W&F 2011/2

25 Jahre nach Tschernobyl: Fukushima mahnt

von Wolfgang Liebert

Am 11. März erzitterte nicht nur die Erde vor der japanischen Küste. Die Folgen von Erdbeben und Tsunami erschüttern auch unser technizistisches Weltbild und den Rest-Glauben an die nukleare Energieoption. Die Bilder haben sich schon jetzt ins Unterbewusstsein der Menschen tief eingebrannt: Wesentliche Anlagenteile der Kernreaktoren von Fukushima fliegen nacheinander in die Luft. Von amerikanischen und japanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren ersonnene und weltweit propagierte Zukunftstechnologie explodiert vor aller Augen und löst eine Technikkatastrophe aus.

Die Schnellabschaltung der Reaktoren gelang noch, aber alle Kühlmechanismen versagten rasch. Die lang anhaltende nukleare Nachwärme wird nicht ausreichend abgeführt, um den GAU zu vermeiden. Auch Wochen nach der vielfachen Reaktorhavarie ist die Kühlung der Reaktorkerne und der Brennstoff-Abklingbecken, in denen die tödliche Gefahr lauert, nicht ausreichend gesichert. Es droht der Super-GAU in bedrohlicher Nähe zu Tokio.

Die möglichen Folgen sind im Prinzip seit der Tschernobyl-Katastrophe vom 26. April 1986 schmerzlich bekannt: eine weiträumige und lange anhaltende radioaktive Verseuchung mit entsprechenden riesigen Sperrzonen von praktisch nicht mehr bewohnbaren Landstrichen insbesondere in Weißrussland und der Ukraine, aber auch Belastungen für weite Bereiche Europas. Nicht nur kurzfristig wirksame Radioaktivität (insbesondere durch Radio-Jod), sondern auch der Ferntransport und die Langzeitwirkung von Radioisotopen mit größeren Halbwertszeiten von zum Beispiel etwa 30 Jahren (wie Cäsium-137 und Strontium-90) bestimmen bis heute und in die weitere Zukunft die radioaktive Last für Mensch und Natur – angereichert über die Nahrungskette.

Das Interesse der sowjetischen Behörden, Schadens- und Opferbilanzen vorzulegen, war 1986 nicht gegeben. Die Sowjetunion selbst zerfiel wenige Jahre nach dem Unfall. Wie viele Zehntausende der so genannten Liquidatoren, die die Aufräum- und Sicherungsarbeiten in den Tagen und Monaten nach dem Unfall leisten mussten, unwissend ihre Gesundheit und ihr Leben auf Befehl von oben aufs Spiel setzen mussten, wie viele Krebsfälle und massive Gesundheitsschäden in der Bevölkerung bereits auftraten, weiß die Welt bis heute nicht. Auch die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) und in ihrem Gefolge die Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben sich noch nicht dazu durchringen können, eine ehrliche Folgenbilanz vorzulegen. Der Rolle der IAEO als UN-Watchdog gegen die Weiterverbreitung von Kernwaffen steht anscheinend noch immer eine schönfärbende Promotorenrolle für die weltweite Kernenergienutzung gegenüber.

Droht nun die gleiche Entwicklung in Japan? Oder wird es noch schlimmer ausgehen? Die etablierten westlichen Nuklearexperten machten es sich vor 25 Jahren leicht mit dem stets wiederholten Hinweis, der betroffene sowjet-russische RBMK-Reaktortyp sei ein sicherheitstechnisch unausgereiftes Design – einer Feststellung, der gewiss zuzustimmen ist. Aber dies wurde verbunden mit der Behauptung, die westlichen Reaktoren seien unvergleichlich sicherer und ein entsprechendes Unfallszenario sei undenkbar. Dieses Argumentationsmuster ist mit Fukushima endgültig zerplatzt.

Fukushima hat nun den unwiderleglichen Beweis geliefert, dass die Spaltreaktortechnologie unbeherrschbar ist – überall in der Welt. Wenn man den probabilistischen Sicherheitsanalysen Glauben schenkt, so wäre gemäß der Deutschen Reaktorsicherheitsstudie von 1989 die Wahrscheinlichkeit für einen GAU (unter Annahme des Betriebs von knapp 440 Reaktoren weltweit) etwa einmal in hundert Jahren abzuleiten. Eine Kernschmelze würde danach noch zehnmal seltener auftreten. Solche Analysen sind spätestens jetzt Makulatur. Common-Mode-Störfälle, die sich jenseits des Anlagendesigns und der wahrscheinlichkeitstheoretischen Sicherheitsanalyse bewegen, in Fukushima aber durch extreme äußere Ereignisse ausgelöst wurden, durften mitsamt ihren massiven Folgen im Bewusstsein der »Nuclear Community« nicht ernsthaft vorkommen. Und doch ist jetzt das angeblich Undenkbare eingetreten. Das grundsätzliche Szenario war aber im Prinzip längst bekannt und gerade im Erdbeben gefährdeten Japan durchaus antizipierbar. Allerdings konnte niemand – auch nicht die mahnenden nuklearkritischen Experten – vorhersagen, wann genau dies eintreten würde. Und nun schmilzt der Restglaube an die nukleare Sicherheit in Fukushima dahin.

Was wird man daraus für Lehren ziehen? Können neue Sicherheitsanalysen zu Verbesserungen der Sicherheit existierender Anlagen führen? Die meisten heute weltweit am Netz befindlichen Reaktoren, deren Design in den 1960er und 1970er Jahren weitgehend festgelegt wurde, können nicht ohne weiteres auf den heutigen »Stand von Wissenschaft und Technik« gebracht werden. Wenn immerhin verbesserte Sicherheit gegen anlagenexterne Schadensereignisse wie Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze, Krieg oder Terrorangriffe angestrebt werden soll, sind äußerst kostspielige Um- und Neubauten nötig. Eine trügerische Sicherheit, denn auch dann können die Sicherheitshüllen durchbrochen werden. Eine vollständige Sicherheit gegen die naturgesetzlich weiter auftretende Nachzerfallswärme – vom Reaktor bis zum Endlager – wird es überhaupt nicht geben können. Das radioaktive Katastrophenpotential ist in den Brennelementen stets aktiv. Die absolut notwendigen Kühlungsmechanismen bleiben stets verletzlich. Keine Spaltreaktortechnologie kann absolut sicher gemacht und ihr Katastrophenpotential kann nicht zu Null gesetzt werden.

Bei der Kerntechnologie gilt es mehr zu berücksichtigen als die Anlagensicherheit. Die Erfahrung mit deutschen Atommülllagern in Morsleben und Asse haben gezeigt, wie aussichtslos heute eine sichere Endlagerung der über hunderttausende Jahre von der Umwelt abzuschließenden Nuklearabfälle erscheint. Dennoch wird man notgedrungen weiter nach akzeptablen Lösungen suchen müssen für das, was nicht mehr vermeidbar ist. Mindestens die Politik aber hat bislang (siehe das Gorleben- und das Asse-Desaster) versagt.

Das offensichtliche zivil-militärische Dual-use-Potential der heute in knapp 60 Ländern der Welt genutzten Nukleartechnologie ist ein weiteres und unübersehbares Warnsignal. Die militärische Wurzel aus den 1940er Jahren prägt die Nukleartechnologie bis heute. Die gleichen Technologien – Urananreicherung, Reaktorkonzepte, Plutoniumabtrennung – wurden zunächst für die ersten Waffenprogramme entwickelt und dann in der Folge für die heutigen nuklearen Energieprogramme genutzt. Kein Wunder also, dass das militärische Potential dieser ambivalenten Technologie virulent bleibt. Man darf die These wagen, dass die Begehrlichkeit hinsichtlich nuklearer Technologie auch heute nicht nur mit dem Zugriff auf so genannte Spitzentechnologie zu tun hat, sondern immer wieder auch mit der Absicht, eine Atomwaffenoption zu eröffnen oder latent aufrecht zu erhalten. Viele Staaten haben sich unter dem zivilen Deckmantel zu Kernwaffenstaaten aufgeschwungen oder sie sind zu »virtuellen Kernwaffenstaaten« geworden, die vorhandene nukleartechnische Möglichkeiten jederzeit für die Bombe nutzen könnten.

Wir haben offenbar zugelassen, dass der falsche technologische Pfad beschritten wurde – und dies ist nicht erst seit der Fukushima-Katastrophe deutlich. Muss nicht von einem Versagen weiter Teile von Wissenschaft, Industrie und Politik gesprochen werden, die Jahrzehnte lang eine Alternativlosigkeits-Propaganda betrieben haben?

Wir müssen wieder erlernen, dass wir die Wahl haben. In der modernen Welt, die zunehmend durch naturwissenschaftlich-technische Entdeckungen und Entwicklungen und ihre ökonomische Industrialisierung dominiert wurde, ist etwas grundsätzlich fehl gegangen. Not tut die Rückbesinnung auf eine verantwortliche Gestaltung von Wissenschaft und Technik – nötigenfalls bedeutet das auch die Begrenzung oder den Verzicht der Nutzung. Wir müssen nicht jeden technologisch möglichen Pfad blind befolgen, im technizistischen Glauben an das angeblich stets und quasi naturgesetzlich kommende Bessere.

Welche Lehren zieht die Politik? Noch sieht es lediglich nach Taktieren aus, in der Hoffnung, alles werde schnell vergessen, wenn das Allerschlimmste doch noch ausbleibt. Dabei wurde in Deutschland 2001 mit Müh und Not ein Konsens zwischen dem Kartell der Atomstromkonzerne und der Bundesregierung ausgehandelt, der – im für viele durchaus fragwürdigen Abwägen zwischen Sicherheits- und Profitinteressen – einen schrittweisen Verzicht auf Plutoniumabtrennung und Reaktorbetrieb erreichte. Ohne Not und ohne vorausgehende Sicherheitsüberprüfung der 17 Meiler hat die gegenwärtige Bundesregierung letzten Oktober eine zusätzliche Laufzeitverlängerung durchgedrückt. Die Atomstromer werden satte Zusatzgewinne einfahren, die Kleineren, die neu erstarkten Stadtwerke und die lebendig gewachsene Solarenergiebranche, werden das Nachsehen haben. Verantwortungslosigkeit und Interessenpolitik für die Starken hatten sich erst einmal durchgesetzt.

Knapp eine Woche nach dem japanischen Erdbeben setzte die Kanzlerin ein dreimonatiges Moratorium für die acht ältesten Reaktoren in Deutschland durch. Diese Zeit reicht eigentlich nicht für eine eingehende Sicherheitsüberprüfung, es sei denn, man wolle nun endlich den »Stand von Wissenschaft und Technik« zur Richtschnur machen und kurzfristig exekutieren. Dann dürfte vermutlich keiner der Reaktoren noch eine Chance auf Weiterbetrieb haben. Aber davon ist bislang nicht die Rede. Die Widersprüche dieser Politik sind so eklatant, dass die Bundesregierung bereits jetzt ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt hat.

Die tatsächlichen Herausforderungen sind demgegenüber groß: Es wird weitere Fälle nuklearer Proliferation geben, und es werden weitere nukleare Katastrophen eintreten, wenn nicht endlich radikale Schritte zur Kehrtwende in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vollzogen werden, auch im globalen Maßstab.

Der Pakt mit dem Teufel, den Führungseliten in unserem Namen (und angeblich für uns) geschlossen haben und der von ihren bereitwilligen Gefolgsleuten in Wissenschaft und Wirtschaft umgesetzt wurde, muss endlich aufgelöst werden. Deutschland, und am besten ganz Europa, sollte mit gutem Beispiel voran gehen und zeigen, dass Alternativen praktisch möglich sind. Der Ausstieg aus der Atomtechnologie erleichtert überdies einen effektiven und unumkehrbaren Weg in die kernwaffenfreie Welt. Er wird dem Umbau des Energiesystems auf der Basis solarer, klimafreundlichen Technologien Auftrieb geben. Fukushima kann nicht nur als Fanal, sondern auch als Signal wirken, das den tief greifenden und bewusst vollzogenen Wandel in unserem unreflektierten, wahnhaften Umgang mit Wissenschaft und Technik einläutet.

Wolfgang Liebert ist Koordinator der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) der Technischen Universität Darmstadt.

erschienen in: Wissenschaft & Frieden 2011/2 Kriegsgeschäfte, Seite 5–6