W&F 1996/1

10 Jahre nach Tschernobyl

von Jürgen Scheffran

Am frühen Morgen des 26. April 1986, im Verlaufe eines „Sicherheitstests“, explodierte Block 4 des Atomkraftwerks von Tschernobyl in der nördlichen Ukraine. Von der Wucht der Explosion wurde das Dach des Reaktorgebäudes weggeblasen. 190 Tonnen hoch-radioaktiven Urans und Graphits, Stoffe mit einer Radioaktivität von mehr als 100 Millionen Curie, der 40-fachen Menge von Hiroshima und Nagasaki, wurden in die Atmosphäre geschleudert. Die radioaktive Wolke überstrich Europa wie ein strahlender Pinsel und hinterließ unsichtbare Spuren der Zerstörung in Mensch und Tier, die auch nach zehn Jahren nicht beseitigt sind. Das Feuer von Tschernobyl konnte zwar notdürftig in Beton gegossen werden, doch es brennt in uns allen weiter.

Besonders schwerwiegend waren die Folgen für die Menschen in der Region um Tschernobyl. Ein Viertel des fruchtbaren Ackerlands wurde zu radioaktivem Abfall. Dutzende von Ortschaften hörten auf zu existieren, 400.000 Menschen mußten evakuiert werden. 70<-10> <0>% der Radioaktivität ging auf die Bevölkerung von Belarus nieder, die von den Behörden über den Ernst der Lage getäuscht wurde. 1,2 Millionen Kinder in Belarus und der Ukraine tragen ein hohes Risiko, an Krebs oder Leukämie zu erkranken.

Werden Millionen von Menschen einer erhöhten Strahlung ausgesetzt, sind (abgesehen von den unmittelbar Strahlenkranken) die Opfer nur statistisch abzuschätzen. Je nach zugrundegelegtem Modell sind tausende oder hunderttausende von Toten zu beklagen, wobei viele den Krebstod in sich tragen, ohne es zu wissen. Diese Unsichtbarkeit der Katastrophe macht ihr Verdrängen so leicht. Nach wie vor ist das Risiko radioaktiver

„Niedrigstrahlung“ Gegenstand einer Kontroverse unter Experten, wobei frühere verharmlosende Ansichten zunehmend revidiert werden müssen.

Die Glaubwürdigkeit der Experten ist in den Augen der Öffentlichkeit auch dadurch erschüttert, daß manche professionellen Strahlenschützer immer noch eher den Schutz der Strahlen vor der Kritik der Menschen im Auge haben als den Schutz der Menschen vor der Wirkung der Strahlung. Daß die internationale Kontrolle über die Kernenergie der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) unterliegt, deren Auftrag zugleich die Verbreitung der Kernenergie ist, hat der Verbreitung der Wahrheit keinen Vorschub geleistet. Am Mantel des Schweigens über Tschernobyl haben Freunde der Kernenergie in Ost und West gemeinsam gewoben. Als in der Bundesrepublik alle Meßgeräte Alarm schlugen und Kinder ihre strahlenden Schuhe vor der Tür des Kindergartens lassen mußten, gab die Bundesregierung bekannt, die Gesundheit der Bevölkerung sei zu keinem Zeitpunkt gefährdet. Auch heute noch wird (ungeachtet der Erfahrung von Harrisburg) die These vertreten, ein ähnlicher Unfall sei in einem westlichen Kernkraftwerk ausgeschlossen, da hier eine andere »Sicherheitskultur« herrsche (so eine OECD-Studie von 1995). Könnte es nicht eher sein, daß das Hantieren mit der gewaltigen, in der Materie schlummernden Energie menschliches und technisches Versagen geradezu anzieht?

Die folgenschwerste Industriekatastrophe der Geschichte hat auch Geschichte gemacht. Die immensen Schäden und Kosten waren von der im Wandel befindlichen Sowjetunion nicht zu verkraften. Tschernobyl bedeutete einen entscheidenden Rückschlag nicht nur für die Perestroika Gorbatschows, sondern auch für Glasnost, die unter der Desinformation verschüttet wurde. Tschernobyl war jedoch nicht nur der Anfang vom Ende der Sowjetunion, sondern auch der Kernenergie. Selbst die Kernenergieindustrie mußte nach dem Schock von ihren optimistischen Prognosen abrücken und hatte den Ausstiegsszenarien nicht mehr viel entgegenzusetzen. Eine Wende zeichnete sich erst ab, als sich die Möglichkeit eröffnete, den Teufel Klimakollaps mit dem Beelzebub Kernenergie auszutreiben. Eine geläuterte Kerntechnologie wird nun angeboten, die inhärent sicherer, sauberer und billiger als ihr Vorgänger sein soll. Die Scheinalternative zwischen Kohle und Kernenergie lenkt von den wahren Alternativen ab: Energieeinsparung und regenerative Energien.

Die Zweifel an der Kernenergie bleiben. Die Endlagerungsproblematik ist weiter ungelöst und die Bürde für zukünftige Generationen nimmt mit jedem Tag zu. Niemand kann angesichts einer unsicheren Zukunft sagen, ob die sozialen und politischen Strukturen stabil genug sind, um diese Last ausreichend lange zu tragen. Das mit der Kernenergie verbundene Konflikt-, Gewalt- und Repressionspotential ist auch in den westlichen Staaten gegenwärtig, was die Auseinandersetzungen um die Castor-Transporte oder um die Plutoniumverschiffung zwischen Japan und Frankreich zeigen.

Schließlich darf nicht übersehen werden, daß mit dem nuklearen Brennstoffkreislauf die Möglichkeit zum Bau der Atombombe verbunden ist, trotz aller Bestrebungen der IAEO, eine Trennlinie zwischen den beiden Gesichtern des Janus-Kopfes zu ziehen. Wie durchlässig diese Trennlinie ist, hat der irakische Diktator Saddam Hussein gezeigt. Der Golfkrieg war somit nicht nur ein Krieg um Öl, sondern auch ein Krieg um das militärische Gefahrenpotential der Kernenergie. Solange die Industriestaaten, allen voran die Kernwaffenmächte, den Griff auf die Kerntechnik ungeniert praktizieren (Beispiel Garchinger Reaktor), wird der Mythos Kernenergie auch in der »Dritten Welt« weiterleben.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 1996/1 Am Tag als der Regen kam, Seite