20 Jahre Krieg
von Jürgen Nieth
Bis zum 9. September – dem 20. Jahrestag der Terrorangriffe auf die Twin-Towers und das Pentagon – sollen alle US-Soldat*innen Afghanistan verlassen haben. Bedingungslos, denn wenn „die US-Soldaten nur dann gehen, wenn irgendein Ergebnis dauerhaft abgesichert ist, gehen sie nie – so Bidens Überzeugung.“ (Bernd Pickert, taz, 15.04.21, S. 3) Noch im März diesen Jahres hatte der Bundestag das Bundeswehrmandat bis Januar 2022 verlängert, jetzt sollen auch die 1.100 deutschen Soldaten und Soldatinnen bis spätestens Mitte August Afghanistan verlassen.
Kriegsbilanz
„Fast 160.000 [deutsche] Soldatinnen und Soldaten sind inzwischen am Hindukusch gewesen, 59 dort gestorben.“ (SZ, 16.04.21, S. 7). Militär und Politik gedenken regelmäßig der eigenen Toten. Eine andere Dimension wird in einem Wikipedia-Artikel zum Afghanistankrieg deutlich. Danach „starben rund 3.500 Soldat*innen der sogenannten Koalition, rund 3.500 Angestellte privater Sicherheitsunternehmen und etwa 64.000 afghanische Sicherheitskräfte. Die Zahl der getöteten Taliban und Al-Kaida-Kämpfer ist ähnlich hoch und liegt geschätzt zwischen 69.000 und 74.000. Zivile Tote habe es bis November 2019 etwa 43.000 gegeben. Nicht eingerechnet auf allen Seiten diejenigen, die verletzt und traumatisiert wurden oder Afghan*innen, die auf der Flucht starben.“ (zitiert nach nd, 16.04.21, S. 8) „Die Gesamtkosten [des Krieges] werden auf rund 2 Billionen Dollar geschätzt.“ (taz, 15.04.21, S. 3.) Fast 20 Mrd. € schlagen bei der Bundeswehr zusätzlich zu Buche.
Im Spiegel (17.04.21, S. 74) zieht Christoph Reuter eine vernichtende Bilanz. Für ihn offenbart der „angekündigte US-Truppenabzug aus Afghanistan […] einen jahrelangen Selbstbetrug.“ Eine gescheiterte Invasion wurde als Erfolg verkauft, „der sie spätestens seit 2005 nicht mehr war. Mit Militärs und Milliarden aus dem Westen wurden Regierungen in Kabul gepäppelt, die nie auch nur den Versuch unternahmen, aus eigener Kraft zu regieren; wurden Streitkräfte aufgebaut, deren Offiziere bis heute die Munition ihrer Truppen verkaufen und den Taliban alleine nicht gewachsen wären.“
Annegret Kramp-Karrenbauer findet trotzdem etwas Positives: „Wir haben es immerhin geschafft, die Taliban 20 Jahre von der Regierung fernzuhalten.“ (Andreas Arens in TV, 20.04.21, S. 5) Für den Kommandeur des deutschen Afghanistan-Kontingents Ansgar Meyer hat der Einsatz „die Bundeswehr fundamental verändert. Sie ist erwachsener geworden. Sie […] (hat) erlebt, was Krieg wirklich ist.“ (FAZ, 15.04.21, S. 3) Der „Bundeswehrverband fordert eine ehrliche Aufarbeitung des Einsatzes, damit man in kommenden Fehler vermeiden kann.“ Das kommentiert Renè Heilig (nd-Die Woche, 17.04.21, S. 4) und schreibt weiter: „Auf den Gedanken, dass solche Einsätze womöglich generell ein Fehler sind, kommt er nicht.“
Afghanische Helfer*innen
Gefährdete afghanische Helfer*innen der Bundeswehr sollen nach Vorstellung der deutschen Verteidigungsministerin „vor dem Abzug der westlichen Truppen vereinfacht und schnell nach Deutschland geholt werden. […] ‚Jetzt geht es um die Verfahren. Zu prüfen, wie war die Gefährdungslage, wer kann im Rahmen dieser Festlegung kommen, wie ist das mit den Familien‘.“ (Welt, 19.04.21, S. 1) Seit dem „Jahr 2013 wurden nach Angaben des Verteidigungsministeriums 781 Ortskräfte in Deutschland aufgenommen. Das deutsche Einsatzkontingent Resolute Support beschäftigt derzeit rund 300 Ortskräfte.“ (StN, 19.04.21, S. 2) Die Welt (16.04.21, S. 5) zitiert Gregor Gysi (Die Linke), Omid Nouripour (Grüne) und Lars Castelluci (SPD), die diese Position unterstützen und gleichzeitig ein Ende der Abschiebungen nach Afghanistan fordern.
„In Deutschland leben rund 270.000 Afghanen. 29.000 von ihnen sind noch ausreisepflichtig […] Seit Beginn der Afghanistan-Abschiebungen im Dezember 2016 wurden bisher rund 1.000 Männer nach Afghanistan zurückgebracht. “ (Claus Christian Malzahn und Marcel Leubecher in Welt, 16.04.21, S. 5)
Aussichten
Omar Sharifi, Direktor des American Institute for Afghanistan Studies, erwartet (so Tamana Ayazi und Thore Schröder in Welt, 17.04.21, S. 6) „in jedem Fall ‚ein noch blutigeres Bild‘ in den kommenden Wochen: ‚mehr Attacken, mehr gezielte Tötungen‘. Dabei wurden bereits im März 305 Menschen bei Anschlägen getötet und 350 verletzt, wohlgemerkt in nur einem Monat […] Der zentralasiatische Staat ist laut Global Peace Index bereits der unsicherste der Welt. Bereits 2,6 Millionen Geflüchtete aus Afghanistan sind weltweit registriert, hinzu kommen laut Schätzungen der Vereinten Nationen weitere zwei Millionen nichtdokumentierter Afghanen im Ausland.“
Mike Szymanski (SZ-online, 15.04.21) weist darauf hin, dass die Taliban bisher „auf Angriffe auf die internationalen Truppen verzichtet (haben). Das könnte sich nun ändern.“ Für Tobias Matern (SZ-online, 13.04.21) „droht in Afghanistan eine Rückkehr der Islamisten an die Macht.“ „Unabhängige Experten erwarten schlimme Folgen“, heißt es im Tagesspiegel (16.04.21, S. 5) Nach dem Abzug der Nato-Truppen muss offensichtlich – wie nach den anderen Kriegen im Nahen Osten – mit einem Anwachsen der Flüchtlingsbewegungen gerechnet werden.
Es gibt nur wenige halbwegs optimistische Stimmen. So setzt Jan Dörner (StZ, 15.0421, S. 3) darauf, dass die Taliban „in Verhandlungen eingebunden“ sind . Für Nils Schmid, außenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, sind einerseits „die Taliban an einer Aufhebung der Sanktionen interessiert, zum anderen insbesondere die Europäer als Geber unentbehrlich. ‚Das muss man klug einsetzen‘.“ (SZ, 15.04.21, S. 7) Und Thomas Ruttig, Kodirektor des Afghanistan Analysts Network, schlussfolgert: „Mit der Hand am Geldhahn kann der Westen vielleicht noch einige der schlimmsten Folgen auffangen. Mehr aber auch nicht.“ (taz, 15.04.21, S. 1)
Zitierte Presseorgane: FAZ – Frankfurter Allgemeine Zeitung, nd – Der Tag, nd – Die Woche, StN – Stuttgarter Nachrichten, StZ – Stuttgarter Zeitung, Spiegel – Der Spiegel, SZ – Süddeutsche Zeitung, SZ Online – Süddeutsche Zeitung Online, Tagesspiegel – Der Tagesspigel, taz – die tageszeitung, TV – Trierischer Volksfreund, Welt – Die Welt