europäische Staaten haben ihrerseits Russland den „totalen wirtschaftlichen und Finanzkrieg“1 erklärt, liefern ständig neues Kriegsmaterial und spielen vor unseren Augen das verlogene Stück des humanitären Militarismus. Die Gefahr eines Atomkriegs ist enorm gestiegen. Welchen Ausweg gibt es aus dieser Katastrophe?

Der Ukraine-Krieg müsste für alle, die ernsthaft etwas zu seiner Überwindung beitragen möchten, zunächst ein Anlass zur Selbstkritik sein. Das gilt auch für Friedensforschung und Friedensbewegung: Haben wir die Situation nicht falsch eingeschätzt? Sind wir nicht von der Brutalität der russischen Kriegsführung überrascht? Haben wir angesichts unserer berechtigten und nach wie vor notwendigen Kritik an der Expansionspolitik der NATO als Konfliktfaktor nicht eine ebenso differenzierte Kritik der russischen Politik oft vernachlässigt? Haben wir uns ausreichend bemüht, ein geopolitisches Gesamtbild zu zeichnen? Hat sich die Friedensforschung nicht zu sehr in Detailfragen verstrickt und damit die große Gesamtfrage des Weltfriedens aus den Augen verloren? Haben wir geopolitische Rivalitäten der Großmächte, die Weltkriegsgefahr, die Emanzipationskämpfe des Globalen Südens, die Klimakatastrophe, die Covid-19-Pandemie usw. ausreichend als Phänomene einer Polykrise dargestellt, aus der es friedenspolitische Auswege braucht?

Nun hat der Krieg selbst neue Realitäten geschaffen, die Fronten und die Gefühle verhärtet und unermesslichen Schaden für alle angerichtet. Und wir beobachten auch bei uns eine verstörende Aufrüstung der Kriegsarsenale und der Seelen. Vollkommene Simplifizierungen des komplexen Konflikts werden als fundierte Analysen verkauft. Die breite Solidarität mit den Geflüchteten ist vielleicht die einzige positive Entwicklung. Sie zu stärken und längerfristig zu erhalten ist eine wichtige Aufgabe der Zivilgesellschaft. Doch darüber hinaus muss an Schritten hin zum Frieden gearbeitet werden. Dazu fünf Vorschläge.

1. Gewaltfreie Strategien im Konflikt unterstützen und propagieren

Es gilt, die bestehenden gewaltfreien Widerstandsaktivitäten in der Ukraine wie auch in Russland und Belarus nach Kräften zu unterstützen und bei uns bekannt zu machen (vgl. McCarthy 2022). In ihrer berechtigten Gegenwehr gegen die russische Aggression setzt die ukrainische Regierung ganz auf den militärischen Widerstand und offensichtlich kann sie sich dabei auf eine breite Mehrheit der Bevölkerung stützen. Das heißt aber nicht, dass es nicht auch gewaltfreie Aktionen gibt, über die bei uns allerdings nur sporadisch und ohne ihren Zusammenhang darzustellen berichtet wird (siehe dazu den Beitrag von Stadtmann in diesem Heft, S. 15). Bei allem Respekt vor dem Recht der ukrainischen Bevölkerung, selbst zu entscheiden, wie sie ihre Verteidigung gestaltet, ist es doch die Aufgabe der Friedensforschung, mit ihrem Wissen und ihren Einschätzungen an diesen Konflikt heranzugehen. Dazu gehört nicht zuletzt die Erkenntnis vom strategischen Wert gewaltfreier Aktionen, wie er etwa in dem inzwischen klassischen Buch »Why Civil Resistance Works« von Maria Stephan und Erica Chenoweth (2011) nachgewiesen wird. In dieser Studie über 100 Jahre »regime change« wird nachgewiesen, dass Gewaltfreiheit deutlich erfolgreicher und nachhaltiger als ein bewaffneter Aufstand ist, wenn es um die Überwindung diktatorischer Regimes geht. Dabei kommen Methoden wie öffentlicher Protest, Mahnwachen, Sit-ins, Blockaden, Streiks oder Ziviler Ungehorsam zum Einsatz. Das entspricht zwar nicht direkt der heutigen Situation der Ukraine, wo derzeit der Widerstand gegen eine ausländische Invasion im Vordergrund steht, dennoch behalten viele Erkenntnisse der Forschung über Gewaltfreiheit ihre Gültigkeit.

Beide Autorinnen arbeiten auch seit einigen Jahren mit Friedenskräften in der Ukraine zusammen (Kroc Institute 2022). Und Organisationen wie die 2019 gegründete »Ukrainische Pazifistische Bewegung« haben den Mut, sich gegen die herrschende Stimmung zu wenden, die Kriegslogik prinzipiell abzulehnen und sich für die derzeit unpopuläre friedliche Lösung einzusetzen. Yurii Sheliazhenko, Sekretär der Bewegung und Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung, stellt sich mit allen Kräften gegen die russische Invasion, aber er sieht auch den größeren Kontext, in dem die Ukraine als Schlachtfeld in der Konkurrenz zwischen den USA und Russland dient (Democracy Now 2022).

Wenn heute Ukrainer*innen auf Gewaltfreiheit setzen, verfolgen sie damit mehrere Ziele: Zunächst geht es darum, die militärische Invasion zu verlangsamen und zu stören. Ferner sollen Zivilist*innen geschützt, Gewalt gegen sie soll hintangehalten und Zeit gewonnen werden, die ihnen eine Flucht ermöglicht. Den russischen Streitkräften und der Bevölkerung in Russland soll die Illegitimität ihres Krieges bewusst gemacht werden, und das Desertieren russischer Soldaten ist ein erklärtes Ziel. Letztlich kann wohl nur Widerstand in Russland selbst auf die Dauer eine Verhaltensänderung des Putin-Regimes bewirken. Aber noch immer ist die Mehrheit der russischen Bevölkerung von Putins Argument, er müsse sich gegen die Aggression des von Faschisten geführten Nachbarstaates wehren, mehr oder minder überzeugt.2 Deswegen ist es auch sehr wichtig, die sehr mutigen und beharrlichen Proteste in Belarus und Russland zu unterstützen.

2. Kritik der »Aufrüstung der Seelen«

Auch wenn der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion berechtigt ist, müssen wir uns vor Augen halten, dass das Land systematisch Kriegspropaganda betreibt und wir fast ausschließlich seine Sichtweise vermittelt bekommen. Doch je härter der Krieg geführt wird, je mehr der jeweilige Gegner dämonisiert wird, desto schwieriger wird es, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Das gilt auch für das Klima bei uns. Alle Konfliktparteien, auch die jeweiligen Feinde, dürfen nicht dämonisiert, sondern müssen wieder re-humanisiert werden. Das betrifft die Sprache, das Etikettieren des Anderen und die gewählten Narrative. Und das führt zu kritischen Fragen, ob es wirklich sinnvoll ist, auch alle kulturellen und kommunikativen Kontakte zu Russland abzubrechen.

3. Zivilgesellschaftliche Dialoge zwischen den »Feinden«

Die zivilgesellschaftliche Konfliktbearbeitung darf nicht unterschätzt werden. So schlägt Sheliazhenko eine „unabhängige öffentliche Kommission von Expert*innen“ (Sheliazhenko 2022) zur Mediation in diesem Krieg vor. Doch der Frieden in der Ukraine ist kein Sprint, sondern ein Marathonlauf. Politische Vereinbarungen werden für einen dauerhaften Frieden nicht ausreichen. Es bedarf auch eines gesellschaftlichen Dialogs innerhalb der Ukraine wie zwischen der Ukraine und Russland. Die Zivilgesellschaft kann dazu wichtige Kommunikationskanäle schaffen bzw. tut dies bereits. Auch die von Herbert C. Kelman entwickelten »Interactive Problem Solving Workshops« (Kelman 2017) auf Track 2 oder auch auf Track 3 Ebene könnten dazu als Modell genommen werden. Sie sind ein Weg, in einer geschützten Atmosphäre intellektuelle Energien für kreative Lösungen freizusetzen.

4. Kritik der Militarisierung unserer Gesellschaften

Massives Aufrüsten, Stärkung der NATO und ein offener Militarismus sowie ökonomische Abkoppelung von Russland – das ist die »Lehre«, die die politische Klasse unisono aus dem Krieg zieht. Aber die Welt wird durch ein neues Wettrüsten sicher nicht friedlicher. Die hektischen Rufe nach mehr Waffen lenken auch davon ab, genauer zu untersuchen, warum Putin keinen großen Widerstand von EU und NATO erwartet hat. Grund war nicht eine unzulängliche Bewaffnung, sondern Putin hat gesehen, wie leicht es war, die politische Klasse und führende Wirtschaftskapitän*innen in Europa in sein System einzubinden und damit zu korrumpieren. Schließlich wurde ja auch die heute bedauerte Abhängigkeit Westeuropas von fossiler Energie aus Russland nach der Besetzung der Krim und der Ausrüstung der Rebell*innen im Donbas noch verstärkt. Statt einer Rüstungsspirale und Militarisierung brauchen wir vielmehr die politische Entschlossenheit, die Demokratie mit demokratischen Mitteln zu verteidigen.

5. Langfristige Friedensperspektiven für ganz Europa

Ausrüstung der Ukraine mit immer mehr und effizienteren Waffen, flankiert von einem »totalen Wirtschaftskrieg«, der Russland isolieren und seine Wirtschaft nahezu lahmlegen soll; die Reduzierung Russlands auf einen Paria-Staat, wie Joe Biden forderte (Dreisbach 2022) – das ist die rein militärische Logik, die die USA und die westlichen Staaten verfolgen. Aber wie soll das je in einen Friedensschluss münden? Ein zerrüttetes, atombewaffnetes Riesenreich Russland wäre sicher kein Beitrag zu einem stabilen Frieden. Die Grundidee jeder Friedenslösung, eine Lösung für alle beteiligten Seiten, rückt ganz aus dem Blickwinkel.

Die gewaltfreie Option denkt hingegen über den unmittelbaren Konflikt hinaus und bezieht den komplexen Gesamtkontext ein. Dazu gehört auch ein Nachdenken darüber, wie wir dazu beitragen können, die afrikanische Lebensmittelkrise abzufedern, die durch diesen europäischen Krieg ausgelöst wird. Und die Kritik an der Konflikteskalation durch die NATO, ohne deswegen Putins Russland aus seiner Verantwortung für diesen Krieg zu entlassen. Eine langfristige Friedensoption sollte nicht nur eine neutrale Position der Ukraine enthalten, sondern sie braucht eine größere europäische Lösung. Alle Anstrengungen sollten darauf gerichtet werden, heute das zu schaffen, was nach 1989 versäumt wurde, nämlich eine europäische Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Es wäre die Verwirklichung dessen, was Michail Gorbatschow mit dem schönen Bild vom „gemeinsamen europäischen Haus“ intendiert hat.

So bleibt festzuhalten: „Um den Krieg zu stoppen ist es wichtig, den Diskurs der Angst zu überwinden zugunsten eines Diskurses der Hoffnung für eine bessere Zukunft. Denn die Angst führt zu Gewalt, die Hoffnung aber zu Frieden“ (Sheliazhenko 2022).

Anmerkungen

1) So der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire am 1.3.2022 (zitiert nach: Le Monde Diplomatique (franz. Ausgabe), April 2022, S. 28).

2) Eine Umfrage in Russland im März 2022, die nach Alter und Informationskanälen für die Urteilsfindung der Interviewten fragt, kommt zu folgendem Ergebnis: Die Unterstützung für Putins Krieg steigt rasant mit dem Alter und der damit assoziierten ausschließlichen Nutzung staatlicher Informationsquellen: von nur 29 % unter den 18- bis 24-Jährigen zu 72 % unter den Russen über 51 Jahren (Aleksashenko 2022).

Literatur

Aleksashenko, S. (2022): What do polls say? Behind the Iron Curtain Blog, 13.3.2022.

McCarthy, E. (2022): 5 ways to support courageous nonviolent resistance in Ukraine. Waging Nonviolence, 5.3.2022.

Chenoweth, E.; Stephan, M. J. (2011): Why civil resistance works. The strategic logic of nonviolent conflict. New York: Columbia University Press.

Democracy Now (2022): Ukrainian pacifist in Kyiv: Reckless militarization led to this war. All sides must recommit to peace. Interview mit Yurii Sheliazhenko. 1.3.2022.

Kroc Institute (2022): Civil resistance in Ukraine and the region. Webinar vom 22.3.2022.

Sheliazhenko, Y. (2022): Putin, Biden and Zelenskyy, take peace talks seriously! Videobeitrag auf YouTube, 7.3.2022.

Kelman, H. C. (2017): Resolving deep-rooted conflicts. Essays on the theory and practice of interactive problem-solving. Hrsg. von Werner Wintersteiner und Wilfried Graf. London: Routledge.

Dreisbach, S. (2022): „Putin wird ein Paria sein auf internationaler Bühne“. FAZ, 24.02.2022.

Werner Wintersteiner, Univ.-Prof. i.R. Dr., ist Gründer und ehemaliger Leiter des Zentrums für Friedensforschung und Friedensbildung an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt.

Eine längere Fassung dieses Beitrages ist Anfang April auf dem Blog von W&F erschienen: Wintersteiner, W. (2022): Der unterschätzte Widerstand. 6.4.2022.

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Nicht anerkennen, nicht kooperieren

Soziale Verteidigung in militärisch eroberten Städten

von Ulrich Stadtmann

Soziale Verteidigung ist ein nicht-militärisches Verteidigungskonzept. Es beruht auf zivilem Widerstand, dynamischer Weiterarbeit ohne Kollaboration und internationaler nicht-militärischer Unterstützung, wie z.B. Sanktionen. Letzteres findet im Ukrainekrieg neben militärischen Maßnahmen statt. Spontaner ziviler Widerstand zeigt sich dort oftmals in militärisch besetzen Städten. Angesichts einer nicht auszuschließenden Ausweitung des Krieges auch auf NATO-Staaten stellt sich für demokratische Gesellschaften die Frage, inwieweit z.B. Städte mit ihrer Zivilbevölkerung in militärische Kampfhandlungen einbezogen oder besser durch Soziale Verteidigung geschützt werden sollen.

In diesem Winter eskalierte die Lage in Europa durch den Truppenaufmarsch Russlands an den ukrainischen Grenzen und mündete am 24. Februar 2022 im Angriffskrieg gegen die ganze Ukraine. Dagegen verteidigt sie sich militärisch und hat damit eine schnelle Besetzung der Hauptstadt Kiew verhindert. Auch weitere Städte werden durch das nationale Militär verteidigt. Einige wurden eingekesselt, andere auch militärisch eingenommen. Für die Menschen in den belagerten Städten ist die Versorgungslage katastrophal. Zum Leben und Überleben braucht es Nahrung, Wasser, Wohnungen, Strom, Heizung und Krankenhäuser. Wenn eine Stadt im Kriegsverlauf zur Ruine wird, in der die Menschen umkommen, ist dort das zerstört, was verteidigt werden soll.

In den Städten der Ukraine, die von Russland besetzt sind, geht der Widerstand jedoch weiter. Es gibt die Bilder von zivilem Widerstand mit Demonstrationen auf Straßen und Plätzen.1 Dort erleben die russischen Truppen täglich, dass sie nicht erwünscht sind. Ihre propagandistisch geprägte Selbstwahrnehmung, sie seien zur Befreiung gekommen, zerbricht an der Wirklichkeit. Ebenso wie die militärische Verteidigung zielt auch der zivile Widerstand auf die Schwächung der Kampfmoral der russischen Truppen und soll auf Russland insgesamt einwirken.

Städte als Zellen des zivilen Widerstands

Das primäre Ziel Russlands scheint trotz der massiven Raketenangriffe nicht zu sein, Städte in Ruinenlandschaften zu verwandeln; vermutlich sollte eigentlich die Beherrschung der Ukraine angestrebt werden. Deshalb müsste die russische Regierung ein Interesse daran haben, möglichst funktionierende Städte zu kontrollieren. Die Zerstörung der Städte ist dann eher ein Kollateralschaden, der sich aus dem militärischen Kampf ergibt, aber sie wird auch gezielt zur Einschüchterung der Bevölkerung betrieben. Mit der militärischen Besetzung einer Stadt ist jedoch noch nicht die Kontrolle über sie erreicht (vgl. Verschwele 2022). Dazu ist die Besatzung auf die Stadtverwaltung, den Handel und die Wirtschaftsunternehmen sowie die Unterstützung durch deren Personal angewiesen. Auf diesen Voraussetzungen beruht Soziale Verteidigung: Eine Zusammenarbeit fände nur soweit statt, wie sie für die Lebensgrundlagen einer Stadt und die Interessen der Bevölkerung erforderlich ist.

In der Sozialen Verteidigung wird diese von Theodor Ebert entwickelte Idee als „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration“ (Ebert 1981) bezeichnet und geht über die öffentlichen Proteste des zivilen Widerstands auf Straßen und Plätzen hinaus. Die Lebensmittelversorgung und die Müllabfuhr, aber auch Polizei und Justiz, Kindergärten und Schulen werden gebraucht und sollten aufrecht erhalten werden. Nach dem Vorbild früherer historischer Fälle von Widerstand gegen Besatzung (z.B. Norwegen im 2. Weltkrieg und Finnland als Teil Russlands vor dem 1. Weltkrieg) strebt Soziale Verteidigung aber danach, alles weiter so auszuführen, wie es schon vor dem Krieg selbstbestimmt gemacht wurde.

Schon vor über 100 Jahren gab es von 1899 bis 1905 in Finnland, das seit 1809 eine autonome Region Russlands war, verschiedene Formen des zivilen Widerstands. „Der Widerstand war gewaltfrei und seine Grundsätze waren: ‚nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten‘. Aus Protest gegen die Russifizierungspolitik des Zaren Nikolaus II. führten viele Beamte die Befehle des russischen Generalgouverneurs nicht aus“ (Hänninen, zitiert nach Arajärvi 2022, S. 3). Reetta Hänninen hat sich in ihrer Masterarbeit über diese Ereignisse auf Akten der Ordnungspolizei der russischen Verwaltung gestützt. Für die Vorsitzende des Bund für Soziale Verteidigung (BSV) Outi Arajärvi, die die Arbeit auf deutsch zusammenfasste, ähnelte dieser Widerstand sehr der Sozialen Verteidigung: „Von überall im Lande gab es Berichte über ungehorsame, widerspenstige und aufsässige Beamte der Post, Zoll, Verwaltung, Banken und Eisenbahn. Befehle wurden missdeutet, missachtet oder das Gegenteil wurde ausgeführt“ (ebd., S. 5).

Jede moderne Stadt- oder auch Staatsverwaltung kann jeden Tag bestens ohne neue Beschlüsse eines Stadtrates oder auch lange Zeit ohne eine neue Regierung arbeiten, wie in Zeiten einer lang andauernden Regierungsneubildung immer wieder zu sehen ist. Also versucht sie, unter einer Besatzung weiter gemäß den alten Grundlagen zu arbeiten und widersetzt sich allen neuen Anordnungen. Die Absetzung oder der Austausch einer Stadtregierung wird keine Herrschaft im Sinne der Besatzer*innen schaffen, wenn sie auf breiten Widerstand stoßen. Denn dann müssen sie auch auf untergeordneten Ebenen dafür sorgen, ihre Befehle durchzusetzen. Das erfordert personalintensive direkte Auseinandersetzungen von Mensch zu Mensch, bei denen das Besatzungsregime mit einer weiteren Demoralisierung seiner Truppen rechnen muss, denn sie werden immer wieder damit konfrontiert, dass sie als Besatzer*innen nicht erwünscht sind.

Wie schwierig es ist, eine Stadt zu beherrschen, die sich im zivilen Widerstand befindet, drückt sich aktuell wohl auch im folgenden Beispiel aus: In der besetzten ukrainischen Stadt Melitopol sollte der festgenommene Bürgermeister zur Kollaboration gezwungen werden, musste aber letztlich wieder freigelassen werden und wurde gegen neun gefangene russische Soldaten der Jahrgänge 2002 und 2003 ausgetauscht (vgl. Gnauck 2022). Die militärische Kapitulation einer Stadt bedeutet deshalb in keiner Weise das Ende des Widerstands. Es ist vielmehr der Wechsel von einer militärischen Kampfform, die in erster Linie ein Territorium verteidigt, zu einer Verteidigung des sozialen Gefüges einer städtischen Zivilgesellschaft.

Nach dem Völkerrecht wäre es auch möglich, eine Stadt zur »Offenen Stadt« zu erklären, die nicht militärisch verteidigt wird und deshalb nicht bombardiert werden darf. Diese Schutzfunktion sollte völkerrechtlich auch auf Städte ausgeweitet werden, die sich nur mit zivilem Widerstand ohne Kollaboration verteidigen.

Soziale Verteidigung klar von militärischen Kampfhandlungen trennen

Die Soziale Verteidigung zielt darauf ab, vorrangig das Leben der Zivilbevölkerung und die Infrastruktur einer Stadt zu schützen und darauf aufbauend durch zivilen Widerstand die Kosten für das angreifende Regime in die Höhe zu treiben. Einerseits soll es möglichst keinen Nutzen aus der Besetzung ziehen können und andererseits einen hohen Personaleinsatz zu finanzieren haben. Damit soll das Regime Gefahr laufen, durch eine Demoralisierung seiner eigenen Truppen vor Ort und an der »Heimatfront« den bisherigen Machtbereich aufs Spiel zu setzen. Es muss damit rechnen, dass seine Machtbasis gespalten wird und ein Umsturz droht, so dass es letztlich nichts hinzugewonnen, sondern alles verloren hat.

Ein solches Kosten-Nutzen-Kalkül kann durch internationale Sanktionsmaßnahmen im Rahmen eines nicht-militärischen Eingreifens unterstützt werden, wie es derzeit vor allem durch die Länder der EU und der NATO praktiziert wird. Die Sanktionen treffen jedoch nicht nur die Verantwortlichen des Aggressors – und diese vielleicht noch am wenigsten. Sie beeinträchtigen vor allem die Zivilbevölkerung und zudem noch die Bevölkerung nicht beteiligter Länder, z.B. durch Nahrungsmittelknappheit. Deshalb sollten sie zum einen zielgerichtet sein, um die Kriegsmaschinerie ins Stocken zu bringen. Zum anderen muss klar gegenüber den einflussreichen Kreisen und der Bevölkerung in Russland signalisiert werden, dass die Beeinträchtigungen aufgehoben werden, sobald die russischen Truppen aus der Ukraine abgezogen werden. Sanktionen sollen keine Bestrafungsaktionen sein. Sie sollten vielmehr darauf angelegt sein, einen positiven Anreiz zu geben und dazu beitragen, den Krieg zu beenden.

Die nicht-militärischen Maßnahmen sowohl in der Ukraine als auch international finden derzeit parallel zur militärischen Verteidigung statt, die vom Ausland mit Waffenlieferungen unterstützt wird. Zudem scheinen zur ukrainische Verteidigung auch militärische Kampfhandlungen in den besetzten Gebieten zu gehören (vgl. FAZ 2022). Hierbei kann dann eine durchaus problematische Überschneidung mit dem zivilen Widerstand entstehen. Zwar dürfte die Besatzung es schwer haben, Kollaborierende zu finden und sie als Marionetten einzusetzen, weil sie damit zur Zielscheibe für bewaffnete Widerstandskämpfer*innen werden. Andererseits werden auch die zivilen Kämpfer*innen leichter zu militärischen Zielscheiben, wenn Soldat*innen sich nicht sicher sein können, ob die Zivilbevölkerung nur als Deckung für eine Guerilla genutzt wird, die gegen sie agiert. Eine klare Trennung der Bereiche, in denen militärisch operiert wird, von denen des zivilen Widerstands ist deshalb eine wichtige Grundlage für Soziale Verteidigung.

Im Kalten Krieg des letzten Jahrhunderts wurde die Ergänzung einer militärischen Landesverteidigung um eine Soziale Verteidigung der Städte im Rahmen von Konzepten defensiver Verteidigung diskutiert. Die dänische Regierung hatte zu Beginn der 70er Jahren eine Studie in Auftrag gegeben über die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung (Boserup und Mack 1974). Litauen hat schon 1991 zivilen Widerstand in seine Militärstrategie aufgenommen und im Jahr 2016 als NATO-Mitglied erneuert. Dabei wurden auch zwei Handbücher über die »Formen und Grundsätze des zivilen Widerstands« im Rahmen der Landesverteidigung herausgegeben (vgl. Bartkowski 2021).

Nach der Erfahrung des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine lässt sich auch ein Krieg auf NATO-Gebiet nicht ausschließen, der zumindest zu Beginn konventionell geführt und hoffentlich nicht auf die atomare Ebene eskalieren würde. Ein Atomkrieg in Mitteleuropa würde alles zerstören, was verteidigt werden soll. Das gilt aber für einen konventionellen Krieg in den Städten und dicht besiedelten Gebieten mit ihrer Industrie ebenso. Mindestens in diesen Bereichen sollte deshalb besser eine Soziale Verteidigung vorbereitet werden.

Nichtkooperieren will gelernt sein

Im Jahr 1988 trafen sich über 1.000 Menschen zu einem Kongress über Soziale Verteidigung. Der aus dem Kongress hervorgegangene Bund für Soziale Verteidigung (BSV) veranstaltete 30 Jahre später erneut eine Tagung über Soziale Verteidigung. Die Geschäftsführerin Christine Schweitzer stellte dazu fest, dass „seit dem bewaffneten Konflikt in der Ukraine 2014 […] zunehmend wieder von der Gefahr eines Krieges in Europa gesprochen“ wird (BSV 2018, S. 6). Angesichts dieser Situation hielt sie es für notwendig, wieder zu überlegen „was ohne Gewalt getan werden kann, falls Prävention und Konfliktbearbeitung versagen und es zum Schlimmsten kommt“ (BSV 2018, S. 28).

Das Gründungsmitglied des BSV und der Grünen Roland Vogt erinnerte auf derselben Tagung an seine Forderung aus der Gründungsphase des BSV zu Beginn der 90er Jahre nach einem »Ministerium für Abrüstung, Konversion und Soziale Verteidigung« (BSV 2018, S. 9). Ein solches Ministerium hätte sicherlich das Wissen um die Möglichkeiten von Sozialer Verteidigung institutionell verankert, bis hinunter auf die lokale Ebene einer jeden Stadt. Auch wenn Soziale Verteidigung spontan angewendet werden kann, wäre eine gedankliche und praktische Vorbereitung sicherlich sinnvoll.

Neben Protestformen, die die Größe des Widerstands zeigen und den Zusammenhalt stärken sollen, müsste die im Konzept der Sozialen Verteidigung angelegte „Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration (Ebert 1981) treten, die das alltägliche Handeln der Menschen an den Arbeitsstellen leiten soll. Es wäre das Gegenteil von Streik, den es nur in den Bereichen gäbe, die dem Aggressor dienen. Ein entsprechendes »Manöver« könnte in Stadtverwaltungen von Städten durchgeführt sowie wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden, um daraus Handlungsempfehlungen für den »Ernstfall« zu erhalten. Bisher wurde darüber nicht nachgedacht, weil kaum jemand mit der Möglichkeit der Wiederkehr eines Krieges nach Mitteleuropa gerechnet hat. Angesichts der zerstörten Städte in der Ukraine auf der einen Seite und der besetzten Städte auf der anderen, stellt sich jedoch auch in Deutschland die Frage, mit welchen Verteidigungsformen die eigene Stadt geschützt werden soll. Die Städte, die sich für eine Soziale Verteidigung aussprechen, wären besonders geeignet für die Durchführung solch exemplarischer Übungen in Sozialer Verteidigung.

Potential ziviler Widerstandsbereitschaft nutzen

Ein Jahr nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in den Separatistengebieten hatte das Internationale Soziologische Institut in Kiew eine repräsentative Umfrage in der Ukraine durchgeführt zur Frage, wie die Menschen handeln wollen, wenn es zu einem Angriff auf ihre Stadt und zu deren Besetzung käme. Ein Drittel wusste keine Antwort, 15 % wollten fliehen, 25 % wollten sich militärisch wehren und mehr als 25 % sprachen sich für zivilen Widerstand aus (Bartkowski 2021). Eine derart hohe zivile Kampfbereitschaft bietet ein Potential, das bisher bei allen Verteidigungsplanungen ungenutzt bleibt.

In der Ukraine entscheidet derzeit eher der Zufall des Kriegsverlaufs darüber, ob eine Stadt militärisch besetzt wird und es zu spontanem zivilen Widerstand kommt, wie in Cherson, oder ob eine Stadt belagert und zerstört wird, wie Mariupol. Ein Einwohner Chersons wurde am 24. März mit den Worten zitiert: „Niemand hier wolle so leben wie in Mariupol (Verschwele 2022).

Die Frage, wie die eigene Stadt verteidigt wird, sollte die Zivilbevölkerung demokratischer Staaten vor einem Krieg diskutieren, um die Entscheidung darüber nicht später allein den Militärs zu überlassen. Die Debatte darüber, die eigene Stadt durch Soziale Verteidigung zu schützen, muss jetzt geführt werden und nicht erst, wenn man von einem Krieg im eigenen Land überrascht wird.

Anmerkung

1) Siehe dazu die Sammlung an Beispielen auf der Homepage des Bund für Soziale Verteidigung: soziale-verteidigung.de/artikel/ziviler-widerstand-gegen-krieg-ukraine.

Literatur

Arajärvi, O. (2022): Nicht gehorchen, nicht anerkennen, nicht zusammenarbeiten. „Passiver Widerstand“ in Finnland Anfang des 20. Jh. Hintergrund- und Diskussionspapier No. 78. Minden: Bund für Soziale Verteidigung.

Bartkowski, M. (2021): Ukrainians vs. Putin. Potential for nonviolent civilian-based defense. Minds of the Movement Blog, International Center on Nonviolent Conflict, 27.12.2021.

Boserup, A.; Mack, A. (1974): Krieg ohne Waffen? Studie über Möglichkeiten und Erfolge sozialer Verteidigung. Reinbek: Rowohlt Verlag.

Bund für Soziale Verteidigung (BSV) (Hrsg.) (2018): Schnee von gestern oder Vision für Morgen – Neue Wege Sozialer Verteidigung? Dokumentation der BSV-Jahrestagung, April 2018. Erschienen als Hintergrund- und Diskussionspapier No. 58. Minden: BSV.

Ebert, Th. (1981): Dynamische Weiterarbeit ohne Kollaboration. Graswurzel Revolution 56/1981, S. 28-30.

FAZ (2022): Ukrainer melden Teilrückzug russischer Verbände. FAZ online, 25.03.2022 (aktualisiert: 05:51 Uhr).

Gnauck, G. (2022): „Ich bitte die ganze Ukraine um Entschuldigung“. FAZ, 19.03.2022.

Verschwele, L. (2022): Leben in Cherson unter russischer Herrschaft – Ihre Stadt ist besetzt – aber sie sind nicht besiegt. Der Spiegel, 24.03.2022.

Ulrich Stadtmann ist Dipl. Politologe und Vorstandsmitglied im Bund für Soziale Verteidigung (BSV).

Friedensarbeit braucht Begleitung

Friedensarbeit braucht Begleitung

oder „How to face the mess we’re in without going crazy?!“1

von Daniela Pastoors

Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensfachkräfte – und letztlich wir alle. Was hilft uns dabei, uns den Krisen der Menschheit zu stellen? Wie können wir mit den Gefühlen umgehen, die dabei entstehen? Daniela Pastoors forscht dazu, wie Fachkräfte im ­Zivilen Friedensdienst psychosozial begleitet werden, und überträgt ihre Erkenntnisse in diesem Essay auf weitere gesellschaftliche Bereiche.

Wenn wir uns die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaften und als Menschheit stehen, tatsächlich vor Augen führen – statt die Augen vor ihnen zu verschließen –, dann können wir davon überwältigt werden. Wir erkennen, wie riesig, wie umfassend und wie existentiell die Krisen sind, in denen wir uns befinden und mit welcher Geradlinigkeit wir auf den Abgrund zusteuern. Das Zulassen dieser Erkenntnisse macht uns fassungslos. Und das kann uns alle betreffen:

  • die Klimaaktivistin, die mitansehen muss, wie der lebendige Wald um sie herum abgeholzt wird;
  • den Sozialarbeiter, der täglich feststellt, wie massiv Armut auch in Deutschland die Lebenschancen von Menschen beeinträchtigt;
  • die Forscherin, die sich über Jahrzehnte damit auseinandersetzt, wie viele Arten auf dem Planeten für immer aussterben;
  • den Bürgerrechtler, der nach Jahrhunderten von Sklaverei weiter miterleben muss, dass Schwarze Leben nicht zählen und einfach ausgelöscht werden;
  • die Pflegerin, die unter der Last der Arbeit und dem Nie-genug-tun-Können zusammenbricht;
  • den Großvater, der insgeheim daran zweifelt, ob seine Enkel überhaupt noch eine lebenswerte Zukunft haben werden;
  • die ZFD-Fachkraft, die angesichts von gewaltsamen Konflikten die Hoffnung verliert…

… diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Wenn wir der Bedrohung und Zerstörung ins Auge blicken, rollen Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung über uns hinweg. Wir haben Angst davor, selbst in den Abgrund zu stürzen. Genau deshalb verschließen wir uns sehr häufig vor diesen Gefühlen, verdrängen sie – und damit auch die Erkenntnisse über die Tragweite der Herausforderungen. Wir stecken den Kopf in den Sand, weil wir es nicht ertragen können. Weil die Probleme riesig und unüberwindbar erscheinen. Weil wir glauben, nicht mit dieser enormen Last umgehen zu können. Weil wir Angst haben, daran zu zerbrechen.

Was braucht es also dafür, dass wir uns trauen, den Kopf aus dem Sand zu ziehen, der Realität ins Gesicht zu schauen und uns einzugestehen, was passiert? Was brauchen wir, um trotz, wegen und aus der Existentialität der Situation heraus zu handeln – uns der Bedrohung und Zerstörung entgegenzustellen und uns trotz aller Widrigkeiten weiter für das Leben einzusetzen? Vermutlich beantworten wir diese Fragen alle unterschiedlich. So verschieden unsere Strategien sein mögen, so ist doch eines klar: Langfristig geht es nicht allein. Deshalb ist meine These, dass wir Begleitung brauchen. Jede und jeder einzelne von uns.

Psychosoziale Begleitung in der Friedensarbeit

Das Handlungsfeld, mit dem ich mich in meiner Forschung beschäftigt habe, ist der Zivile Friedensdienst (ZFD). Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst haben die Aufgabe, Friedensprozesse zu begleiten (vgl. Pastoors 2021). Nicht sie selbst sind die »Macher*innen des Friedens«, sondern ihr Fokus liegt darauf, lokale Friedensakteur*innen in verschiedenen Ländern der Welt dabei zu unterstützen, Konflikte nachhaltig und gewaltfrei zu transformieren.2 So einfach sich diese beschreibenden Sätze lesen, so wenig trivial ist doch das Grundverständnis, das darin zum Ausdruck kommt. Wenn Frieden nicht als ferner Zustand sondern als alltäglicher Prozess begriffen wird, zu dem Konflikte dazugehören und diese wiederum sowohl Risiken als auch Chancen in sich tragen, hat das Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Konflikttransformation unterstützt werden kann. Das Vertrauen in den Prozess selbst und besonders in die Akteur*innen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten, die Konflikttransformation selbst zu gestalten, bildet die Basis für einen externen Beitrag, der keine Techniken anwendet, »Rezepte« verordnet und Lösungen liefert, sondern in Beziehung geht, einen Rahmen gestaltet und vorhandenes Wissen hervorlockt. In diesem Sinne sind ZFD-Fachkräfte in erster Linie Begleiter*innen.

Dieses transformative Paradigma der Konfliktbearbeitung, das mit einer elizitiven3 Haltung einhergeht, stellt gleichzeitig spezifische Anforderungen an Fachkräfte, die Wandlungsprozesse auf diese Weise unterstützen wollen. Der Blick auf Friedensarbeit als Beziehungsarbeit verdeutlicht, dass Friedensfachkräfte nicht nur viele Kompetenzen brauchen, um diese Beziehungen zu gestalten, sondern, dass Reflexionsräume notwendigerweise zur professionellen Friedenspraxis dazugehören müssen. Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensarbeiter*innen. Aufgrund der komplexen Herausforderungen ihrer Tätigkeiten und ihrer vielschichtigen Rollen brauchen sie neben speziellen Fähigkeiten, fundiertem Wissen und einer ausgeprägten Haltung auch Möglichkeiten, um diese zu erwerben, anzuwenden und zu reflektieren. Zugleich gilt es, die anspruchsvolle Kunst der Friedensarbeit zu meistern, ohne sich selbst dabei aus dem Blick zu verlieren. Unterschiedliche Elemente der psychosozialen4 Personalbegleitung bieten ihnen dafür Gelegenheit.

Die Forschung hat sich diesem Themenbereich bisher wenig gewidmet. Entweder beschränkte sie sich auf Fragen der Personalgewinnung, Qualifizierung und Vorbereitung (vgl. Schüssler und Thiele 2012, Schweitzer 2009, Sell 2006), oder es standen Aspekte des Sicherheits- und Krisenmanagements und die gesundheitlichen Risiken und psychischen Folgen von Auslandseinsätzen im Fokus.5 Zudem bewegte sich der Diskurs oftmals im Kontext der »Duty of Care«, der Fürsorgepflicht der Organisationen für ihre Mitarbeitenden in Auslandsprojekten, sodass primär Haftungsfragen diskutiert wurden (z. B. Merkelbach 2017). Auch wenn immer wieder auf die Bedeutung von Unterstützungsmaßnahmen für das Auslandspersonal verwiesen wurde, legen nur sehr wenige Studien den Fokus darauf. Die Praxis der »Staff Care« (organisationale Fürsorge für Mitarbeitende) ist bisher nur in wenigen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit untersucht.6

In meiner Dissertation habe ich daher den Fokus auf die Frage gelegt, wie Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst unterstützt und psychosozial begleitet werden. Dafür habe ich eine Bestandsaufnahme der Personalbegleitung im ZFD durchgeführt und untersucht, durch welche Begleitelemente Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst vor, während und nach der Dienstzeit unterstützt werden. In meiner Erhebung habe ich die Gesamtheit aller ZFD-Organisationen in den Blick genommen und sowohl die Perspektiven von (ehemaligen) ZFD-Fachkräften selbst, als auch die von Mitarbeitenden der Geschäftsstellen und von begleitenden Coaches bzw. Supervisor*innen mit einbezogen.

Neben den Elementen und Angeboten der Personalbegleitung, die im Zentrum meiner Forschung standen, habe ich auch die Anliegen und Herausforderungen beleuchtet, die diese notwendig machen. Zudem habe ich Empfehlungen und Wünsche der Akteur*innen für die Weiterentwicklung der Personalbegleitung zusammengetragen und analysiert, welche Bedürfnisse dahinter stehen und welche Spannungsfelder sich in diesem Kontext zeigen. Um den Transfer in die Praxis zu ermöglichen, habe ich die Erkenntnisse der Forschung als »Lessons Learned« zusammengefasst und aufbereitet.

Insgesamt habe ich eine Vielzahl an Begleitpraktiken zu Tage gefördert: angefangen bei der Erstellung von Begleitkonzepten im Vorfeld, über Supervision und kollegiale Beratung während der gesamten Zeit bis hin zu Rückkehrseminaren für alle. Die Organisationen begleiten die Fachkräfte dabei einerseits selbst und mit Hilfe von Dritten (z. B. Trainer*innen), andererseits sind die Fachkräfte sich gegenseitig eine Stütze und organisieren manche Unterstützung selbst. Die vorhandene Fülle und Vielfalt der Begleitelemente offenzulegen und die Sichtweisen verschiedener Beteiligter darauf zu berücksichtigen, ist ein wesentlicher Beitrag meiner Forschung.7 Gleichzeitig ist nicht nur von Bedeutung, was angeboten und genutzt wird, sondern das Hauptaugenmerk liegt darauf, wie die Begleitung konzipiert, ausgestaltet und gelebt wird: im besten Falle bedürfnisorientiert, barrierearm, emanzipatorisch, ganzheitlich und elizitiv – so wie wir uns auch Friedensarbeit wünschen.

Darin zeigt sich auch, dass es nicht nur um die Implementierung einzelner Maßnahmen, sondern um einen Kulturwandel geht – von einer »Duty of Care«, die Fürsorge als Pflicht zur rechtlichen Absicherung begreift, hin zu einer »Culture of Care«, die eine umfassende Kultur und eine Haltung der individuellen und gemeinschaftlichen Fürsorge wachsen lässt. Mit dem Blick der »Culture of Care« wird deutlich, dass persönliches, kollektives und globales Wohlergehen Hand in Hand gehen. Denn eine »Culture of Care« ist zugleich Teil einer »Culture of Peace«8 und (Personal-)Begleitung trägt zu einer Kultur des Friedens bei.

Kultur der Fürsorge für alle?

Doch wie lassen sich diese Erkenntnisse auf uns alle übertragen? Meine Forschung im ZFD zeigt, dass die vielfältigen Begleit­elemente und Unterstützungsangebote nicht nur in schweren Krisen, sondern auch bei der alltäglichen Reflexion der Arbeit hilfreich sind und die Friedensarbeiter*innen davor bewahren können, den Kopf in den Sand zu stecken. Sie können durch die Begleitung den Mut behalten, sich weiterhin den Bedrohungen und Zerstörungen entgegenzustellen – und statt auszubrennen, können sie sich selbst, die Menschen in ihrem Umfeld und schließlich auch ihre Arbeit stärken. Hierin liegen wichtige Anreize für viele weitere Bereiche der Gesellschaft und die Erkenntnisse lassen sich auf unterschiedlichste Handlungsfelder übertragen.9

Kommen wir also zurück zu uns und zu den eingangs genannten Personenkreisen. Wie könnte Begleitung in diesen Kontexten aussehen? Stellen wir es uns konkret vor.

  • (Klima-)Aktivist*innen ermutigen sich durch individuelle und kollektive Resilienzstrategien gegenseitig und sorgen dafür, dass ihre Bewegungen wirksamer und nachhaltiger werden, weil sie aus den Gefühlen Kraft schöpfen können.
  • Sozialarbeiter*innen vernetzten sich, erkämpfen mit Hilfe von Interessenvertretung und Gewerkschaft bessere Arbeitsbedingungen und schaffen sich auf politischer Ebene Gehör, um auch die Wurzeln sozialer Problemlagen angehen zu können.
  • Wissenschaftler*innen führen Forschungssupervision ein, so dass sie endlich Räume für den Umgang mit den Nebenwirkungen haben, die ihre oftmals erschreckenden Forschungsergebnisse auf sie selbst haben.
  • Bürgerrechtler*innen weltweit gestalten öffentliche Trauerrituale, damit nicht nur die Wut ihren Ausdruck findet, sondern auch die Verzweiflung – und ermöglichen sich und anderen auf diese Weise, den Schmerz gemeinsam zu bewältigen und Raum für Würdigung zu schaffen.
  • Pflegepersonal regt Studien zum psychosozialen Wohlergehen von Mitarbeitenden und Patient*innen an und konzipiert auf dieser Basis ein Gesundheitssystem, das die Lebensqualität aller verbessert.
  • Großeltern gründen Gesprächskreise, in denen sie über ihre Zukunftsängste sprechen und schließlich den Mut finden, gemeinsam mit ihren Enkeln auf die Straße zu gehen…

Auch diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Zum Glück. Denn so groß, wie die Herausforderungen sind, denen wir uns als Menschheit zu stellen haben, können wir jede Unterstützung gebrauchen. Wir alle können Rückhalt gebrauchen und zugleich kann jede*r von uns auch andere Menschen begleiten, unterstützen und stärken. Dabei ist die Fürsorge für sich und andere immer miteinander verbunden – innere und äußere Friedensarbeit gehen Hand in Hand. So ist eine Kultur der Fürsorge existentieller Teil einer Kultur des Friedens.

Anmerkungen

1) Dieser Essay ist inspiriert durch Joana Macy, die Begründerin der »Work, that reconnects«. Das Zitat ist der Untertitel ihres Buches »Active Hope« (Macy und Johnstone 2012).

2) Umfassende Informationen und weiterführende Literatur zum ZFD sind hier zu finden: ziviler-friedensdienst.org.

3) Der Begriff geht auf John Paul Lederach zurück, der elizitive und präskriptive Zugänge zu Training und Konflikttransformation unterscheidet (siehe u.a. Lederach 1995).

4) Als psychosozial zeichnet sich die Personalbegleitung aus, wenn dabei zugleich innere und äußere Aspekte und deren Wechselwirkungen berücksichtigt werden (Pastoors 2021).

5) Der Großteil der Studien bezieht sich auf den Bereich der humanitären Hilfe, siehe bspw. Antares Foundation (2012), Blanchetière (2006).

6) Siehe bspw. Becker et. al. (2018), Behboud (2009), Porter und Emmens (2009). Ein praktisches Handbuch macht die Erkenntnisse der Forschung für Fachkräfte in der internationalen Zusammenarbeit nutzbar (Pigni 2016).

7) Eine knappe und praxisorientierte Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse meiner Forschung ist im »Lessons Learned« Kapitel meiner Dissertation und in diesem Artikel nachzulesen: (Pastoors 2019).

8) In Elise Bouldings (2000) Definition der »Culture of Peace wird diese Verbindung zur »Culture of Care« besonders deutlich.

9) Exemplarisch möchte ich hier auf den Nachhaltigen Aktivismus verweisen, der sich mit Resilienzstrukturen für politische Aktivist*innen befasst (siehe hierzu Luthmann 2021).

Literatur

Antares Foundation (2012): Managing stress in humanitarian workers. Guidelines for good practice. Amsterdam: Antares Foundation.

Behboud, S. (2009): Die Begleitung von pbi-Freiwilligen in der internationalen Friedensarbeit – Vorbereitung, Betreuung und Nachbereitung von Freiwilligeneinsätzen. Hamburg: peace brigades international (pbi) – Deutscher Zweig e.V.

Becker, D. et al. (2018): What helps the helpers? Research Report 2016-2018. Berlin.

Blanchetière, P. (2006): Resilience of humanitarian workers. o.O.

Boulding, E. (2000): Cultures of peace. The hidden side of history. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Lederach, J. P. (1995): Preparing for peace. Conflict transformation across cultures. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Luthmann, T. (2021): Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. Münster: Unrast Verlag.

Macy, J.; Johnstone, Ch. (2012): Active hope: How to face the mess we’re in without going crazy. Novato: New World Library.

Merkelbach, M. (2017): Voluntary guidelines on the duty of care to seconded civilian personnel. Swiss Federal Department of Foreign Affairs (FDFA); Stabilisation Unit (SU); Bern u.a.: Center for International Peace Operations (ZIF).

Pastoors, D. (2021): Von der Duty of Care zur Culture of Care – Psychosoziale Personalbegleitung für Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes. Hamburg: tredition.

Pastoors, D. (2019): Risiken vermeiden und Potenziale entfalten. Zur Doppelwirkung psychosozialer Begleitung. Transfer 01/2019. Bonn: Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste.

Pigni, A. (2016): The idealist’s survival kit. 75 simple ways to avoid burnout. Berkeley: Parallax Press.

Porter, B.; Emmens, B. (2009): Approaches to staff care in international NGOs. People in Aid: InterHealth.

Sell, S. (2006): Qualifizierung zu Zivilem Friedensdienst / Ziviler Konfliktbearbeitung – Bedarfserhebung unter den ZFD-Trägerorganisationen und Akteuren benachbarter Arbeitsfelder. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Schüßler, M.; Thiele, U. (2012): Evaluationsbericht. Grundqualifizierung für den Zivilen Friedensdienst/ Zivile Konfliktbearbeitung. Akademie für Konflikttransformation im forumZFD. Universität Oldenburg.

Schweitzer, Ch. (2009): Rekrutierung und Qualifizierung von Personal im Zivilen Friedensdienst. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Dr. Daniela Pastoors hat zum Thema psychosoziale Personalbegleitung im Zivilen Friedensdienst promoviert, während sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg tätig war und im Beratungsbereich gelehrt hat.