W&F 2022/1

Friedensarbeit braucht Begleitung

oder „How to face the mess we’re in without going crazy?!“1

von Daniela Pastoors

Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensfachkräfte – und letztlich wir alle. Was hilft uns dabei, uns den Krisen der Menschheit zu stellen? Wie können wir mit den Gefühlen umgehen, die dabei entstehen? Daniela Pastoors forscht dazu, wie Fachkräfte im ­Zivilen Friedensdienst psychosozial begleitet werden, und überträgt ihre Erkenntnisse in diesem Essay auf weitere gesellschaftliche Bereiche.

Wenn wir uns die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaften und als Menschheit stehen, tatsächlich vor Augen führen – statt die Augen vor ihnen zu verschließen –, dann können wir davon überwältigt werden. Wir erkennen, wie riesig, wie umfassend und wie existentiell die Krisen sind, in denen wir uns befinden und mit welcher Geradlinigkeit wir auf den Abgrund zusteuern. Das Zulassen dieser Erkenntnisse macht uns fassungslos. Und das kann uns alle betreffen:

  • die Klimaaktivistin, die mitansehen muss, wie der lebendige Wald um sie herum abgeholzt wird;
  • den Sozialarbeiter, der täglich feststellt, wie massiv Armut auch in Deutschland die Lebenschancen von Menschen beeinträchtigt;
  • die Forscherin, die sich über Jahrzehnte damit auseinandersetzt, wie viele Arten auf dem Planeten für immer aussterben;
  • den Bürgerrechtler, der nach Jahrhunderten von Sklaverei weiter miterleben muss, dass Schwarze Leben nicht zählen und einfach ausgelöscht werden;
  • die Pflegerin, die unter der Last der Arbeit und dem Nie-genug-tun-Können zusammenbricht;
  • den Großvater, der insgeheim daran zweifelt, ob seine Enkel überhaupt noch eine lebenswerte Zukunft haben werden;
  • die ZFD-Fachkraft, die angesichts von gewaltsamen Konflikten die Hoffnung verliert…

… diese Liste ließe sich endlos fortsetzen.

Wenn wir der Bedrohung und Zerstörung ins Auge blicken, rollen Schmerz, Ohnmacht und Verzweiflung über uns hinweg. Wir haben Angst davor, selbst in den Abgrund zu stürzen. Genau deshalb verschließen wir uns sehr häufig vor diesen Gefühlen, verdrängen sie – und damit auch die Erkenntnisse über die Tragweite der Herausforderungen. Wir stecken den Kopf in den Sand, weil wir es nicht ertragen können. Weil die Probleme riesig und unüberwindbar erscheinen. Weil wir glauben, nicht mit dieser enormen Last umgehen zu können. Weil wir Angst haben, daran zu zerbrechen.

Was braucht es also dafür, dass wir uns trauen, den Kopf aus dem Sand zu ziehen, der Realität ins Gesicht zu schauen und uns einzugestehen, was passiert? Was brauchen wir, um trotz, wegen und aus der Existentialität der Situation heraus zu handeln – uns der Bedrohung und Zerstörung entgegenzustellen und uns trotz aller Widrigkeiten weiter für das Leben einzusetzen? Vermutlich beantworten wir diese Fragen alle unterschiedlich. So verschieden unsere Strategien sein mögen, so ist doch eines klar: Langfristig geht es nicht allein. Deshalb ist meine These, dass wir Begleitung brauchen. Jede und jeder einzelne von uns.

Psychosoziale Begleitung in der Friedensarbeit

Das Handlungsfeld, mit dem ich mich in meiner Forschung beschäftigt habe, ist der Zivile Friedensdienst (ZFD). Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst haben die Aufgabe, Friedensprozesse zu begleiten (vgl. Pastoors 2021). Nicht sie selbst sind die »Macher*innen des Friedens«, sondern ihr Fokus liegt darauf, lokale Friedensakteur*innen in verschiedenen Ländern der Welt dabei zu unterstützen, Konflikte nachhaltig und gewaltfrei zu transformieren.2 So einfach sich diese beschreibenden Sätze lesen, so wenig trivial ist doch das Grundverständnis, das darin zum Ausdruck kommt. Wenn Frieden nicht als ferner Zustand sondern als alltäglicher Prozess begriffen wird, zu dem Konflikte dazugehören und diese wiederum sowohl Risiken als auch Chancen in sich tragen, hat das Auswirkungen auf die Art und Weise, wie Konflikttransformation unterstützt werden kann. Das Vertrauen in den Prozess selbst und besonders in die Akteur*innen, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten, die Konflikttransformation selbst zu gestalten, bildet die Basis für einen externen Beitrag, der keine Techniken anwendet, »Rezepte« verordnet und Lösungen liefert, sondern in Beziehung geht, einen Rahmen gestaltet und vorhandenes Wissen hervorlockt. In diesem Sinne sind ZFD-Fachkräfte in erster Linie Begleiter*innen.

Dieses transformative Paradigma der Konfliktbearbeitung, das mit einer elizitiven3 Haltung einhergeht, stellt gleichzeitig spezifische Anforderungen an Fachkräfte, die Wandlungsprozesse auf diese Weise unterstützen wollen. Der Blick auf Friedensarbeit als Beziehungsarbeit verdeutlicht, dass Friedensfachkräfte nicht nur viele Kompetenzen brauchen, um diese Beziehungen zu gestalten, sondern, dass Reflexionsräume notwendigerweise zur professionellen Friedenspraxis dazugehören müssen. Nicht nur Friedensarbeit braucht Begleitung, sondern auch Friedensarbeiter*innen. Aufgrund der komplexen Herausforderungen ihrer Tätigkeiten und ihrer vielschichtigen Rollen brauchen sie neben speziellen Fähigkeiten, fundiertem Wissen und einer ausgeprägten Haltung auch Möglichkeiten, um diese zu erwerben, anzuwenden und zu reflektieren. Zugleich gilt es, die anspruchsvolle Kunst der Friedensarbeit zu meistern, ohne sich selbst dabei aus dem Blick zu verlieren. Unterschiedliche Elemente der psychosozialen4 Personalbegleitung bieten ihnen dafür Gelegenheit.

Die Forschung hat sich diesem Themenbereich bisher wenig gewidmet. Entweder beschränkte sie sich auf Fragen der Personalgewinnung, Qualifizierung und Vorbereitung (vgl. Schüssler und Thiele 2012, Schweitzer 2009, Sell 2006), oder es standen Aspekte des Sicherheits- und Krisenmanagements und die gesundheitlichen Risiken und psychischen Folgen von Auslandseinsätzen im Fokus.5 Zudem bewegte sich der Diskurs oftmals im Kontext der »Duty of Care«, der Fürsorgepflicht der Organisationen für ihre Mitarbeitenden in Auslandsprojekten, sodass primär Haftungsfragen diskutiert wurden (z. B. Merkelbach 2017). Auch wenn immer wieder auf die Bedeutung von Unterstützungsmaßnahmen für das Auslandspersonal verwiesen wurde, legen nur sehr wenige Studien den Fokus darauf. Die Praxis der »Staff Care« (organisationale Fürsorge für Mitarbeitende) ist bisher nur in wenigen Bereichen der internationalen Zusammenarbeit untersucht.6

In meiner Dissertation habe ich daher den Fokus auf die Frage gelegt, wie Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst unterstützt und psychosozial begleitet werden. Dafür habe ich eine Bestandsaufnahme der Personalbegleitung im ZFD durchgeführt und untersucht, durch welche Begleitelemente Fachkräfte im Zivilen Friedensdienst vor, während und nach der Dienstzeit unterstützt werden. In meiner Erhebung habe ich die Gesamtheit aller ZFD-Organisationen in den Blick genommen und sowohl die Perspektiven von (ehemaligen) ZFD-Fachkräften selbst, als auch die von Mitarbeitenden der Geschäftsstellen und von begleitenden Coaches bzw. Supervisor*innen mit einbezogen.

Neben den Elementen und Angeboten der Personalbegleitung, die im Zentrum meiner Forschung standen, habe ich auch die Anliegen und Herausforderungen beleuchtet, die diese notwendig machen. Zudem habe ich Empfehlungen und Wünsche der Akteur*innen für die Weiterentwicklung der Personalbegleitung zusammengetragen und analysiert, welche Bedürfnisse dahinter stehen und welche Spannungsfelder sich in diesem Kontext zeigen. Um den Transfer in die Praxis zu ermöglichen, habe ich die Erkenntnisse der Forschung als »Lessons Learned« zusammengefasst und aufbereitet.

Insgesamt habe ich eine Vielzahl an Begleitpraktiken zu Tage gefördert: angefangen bei der Erstellung von Begleitkonzepten im Vorfeld, über Supervision und kollegiale Beratung während der gesamten Zeit bis hin zu Rückkehrseminaren für alle. Die Organisationen begleiten die Fachkräfte dabei einerseits selbst und mit Hilfe von Dritten (z. B. Trainer*innen), andererseits sind die Fachkräfte sich gegenseitig eine Stütze und organisieren manche Unterstützung selbst. Die vorhandene Fülle und Vielfalt der Begleitelemente offenzulegen und die Sichtweisen verschiedener Beteiligter darauf zu berücksichtigen, ist ein wesentlicher Beitrag meiner Forschung.7 Gleichzeitig ist nicht nur von Bedeutung, was angeboten und genutzt wird, sondern das Hauptaugenmerk liegt darauf, wie die Begleitung konzipiert, ausgestaltet und gelebt wird: im besten Falle bedürfnisorientiert, barrierearm, emanzipatorisch, ganzheitlich und elizitiv – so wie wir uns auch Friedensarbeit wünschen.

Darin zeigt sich auch, dass es nicht nur um die Implementierung einzelner Maßnahmen, sondern um einen Kulturwandel geht – von einer »Duty of Care«, die Fürsorge als Pflicht zur rechtlichen Absicherung begreift, hin zu einer »Culture of Care«, die eine umfassende Kultur und eine Haltung der individuellen und gemeinschaftlichen Fürsorge wachsen lässt. Mit dem Blick der »Culture of Care« wird deutlich, dass persönliches, kollektives und globales Wohlergehen Hand in Hand gehen. Denn eine »Culture of Care« ist zugleich Teil einer »Culture of Peace«8 und (Personal-)Begleitung trägt zu einer Kultur des Friedens bei.

Kultur der Fürsorge für alle?

Doch wie lassen sich diese Erkenntnisse auf uns alle übertragen? Meine Forschung im ZFD zeigt, dass die vielfältigen Begleit­elemente und Unterstützungsangebote nicht nur in schweren Krisen, sondern auch bei der alltäglichen Reflexion der Arbeit hilfreich sind und die Friedensarbeiter*innen davor bewahren können, den Kopf in den Sand zu stecken. Sie können durch die Begleitung den Mut behalten, sich weiterhin den Bedrohungen und Zerstörungen entgegenzustellen – und statt auszubrennen, können sie sich selbst, die Menschen in ihrem Umfeld und schließlich auch ihre Arbeit stärken. Hierin liegen wichtige Anreize für viele weitere Bereiche der Gesellschaft und die Erkenntnisse lassen sich auf unterschiedlichste Handlungsfelder übertragen.9

Kommen wir also zurück zu uns und zu den eingangs genannten Personenkreisen. Wie könnte Begleitung in diesen Kontexten aussehen? Stellen wir es uns konkret vor.

  • (Klima-)Aktivist*innen ermutigen sich durch individuelle und kollektive Resilienzstrategien gegenseitig und sorgen dafür, dass ihre Bewegungen wirksamer und nachhaltiger werden, weil sie aus den Gefühlen Kraft schöpfen können.
  • Sozialarbeiter*innen vernetzten sich, erkämpfen mit Hilfe von Interessenvertretung und Gewerkschaft bessere Arbeitsbedingungen und schaffen sich auf politischer Ebene Gehör, um auch die Wurzeln sozialer Problemlagen angehen zu können.
  • Wissenschaftler*innen führen Forschungssupervision ein, so dass sie endlich Räume für den Umgang mit den Nebenwirkungen haben, die ihre oftmals erschreckenden Forschungsergebnisse auf sie selbst haben.
  • Bürgerrechtler*innen weltweit gestalten öffentliche Trauerrituale, damit nicht nur die Wut ihren Ausdruck findet, sondern auch die Verzweiflung – und ermöglichen sich und anderen auf diese Weise, den Schmerz gemeinsam zu bewältigen und Raum für Würdigung zu schaffen.
  • Pflegepersonal regt Studien zum psychosozialen Wohlergehen von Mitarbeitenden und Patient*innen an und konzipiert auf dieser Basis ein Gesundheitssystem, das die Lebensqualität aller verbessert.
  • Großeltern gründen Gesprächskreise, in denen sie über ihre Zukunftsängste sprechen und schließlich den Mut finden, gemeinsam mit ihren Enkeln auf die Straße zu gehen…

Auch diese Liste ließe sich endlos fortsetzen. Zum Glück. Denn so groß, wie die Herausforderungen sind, denen wir uns als Menschheit zu stellen haben, können wir jede Unterstützung gebrauchen. Wir alle können Rückhalt gebrauchen und zugleich kann jede*r von uns auch andere Menschen begleiten, unterstützen und stärken. Dabei ist die Fürsorge für sich und andere immer miteinander verbunden – innere und äußere Friedensarbeit gehen Hand in Hand. So ist eine Kultur der Fürsorge existentieller Teil einer Kultur des Friedens.

Anmerkungen

1) Dieser Essay ist inspiriert durch Joana Macy, die Begründerin der »Work, that reconnects«. Das Zitat ist der Untertitel ihres Buches »Active Hope« (Macy und Johnstone 2012).

2) Umfassende Informationen und weiterführende Literatur zum ZFD sind hier zu finden: ziviler-friedensdienst.org.

3) Der Begriff geht auf John Paul Lederach zurück, der elizitive und präskriptive Zugänge zu Training und Konflikttransformation unterscheidet (siehe u.a. Lederach 1995).

4) Als psychosozial zeichnet sich die Personalbegleitung aus, wenn dabei zugleich innere und äußere Aspekte und deren Wechselwirkungen berücksichtigt werden (Pastoors 2021).

5) Der Großteil der Studien bezieht sich auf den Bereich der humanitären Hilfe, siehe bspw. Antares Foundation (2012), Blanchetière (2006).

6) Siehe bspw. Becker et. al. (2018), Behboud (2009), Porter und Emmens (2009). Ein praktisches Handbuch macht die Erkenntnisse der Forschung für Fachkräfte in der internationalen Zusammenarbeit nutzbar (Pigni 2016).

7) Eine knappe und praxisorientierte Zusammenfassung wichtiger Ergebnisse meiner Forschung ist im »Lessons Learned« Kapitel meiner Dissertation und in diesem Artikel nachzulesen: (Pastoors 2019).

8) In Elise Bouldings (2000) Definition der »Culture of Peace wird diese Verbindung zur »Culture of Care« besonders deutlich.

9) Exemplarisch möchte ich hier auf den Nachhaltigen Aktivismus verweisen, der sich mit Resilienzstrukturen für politische Aktivist*innen befasst (siehe hierzu Luthmann 2021).

Literatur

Antares Foundation (2012): Managing stress in humanitarian workers. Guidelines for good practice. Amsterdam: Antares Foundation.

Behboud, S. (2009): Die Begleitung von pbi-Freiwilligen in der internationalen Friedensarbeit – Vorbereitung, Betreuung und Nachbereitung von Freiwilligeneinsätzen. Hamburg: peace brigades international (pbi) – Deutscher Zweig e.V.

Becker, D. et al. (2018): What helps the helpers? Research Report 2016-2018. Berlin.

Blanchetière, P. (2006): Resilience of humanitarian workers. o.O.

Boulding, E. (2000): Cultures of peace. The hidden side of history. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Lederach, J. P. (1995): Preparing for peace. Conflict transformation across cultures. Syracuse, N.Y.: Syracuse University Press.

Luthmann, T. (2021): Politisch aktiv sein und bleiben. Handbuch Nachhaltiger Aktivismus. Münster: Unrast Verlag.

Macy, J.; Johnstone, Ch. (2012): Active hope: How to face the mess we’re in without going crazy. Novato: New World Library.

Merkelbach, M. (2017): Voluntary guidelines on the duty of care to seconded civilian personnel. Swiss Federal Department of Foreign Affairs (FDFA); Stabilisation Unit (SU); Bern u.a.: Center for International Peace Operations (ZIF).

Pastoors, D. (2021): Von der Duty of Care zur Culture of Care – Psychosoziale Personalbegleitung für Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes. Hamburg: tredition.

Pastoors, D. (2019): Risiken vermeiden und Potenziale entfalten. Zur Doppelwirkung psychosozialer Begleitung. Transfer 01/2019. Bonn: Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste.

Pigni, A. (2016): The idealist’s survival kit. 75 simple ways to avoid burnout. Berkeley: Parallax Press.

Porter, B.; Emmens, B. (2009): Approaches to staff care in international NGOs. People in Aid: InterHealth.

Sell, S. (2006): Qualifizierung zu Zivilem Friedensdienst / Ziviler Konfliktbearbeitung – Bedarfserhebung unter den ZFD-Trägerorganisationen und Akteuren benachbarter Arbeitsfelder. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Schüßler, M.; Thiele, U. (2012): Evaluationsbericht. Grundqualifizierung für den Zivilen Friedensdienst/ Zivile Konfliktbearbeitung. Akademie für Konflikttransformation im forumZFD. Universität Oldenburg.

Schweitzer, Ch. (2009): Rekrutierung und Qualifizierung von Personal im Zivilen Friedensdienst. Bonn: Akademie für Konflikttransformation im forumZFD.

Dr. Daniela Pastoors hat zum Thema psychosoziale Personalbegleitung im Zivilen Friedensdienst promoviert, während sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Marburg tätig war und im Beratungsbereich gelehrt hat.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2022/1 Täter*innen, Seite 41–43